Einsparpotenziale in der GKV-Arzneimittelversorgung Zur Belastbarkeit von Potenzialberechnungen als Richtschnur für eine rationale Regulierung des Arzneimittelmarktes Gutachten für den Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie e.V. (BPI) von Prof. Dr. Dieter Cassel, Universität Duisburg-Essen Prof. Dr. Volker Ulrich, Universität Bayreuth Endbericht vom 14. September 2012 Inhalt Kernaussagen des Gutachtens ......................................................................... I Anlass, Zielsetzung und Aufbau ................................................................... XIV 1 Quantifizierte Einsparpotenziale zwischen Wunsch und Wirklichkeit ......1 1.1 Gesundheitspolitische Funktion von Potenzialberechnungen............................ 1 1.2 Alternative Berechnungsansätze im Vergleich .................................................. 4 1.3 Beliebigkeit von Methoden und Berechnungsergebnissen ............................... 15 2 Potenzialberechnungen des Arzneiverordnungs-Reports (AVR) ............. 17 2.1 Berechnungsgrundlagen und Berechnungsmethoden ...................................... 17 2.2 Einsparpotenziale bei umstrittenen Arzneimitteln ........................................... 25 2.3 Einsparpotenziale aus nationalen Preisvergleichen .......................................... 27 2.4 Einsparpotenziale aus internationalen Preisvergleichen .................................. 31 3 Fallstricke bei Potenzialberechnungen................................................... 40 3.1 Mangelnde Neutralität und Transparenz der Berechnungen ............................ 40 3.2 Unrealistische Annahmen und inadäquate Berechnungsmodalitäten............... 46 3.3 Missachtung von Besonderheiten der internationalen Preisreferenzierung...... 52 4 Einsparpotenziale: Leuchtturm oder Irrlicht für die Gesundheitspolitik? ............................................................................... 62 Anhang ........................................................................................ 66 Verzeichnisse ............................................................................... 70 Abkürzungsverzeichnis .................................................................................. 70 Literaturverzeichnis....................................................................................... 72 Autoren......................................................................................................... 78 Cassel/Ulrich I Kernaussagen des Gutachtens Anlass und Zielsetzung 1. Anlass des Gutachtens sind wiederholte Versuche, Wirtschaftlichkeits- bzw. Effizienzreserven in der GKV-Arzneimittelversorgung in Form von Einsparpotenzialen (ESP) zu berechnen. Sie sollen angeben, in welcher Höhe die Arzneimittelausgaben gesenkt werden könnten, ohne die medizinische Versorgung dadurch zu beeinträchtigen. Dies stößt naturgemäß immer wieder auf lebhaftes öffentliches Interesse. 2. Fraglich ist jedoch, ob es wissenschaftlich vertretbare und praktikable Methoden gibt, derartige ESP exakt in Geld zu beziffern, und ob es gesundheitspolitisch auch die Mittel gibt, sie auszuschöpfen bzw. zu realisieren. Ziel der Expertise ist es, vorliegende ESPBerechnungen daraufhin zu untersuchen, ob sie diesen Kriterien entsprechen. 3. Gefragt wird insbesondere nach der Tragfähigkeit der vorhandenen Datenbasis, nach dem adäquaten Umgang mit der therapeutischen und internationalen Substituierbarkeit der Wirkstoffe und Präparate, nach der hinreichenden Berücksichtigung der preisbestimmenden Marktdynamik und nicht zuletzt nach der Angemessenheit des jeweils verwendeten Algorithmus. Dabei versteht sich die Expertise als „Metaanalyse“ der einschlägigen Veröffentlichungen, enthält also keine eigenen ESP-Berechnungen. 4. Über allem steht die Frage, ob die turnusmäßigen Potenzialberechnungen so valide und belastbar sind, dass sich darauf eine rationale, dem tatsächlichen Handlungsbedarf entsprechende Regulierung der GKV-Arzneimittelversorgung durch die gesundheitspolitischen Entscheidungsträger stützen lässt. 1 Quantifizierte Einsparpotenziale zwischen Wunsch und Wirklichkeit 1.1 Gesundheitspolitische Funktion von Potenzialberechnungen 5. Im Brennpunkt der öffentlichen Diskussion stehen Unwirtschaftlichkeiten, die sich aus der Verordnung von Medikamenten mit einer vergleichsweise schlechten Preis- bzw. Kosten-Wirksamkeits-Relation ergeben. Das kann alle Arzneimittelkategorien betreffen – umstrittene Medikamente, Generika, Analoga und importierte Präparate genauso, wie Arzneimittel-Innovationen mit und ohne Zusatznutzen. 6. Gesundheitspolitisch wird darin ein gravierender Verstoß gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot (§ 12 SGB V) gesehen, der die Einhaltung der gesetzlich gebotenen Beitragssatzstabilität (§ 71 SGB V) gefährden kann. Deshalb fehlt es nicht an Versuchen, über den Einzelnachweis unwirtschaftlicher Pharmakotherapien hinaus für das GKV-System als Ganzes zu beziffern, was sich durch Substitution von umstrittenen oder für zu teuer gehaltene Präparate einsparen ließe. 7. Ihr Ergebnis sind Einsparpotenziale, die mit verschiedenen Methoden aufgrund unterschiedlicher hypothetischer Annahmen zur Arzneimittelsubstitution aus dem laufenden Verordnungsgeschehen abgeleitet werden und daher im Ergebnis ziemlich divergent sind. Führend auf diesem Gebiet sind derzeit der Arzneiverordnungs-Report (AVR) von Schwabe/Paffrath und der BARMER GEK Arzneimittelreport (BARMER GEK) von Glaeske/ Schicktanz. 8. Der AVR berechnet für die GKV allein aus der Generikasubstitution ein ESP von 4,9 Mrd. Euro (2010), sofern teure Produkte durch die jeweils billigsten Generika ersetzt und Cassel/Ulrich II diese aus dem noch preisgünstigeren Großbritannien (GB) importiert würden. Über alle Arzneimittelkategorien und alle nationalen und internationalen Substitutionsmöglichkeiten hinweg kommt er sogar auf ein jährliches ESP von 12,1 Mrd. Euro – das wären in 2010 immerhin 41 % der gesamten GKV-Ausgaben für Fertigarzneimittel in Höhe von 29,7 Mrd. Euro gewesen. Derartige Größenordnungen übersteigen jedoch bei weitem die praktischen Realisierungsmöglichkeiten. 9. Auch werden Einsparpotenziale zum hochrangigen Politikum, wenn sie unmittelbar gesetzgeberische Maßnahmen provozieren – wie zuletzt beim GKV-WSG von 2007 oder beim AMNOG von 2011. Wenn Potenzialberechnungen derart weitreichende Folgen haben können, darf es nicht verwundern, dass sie gegebenenfalls nicht nur politisch instrumentalisiert, sondern auch interessengeleitet konzipiert werden. Deshalb ist auch klar zwischen Einsparvolumina (ESV) im Sinne von sächlich erzielten Ausgabensenkungen und Einsparpotenzialen (ESP) im Sinne von für wünschenswert und realisierbar gehaltenen Einsparungen zu unterscheiden. 1.2 Alternative Berechnungsansätze im Vergleich Berechnung von Einsparvolumina (ESV) 10. Am Beispiel verschiedener Einsparkonzepte (Techniker Krankenkasse (TK): Versorgungsmanagement; AOK-BV und Pro Generika: Rabattverträge; GKV-SV: Festbetragssystem) wird zunächst gezeigt, mit welchen Intentionen und Methoden ESV errechnet werden, welche Ergebnisse erzielt wurden und wie valide sie einzuschätzen sind. Mit Ausnahme des IGES-Arzneimittel-Atlas erscheinen diese Ansätze statistisch-methodisch mehr oder weniger undurchsichtig, beruhen teilweise auf unrealistischen Annahmen und beziehen sich meist auf die medizinisch eher unproblematische Generikasubstitution. Berechnung von Einsparpotenzialen (ESP) 11. ESP sollen das quantitative Ausmaß vorhandener Unwirtschaftlichkeiten und die sich daraus ergebenden Wirtschaftlichkeits- bzw. Effizienzreserven angeben. Ihre Berechnung basiert wie die der ESV zwar ebenfalls auf Ex-post-Daten, ist aber insofern prospektiv, als sie notwendigerweise hypothetische Annahmen zur Möglichkeit therapeutischer oder preislicher Substitution von Arzneimitteln impliziert, verbunden mit dem Ziel, diese auch zur Erzielung von Einsparungen pragmatisch zu nutzen. 12. Die dabei erzielbaren Einsparungen können z. B. aus Verordnungseinschränkungen, therapeutischen Effektivitätssteigerungen, medizinisch-pharmazeutischen Fortschritten oder der Vermeidung von Krankheitsfolgekosten resultieren. Dagegen konzentrieren sich die in Deutschland seit 1985 (AVR) und 2000 (GEK) bzw. 2010 (BARMER GEK) periodisch erscheinenden Reporte bei ihren ESP-Berechnungen auf den Nachweis vermeidbarer Ausgaben durch Substitution hochpreisiger bzw. kostspieliger Arzneimittel durch günstigere Alternativen. ESP-Berechnungen des AVR und BARMER GEK Arzneimittelreports 13. Beide Reporte verwenden für die Arzneimittel-Klassifikation dasselbe ATC-System mit definierten Tagesdosen (DDD) und in etwa die gleichen Marktsegmente. Allerdings unterscheiden sie sich u. a. in der populationsbezogenen Datenbasis (GEK- / BARMER GEK- bzw. GKV-Versicherte) sowie hinsichtlich der Substitutionsannahmen und des Cassel/Ulrich III statistischen Bruchs durch die Fusion von GEK und BARMER GEK erheblich. Daraus resultieren ESP-Ergebnisse, die sich – wenn überhaupt – nur in der Berechnung als prozentuale Ausgaben- bzw. Umsatzanteile vergleichen lassen. 