Der Morbus Paget des Knochens

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M E D I Z I N
AKTUELL
Andreas Grauer1
Klaus Abendroth2
Martin Heller3
Hans-Peter Kruse4
Helmut W. Minne5
Johann D. Ringe6
Desiderius Sabo7
Andreas Schulz8
Jutta Semler9
Der Morbus Paget
des Knochens
Epidemiologie, Diagnostik
und Vorschläge für die Therapie
ZUSAMMENFASSUNG
Stichwörter: Morbus Paget, Osteopathie,
Knochenumbauaktivität
Der Morbus Paget des Knochens führt in den betroffenen
Skelettarealen zur Auftreibung und oft grotesken Verformung der betroffenen Knochen. Viele Fälle sind jedoch klinisch nicht so eindrucksvoll und werden erst spät entdeckt.
Die Ursache dieser lokalisierten Osteopathie ist noch immer
nicht völlig geklärt; genetische Faktoren und eine Virusbeteiligung werden diskutiert. In der Therapie sind in den vergan-
genen Jahren enorme Fortschritte gemacht worden. Bisphosphonate können die überstürzte Knochenumbauaktivität normalisieren,
die betroffenen Areale stabilisieren und die Beschwerden lindern. Deshalb sollte die Therapie der Erkrankung heute
früher erfolgen, um die Entwicklung schwerer Sekundärveränderungen zu verhindern. Der Beitrag präsentiert aktuelle
Erkenntnisse zur Ätiologie und Epidemiologie und empfiehlt Standards für Diagnostik und Therapie.
Key words: Paget’s disease, bone disease,
excessive bone turnover
Paget’s disease of bone can lead to dramatic skeletal changes
with enlargement and bowing of the affected bones. Many
cases, however, are clinically less impressive, and in those the
diagnosis may be missed for years. The etiology of this
localized bone disease has not yet been determined. Genetic
factors and viral infections may be involved. Recently, the
treatment options for Paget’s disease have been greatly
improved due to the development of potent
bisphosphonates. These agents inhibit osteoclastic bone resorption and allow the suppression of the
excessive bone turnover in Paget’s disease. This leads to a
stabilization of affected bones and to symptomatic improvements. Treatment should be initiated early after diagnosis to
limit the extent of damage. The article presents recent
perspectives on etiology and epidemiology and provides
recommendations for diagnosis and treatment of the disease.
D
er Morbus Paget des Knochens (Synonym: Ostitis deformans Paget) (24) ist charakterisiert durch einen lokalisiert
hochgradig gesteigerten Knochenumbau, der von pathologischen Riesenosteoklasten mit stark erhöhter
Resorptionsaktivität ausgelöst wird
(20). Es entsteht ein hypervaskularisierter Knochen, der eine verminderte mechanische Stabilität aufweist.
Das Ergebnis dieses überstürzten
Knochenumbaus ist das charakteristische Mosaik-Muster. Die Erkrankung
betrifft das Skelett asymmetrisch,
entweder monostotisch oder primär
polyostotisch. Die resultierenden lokalisierten Knochenstrukturveränderungen führen oft zu Beschwerden
und können eine Reihe von Komplikationen nach sich ziehen (16).
Diese interessante und wichtige
Osteopathie sollte in Anbetracht des
nicht selten erheblichen, chronischen Beschwerdebildes vermehrt
Beachtung finden. Forschungsarbeiten, insbesondere zur Epidemiologie, Ätiologie und zur „natural hi-
story“ der Erkrankung sind dringend
zu fordern. In der Ärzteschaft ist immer noch die Meinung weit verbreitet, daß diese Skelettaffektion nicht
1
Abteilung für Innere Medizin I, Endokrinologie und Stoffwechsel (Direktor: Prof. Dr. med.
Reinhard Ziegler), Medizinische Universitätsklinik, Heidelberg, und Endokrinologische und
Nuklearmedizinische Praxis, Frankfurt/Main
2 Klinik für Innere Medizin IV (Direktor: Prof.
Dr. med. Günter Stein), Friedrich-Schiller-Universität, Jena
3 Klinik für Radiologische Diagnostik (Direktor:
Prof. Dr. med. Martin Heller), Universität Kiel
4 Abteilung für Nephrologie/Osteologie (Direktor: Prof. Dr. med. Hans-Peter Kruse), Medizinische Klinik und Poliklinik, Universitätskrankenhaus Eppendorf, Hamburg
5 Klinik „Der Fürstenhof“ (Direktor: Prof. Dr.
med. H. W. Minne), Bad Pyrmont
6 IV. Medizinische Klinik (Direktor: Prof. Dr.
med. Johann D. Ringe), Klinikum Leverkusen
7 Orthopädische Universitätsklinik (Direktor:
Prof. Dr. med. V. Ewerbeck), Heidelberg
8 Pathologisches Institut (Direktor: Prof. Dr. med.
Andreas Schulz), Universität Gießen
9 Stoffwechselabteilung der Rheumaklinik (Direktor: Dr. med. Jutta Semler), Immanuel Krankenhaus, Berlin
SUMMARY
therapiert werden kann oder muß.