14. Der ESP-Anteil an den Arzneimittelausgaben (AMA) der vormaligen GEK – und ab 2010 der BARMER GEK – nimmt infolge gesundheitspolitischer Maßnahmen von 2005-2008 kontinuierlich ab und macht von da an einen kaum zu erklärenden Sprung von 4,9 % über 7,7 % (2010) auf 10,0 % (2011). Immerhin bleibt er damit noch deutlich unter dem vom AVR ausgewiesenen ESP-Anteil am Fertigarzneimittelumsatz (AMU): Dieser stieg im Zeitraum von 2008-2010 von 12,9 % auf 15,7 % und war damit in 2010 mehr als doppelt so hoch wie im BARMER GEK-Report. 15. Dies ist nicht allein mit den Besonderheiten der GEK / BARMER GEK und der unterschiedlichen Datenbasis zur Berechnung der ESP-Anteile erklärbar. Ein Blick hinter die methodischen Kulissen lässt vielmehr ergebnisrelevante Unterschiede in den Verfahrensweisen bei der unterstellten Arzneimittelsubstitution insbesondere im generikafähigen Markt vermuten. Dies wird anhand von vier Substitutionsvarianten von Pfannkuche et al. am Beispiel omeprazolhaltiger Verordnungen nach GEK-Daten für das Jahr 2005 belegt. 16. Ausgangspunkt ist, dass die Tagestherapiekosten (in Euro pro DDD) auch maßgeblich von der verordneten Wirkstärke und Packungsgröße abhängen. Denn „größere“ Packungen z. B. sind in der Regel preis- bzw. kostengünstiger als kleinere. Werden nun Präparate nach DDD-Durchschnittskosten substituiert, bleiben derartige Unterschiede unberücksichtigt. Im Vergleich zum Austausch durch einen Substituenten mit jeweils der gleichen Packungsgröße wie das ersetzte Medikament, kommt es deshalb zu verzerrten ESP, die die Preis- und Verordnungsrealität nicht mehr adäquat abbilden. 17. Der Austausch über DDD-Durchschnittskosten (Methodik 1) ist zwar einfach zu berechnen, ergibt aber für alle omeprazolhaltigen Verordnungen mit über 741 Tsd. Euro und einem Anteil an den Omeprazol-Ausgaben von 13,1 % das im Methodenvergleich größte ESP für die GEK. Der AVR hat für diese Wirkstoffgruppe ebenfalls ein ESP berechnet und kommt für die GKV insgesamt auf einen Umsatzanteil von 12,6 % (2005) bzw. 14,9 % (2006). Die vergleichbaren Ergebnisse lassen vermuten, dass er nach der gleichen Methodik arbeitet. 18. Werden sukzessive unterschiedliche Wirkstärken (Methodik 2) sowie verschiedene Packungsgrößen und Darreichungsformen (Methodik 3) rechnerisch berücksichtigt, fallen die ESP quantitativ immer geringer aus. Die Verzerrungen, die sich aus der Beschränkung auf die DDD-Durchschnittskosten ergeben, verringern sich also umso mehr, je differenzierter die Vorgehensweise ist. Am geringsten sind sie, wenn die zum Verordnungszeitpunkt jeweils preisgünstigsten Substituenten unter Berücksichtigung aller anderen Parameter zum Zuge kommen (Methodik 4). 19. Diese Vorgehensweise ist sehr aufwendig, weil sie zusätzlich auch noch die produktspezifischen Preisstände in kürzeren zeitlichen Abständen benötigt. Allerdings generiert sie auch das mit Abstand geringste ESP. Offensichtlich bildet sie die Preis- und Verordnungsrealität am besten ab, weshalb sie auch als „Goldstandard“ gilt. Hiernach hätte die GEK in 2005 nur mit einem Omeprazol-ESP von rund 165 Tsd. Euro bzw. 2,9 % ihrer Omeprazol-Ausgaben rechnen können – das sind gerade einmal 22 % des ESP nach Cassel/Ulrich IV Methodik 1. Hochgerechnet auf die GKV, hätte das ESP statt 54 Mio. Euro nach AVR (Methodik 1) nur 12 Mio. Euro (Methodik 4) ergeben. 1.3 Beliebigkeit von Methoden und Berechnungsergebnissen 20. Pragmatisch gesehen, sollten ESP wirkstoffbezogene Informationen darüber liefern, an welcher Stelle, in welcher Form und vor allem in welcher Größenordnung Unwirtschaftlichkeiten bestehen und wie hoch die in Geld ausgedrückten Einsparmöglichkeiten zu veranschlagen sind. Dazu ist erforderlich, dass sie „realistisch“ in dem Sinne sind, dass sie mit geeigneten gesundheits- und wirtschaftspolitischen Instrumenten auch realisiert werden können. 21. Deshalb ist das Vorgehen bei der ESP-Berechnung so anzulegen, dass nachfrageseitig das pharmakotherapeutische Verordnungsgeschehen und angebotsseitig die Entwicklungsdynamik des Arzneimittelmarktes durch die notwendigen Annahmen und einbezogenen Parameter möglichst realitätsnah abgebildet werden. Dem entspricht von den oben skizzierten vier Ansätzen die Methodik 4 am besten. 22. Von daher ist es zu begrüßen, dass der BARMER GEK Arzneimittelreport dem methodischen „Goldstandard“ folgt. Dagegen bleibt die Vorgehensweise des AVR hinsichtlich der Kriterien, die bei der Arzneimittelsubstitution unterstellt werden, weitgehend intransparent. Allem Anschein nach verwendet der AVR eine Methodik, die zu unrealistisch hohen ESP führt. Anders wäre nicht zu erklären, warum der ESP-Anteil am Arzneimittelumsatz im GKV-System ständig so viel höher liegen soll als in der hierzulande größten Einzelkasse. 2 Potenzialberechnungen des Arzneiverordnungs-Reports (AVR) 2.1 Berechnungsgrundlagen und Berechnungsmethoden ATC-Klassifikationen und definierte Tagesdosen (DDD) 23. Eine Grundlage zur Berechnung von ESP stellt die ATC/DDD-Klassifikation dar. Zur Messung des Verordnungsvolumens innerhalb der ATC-Systematik kommt auf internationaler Ebene das System der definierten Tagesdosen (DDD – Defined Daily Doses) der WHO zum Einsatz. Für jeden Wirkstoff legt die WHO eine Arzneistoffmenge fest, die als Erhaltungsdosis für einen Erwachsenen in der Hauptindikation konsentiert wurde. 24. Die Höhe der errechneten ESP hängt entscheidend von der angewandten Methodik ab. Eine Substitution, die auf der Basis der mittleren Tagestherapiekosten (Preis je DDD) erfolgt, ist zwar relativ einfach zu berechnen, verzerrt aber das ausgewiesene Ergebnis vergleichsweise stark. Problematisch bei dieser Methode ist insbesondere, dass die Verwendung von Durchschnittskosten eine gleiche Verteilung der Verordnungsmenge in Bezug auf die verschiedenen Packungsgrößen und Wirkstärken voraussetzt. In der Praxis ist aber ein so berechnetes ESP nicht vorhanden. 25. Vom AVR, der ja eine Vorreiterrolle bei der Berechnung von ESP spielt, sollte daher erwartet werden, dass er diejenige Methodik verwendet, die den praktischen Gegebenheiten am nächsten kommt, vor allem aber keine unrealistischen ESP generiert und deshalb auch keine unerfüllbaren Einsparwünsche auslöst. Cassel/Ulrich V 2.2 Einsparpotenziale bei umstrittenen Arzneimitteln 26. Als umstrittene Arzneimittel werden Wirkstoffe oder Fertigarzneimittel bezeichnet, deren therapeutische Wirksamkeit nicht oder nicht in ausreichendem Maße durch kontrollierte klinische Studien nachgewiesen worden ist. Das errechnete ESP beläuft sich für das Jahr 2010 auf 572 Mio. Euro. Da ein Teil dieser umstrittenen Arzneimittel durch wirksame Präparate ersetzt werden sollte, stehen als Einsparsumme nicht die gesamten Ausgaben zur Disposition, sondern nur die Differenz, die nach der Substitution durch wirksame Präparate verbleibt. 27. Die Berechnungen setzen voraus, dass nach eindeutigen Kriterien bestimmt werden kann, welches Präparat umstritten ist und welches nicht. Dies sollte aus der Perspektive des Patienten entschieden werden. Allerdings fehlt im AVR bei der Berechnung der ESP die genaue Beschreibung der Methodik. Die Angaben über die DDD-Kosten bei den Substitutionsvorschlägen legen aber die Schlussfolgerung nahe, dass Methodik 1 angewandt wird, die ein zu hoch geschätzten ESP ausweist. 2.3 Einsparpotenziale aus nationalen Preisvergleichen 28. Das ESP bei den generikafähigen Wirkstoffen beläuft sich nach AVR im Jahr 2010 auf 1,6 Mrd. Euro. Von Interesse ist hier der Zusammenhang zwischen ESP und Effizienz der Arzneimittelversorgung. Eine Veränderung des ESP im generikafähigen Markt lässt zunächst noch keine Aussage über die Effizienz der Arzneimittelversorgung zu. Eine effiziente Arzneimittelversorgung kann sowohl mit einem zunehmenden als auch mit einem sinkenden ESP einhergehen. 29. Analogpräparate enthalten neue Wirkstoffmoleküle mit pharmakologischen Wirkungen, die mit denen des Originalpräparates vergleichbar sind. Diese Innovationen können wegen verbesserter Pharmakokinetik oder verminderter unerwünschter Arzneimittelwirkungen mit therapeutischen Vorzügen einhergehen, besitzen jedoch zumeist keinen relevanten therapeutischen Vorteil gegenüber der Leitsubstanz. Nach AVRBerechnungen steigt das Analoga-ESP seit dem Jahr 2008 wieder an und erreicht im Jahr 2010 einen vorläufigen Höchstwert von 2,5 Mrd. Euro. 30. Auch bei den Analogpräparaten basiert die ESP-Berechnung des AVR vermutlich auf Methodik 1. Dabei wird die DDD-Verordnungsmenge des zu substituierenden teuren Präparates multipliziert mit der Differenz aus seinem DDD-Preis und dem DDD-Preis des Austauschpräparates. Als Substituent wird der preisgünstigste Wirkstoff herangezogen, falls er eine Mindestmenge von 100.000 DDD erreicht, um Verzerrungen bei irrelevant kleinen Mengen zu vermeiden. Das ESP ist dann die Differenz zwischen dem Umsatz nach generischer Substitution und dem Umsatz nach Wirkstoffsubstitution. 