Da jedoch neue Medikamente für
die Behandlung verfügbar sind, die
eine weitgehende klinische Remission dieser Osteopathie ermöglichen,
erscheint eine kritische Neubewertung der Möglichkeiten der Diagnostik, Therapie und Verlaufskontrolle
angebracht.
Definition
Das als Folge des raschen Knochenabbaus überstürzt gebildete
neue Knochengewebe ist mechanisch minderwertig. Folge sind – je
nach Belastung – zum Beispiel Verbiegungen an Extremitätenknochen,
Abflachungen von Wirbelkörpern,
Frakturen, sekundärer Gelenkverschleiß und neurologische Komplikationen. Die entscheidenden Charakteristika des Morbus Paget sind
in nachfolgender Definition zusammengefaßt (29): Der Morbus Paget
des Knochens ist eine lokalisierte
mono- oder polyostotische, progres-
Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 34–35, 24. August 1998 (33) A-2021
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sive Skeletterkrankung unklarer Ursache (möglicherweise viraler Genese), charakterisiert durch erhöhte
Knochenumbauvorgänge mit dem
Risiko von Verformungen, chronischen Schmerzen und Frakturen sowie artikulären und neurologischen
Komplikationen.
Epidemiologie
Die Ostitis deformans Paget gilt
allgemein als relativ seltene Osteopathie, da viele Ärzte in ihrem Berufsleben nur wenige Fälle erleben.
Offenbar gibt es eine große Dunkelziffer oligo- oder asymptomatischer
Fälle, da einige systematische Studien eine überraschend hohe Prävalenz dokumentierten.
Es gibt erhebliche Häufigkeitsunterschiede in verschiedenen Re-
bei Afrikanern und Asiaten (2). Diese regionale Häufung läßt eine genetische Komponente vermuten. In der
Tat zeigt sich in vielen Studien eine
positive Familienanamnese in 15 bis
30 Prozent der Betroffenen (33), in
einer aktuellen Studie in Spanien sogar in 40 Prozent (21). Neueste vorläufige Erkenntnisse zeigen, daß die
genetische Basis für diese familiären
Fälle in einem Defekt auf dem Chromosom 18 liegen könnte (13).
Die meisten Untersuchungen
zur Epidemiologie des Morbus Paget
basieren auf der systematischen
Auswertung von Röntgenbildern, in
der Regel Beckenübersichtsaufnahmen oder Urogramme. Eine radiologische Studie anhand von 3 000
Infusionsurogrammen des Röntgenarchivs der Universitätsklinik Hamburg ergab eine hochgerechnete
Prävalenz von 1,83 Prozent bei über
die aus England ergab eine Prävalenz bei über 40jährigen Personen
von 3,7 Prozent, wobei nur ein Drittel zu Lebzeiten bekannt gewesen
war (4). Wenn diese Zahlen heute
noch zutreffen, müßten mindestens
ein Prozent aller über 40jährigen einen Morbus Paget aufweisen.
Da säkulare Trends in der
Prävalenz und regionale Unterschiede des Morbus Paget nicht auszuschließen sind (37), erscheint eine
aktuelle Erfassung in Deutschland,
etwa in Form eines Paget-Registers,
dringend erforderlich.
Diagnostik
Die diagnostische Strategie richtet sich nach der individuellen klinischen Ausgangssituation und ist in der
Grafik wiedergegeben.