2.4 Einsparpotenziale aus internationalen Preisvergleichen Neues Berechnungskonzept für neue Einsparpotenziale 31. Beim nationalen Preisvergleich resultiert das ESP aus der angenommenen Substitution von teuren durch billigere Präparate, die hierzulande erhältlich sind. Das ESP aus internationalen Preisvergleichen ist dagegen die bloße Differenz zwischen den faktischen im Inland getätigten Ausgaben bzw. Umsätzen und den fiktiven, zu internationalen Vergleichspreisen in anderen Ländern ermittelten Volumina. Cassel/Ulrich VI 32. Länder wie Schweden (SE) und Großbritannien (GB) regulieren ihren Pharmamarkt im Vergleich zu Deutschland (DE) ähnlich moderat, haben aber im Durchschnitt niedrigere Arzneimittelpreise. Dies mag den AVR veranlasst haben, in 2010 und 2011 Preisvergleiche für die jeweils 50 umsatzstärksten patentgeschützten und generischen Präparate zwischen DE und SE bzw. GB anzustellen und daraus ESP abzuleiten. 33. Damit wurde das nationale Vergleichskonzept um eine neue, pragmatisch aktuelle Dimension ergänzt. Denn die Art und Weise, wie die Berechnungen methodisch angelegt und ihre Ergebnisse kommuniziert wurden, deuten darauf hin, dass der Ausweis von möglichst hohen Preisunterschieden und Einsparpotenzialen intendiert war, um im Vorfeld des AMNOG – wie auch danach bei den einsetzenden Preisverhandlungen – kassenseitig Handlungsdruck zu erzeugen. 34. Die bisherigen internationalen Preisvergleiche sind nach Bekunden des AVR „exemplarisch“: Die in DE geltenden Produktpreise werden nacheinander mit den Preisen in zwei Referenzländern (SE in 2010; GB in 2011) verglichen. Dabei sind auch nur die jeweils 50 umsatzstärksten patentgeschützten Original- und Analogpräparate und Generika bzw. generikafähigen Wirkstoffe mit ihrer in DE meistverordneten Packungsgröße einbezogen. 35. Verglichen werden die Apothekenverkaufspreise (AVP) im Falle des Vergleichs mit SE inclusive MWSt (SE kennt jedoch keine Umsatzsteuer auf Pharmaka, so dass die AVP in DE mit MWSt erhoben werden und die Steuer dann nachträglich pauschal herausgerechnet wird), und im Falle GB ohne MWSt. Rabatte, Zuzahlungen und Handels- bzw. Preisspannen von Herstellern, Apotheken und Großhandel bleiben unberücksichtigt, so dass Rückschlüsse auf den Abgabepreis des pharmazeutischen Unternehmers (ApU) oder die tatsächliche Ausgabenbelastung der Kostenträger bzw. Krankenkassen ohne Weiteres nicht möglich sind. 36. Da SE und GB nicht der Europäischen Währungsunion angehören, müssen ihre Arzneimittelpreise in Euro umgerechnet werden. Dazu dienen stichtagsbezogene Kassakurse von Mitte 2010 (SE) und 2011 (GB), während die Verordnungsmengen aus dem jeweiligen Vorjahr datieren. Geglättete Durchschnittskurse, der Kurs bei Einführung der Präparate (Einführungskurs) oder gar Kaufkraftparitäten werden nicht verwendet. Einsparpotenziale bei Patentarzneimitteln und Generika 37. Hieraus ermittelt der AVR, dass die 10 umsatzstärksten Patentpräparate in DE 55,9 % bzw. 66,1 % mehr gekostet haben als in SE und GB. Der Korb mit den 50 umsatzstärksten Medikamenten war im Durchschnitt in DE um 48 % bzw. 65 % teurer, was alarmierend hoch erscheint. Hätte der AVR umgekehrt gerechnet und angegeben, dass die Ausgaben für die 10 umsatzstärksten in SE durchschnittlich um 35,8 % und in GB um 39,8 % billiger waren als in DE, hätte das weniger spektakulär geklungen und zudem einen realistischeren Blick auf die Einsparmöglichkeiten eröffnet. 38. Aus den produktspezifischen Preisdifferenzen, multipliziert mit den deutschen Verordnungsmengen, ergeben sich die ESP der einzelnen Präparate. Für alle 50 Produkte aufaddiert und über ihrem Umsatzanteil am gesamten Patentmarkt in DE in Höhe von 55,7 % hochgerechnet, stellte sich das umsatzsteuerfreie ESP bei Patentarzneimitteln in SE auf 2,5 Mrd. Euro und in GB auf 4,1 Mrd. Euro. Cassel/Ulrich VII 39. Wäre z. B. das ESP gegenüber GB tatsächlich realisierbar und vollständig zu Lasten der Hersteller gegangen, hätte es 45-50 % des Nettoerlöses ausgemacht, den die forschende Arzneimittelindustrie im deutschen Patentmarkt netto nach MWSt, Abschlägen und Rabatten erzielt. Man könnte derartige Berechnungen übergehen, wenn daran nicht entsprechende Handlungsempfehlungen an Kassen und Verbände, vor allem aber an die Gesundheitspolitik geknüpft worden wären. 40. Dennoch ist unverkennbar, dass bei Patentpräparaten international beträchtliche Preisdiskrepanzen gegenüber Deutschland bestehen. Sie beziehen sich aber zunächst einmal auf die Apothekenverkaufspreise (AVP). Ob und inwieweit sie sich in dieser Höhe auch auf der Ebene der Herstellerabgabepreise (ApU) wiederfinden und den pharmazeutischen Unternehmern angelastet werden können, hat der AVR nicht untersucht und lässt sich auch nicht ohne Weiteres aus den Vergleichen mit AVP ableiten. 41. Das gleiche Verfahren wie bei den Patentarzneimitteln wendet der AVR auch auf Generika und generikafähige Wirkstoffe an. Auch hierbei zeigt sich, dass die analysierten Präparate zu AVP in SE und GB deutlich preisgünstiger als in DE sind: Der Korb mit den 10 umsatzstärksten Generika hätte in DE 60,8 % mehr gekostet als in SE und wäre um 90,1 % teurer als in GB gewesen – oder anders herum gerechnet: In SE war er 37,8 % und in GB 52,6 % billiger als in DE. 42. Werden die aufaddierten ESP der 50 analysierten Medikamente aus dem AVP-Vergleich mit GB auf alle generikafähigen Präparate in DE hochgerechnet, beträgt das mehrwertsteuerfreie ESP gut 4,9 Mrd. Euro, was unrealistisch hoch erscheint. Tatsächlich werden dabei in DE weder die Nachlässe der Hersteller aus selektiven Rabattverträgen, noch die Abschläge aus dem gesetzlichen Herstellerrabatt auf Generika und Festbetragspräparate preismindernd abgesetzt. Noch dazu wirkt sich hierzulande der fixe Apothekenaufschlag gerade bei Generika mit niedrigen AVP vergleichsweise preiserhöhend aus. 43. Um Doppelzählungen zu vermeiden, setzt der AVR hiervon die im nationalen Preisvergleich bereits ermittelten Generika-ESP von rund 1,6 Mrd. Euro ab. Damit addieren sich die verbleibenden 3,3 Mrd. Euro Generika-ESP und die 4,1 Mrd. Euro PatentpräparateESP aus dem Vergleich mit GB zusammen mit den 4,7 Mrd. Euro aus dem nationalen Preisvergleich zur stattlichen Summe von 12,1 Mrd. Euro. Dies hätte 2010 rund 41 % des gesamten GKV-Arzneimittelumsatzes von 29,7 Mrd. Euro ausgemacht. 44. Wäre es vollständig zu Lasten der Arzneimittelhersteller realisiert worden, hätten diese über drei Viertel ihres Netto-Umsatzes von rund 15,7 Mrd. Euro nach ApU abzüglich aller Abschläge und Rabatte eingebüßt. Die gesamte GKV-Arzneimittelversorgung hätte somit auf der Herstellerebene nur noch 3,6 Mrd. Euro kosten dürfen. Derart unrealistische Ergebnisse lassen darauf schließen, dass ESP-Berechnungen ein ziemlich gewagtes und manipulationsanfälliges Unterfangen sind. 3 Fallstricke bei Potenzialberechnungen 3.1 Mangelnde Neutralität und Transparenz der Berechnungen Ergebnisgeleitete Daten- und Methodenauswahl 45. Ein vielfach erhobener Vorwurf gegen den AVR lautet, dass er am Ausweis möglichst hoher ESP interessiert sei, um immer neue Maßnahmen zur Kostensenkung in der GKVArzneimittelversorgung anzustoßen bzw. zu fordern. Durch die Veröffentlichung hoher Cassel/Ulrich VIII ESP ist dem AVR nicht nur hohe Aufmerksamkeit in den Medien sicher, sondern er übt auch Handlungsdruck auf die Organe der Selbstverwaltung und den Gesetzgeber aus, die errechneten ESP auch zu realisieren. ESP-Berechnungen können aber nur dann handlungsleitend sein und auf Akzeptanz stoßen, wenn die verwendete Methodik offen gelegt wird und Transparenz über die einzelnen Berechnungsschritte vorliegt. Berechnungen von oben und von unten 46. Bei internationalen Preisvergleichen möchte man grundsätzlich die Frage beantworten, um wie viel Prozent die Preise im Ausland – wie etwa nach AVR in Schweden und Großbritannien – günstiger sind. Hierbei muss die Preisdifferenz auf den deutschen und nicht auf schwedischen oder den englischen Preis bezogen werden. Formal gesehen macht das einen Unterschied, da die Basis der Berechnung eine andere ist, je nachdem ob man von oben oder von unten rechnet. 47. Konkret führt diese Vorgehensweise dazu, dass der Korb, der die jeweils 10 umsatzstärksten Medikamente in Schweden, Großbritannien und Deutschland enthält, in DE 55,9 % bzw. 66,1 % mehr kostet als in SE und GB. Das sind zunächst erstaunlich große Preisunterschiede zu den beiden betrachteten Ländern. Von unten verringert sich der Preisabstand auf 35,8 % (SE) und 39,8 % (GB). Preisunterschiede zwischen Inland und Ausland 48. Internationale Preisvergleiche sind sehr komplex. Vergleiche sollten grundsätzlich auf Basis der ApU durchgeführt werden. Nur diesen Preis hat der Hersteller zu verantworten. Bei Vergleichen auf AVP-Basis muss sichergestellt sein, dass Unterschiede in den Distributionsketten (Handelsspannen, MWSt, Rabatte) berücksichtigt werden. 49. In Großbritannien berechnet sich der Public Price, der dem deutschen AVP entspricht aus dem ApU zuzüglich einer Großhandelspanne (GH-Spanne) von 12,5 %. Von der Großhandelsspanne erhält der Apotheker durch den Großhändler einen Rabatt von rund 10 %, so dass die tatsächliche GH-Spanne bei rund 2,5 % liegt. Der National Health Service (NHS) schöpft jedoch den vom Großhändler an den Apotheker gewährten Rabatt weitgehend wieder ab. Damit gibt es in Großbritannien keine eindeutige Apothekenspanne, wie dies in Deutschland der Fall ist. Unterschiedliche Rechnungen führen damit auch zu unterschiedlichen AVP und ESP. 50. Ein Preisvergleich bei Vorliegen von Wechselkursen macht nur Sinn, wenn man die Preise bei Markteinführung zum damals gültigen Wechselkurs vergleicht. Ansonsten werden aus Wechselkursschwankungen Preisdifferenzen errechnet, die der pharmazeutische Unternehmer weder beeinflussen kann noch zu vertreten hat. 51. Zu berücksichtigen sind auch die gewährten Rabatte, da diese die GKV bzw. den Versicherten entlasten. Grundsätzlich müssten die Einsparungen aus Rabattverträgen bzw. die gesetzlich fixierten Herstellerrabatte abgezogen werden. Da die gewährten produktbezogenen Rabatte aus einzelnen Selektiverträgen nicht öffentlich bekannt sind, ist es allenfalls möglich, sie auf Ebene der einzelnen Kassen oder der GKV insgesamt zu erfassen und abzusetzen. Cassel/Ulrich IX Überschätzung des Umsatzwachstums bei patentgeschützten Arzneimitteln 52. Der AVR hat mehrfach die These der Vervielfachung der Umsätze patengeschützter Arzneimittel vertreten. Fragwürdig daran ist die zugrunde liegende Grundgesamtheit, welche für die ausgewiesenen Steigerungsraten und die daraus rechnerisch generierten ESP maßgeblich ist. Der AVR setzt die durch Fricke/Klaus bewerteten patentgeschützten Arzneimittel mit der Gesamtheit aller patentgeschützten Arzneimittel gleich. Das führt dazu, dass die Ausgaben für patentgeschützte Arzneimittel zunächst unterschätzt und dadurch ihr Umsatzwachstum und damit auch das ESP für patentgeschützte Präparate über die Jahre hinweg überschätzt werden. 53. Geht man davon aus, dass die Netto-Patentschutzdauer bis zu 15 Jahren beträgt, ist die AVR-Statistik erst etwa ab dem Jahr 2000/2001 aussagefähig. Denn erst wenn alle nicht bewerteten Bestandspräparate ihren Patentschutz verloren haben, sind beide Mengen – alle patengeschützten und alle von Fricke/Klaus bewerteten Arzneimittel – identisch. Nach unseren Berechnungen sind die Umsätze patentgeschützter Arzneimittel von 1993 bis 2009 tatsächlich nur von 4,9 Mrd. Euro auf 14,2 Mrd. Euro gestiegen. Damit hat der AVR die Umsatzsteigerungen um 3,2 Mrd. Euro bzw. 34 % überschätzt. Die Wachstumsrate hat er um 287 % bzw. 545 Prozentpunkte überschätzt. 54. Bei Preisvergleichen sollte auf die Einhaltung von Mindeststandards in Bezug auf Neutralität und Transparenz geachtet, das Forschungsziel klar beschrieben, die Methodik dargestellt und die Daten entsprechend aufbereitet werden. Es genügt auch nicht, ESP einfach nur zu berechnen, es sollten auch die Instrumente benannt werden, die zur Schöpfung der ESP zur Verfügung stehen. Dazu rechnet letztlich auch eine Diskussion über die Grenzen und die Fallstricke für Preisvergleiche und ESP-Berechnungen. 55. Von daher steht der AVR im Mittelpunkt einer kritischen Bewertung, denn der AM-Atlas nimmt fortlaufend keine eigenen ESP-Berechnungen vor und der BARMER GEK-Report weist lediglich relativ grobe Schätzungen aus, die letztlich nur kassenspezifisch interpretiert werden. Der AVR ist demnach der einzige Verordnungsreport, der nationale und internationale Preisvergleiche vornimmt und quantitative Berechnungen zu den ESP auf GKV-Ebene anstellt. 3.2 Unrealistische Annahmen und inadäquate Berechnungsmodalitäten Relevanz von Rabatten, Handelsspannen und Mehrwertsteuer 56. Bei der Abgrenzung des relevanten Marktes verwendet der AVR den Begriff des GKVFertigarzneimittelumsatzes (AMU). Dieser beläuft sich für das Jahr 2010 auf 29,7 Mrd. Euro. Der Umsatz der pharmazeutischen Industrie mit der GKV ist allerdings wesentlich geringer, so dass bereits an dieser Stelle eine zu große Grundgesamtheit und damit grundsätzlich auch ein zu hohes ESP ausgewiesen werden. 57. Im AMU der GKV sind u. a. die finanziellen Auswirkungen der Arzneimitteldistribution über Großhandel und Apotheken sowie im Direktvertrieb enthalten. Schlüsselt man den AMU nach Distributionsstufen auf, verbleibt nur noch ein GKV-Umsatz der pharmazeutischen Industrie in Höhe von 15,7 Mrd. Euro. Das vom AVR für 2010 ausgewiesene ESP in Höhe von 12,1 Mrd. Euro entspräche somit einem Anteil von 77 % an den GKVUmsätzen der Hersteller, die nach Abzug nur noch 3,6 Mrd. € betragen würden. Cassel/Ulrich X 58. Anstatt die Rabatte zu addieren, wäre es aus methodischer Sicht angebracht, sie aus den Fertigarzneimittelumsätzen pauschaliert abzuziehen. Zwar lassen sich die Rabatte nicht aus einzelnen Selektivverträgen nachvollziehen, die „Rabatterlöse“ der GKV insgesamt sind aber bekannt und belaufen sich in 2010 auf die erwähnten 1,3 Mrd. Euro. Diese Regulierungswirkungen dürfen bei der Analyse von ESP nicht ignoriert werden, weil sonst Wirtschaftlichkeitsreserven zur Diskussion stünden, die längst über die gewährten Rabatte realisiert sind. Fragwürdige Zurechnung der potenziellen Einsparungen 59. In Politik und Selbstverwaltung wird meist davon ausgegangen, dass die ESP auf der Ebene der Hersteller zu realisieren seien. Dies abstrahiert nahezu vollständig von den existierenden Wirkungsmechanismen der Preisbildung in Deutschland und in anderen marktwirtschaftlichen Ländern: Von einem Arzneimittel, das in der Apotheke 11 Euro zu Lasten der GKV kostet, erhält der Hersteller nur rund 35 Cent. Der Rest geht an die Mehrwertsteuer und in die Handelsstufen. 60. Eine vom BPI durchgeführte Vergleichsrechnung liefert ein differenziertes Bild der Träger von Preiseffekten: Aktualisiert mit der Wechselkursentwicklung bis zum 02.06. 2012, beläuft sich der Preisunterschied nach der AVR-Methode nur noch auf 40,0 % und nicht mehr auf 48 %. Unter der notwendigen Berücksichtigung der Abschläge von Herstellern und Apothekern verringert sich diese Differenz auf 21,0 %. Auf der Ebene der Hersteller sind in DE die 50 Patentarzneimittel sogar um 1,5 % billiger als in SE. 61. Der Hauptunterschied beim Vergleich zwischen DE und SE liegt somit nicht auf der Herstellerebene, sondern bei der MWSt – die nicht in SE, aber in DE erhoben wird – sowie bei der in DE höheren Vergütung von Großhandel und Apotheken. Will man die ausgewiesenen ESP des AVR realisieren, so lassen sich nur rund 10 % auf der Ebene der Hersteller heben. Etwa 40 % betreffen die MWSt, 8 % den Großhandel und 6 % die Apotheken. Rund 36 % des ESP sind durch Apothekenabschlag und erhöhten Herstellerabschlag bereits realisiert. 62. Die Preisdiskrepanz zu GB für die 50 umsatzstärksten Patentarzneimittel beträgt nach der AVR-Methode 65 % zu Ungunsten Deutschlands. Bestimmt man wieder die Aufteilung des Betrages auf die einzelnen Teilnehmer der Distributionskette und berücksichtigt die Abschläge von Herstellern und Apothekern, verringert sich diese Diskrepanz auf 38,4 %. Auf der Ebene der Hersteller sind in DE die 50 betrachteten Arzneimittel nur noch um 27,7 % teurer als in GB. 63. Das zentrale Problem liegt darin, dass der AVR auf Basis des AVP rechnet. Durch die zahlreichen Arzneimarkt-Regulierungen in DE, aber auch in den Vergleichsländern, sagt der AVP inzwischen nur noch wenig darüber aus, was ein Arzneimittel die Krankenkassen kostet. Er informiert zudem nicht darüber, welche Einnahmen die Hersteller aus dem Verkauf eines Arzneimittels erhalten. Ein solcher Vergleich muss mit Hilfe des „Preises ab Werk“ stattfinden, da ansonsten den pharmazeutischen Unternehmern Erlöse zugerechnet werden, die ihnen tatsächlich gar nicht zufließen. Unzulässige Ceteris-paribus-Bedingungen 64. Alle bekannten Berechnungen von Einsparpotenzialen unterliegen der Ceteris-paribusBedingung, d. h. sie erfolgen unter sonst gleichen Bedingungen. Mit diesem statischen Cassel/Ulrich XI Konzept wird man aber der Dynamik auf dem Arzneimittelmarkt – und hier insbesondere auf dem Markt für Generika – nicht gerecht. Die Berechnung von ESP bei generikafähigen Wirkstoffen zeigt den Nachteil der statischen Analyse sehr anschaulich. 65. Bei der Substitution wird stets das preisgünstigste Generikum verwendet. Käme immer der günstigste Anbieter zum Zuge, so hätte dies in kürzester Zeit eine starke Konzentration auf sein Präparat zur Folge. Da es aber beträchtliche Markteintrittshürden gibt, würde der betreffende Anbieter seine Preise wieder erhöhen. In der statischen Analyse werden diese Effekte vernachlässigt, die aber für eine dynamische Gesamtbetrachtung entscheidend sind und durch eine Mutatis-mutandis-Betrachtung erfasst werden müssten. 3.3 Missachtung von Besonderheiten der internationalen Preisreferenzierung Vergleichsrelevante Besonderheiten 66. Wie gezeigt werden konnte, muss bei der ESP-Berechnung aus internationalen Preisvergleichen bzw. international Price Referencing (IRP) mit unrealistischen und daher praktisch unbrauchbaren Ergebnissen gerechnet werden. Dies liegt an besonderen Sachverhalten, die bei ländervergleichenden Analysen typischerweise relevant sind und das IRP bis hin zur Unmöglichkeit erschweren. 