Die Klinik des M. Paget ist oft blande und wenig chaGrafik
rakteristisch. Die Grafik zeigt verschiedene Wege, die
Wege zur Diagnose
in Abhängigkeit von einer Ausgangsbeobachtung zur
Diagnose eines Morbus Paget führen. *1 Klinisch fällt
eine deformierte Gliedmaße auf, meist asymmetrisch,
oft überwärmt, die den Verdacht auf einen M. Paget
Röntgen*2
Szintigramm*4
alkalische Phosphatase*3
Klinik*1
aufkommen läßt. Die Röntgenuntersuchungen des betroffenen Areals sichern die Diagnose. Die alkalische
Phosphatase (AP) zeigt die Krankheitsaktivität an, das
Klinik
Klinik
Klinik
Röntgen
Knochenszintigramm gibt Aufschluß über weitere Manifestationen. *2 Wegen lokaler Schmerzhaftigkeit oder
Knochendeformierungen wird eine Röntgenaufnahme
durchgeführt. Diese zeigt Paget-typische VeränderunSzintigramm
Röntgen
alkalische Phosphatase
alkalische Phosphatase
gen. Die klinische Untersuchung kann Verdachtsmomente auf weitere Manifestationen ergeben. Mit Hilfe
der AP kann die Aktivität der Erkrankung abgeschätzt
Szintigramm
Szintigramm
alkalische Phosphatase
Röntgen
werden – wichtig auch für die Kontrolle unter Therapie.
Die Knochenszintigraphie dient der Suche nach weiteren, möglicherweise klinisch blanden Paget-Herden,
die dann ebenfalls röntgenologisch abgeklärt werden. *3 Bei einer Laboruntersuchung wird zufällig eine erhöhte AP entdeckt. Wenn diese nicht durch eine Leber- oder
Gallenwegserkrankung erklärt ist – im Zweifel Bestimmung der knochenspezifischen AP –, besteht der Verdacht auf eine Knochenstoffwechselerkrankung. Wenn die
klinische Untersuchung nicht richtungweisend ist (DD Osteomalazie, primärer Hyperparathyreoidismus und anderes), sollte eine Knochenszintigraphie durchgeführt
werden, um zwischen einer lokalisierten und einer generalisierten Steigerung des Knochenstoffwechsels unterscheiden zu können. Lokalisierte Areale szintigraphischer
Mehrspeicherung müssen röntgenologisch abgeklärt werden. So kann die Diagnose eines Morbus Paget gestellt werden. *4 Im Rahmen einer Knochenszintigraphie – etwa in der Tumornachsorge – fallen eine einzelne Mehrspeicherung oder multiple, oft asymmetrisch angeordnete, unregelmäßig begrenzte Mehrspeicherungen auf.
Nach Anamnese (Trauma?) und der klinischen Untersuchung der betroffenen Areale werden die suspekten Bezirke röntgenologisch weiter abgeklärt. Falls sich hier ein
Paget-typisches Bild zeigt, sollte die AP als Aktivitäts- und Verlaufsmarker bestimmt werden.
gionen der Welt. Die Krankheit ist
häufig in Westeuropa (mit einem
Maximum in England) (3) und in
Gebieten, die von Westeuropa aus
besiedelt wurden, wie Australien,
Neuseeland, Südafrika und einige
Regionen der USA. Der Morbus Paget ist dagegen selten in Osteuropa
und Skandinavien und sehr selten
40jährigen Personen (28). Die klassische Arbeit von Schmorl (31) aus
dem Jahr 1932 wurde dagegen anhand von 4 614 Autopsien von nicht
ausgewählten Personen im Alter über
40 Jahren durchgeführt. Es fanden
sich 138 Fälle, was einer Morbidität
von drei Prozent entspricht. Eine entsprechende pathoanatomische Stu-
A-2022 (34) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 34–35, 24. August 1998
Klinische Symptomatik
Knochen-, Gelenk- und Muskelschmerzen: Die verminderte mechanische Stabilität der Knochen
führt, besonders in Bereichen statischer Belastung (Femur, Tibia), zur
Deformierung. Diese Krümmungen
verursachen vermehrten mechani-
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Abbildung 1: Morbus Paget der Schädelkalotte:
Osteolysis circumscripta cranii. Röntgenbild des Schädels im AP-Strahlengang. Scharf demarkierte, ausgedehnte Osteolysen der Stirn-, Schläfen- und Scheitelbeine sowie der Hinterhauptsschuppe. Die angrenzende „normale“ Schädelkalotte zeigt keine reaktiven Randveränderungen um die Osteolysen. Bei der
Osteolysis circumscripta cranii handelt es sich um
eine frühe Manifestationsform.
schen Streß, der schmerzhafte kortikale Fissuren und manifeste Frakturen zur Folge haben kann, die insbesondere an der Tibia, am Femurschaft
und subtrochantär auftreten. Die Deformierungen, ebenso wie durch den
M. Paget aufgetriebene Knochenoberflächen, verursachen Sekundärarthrosen an den angrenzenden Gelenken durch Ausbildung inkongruenter Gelenkflächen und Fehlstellungen. Die veränderte Statik führt zusätzlich zu Muskelfehlbelastungen,
die Verkrampfungen und hartnäckige
Muskelschmerzen zur Folge haben.