67. Da internationale Preisvergleiche nicht im überschaubaren institutionellen Rahmen des Inlands stattfinden, ist zunächst anhand sachlicher Kriterien eine Auswahl geeigneter Referenzländer zu treffen. Jedes Referenzland weist Regulierungs- und Marktbesonderheiten bei Arzneimitteln auf, die preisbestimmend sein können und den Preisvergleich mit Deutschland erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen. Dazu zählen insbesondere die Erstattungsregelungen wie auch die vielfältigen angebots- und nachfrageseitigen Preis- und Mengenregulierungen, unterschiedliche Vertriebswege und das vielfach praktizierte IRP-System. 68. Referenzländer, die einem anderen Währungsgebiet angehören – wie etwa SE und GB– stellen zudem besondere Anforderungen an das IRP, weil die ausländischen Preise in Inlandswährung umgerechnet werden müssen und sich je nach Wahl des Wechselkurses erhebliche Preisdiskrepanzen ergeben können. Und selbst innerhalb der Eurozone können sich kaufkraftbedingte Preisunterschiede ergeben, die beim IRP nicht unberücksichtigt bleiben sollten. Quantitative Effekte alternativer Berechnungen 69. Durch Missachtung dieser Besonderheiten öffnet sich jedoch ein Einfallstor für intentionale bzw. interessengeleitete ESP-Berechnungen – von unbeabsichtigten, aber folgenschweren Erfassungs-, Interpretations- und Berechnungsfehlern ganz abgesehen, die das Handling derart vieler Aspekte bei aller Sorgfalt mit sich bringt. Anhand von Kontrollrechnungen für einzelne Medikamente wie für bestimmte Kategorien oder die Gesamtheit der Arzneimittel lässt sich zeigen, welche Auswirkungen dies auf den quantitativen Ausweis von internationalen Preisdiskrepanzen und die daraus ermittelten Einsparpotenziale hat. 70. Am Beispiel eines hochpreisigen patentgeschützten Spezialpräparats im AVR-Vergleich für 2010 mit GB werden verschiedene Fallstricke der ESP-Berechnung benannt, darunter Cassel/Ulrich XII unterschiedliche Packungsinhalte, Vergleich auf unterschiedlichen Preisstufen, keine Preisbereinigung um Rabatte und keine stichtagsgleichen Wechselkurse oder gar Einführungswechselkurse. Aufgrund einer anonymisierten Kontrollrechnung werden schrittweise ihre quantitativen Preis- und ESP-Effekte ermittelt. 71. Die Standardpackung des betreffenden Medikaments hat in DE einen Preis von 100 Euro; sein Preis in GB beträgt umgerechnet 60,66 Euro. Der deutsche Preis liegt damit fast 65 % höher als der britische bzw. der britische knapp 40 % unter dem deutschen Preis. Das sich über den Umsatz in DE ergebende und wegen der anonymisierten Berechnung dem Betrag nach rein fiktive ESP beträgt 0,513 Mio. Euro. 72. Werden alle vom AVR übersehenen Fallstricke berücksichtigt, errechnet sich zum Zeitpunkt der Markteinführung für das Präparat in GB ein Preis von 97,80 Euro, während es gleichzeitig in DE für nur 84,40 Euro zu haben war. Demnach wäre das Medikament in DE nicht etwa teurer als in GB gewesen, sondern um 13,40 Euro billiger, und das deutsche ESP wäre zu einem britischen mutiert. 73. Um auch für ganze Kategorien von Arzneimitteln zu zeigen, wie sensibel die Berechnungsergebnisse auf zugrunde gelegte Annahmen reagieren, wurden auch Nachberechnungen für das Segment der 50 umsatzstärksten Patentarzneimittel angestellt. Ausgangspunkt ist die AVR-Methodik beim IRP mit Großbritannien für 2010 (AVP ohne MWSt in DE und GB und Kurs des GBP vom Juni 2011). Sie ergibt, dass die 50 Patentpräparate in DE im Durchschnitt 65 % teurer als in GB bzw. GB 32 % billiger als in DE waren und sich das ESP auf rund 2,3 Mrd. Euro belief. 74. Werden dagegen dem Preisvergleich statt der AVP die Netto-ApU nach Abzug der Rabatte und adjustierten Handelsmargen zugrunde gelegt, vermindert sich die Preisdiskrepanz von DE gegenüber GB auf 38 %, während sich das ESP mit rund 1 Mrd. Euro mehr als halbiert. Hätte der AVR korrekterweise auch noch mit Einführungswechselkursen gerechnet, hätten sich zwischen DE und GB weder signifikante Preisdiskrepanzen noch Einsparpotenziale in Deutschland ergeben. Anforderungen an adäquate Berechnungsverfahren 75. Derartige Ergebnisse wie auch theoretische Argumente lassen es geboten erscheinen, an die Berechnungsverfahren des ESP auch und gerade im internationalen Preisvergleich höchste Ansprüche zu stellen. Die verbindliche Agenda für eine „good practice“ bei ESPBerechnungen im internationalen Preisvergleich müsste nach alledem die nachfolgenden Punkte enthalten. 76. (1) Auswahl von mehreren Referenzländern, die nach theoretisch validen und empirisch abgesicherten Kriterien miteinander vergleichbar sind; (2) praktikable Verfahren zur Beschaffung von steuer-, abschlags- und rabattbereinigten Erstattungspreisen auf der Herstellerebene; (3) Bereinigung der Vergleichspreise von besonders preisverzerrenden nationalen Regulierungen und irregulären Preisdeterminanten; (4) Normierung und Standardisierung der Vergleichspreise durch einheitliche Packungsgrößen und Wirkstärken sowie Gewichtung mit Verordnungsmengen; und (5) Umrechnung der Fremdwährungspreise zu Einführungswechselkursen und Gewichtung der Auslandspreise innerhalb der Eurozone mittels Kaufkraftparitäten. Cassel/Ulrich XIII 4 Einsparpotenziale: Leuchtturm oder Irrlicht für die Gesundheitspolitik? 77. Berechnung und Ausweis von Einsparpotenzialen sind ein Politikum ersten Ranges. Es muss deshalb im genuinen Interesse der gesundheitspolitischen Akteure liegen, die von ihnen geforderten Entscheidungen auf eine tragfähige Informationsbasis zu stellen. Um nicht einem irrationalen Aktivismus zu verfallen, sollten sie ziemlich genau und verlässlich wissen, wo Unwirtschaftlichkeiten prävalent sind, welchen Umfang sie wirklich haben, wer sie verursacht und mit welchen Mitteln sie gegebenenfalls beseitigt werden können. Solche Informationen liefern die vorliegenden Berechnungen nach unserer Analyse jedoch nur sehr bedingt. Einsparpotenziale sind daher eher ein Irrlicht als ein richtungweisender Leuchtturm für rationales Handeln im Gesundheitswesen. 78. Angesichts der kaum zu überwindenden Schwierigkeiten, wenn nicht gar praktischen Unmöglichkeiten, belastbare Einsparpotenziale methodisch einwandfrei zu ermitteln, wäre es ein Gebot der Vernunft und Redlichkeit, auf derartige Versuche zumindest im internationalen Preisvergleich zu verzichten. Von Ludwig Wittgenstein, dem prominenten Vertreter der analytischen Philosophie der 1920er Jahre, stammt der berühmte Satz: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“. In Anlehnung daran lautet unser Fazit: „Was man nicht berechnen kann, muss man sein lassen“! Cassel/Ulrich XIV Anlass, Zielsetzung und Aufbau In den letzten beiden Jahrzehnten sind die Ausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) für erstattungsfähige Arzneimittel merklich gestiegen und bilden inzwischen nach der Krankenhausbehandlung und in etwa gleichauf mit der ärztlichen Behandlung den zweitgrößten Ausgabenblock. Die Pharmakotherapie gilt zwar generell als höchst effektiv, doch wird vielfach bezweifelt, ob sie auch in jedem Falle effizient, d. h. ihr Geld wert ist: Insbesondere die festbetragsfreien, meist hochpreisigen, weil noch patentgeschützten Arzneimittel (Originale und ihre Analoga) seien im internationalen Vergleich zu teuer und würden dort, wo es generische verfügbare Standardtherapien mit vergleichbarer Wirkung gebe, auch zu häufig verordnet. Überdies würden Ärzte immer noch Präparate verschreiben, die in ihrer Wirksamkeit umstritten seien, und die Apotheken Medikamente abgeben, die sie billiger aus dem Ausland importieren könnten. Schließlich werden auch medikamentöse Über-, Unterund Fehlversorgungen sowie mangelhafte Compliance als Ursache für vermeidbare Arzneimittelausgaben angesehen. Dementsprechend werden in der GKV-Arzneimittelversorgung erhebliche Einsparmöglichkeiten bzw. Wirtschaftlichkeits- oder Effizienzreserven vermutet, deren Ausschöpfung unter den Geboten der Wirtschaftlichkeit (§ 12 SGB V) und Beitragssatzstabilität (§ 71 SGB V) gemeinhin als gesundheitspolitische Daueraufgabe gilt. Anlass des vorliegenden Gutachtens sind wiederholte Versuche, derartige Effizienzreserven quantitativ exakt zu berechnen und anzugeben, in welcher Höhe die Arzneimittelausgaben gesenkt werden könnten, ohne die medizinische Versorgung dadurch zu beeinträchtigen. Anders als die rein qualitativen Untersuchungen zu Erscheinungsformen, Ursachen, Verbreitung und Vermeidung von Unwirtschaftlichkeiten, die nur selten auf breites öffentliches Interesse stoßen, wird die Veröffentlichung und mediale Verbreitung von so genannten Einspar- bzw. Effizienzpotenzialen (ESP) regelmäßig zu einem Politikum höchsten Grades, das nicht ohne Wirkung auf die Verhaltensweisen der Akteure im Gesundheitswesen, darunter insbesondere auf die gesundheitspolitischen Entscheidungsträger