Überwärmung: Die Überwärmung entsteht durch Hypervaskularisation und fällt vor allem an
Knochen auf, die direkt unter der
Hautoberfläche liegen.
Nervenkompression: Durch
die Volumenzunahme des PagetKnochens (zum Beispiel Zunahme
der Schädelgröße) ist besonders bei
Befall der Wirbelkörper und der
Schädelbasis eine Einengung der
Nervenkanäle und Durchtrittsstellen
durch Auftreibung des betroffenen
Knochens klinisch bedrohlich.
Schwerhörigkeit: Bei Schädelbefall tritt eine Hypakusis in 30
bis 50 Prozent der Fälle auf. Die
Erscheinung ist multifaktoriell bedingt; Schallempfindungsstörungen
sind hier wahrscheinlich häufiger die
Ursache als Schalleitungsstörungen
durch ankylosierte Ohrknöchelchen
oder eine Kompression des Hörnerven (17).
Maligne Entartung: Die maligne Entartung von Paget-Knochen
ist eine seltene Komplikation. Die
Häufigkeit wird mit weniger als ein
Prozent der symptomatischen Fälle
angegeben. Klinisch fällt eine plötzliche Zunahme des Beschwerdebildes
auf, es zeigen sich rapid progrediente
Osteolysen, oft mit rasantem Anstieg
der alkalischen Phosphatase im Serum. Histologisch liegt meist ein
Osteosarkom vor. Befallen werden
vor allem Becken, Femur und Humerus.
Kardiovaskuläre
Effekte:
Durch den je nach Ausdehnung des
Befalls zum Teil erheblich gesteigerten Blutfluß durch den hypervaskularisierten Knochen kann es zu einer vermehrten Volumenbelastung
des kardiovaskulären Systems kommen.
gesehen werden (Abbildung 3) (14).
Wichtig ist, daß bei einem Patienten gleichzeitig Manifestationen aller
drei Phasen gefunden werden können.
Weiterführende Untersuchungstechniken sind die Computertomographie und die Magnet-ResonanzTomographie. Diese sind dann indiziert, wenn zum Beispiel zerebrale
oder spinale neurologische Komplikationen aufgetreten sind oder wenn
die allerdings sehr seltene Komplikation eines Paget-Sarkoms (Abbildung 4) vermutet wird (23).
Knochenszintigraphie
Betroffene Areale imponieren
als fokale Mehrspeicherungen, die
sich ohne Kenntnis des Röntgenbildes nicht sicher von Mehrspeicherungen anderer Genese unterscheiden
lassen. Die Knochenszintigraphie
beim M. Paget dient somit als Suchtest, um nach weiteren Läsionen zu
fahnden. Jede Mehrspeicherung muß
röntgenologisch abgeklärt werden,
bevor sie als Paget-Befall identifiziert werden kann.
Röntgen
Die Diagnose des M. Paget wird
häufig alleine durch das charakteristische Röntgenbild gestellt. Die Frühmanifestationen sind osteolytischer
Natur (Osteolysis circumscripta cranii [Abbildung 1], V-förmige Osteolyse im Bereich des medio-anterioren
Schaftes von langen Röhrenknochen). In der zweiten Phase, die am
häufigsten anzutreffen ist, liegt ein
Mischbild aus lytischen und sklerotischen Bezirken vor.
Die dritte Phase ist vorwiegend
durch Sklerosierungen gekennzeichnet. Hier sind regelhafte Auftreibungen und Deformierungen der befallenen Knochen zu sehen (Abbildung 2).
Die Kompakta der Konkavseite ist
verdickt, während die der Konvexseite aufgeblättert und streifig erscheint. Die Spongiosa zeigt sich
verplumpt und vergröbert, von einzelnen osteolytischen Herden durchsetzt. Auf der Konvexseite können
hier querverlaufende Indikationen
Abbildung 2: Morbus Paget des zweiten Halswirbelkörpers: Elfenbeinwirbel. Seitliche Röntgenaufnahme der Halswirbelsäule. Homogene Sklerosierungen
des gesamten zweiten Halswirbelkörpers unter Einschluß des Dens. Zusätzlich ist eine Deformierung im
Sinne einer Größenzunahme zu beobachten. Der
Elfenbeinwirbel ist eine relativ seltene Manifestationsform.
Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 34–35, 24. August 1998 (35) A-2023
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Labor
Die Bestimmung der Aktivität
der alkalischen Phosphatase (AP) im
Serum hat den höchsten Stellenwert
in Diagnose und Verlaufsbeobachtung beim M. Paget. Das Ausmaß ihrer Erhöhung spiegelt die metabolische Aktivität und die Ausdehnung
der
Erkrankung wider. Die Erhöhung ist hier relativ zum „individuellen Normwert“ des jeweiligen Patienten zu verstehen. Die obere Grenze des statistischen Normbereiches,
die nach der optimierten Standardmethode bei etwa 170 U/l liegt, kann
für den einzelnen Patienten bereits
eine deutliche Erhöhung der AP bedeuten, wenn seine individuelle AP
vor Manifestation der Paget-Erkrankung nur bei 100 U/l lag. Sind nur sehr
begrenzte Knochenareale vom Morbus Paget befallen, kann die AP also
auch bei aktiver Erkrankung noch im
statistischen Normbereich liegen. Genauso wichtig ist die Beachtung der
individuellen AP bei der Therapiesteuerung. Der massiv gesteigerte
Knochenumbau, verursacht durch die
pathologische Osteoklastenaktivität,
löst eine reaktive Aktivierung der
Osteoblasten aus, die wiederum zur
AP-Erhöhung führt. Da das Knochen-Isoenzym der AP beim M. Paget
über 90 Prozent der Gesamt-AP ausmachen kann, ist eine direkte Quantifizierung der Knochen-AP wegen der
hohen Kosten der Bestimmung nur in
Ausnahmefällen sinnvoll, zum Beispiel bei gleichzeitig vorliegenden Lebererkrankungen zur Differenzierung von Leber- und Knochen-APErhöhung.
Marker der Knochenresorption,
wie Pyridinium-Crosslinks, sind in
der klinischen Praxis nur selten von
Bedeutung, da der Krankheitsverlauf
gut durch die AP-Aktivität widergespiegelt wird.
Histologische Befunde
Die Diagnose kann vom Erfahrenen meistens anhand der Klinik,
des Röntgenbildes und der Laborveränderungen gestellt werden. Eine Histologie aus einer durch gezielte Inzisionsbiopsie des Knochens gewonnene Probe des betroffenen Areals ist in
Zweifelsfällen nötig, führt dann aber
zur eindeutigen Diagnosesicherung.
Charakteristische Zeichen des exzessiv gesteigerten Knochenumbaus sind
Riesenosteoklasten mit erhöhter
Kernzahl. Auch die Zahl und Ausdehnung der Osteoblasten ist deutlich erhöht. Als Zeichen dieses kompensatorischen Knochenanbaus fin-
Abbildung 3: Typischer Morbus Paget der Tibia, Sklerotischer Typ. Ausschnitt einer seitlichen Röntgenaufnahme des Unterschenkels. Deutliche Ausbiegung
nach anterior und lateral (Säbelscheidenkonfiguration). Auftreibung der Tibia. Massive Sklerosierung
und Verdickung der dorso-medialen Kortikalis. Abhebung und Verdickung des Periosts. Aufblätterung der
anterioren Kortikalis. Hier waagerecht verlaufende
Infraktionen. Inhomogene, gemischtförmige Knochendichte des Schaftes, unauffällige Fibula.
det sich in den Paget-Herden immer
eine Oberflächenosteoidose. Als Resultat entsteht eine typische Mosaikstruktur des Knochens.
Therapie
Ziele der Paget-Therapie sind
die Linderung von Symptomen, die
Stabilisierung betroffener Knochenareale und die Verhinderung von Sekundärkomplikationen. Eine Indikation zur Paget-Therapie ist daher auf
jeden Fall gegeben, wenn die Patienten unter Schmerzen oder anderen
beeinträchtigenden Symptomen des
Morbus Paget leiden. Aber auch bei
subjektiv asymptomatischen Patien-
A-2024 (36) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 34–35, 24. August 1998
ten gibt es eine Reihe von Behandlungsindikationen. Wenn Knochenareale in mechanisch belasteten Regionen (zum Beispiel Becken, Femur, Tibia) betroffen sind, ist das
Ziel der Therapie, das Auftreten
oder zumindest die Verstärkung von
Deformierungen zu verhindern. Bei
Befall der Wirbelsäule oder des
Schädels soll die medikamentöse
Kontrolle der Krankheitsaktivität
das Auftreten von Kompressionserscheinungen an peripheren Nerven
oder an ZNS-Anteilen verhindern.
Da aber auch beim Befall mechanisch nicht stark belasteter Knochen,
wie zum Beispiel des Radius, durch
die Erkrankung Fehlstellungen mit
Sekundärarthrosen, etwa am Handgelenk auftreten können, sollten
heute auch solche Läsionen behandelt werden.