bleibt. Indem man etwa die umstrittenen Arzneimittel streicht oder gegebenenfalls durch wirksame Präparate substituiert sowie eine unbegrenzte Substitutionsmöglichkeit von teuren durch preisgünstigere Präparate einerseits sowie von Inlandsangeboten durch Pharmaimporte andererseits unterstellt, wird z. B. für die GKV im Jahr 2010 ein ESP von 12,1 Mrd. Euro – das sind immerhin knapp 41 % der gesamten GKV-Ausgaben für Fertigarzneimittel in Höhe von 29,7 Mrd. Euro – ermittelt (AVR 2011, S. 41). Ist man der festen Überzeugung, dass Wirtschaftlichkeitsreserven in einem derartigen Ausmaß tatsächlich existieren und sich darüber hinaus auch mobilisieren lassen, geraten alle Akteure im Gesundheitswesen regelmäßig unter erheblichen Handlungsdruck: Die Öffentlichkeit erwartet, dass sie die propagierten ESP künftig ausschöpfen und die Arzneimittelausgaben dementsprechend beitragswirksam senken. Hierdurch werden insbesondere die gesundheitspolitischen Entscheidungsträger zu immer neuen Interventionen in das Markt- und Verordnungsgeschehen gedrängt, wodurch nicht nur die Pharmaindustrie durch Erlöseinbußen, sondern letztlich auch die Ärzte in ihrer Therapiefreiheit und die Patienten in ihrem Therapiezugang betroffen sind. Hiergegen wäre kaum etwas einzuwenden, soweit Einsparmöglichkeiten wirklich manifest sind, es wissenschaftlich vertretbare und praktikable Methoden gibt, sie exakt in Geldeinheiten zu beziffern, und pragmatisch gesehen wirksame Mittel zur Steuerung des Markt- und Verordnungsgeschehens verfügbar sind, um sie tatsächlich zu realisieren. Von daher ist es Ziel der vorliegenden Expertise, die in Deutschland regelmäßig angestellten Berechnungen Cassel/Ulrich XV zum quantitativen Nachweis von Einsparpotenzialen daraufhin zu untersuchen, ob sie diesen Kriterien standhalten. Gefragt wird insbesondere nach der Tragfähigkeit der vorhandenen Datenbasis, nach dem adäquaten Umgang mit der therapeutischen und internationalen Substituierbarkeit der Wirkstoffe und Präparate, nach der hinreichenden Berücksichtigung der preisbestimmenden Marktdynamik, und nicht zuletzt nach der Angemessenheit des jeweils verwendeten Algorithmus. Über allem steht jedoch die Frage, ob die turnusmäßigen Potenzialberechnungen so valide und belastbar sind, dass sich darauf eine rationale, dem tatsächlichen Handlungsbedarf entsprechende Regulierung der GKV-Arzneimittelversorgung durch die gesundheitspolitischen Entscheidungsträger stützen lässt – oder anders gewendet: Sind sie tatsächlich ein wegweisendes Leuchtfeuer oder nicht eher ein verhängnisvolles Irrlicht auf dem Wege zu einer effektiven und zugleich effizienten Pharmakotherapie? Dementsprechend gliedert sich die Expertise, die sich als „Metaanalyse“ der einschlägigen Veröffentlichungen versteht und keine eigenen ESP-Berechnungen enthält, in vier Kapitel: Im ersten Kapitel wird das Spannungsverhältnis zwischen dem politischen Wunsch nach verlässlichen Informationen über vermutete Wirtschaftlichkeitsreserven und den Grenzen, ihn mit den derzeit praktizierten Ansätzen erfüllen zu können, aufgezeigt. Das zweite Kapitel konzentriert sich auf die Potenzialberechnungen des bekannten Arzneiverordnungs-Reports (AVR 1985 ff.), der in diesem Jahr zum 28. Mal erscheint: Er hat trotz anhaltender Kritik an Methodik und Ergebnissen eine gewisse Monopolstellung erlangt, die er neuerdings mit Blick auf die aktuelle Umsetzung des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes (AMNOG) von 2011 durch ESP-Berechnungen auf der Basis internationaler Vergleichspreise aus Schweden und Großbritannien sogar noch ausgebaut hat. Davon ausgehend, werden im dritten Kapitel generell die Fallstricke derartiger Potenzialberechnungen aufgezeigt. Schließlich wird im vierten und letzten Kapitel ein Fazit gezogen und diskutiert, ob ESP-Berechnungen nicht grundsätzlich eine verzichtbare „Mission Impossible“ sind. Mit alledem sollen die Möglichkeiten und Grenzen des ESP-Konzepts verdeutlicht und den berechneten Einsparvolumina der Nimbus genommen werden, der ihre medien- und politikwirksame Kommunikation inzwischen umgibt. Cassel/Ulrich 1 Quantifizierte Einsparpotenziale zwischen Wunsch und Wirklichkeit 1.1 Gesundheitspolitische Funktion von Potenzialberechnungen 1 Weltweit ist die Anwendung von Arzneimitteln die mit Abstand am häufigsten praktizierte therapeutische Intervention im Krankheitsfall. Mit der zunehmenden Nachfrage der noch wachsenden, zugleich aber alternden Weltbevölkerung und dem anhaltenden Angebot chemisch synthetisierter, zunehmend aber auch gentechnologisch entwickelter ArzneimittelInnovationen wird sich die Pharmakotherapie auch künftig weiter ausbreiten. Damit verbunden ist zwangsläufig ein Anstieg der Arzneimittelausgaben, der den Bemühungen um Kostendämpfung zuwiderlaufen kann. Da die Anwendung von Pharmaka generell zu den wirksamsten Therapien zählt, wäre dies hinnehmbar, wenn nicht immer wieder Zweifel daran bestünden, dass sie im Einzelfall auch effektiv und vor allem effizient sind. Dementsprechend werden gerade in der GKV-Arzneimittelversorgung beträchtliche Einsparmöglichkeiten bzw. Wirtschaftlichkeits- oder Effizienzreserven vermutet, deren Ausschöpfung als gesundheitspolitische Daueraufgabe anzusehen sei (SVR KAiG 2003, Tz 95 ff.). Unwirtschaftlichkeiten in der Pharmakotherapie resultieren zunächst einmal aus der medikamentösen Über-, Unter- und Fehlversorgung aufgrund des medizinisch veranlassten Verordnungsverhaltens der Ärzte wie auch aus einer mangelhafte Compliance bzw. Adherence der Patienten, worauf der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (SVR KAiG) bzw. zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR G) mehrfach ausführlich eingegangen ist (SVR KAiG 2001/2001,1, Tz 125 ff.; 2000/2001,2, Tz 15 ff., Tz 98 ff.; SVR G 2005, Tz 758 ff.). Hierbei stehen z. B. Verordnungen von Medikamenten, deren medizinischer Nutzen widerlegt, umstritten oder (noch) nicht belegt ist oder die nicht indikationsgerecht oder polypragmatisch verordnet werden, als Fälle von Überversorgung im Vordergrund. Nicht selten geht deren Anwendung mit Fehlversorgung durch Nichtbeachtung von Kontraindikationen und Wirkstoffinteraktionen sowie mit Unterversorgung durch den Verzicht auf den leitliniengerechten Einsatz essenzieller Präparate einher. Hinzu kommt, dass Patienten die ihnen verschriebenen Medikamente nicht oder nicht verordnungsgemäß einnehmen und dadurch ihre mangelnde Compliance Geldverschwendung und Folgekosten verursachen. Insgesamt ist dies ein zwar relevantes, aber äußerst schwieriges medizinischpharmakologisches Terrain, weshalb sich derartige Fälle – mit Ausnahme der umstrittenen und erwiesenermaßen unwirksamen Medikamente – einer quantitativen Erfassung ihres Ausgaben- bzw. Einsparvolumens weitgehend entziehen. Im Brennpunkt der Diskussion stehen vielmehr Unwirtschaftlichkeiten, die sich aus der Verordnung von Pharmaka mit einer vergleichsweise schlechten Preis- bzw. Kosten-Wirksamkeits-Relation ergibt. So sind für den SVR G (2005, Tz 770) Medikamente immer dann unwirtschaftlich, wenn sie keine Wirksamkeit besitzen, wenn sie eine geringere Wirksamkeit entfalten als solche mit gleichen oder niedrigeren Preisen oder wenn sie nicht besser wirken als preisgünstigere Präparate. Dementsprechend konzentriert sich das Interesse aktuell, d. h. nach Inkrafttreten des AMNOG zum 1.1.2011, auf folgende Arzneimittelkategorien: • Umstrittene Medikamente, die keine Wirksamkeit besitzen oder deren Wirksamkeit zumindest umstritten ist und die deshalb als unwirtschaftlich gelten, weil für Unnützes kein Geld ausgegeben werden sollte. • Generika einschließlich der Biosimilars, die als wirkstoffidentische bzw. biologisch ähnliche Nachahmerprodukte gleiche oder ähnliche Wirkungen wie die nicht mehr patent- Cassel/Ulrich 2 geschützten Originalpräparate entfalten, aber in der Regel erheblich preisgünstiger sind und deshalb verstärkt verordnet werden sollten. • Analoga, die trotz ihrer patentfähigen neuen Molekülvarianten bekannter Wirkstoffe keine oder nur geringe therapeutischen Vorteile gegenüber den etablierten Originalen haben, aber teurer als diese bzw. deren bereits ausgebotene Generika sind. • Arzneimittel-Innovationen, die einen patentgeschützten neuartigen Wirkstoff mit deutlich höherer Wirksamkeit bzw. höherem Zusatznutzen gegenüber vorhandenen Leitsubstanzen haben (so genannte Solisten) und in Deutschland mitunter deutlich teurer als im Ausland sind. • Arzneimittel-Innovationen, die trotz ihres patentgeschützten neuartigen Wirkstoffs keinen relevanten therapeutischen Vorteil bzw. Zusatznutzen gegenüber etablierten Leitsubstanzen haben (so genannte Nicht-Solisten), aber höhere Therapiekosten als diese verursachen. • Importarzneimittel, die als patentgeschützte oder ungeschützte Präparate den in Deutschland zugelassenen Medikamenten entsprechen, aber im Ausland billiger als hierzulande sind und als Parallel- oder Reimporte zur Verfügung stehen. Schon diese Kategorisierung macht deutlich, dass der Nachweis