Das Prinzip der medikamentösen Therapie des M. Paget liegt in der
Hemmung der osteoklastären Knochenresorption. Zugelassen für die
Therapie des M. Paget sind in
Deutschland Kalzitonine verschiedener Spezies sowie die Bisphosphonate Etidronat und neuerdings auch Tiludronat und Pamidronat. Kalzitonin
gleich welcher Spezies führt im allgemeinen zu einer Reduktion der AP
um allenfalls 50 Prozent und sollte
deshalb nur bei leichten Krankheitsfällen eingesetzt werden. Beim
Lachskalzitonin kommt unabhängig
davon das Problem der Resistenzentwicklung durch neutralisierende Antikörper hinzu (7, 8).
Die Bisphosphonate sind eine
Substanzklasse von osteotropen Medikamenten, deren älteste Vertreter
bereits seit etwa 25 Jahren beim M.
Paget eingesetzt werden. In den letzten Jahren haben besonders die
neueren Bisphosphonate durch ihre
gute Wirksamkeit bei der Tumorhyperkalziämie und Tumorosteolyse
sowie ganz aktuell auch bei der
Osteoporose weite Verbreitung gefunden (19). Das Anhalten des Therapieeffektes nach Bisphosphonattherapie hängt wesentlich vom Ausmaß und der Dauer der Normalisierung biochemischer Aktivitätsparameter nach der Therapie ab (20, 21),
wobei das Minimum der Resorptionsmarker (zum Beispiel Pyridinoline) schon nach 10 bis 20 Tagen, das
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der Formationsmarker (AP) erst dosen von 15 bis 90 mg Pamidronat
nach drei bis sechs Monaten erreicht über ein bis vier Stunden in 100 bis
wird (11).
500 ml NaCl infundiert wurden (9,
Für den M. Paget haben sich 11). Pamidronat hat sich auch als
die folgenden Therapieschemata be- wirksam erwiesen, wenn Patienten
währt: Tiludronat wurde 1996 für die mit den weniger potenten BisphosTherapie des Morbus Paget zugelas- phonaten nicht mehr adäquat therasen. Seine relative Potenz liegt höher pierbar waren (35).
als die von Etidronat. Empfohlen wird die orale Gabe
von 2 x 200 mg/Tag über drei
Monate, die besser wirksam
ist als eine sechsmonatige
Etidronat-Therapie (30). Bei
Patienten mit mäßiger und
schwerer Erkrankung wurde
nach dreimonatiger Therapie
mit Tiludronat eine Senkung
der AP um mehr als 50 Prozent bei etwa 57,4 Prozent
der Patienten, nach gleichlanger Etidronattherapie bei
lediglich 13,9 Prozent der
Patienten erzielt (30). Im
Gegensatz zu Etidronat ist
für Tiludronat eine relevan- Abbildung 4: Paget-Osteosarkom. Röntgenaufnahme des rechten
te Mineralisationshemmung Kniegelenkes in zwei Ebenen. Paget-Manifestation an der proxibislang nicht beschrieben.
malen Tibia mit Deformierung und Auftreibung: vermehrte kortiEtidronat war das erste kale Sklerosierung; vergröberte Spongiosa. Epimetaphysäre
Bisphosphonat, das in kon- osteolytische Destruktion als Ausdruck der sarkomatösen Enttrollierten klinischen Studien artung (in zirka einem Prozent der Fälle). Diese erreicht die tibiale
für die Behandlung des M. Gelenkfläche, hier Infraktionen.
Paget eingesetzt wurde (34).
Beim milden M. Paget kann ein
Neben diesen für die Indikation
Therapiezyklus mit ein bis zwei M. Paget zugelassenen Präparaten
Tabletten Etidronat à 200 mg/die gibt es noch eine Reihe von Bisphosüber sechs Monate die Krankheits- phonaten, die bislang nur für andere
aktivität befriedigend kontrollieren. Erkrankungen, wie etwa die TumorNach einer sechsmonatigen Thera- hyperkalziämie oder die postmepiepause kann der Zyklus wiederholt nopausale Osteoporose, zugelassen
werden (1, 15).
sind. Auch diese Präparate haben
Bei höheren Dosierungen und sich beim M. Paget bewährt und könlängeren Therapiezeiträumen be- nen bei entsprechender Erfahrung
steht bei diesem Bisphosphonat die des behandelnden Arztes mit diesen
Gefahr klinisch relevanter Minerali- Medikamenten und vorheriger Aufsationsstörungen. Insgesamt können klärung und Zustimmung des PatienReduktionen auf etwa 40 bis 50 Pro- ten verabreicht werden.
zent der Ausgangs-AP erreicht werClodronat liegt in seiner Potenz
den (36). Bei Patienten mit ausge- ähnlich wie Tiludronat, ist für die Inprägtem Krankheitsbild und hoher dikation M. Paget nicht zugelassen,
biochemischer Aktivität kann die aber gut erprobt. Eine Dosis von 800
Krankheitsaktivität mit Etidronat mg/die postoperativ über drei bis
meist nicht nachhaltig supprimiert sechs Monate hat sich hierbei bewerden.
währt (18).
Pamidronat ist beim M. Paget in
Alendronat: Eine aktuelle Stuzahlreichen Studien geprüft worden. die belegt eine deutlich bessere
Es steht ausschließlich für die paren- Wirksamkeit von 40 mg Alendronat,
terale Gabe zur Verfügung. Gute Er- oral über sechs Monate verabreicht,
fahrungen liegen für Gesamtdosen verglichen mit 400 mg Etidronat über
von 90 bis 180 mg vor, die in Einzel- den gleichen Zeitraum (32).
Ibandronat ist ein neues, hochpotentes Aminobisphosphonat, was
die Verwendung kleiner Dosierungen erlaubt. Die Gabe von 2 mg
Ibandronat i.v. zeigte in einer ersten
Studie eine gute Wirksamkeit und
Verträglichkeit, war jedoch in dieser
Dosierung nicht ausreichend potent,
um die Krankheitsaktivität bei
schwereren Verlaufsformen sicher zu
supprimieren, so daß hier die Wirksamkeit höherer Dosierungen erprobt werden muß (12).
Orthopädische und
orthopädisch-chirurgische
Therapie
Anhaltende Schmerzzustände,
zunehmende Knochendeformierungen, pathologische Frakturen und
Sekundärarthrosen, vornehmlich der
unteren Extremität, machen häufig
eine symptomatische medikamentöse Schmerztherapie und die orthopädische Mitbehandlung der Patienten erforderlich.
Mit konservativen physikalischen Maßnahmen, wie Krankengymnastik, Massagen, Elektro- und
Balneotherapie sowie mit lokalen
Injektionen können günstige Ergebnisse bei den meist betagten Patienten erreicht werden. Eine Wärmebehandlung im betroffenen, sowieso schon überwärmten Areal ist dagegen nicht sinnvoll. Orthesen und
orthopädische Apparate zur Prophylaxe oder Korrektur der Gliedmaßenverbiegung werden dagegen
erfahrungsgemäß aufgrund mangelnder Compliance nicht anhaltend
benutzt.
Elektive operative Eingriffe
sollten in erfahrenen Zentren durchgeführt werden. Mindestens drei
Monate vor dem geplanten Eingriff
sollte eine anti-osteoklastäre Vorbehandlung begonnen (orale Dauertherapie) oder durchgeführt (i.v.Behandlung) werden, um zum OPTermin eine Suppression der biochemischen Krankheitsaktivität, gemessen an der AP, zu erzielen. Achskorrekturen werden mittels Osteosyntheseplatten, externen Fixateuren
(19) oder mit intramedullären Kraftträgern durchgeführt. Bei pathologischen oder drohenden Frakturen
wird gleichzeitig eine Fehlstellungs-
Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 34–35, 24. August 1998 (37) A-2025
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korrektur durchgeführt, um ein
Frakturrezidiv zu vermeiden (22).
Endoprothesen kommen bei Frakturen in Gelenknähe und bei sekundären Arthrosen mit Erfolg zum
Einsatz und sollten aufgrund der unmittelbaren Belastbarkeit zementiert implantiert werden (Abbildung
5). Wegen der verminderten mechanischen Belastbarkeit ist jedoch mit
erhöhten Lockerungsraten zu rechnen (6). Bei neurologischen Symptomen aufgrund Kompression durch
Knochendeformierungen
können
dekomprimierende Eingriffe
an der Wirbelsäule erforderlich werden. Für alle operativen Eingriffe gilt, daß
trotz medikamentöser Vorbehandlung erhebliche Blutungen aus dem hypervaskularisierten Knochen und die
reduzierte Knochen-Konsistenz die technische Durchführung erschweren können.