preis- bzw. kostenbedingter Unwirtschaftlichkeiten kein leichtes Unterfangen ist, zumal er nur unter der Prämisse geführt werden kann, dass die jeweiligen Präparate innerhalb einer Indikation nach medizinisch-pharmakologischen Kriterien sowohl generell als auch in jedem Einzelfall unbedenklich substituierbar sind und somit keine Einbußen der Versorgungsqualität drohen. Gesundheitspolitisch wird in derartigen Unwirtschaftlichkeiten bzw. Ineffizienzen gleichwohl ein gravierender Verstoß gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot (§ 12 SGB V) gesehen, der die Einhaltung der gesetzlich gebotenen Beitragssatzstabilität (§ 71 SGB V) gefährdet. Von daher sind sie schon Mitte der 1960er Jahre immer wieder diskutiert worden und Mitte der 1970er Jahre vollends in das Visier der Kostendämpfungspolitik der Bundesregierung geraten (Baumheier 1994, S. 138 ff.). Seitdem ist die Effizienzsteigerung in der GKV-Arzneimittelversorgung zu einem vorrangigen Ziel der deutschen Gesundheitspolitik avanciert, das mit einer Fülle von Instrumenten zu erreichen versucht wurde. Sie haben den GKV-Arzneimittelmarkt inzwischen mit einem dichten Netz von ausgabenwirksamen Regulierungen überzogen (IGES et al. 2006; Cassel/Wille 2009) und mit der Einführung von Erstattungsbeträgen auch auf Basis internationaler Vergleichspreise für Arzneimittel-Innovationen mit Zusatznutzen (Solisten) durch das AMNOG schließlich auch die letzte Lücke in der Preisregulierung von Pharmaka geschlossen (Cassel 2012; Cassel/Ulrich 2012). Dazu getrieben wurde der Gesetzgeber außer über eine Reihe einschlägiger Gutachten hinaus (z. B.: SVR KAiG 2000/2001,2; SVR G 2005; Rürup et al. 2009,1 und 2) nicht zuletzt durch die jährlich erscheinenden, als „Report“ oder „Atlas“ bezeichneten Berichte zum Arzneimittelverbrauch in der GKV (AVR 1985 ff.; AM-Atlas 2006 ff.; GEK 2006-2009; BARMER GEK 2010 ff.). In ihnen werden die Verordnungen von erstattungsfähigen Präparaten mit unterschiedlichen Fragestellungen, Daten und Methoden analysiert, um Ärzte, Patienten, Krankenkassen, Selbstverwaltung und politische Entscheidungsträger über die Struktur und Entwicklung des Verbrauchs von Medikamenten zu informieren sowie medizinisch-pharmazeutische Trends und bestehende Ineffizienzen aufzuzeigen. Letztlich wollen sie damit zu einer zweckmäßigeren, sichereren und wirtschaftlicheren Pharmakotherapie beitragen. Bei allen Unterschieden in der Zielsetzung, Datenbasis, Methode und – notabene – den Ergeb- Cassel/Ulrich 3 nissen ist es als ausgesprochen verdienstvoll, wenn nicht unverzichtbar anzusehen, dass dadurch der Arzneimittelverbrauch in Deutschland übersichtlicher geworden ist, unwirtschaftliche Verordnungen nicht bloß anekdotisch evident sind und die daraus für alle Beteiligten, insbesondere aber den Gesetzgeber abgeleitete Handlungsempfehlungen öffentlich zur Diskussion stehen. Politisch-pragmatisch verständlich, aber in verschiedener Hinsicht problematisch sind jedoch die dabei in einigen Reports gemachten Versuche, über die Darstellung und Begründung unwirtschaftlich erscheinender Arzneimitteltherapien im Einzelfall hinaus für das GKVSystem als Ganzes zu beziffern, was sich durch Substitution von umstrittenen oder für zu teuer gehaltenen Pharmaka durch effektivere bzw. preiswertere Medikamente einsparen ließe. Das Ergebnis derartiger Versuche sind so genannte Einsparpotenziale (ESP), die auch Effizienz- bzw. Wirtschaftlichkeitspotenziale oder Effizienz- bzw. Wirtschaftlichkeitsreserven genannt werden. Sie werden mit unterschiedlichen methodischen Ansätzen aufgrund hypothetischer Annahmen zur Arzneimittelsubstitution ex post aus dem faktischen Verordnungsgeschehen abgeleitet und sind daher im Ergebnis ziemlich divergent. So soll z. B. aktuell das gesamte jährliche ESP der BARMER GEK – je nach unterstelltem Anstieg der Generikaquote von derzeit 73 % auf avisierte 85 % bzw. 90 % – in der Spanne von 200 bis 500 Mio. Euro liegen (BARMER GEK 2011, S. 56; 2012, S. 76). Für die GKV insgesamt wird das mehrwertsteuerfreie ESP allein aus der Generikasubstitution mit 4,9 Mrd. Euro (2010) angegeben, sofern teure Produkte durch billigere Generika substituiert und diese aus dem preisgünstigeren Großbritannien (GB) importiert würden (AVR 2011, S. 25). Über alle Arzneimittelkategorien hinweg, kommt der Arzneiverordnungs-Report sogar auf ein jährliches ESP von 12,1 Mrd. Euro (2010) – das sind immerhin 41 % der gesamten GKV-Ausgaben für Fertigarzneimittel in Höhe von 29,7 Mrd. Euro –, sofern alle nationalen und internationalen Substitutionsmöglichkeiten (letztere nur auf GB bezogen) genutzt worden wären (AVR 2011, S. 41). Bei derartigen Größenordnungen kann es nicht verwundern, wenn die üblicherweise im Frühherbst jeden Jahres erscheinenden Verordnungsberichte mit Spannung erwartet werden und beträchtliche Resonanz finden. Auf Pressekonferenzen mit regelmäßiger Beteiligung prominenter Vertreter aus Politik und Selbstverwaltung vorgestellt und durch die Medien in der Öffentlichkeit entsprechend kommentiert und verbreitet, baut sich daraufhin regelmäßig ein beträchtlicher Druck seitens der Gesundheitspolitik, Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen auf die niedergelassenen Ärzte und ihre Patienten sowie die pharmazeutische Industrie auf mit dem Ziel, das Verordnungsverhalten entsprechend zu verändern bzw. die Arzneimittelpreise zu senken. Denn schließlich wird unisono gefordert, alles zu unternehmen, um die ermittelten ESP zur finanziellen Entlastung der Kassen und Versicherten auszuschöpfen. Nachgerade zum Politikum werden die ESP aber dann, wenn sie unmittelbar gesetzgeberische Maßnahmen provozieren. So war etwa die „Scharfstellung“ des Instruments der selektivvertraglichen Rabattverträge im Generikamarkt nach § 130a (8) SGB V und die damit beabsichtigte Intensivierung des Preiswettbewerbs unterhalb der Festbeträge durch das Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) von 2007 ein Reflex auf den wiederholten Ausweis beträchtlicher Einsparmöglichkeiten durch Generikasubstitution. Und auch das AMNOG von 2011 mit der Einführung der frühen Nutzenbewertung bei ArzneimittelInnovationen und festbetragsfreien Bestandspräparaten und der Folge, dass Arzneimittel ohne erkennbaren Zusatznutzen unter Festbetrag gestellt und solche mit Zusatznutzen mit einem zentral auszuhandelnden Erstattungsbetrag auch auf der Grundlage internationaler Cassel/Ulrich 4 Vergleichspreise belegt werden, wurde letztlich durch international preisvergleichende ESPBerechnungen angestoßen. 1 1.2 Alternative Berechnungsansätze im Vergleich Wenn Potenzialberechnungen derart weitreichende Folgen haben können, darf es nicht verwundern, dass sie Gefahr laufen, nicht nur politisch instrumentalisiert, sondern auch interessengeleitet konzipiert zu werden. Es erscheint deshalb geboten, sich zunächst einen kurzen Überblick über die Anbieter der Verordnungsberichte, ihre Ziele und Konzepte zu verschaffen. Dabei sind zumindest zwei Kategorien zu unterscheiden: nämlich solche Aktionen, mit denen im Zeichen von „Rationalisieren statt Rationieren“ (SVR 2003, Tz 95) Einsparvolumina (ESV) im Sinne von tatsächlichen Ausgabensenkungen erzielt oder entsprechende Einsparerfolge beziffert werden sollen, und solche, die im eigentlichen Wortsinn den Ausweis von betragsmäßigen Einsparpotenzialen (ESP) intendieren. Der Unterschied besteht im Wesentlichen darin, dass die ESV retrospektiv die tatsächlich in einer zurückliegenden Periode realisierten Ausgabensenkungen erfassen, während die ESP zwar ebenfalls aus Vergangenheitsdaten abgeleitet werden, aber prospektiv die in Zukunft für wünschenswert bzw. realisierbar gehaltenen Einsparungen beziffern sollen. Berechnungen von Einsparvolumina (ESV) An Arzneimitteln zu sparen, ist inzwischen zur vorrangigen Rationalisierungsstrategie der Krankenkassen geworden, um Zusatzbeiträge zu vermeiden und so im Kassenwettbewerb konkurrenzfähig zu bleiben. Darin werden sie im Zeichen knapper Mittel durch die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) nach Kräften unterstützt. Gemeinsames Ziel ist, das Verordnungsverhalten der niedergelassenen Ärzte im Konsens mit ihren Patienten so zu beeinflussen, dass • • • patentfreie, aber teure Analoga durch preisgünstige Generika, geschützte und teure Analoga durch preisgünstige Generika der Leitsubstanz und teure Generika durch preiswertere, vorrangig rabattierte Produkte, ersetzt werden. Hierzu hat z. B. die Techniker Krankenkasse (TK) ein Arzneimittelversorgungsmanagement entwickelt, in dessen Rahmen eingeschriebenen Ärzten u. a. der quartalsweise erscheinender TK-Arzneimittelreport (TK-AMR) und auf Anfrage praxisindividuelle Hinweise zur pharmakologischen und wirtschaftlichen Verordnungsoptimierung zur Verfügung gestellt werden. Außerdem sind darin auch TK-Patienten durch individuelle Beratungsangebote und eine Versicherteninformation Arzneimittel (TK-ViA) einbezogen. Verbunden ist dies mit einem internen Erfolgsnachweis, demzufolge z. B. die Verordnungen des Originalpräparats Pantozol aufgrund des TK-AMR um 67 %, ohne ihn aber nur um 35 % zurückgegangen sein sollen (Steimle 2011, S. 10). Derartige Ansätze werden regional – meist in Verbindung mit den Verbänden der Krankenkassen – durch KV-Informationen nach § 73 (8) SGB V flankiert. Mit ihnen sollen die Kassenärzte indikations- oder wirkstoffbezogen über die Möglichkeiten zur wirtschaftlichen „Optimierung der Pharmakotherapie“ aufgeklärt und zur Generikasubstitution angehalten werden (z. B.: KVWL 2012). Schließlich werden auch die 1 So begründete z. B. der damalige Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler (2010, S. 7661) die Einführung des AMNOG mit den Worten: „Wir als christlich-liberale Koalition wollen es nicht zulassen, dass die Arzneimittelpreise in Deutschland deutlich höher sind als im europäischen Ausland; deswegen haben wir diesen Entwurf auf den Weg gebracht.