Paget-Sarkome enden in der
Regel mit einer Amputation
(22).
den Daten sprechen jedoch dafür,
daß eine Suppression der Aktivitätsparameter (besonders der AP) mindestens in den Normbereich, am besten jedoch noch tiefer in den „individuellen Normbereich“, mit einer
längeren Remissionsdauer einhergeht (25, 26). Leider kann in dieser
Situation der individuelle Normbereich nicht sicher ermittelt werden,
sondern nur im Verlauf abgeschätzt
werden. Wenn die AP aber nach Bisphosphonattherapie über mindestens sechs Monate auf einem Pla-
Therapiesteuerung
Der M. Paget kann durch Abbildung 5: Endoprothetische Versorgung. Pathologische Scheneine medikamentöse Thera- kelhalsfraktur bei erheblicher Varusverbiegung des proximalen
pie nachhaltig in seiner Akti- Femur bei einem 82jährigen Patienten. Röntgenologisch und
vität gebremst werden. Die klinisch günstiges Ergebnis drei Jahre nach Implantation einer
Erkrankung ist zwar nicht zementierten Hüftgelenkstotalendoprothese.
heilbar; einmal eingetretene
Deformierungen werden sich auch teau innerhalb des statistischen
bei optimaler Therapie nicht mehr Normbereiches bleibt, ist von einer
zurückbilden. In seltenen Fällen ge- befriedigenden Suppression der
lingt es jedoch schon durch eine ein- Krankheitsaktivität auszugehen. Ob
malige Bisphosphonattherapie, an- eine effiziente Pharmakotherapie
haltende Remissionen über vier und des Morbus Paget das seltene, aber
mehr Jahre zu erzielen.
gefürchtete Paget-Sarkom verhinDas Therapieziel ist demnach dert, wird diskutiert, diese Frage
eine Suppression des erhöhten Kno- kann jedoch derzeit noch nicht bechenumbaus, meßbar an den bio- antwortet werden.
chemischen Aktivitätsparametern,
Eine Verlaufskontrolle mit der
wenn möglich bis in den Normbe- Überprüfung von klinischem Befund
reich der AP (5). Eine anhaltende und AP sollte je nach Aktivität der
Suppression des gesteigerten Kno- Erkrankung alle drei bis sechs Mochenumbaus führt zu einer allmäh- nate erfolgen. Röntgenkontrollen der
lichen Konsolidierung der Knochen- bekannten Herde sind vor allem
struktur. Welche Dosierung und wel- bei klinischer Befundverschlechteche Therapiedauer für die jeweiligen rung und dann in jährlichen AbstänPräparate im Hinblick auf eine mög- den sinnvoll. Radiologische Kontrollichst lange Remissiondauer als opti- len sind auch angebracht, wenn Bemal anzusehen ist, kann noch nicht schwerden an bisher nicht befallenen
beantwortet werden. Die vorliegen- Arealen aufteten, obwohl eine AusA-2026 (38) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 34–35, 24. August 1998
breitung des M. Paget über die einmal
vorhandenen Manifestationen bislang
nie eindeutig belegt wurde.
Erneute Therapiezyklen mit Bisphosphonaten sind sinnvoll und erfolgversprechend, wenn die AP signifikant, im einzelnen um 25 Prozent
des minimalen Wertes, wieder angestiegen ist, die Beschwerden nach
vorübergehender Besserung wieder
zunehmen oder die Erkrankung radiologisch progredient ist. Da der
Therapieeffekt des folgenden Therapiezyklus bei gleicher Dosierung
schwächer ausfallen kann, sollte nicht
abgewartet werden, bis die prätherapeutische Ausgangssituation wieder
erreicht ist.
Schlußfolgerung
Insgesamt kann konstatiert werden, daß durch die heute verfügbaren
potenten und gut verträglichen Bisphosphonate die Erkrankungsaktivität des M. Paget effektiv supprimiert werden kann. In Anbetracht
der subjektiven Beschwerden, unter
denen die Patienten leiden, und der
Sekundärkomplikationen, die im
Verlauf der Erkrankung entstehen,
sollte angestrebt werden, die Aktivität der Erkrankung frühzeitig, weitestgehend und langfristig zu supprimieren. Das Ausmaß des Ansprechens auf eine medikamentöse Therapie ist beim individuellen Patienten
variabel, weshalb eine optimale
Steuerung der Behandlung ausreichende Erfahrung mit diesem Krankheitsbild erfordert.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1998; 95: A-2021–2026
[Heft 34–35]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf
das Literaturverzeichnis, das über den Sonderdruck beim Verfasser und über die Internetseiten (unter http://www.aerzteblatt.de)
erhältlich ist.
Anschrift für die Verfasser
Priv.-Doz. Dr. med. Andreas Grauer
Endokrinologische und
Nuklearmedizinische Praxis
Düsseldorfer Straße 1–7
60329 Frankfurt/Main
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