“ Cassel/Ulrich 5 GKV-Versicherten von Seiten der Kassenverbände allgemein über Einsparmöglichkeiten bei Arzneimitteln informiert, um sie für die Generikasubstitution im Verordnungsfall zu disponieren (z. B: vdek 2010). Derartige Aktionen und ihre Einsparergebnisse sind nicht ohne Relevanz für das ESP-Kalkül: Schließlich bestimmen sie das jeweilige Ausmaß, in dem zum einen das errechnete (maximale) ESP einer Periode wegen unvermeidlicher Hemmschwellen der Arzneimittelsubstitution überhaupt mobilisierbar ist und zum anderen das mobilisierbare ESP in den nachfolgenden Perioden tatsächlich ausgeschöpft wird. So weist der SVR G anhand der unten wiedergegeben Abbildung 1 ausführlich darauf hin, dass sich aus dem spezifischen Interaktionsprozess zwischen Arzt und Patient unter den Versorgungsbedingungen in der ärztlichen Praxis und den komplexen Lebensbedingungen der Patienten nicht unbeträchtliche „systemimmanente und als solche anzuerkennende Effektivitätsverluste“ (SVR G 2005, Tz 793) einstellen. Hierdurch reduziert sich das maximale ESP auf eine Restgröße, die realistisch betrachtet für Einsparungen nutzbar ist. Da aber weder für die so genannten Transfer-, Implementierungs- und Umsetzungsverluste noch für die Einsparungen selbst quantitative Angaben gemacht werden, fehlt diesem Konzept noch die erforderliche empirische Grundlage. Abbildung 1: Reduzierung des pharmakotherapeutischen Potenzials durch Transfer, Implementierung und Umsetzung Quelle: SVR G 2005, S. 602. Problematisch erscheint auch die meist nur sporadisch von einzelnen Kassen und Verbänden zu Teilbereichen der Arzneimittelversorgung ausgewiesenen ESV. Am bekanntesten sind wohl die wiederkehrenden Pressemeldungen des AOK-Systems zu den jährlichen Einsparungen aus den abgeschlossenen Rabattverträgen für Festbetragsarzneimittel. Hiernach haben die AOKs z. B. im Jahr 2011 insgesamt 683 Mio. Euro weniger für rabattierte Präparate ausgeben müssen. Das bislang von den AOKs insgesamt erzielte ESV summiere sich seit dem Start bundesweiter Arzneimittelverträge im Jahr 2007 bis Ende des Jahres 2011 auf 1,6 Mrd. Euro; und für 2012 wird mit Einsparungen der AOKs bis zu einer Mrd. Euro bei einem Gesamtumsatz in diesem Segment von 4,2 Mrd. Euro in 2011 gerechnet (AOK-BV 2012, S. 1; kritisch dazu Windt/Glaeske/Hoffmann 2010). 2 2 Nach Angaben des AVR (2011, S. 180) besteht seit 2008 ein eigenes Haushaltskonto der Kassen in der amtlichen Statistik (KJ 1; seit 2010 auch in KV 45), in dem die Einnahmen der Kassen aus Rabattverträgen mit den pharmazeutischen Unternehmern ausgewiesen werden. Hiernach beliefen sich die „Rabatterlöse“ der GKV insgesamt in 2009 auf 846 Mio. Euro und in 2010 bereits auf 1,3 Mrd. Euro. Cassel/Ulrich 6 Der Generikaverband Pro Generika gibt die in 2011 aus Rabattverträgen im GKV-System erzielten Einsparungen mit rund 1,6 Mrd. Euro an, ohne jedoch eine Quelle für deren Berechnung zu nennen (Pro Generika 2012, S. 3). Aus Mangel an öffentlich zugänglichen statistisch-methodischen Erläuterungen muss die Frage offen bleiben, ob in beiden Fällen die von den Arzneimittelherstellern aufgrund des faktischen Umsatzes mit Rabattarzneimitteln tatsächlich abgerechneten und an die einzelnen Kassen gezahlten Rabatte aufsummiert sind (tatsächliche ESV) oder die Rabatte jeweils nur aufgrund der beim Abschluss der im Übrigen vertraulichen Rabattverträge zugrunde gelegten prospektiven Preise bzw. Umsätze berechnet werden (hypothetisches ESV). Extern noch schwieriger zu beurteilen sind die Angaben zu den Einsparungen, die durch das Festbetragssystem und den dadurch verschärften Preiswettbewerb im generikafähigen Markt erzielt worden sind. So informierte der GKV-Spitzenverband (GKV-SV) in einer Pressemitteilung vom 1. März 2010 die Öffentlichkeit anhand einer Tabelle mit den jährlich erzielten ESV darüber, dass die gesetzlichen Krankenkassen durch die Einführung des Festbetragssystems von 1989 bis 2009 insgesamt 38,9 Mrd. Euro eingespart hätten und für das noch nicht abgeschlossene Jahr 2010 mit 4,6 Mrd. Euro rechnen könnten (GKV-SV 2010, S. 3 und S. 5). Und der Verband Pro Generika, der die mit Generika erzielbaren Einsparungen argumentativ in seiner Lobbyarbeit zu verwenden pflegt, berichtet in seinen Marktdaten für 2011, dass das im Generikawettbewerb generierte ESV der Krankenkassen die „bisherige Rekordmarke von 10 Mrd. Euro aus dem Jahr 2010 geknackt“ habe und gibt das GKV-ESV für 2011 mit 12,9 Mrd. Euro an (Pro Generika 2012, S. 3 und S. 11). Dem lägen Apothekenverkaufspreise unter Berücksichtigung aller Rabatte („AVP Real“) zugrunde, wofür die Datenbasis jedoch nicht preisgegeben wird. Auf dieser Grundlage wird für den Generikamarkt außerdem ein „maximales“ ESP genannt, das sich im Gesamtjahr 2011 auf 16 Mrd. Euro belaufen haben soll. Als Differenz zum ESV errechnet Pro Generika dann noch ein „zusätzliches“ ESP in Höhe von 3,1 Mrd. Euro, womit sich die bekannte Forderung der Generikaindustrie nach einer weiteren Erhöhung der Generikaquote begründen ließe. Dabei werden die ESV und ESP vermutlich nach dem gleichen Prinzip errechnet: Man unterstellt beim ESV, dass die innerhalb eines Jahres tatsächlich verordneten Generika zum Preis ihrer wirkstoffidentischen patentfreien Originalpräparate verordnet worden wären, und zieht von dem so errechneten fiktiven Umsatz den faktischen Generikaumsatz ab. Beim ESP unterstellt man umgekehrt, dass die bisher verordneten und substituierbaren Originalpräparate vollständig durch Generika ersetzt werden, und bildet dann das ESP aus der Differenz zwischen faktischem und fiktivem Generikaumsatz. Der Haken dieser Berechnung liegt jedoch zum einen in den unrealistischen Substitutionsannahmen, zum anderen aber auch darin, dass sich alle relevanten Preise im Generikawettbewerb bilden und als Folge der substitutionsbedingten Angebotsund Nachfrageverschiebungen auch mehr oder weniger gravierend ändern würden (Jäcker 2004, S. 217 ff.). Alle diese Ansätze erscheinen statistisch-methodisch undurchsichtig, beruhen teilweise auf heroischen Annahmen und beziehen sich meist auf die medizinisch eher unproblematische Generikasubstitution. Im Vergleich dazu basiert der von Bertram Häussler/Ariane Höer/Elke Hempel vom Institut für Gesundheits- und Sozialforschung (IGES) herausgegebene Arzneimittel-Atlas (AM-Atlas 2006 ff.) auf umfassenden GKV-Routinedaten für 95 Indikationsgruppen einschließlich Impfstoffe und Diagnostika und gewinnt die Ergebnisse zum ESV als Cassel/Ulrich 7 Desiderat einer differenzierten Analyse des Arzneimittelverbrauchs. 3 Methodisch besteht ihr Kern in einer Komponentenzerlegung in insgesamt 10 Einflussfaktoren auf die jährlichen Entwicklung des GKV-Arzneimittelverbrauchs auf Basis von Tagesdosen (DDD), wobei die Medikamente nach Indikationsgruppen unterschiedlichen, aus medizinischer Sicht nicht substituierbaren Warenkörben zugeordnet werden (AM-Atlas 2012, S. 412 ff.). Hierdurch wird es möglich, z. B. Verbrauchsverschiebungen und ihre Ausgabeneffekte zwischen Therapieansätzen, Wirkstoffen, Darreichungsformen und Packungsgrößen sowie die Substitution durch Generika und Importe separat zu erfassen. Schließlich lassen sich auch die Ausgabenwirkung von Preisänderungen beziffern, so dass daraus ein recht differenziertes Bild von Einsparungen ableitbar ist. So kommt der Arzneimittel-Atlas 2012 für das Jahr 2011 unter Berücksichtigung aller Abschläge und Rabatte von Herstellern und Apotheken – d. h. auf Basis von Erstattungspreisen – zu einem ESV in Höhe von gut -2,4 Mrd. Euro (AMAtlas 2012, S. 10 ff.). Davon gingen allein -1.763,5 Mio. auf das Konto gesunkener Arzneimittelpreise, während die Generikasubstitution wegen der inzwischen bereits hohen Generikaquote nur noch -350 Mio. erbrachte. Der Wechsel zu preiswerteren Herstellern führte zu -142,5 Mio., die Verordnung größerer Packungen erbrachte -65,7 Mio. Euro und preisgünstige Parallelimporte -105,3 Mio. Alle anderen Komponenten – darunter insbesondere der gestiegene, in DDD gemessene Verbrauch (968,1 Mio. Euro) sowie die Verschiebung zwischen Wirkstärken (34,1 Mio. Euro), Therapieansätzen (321,7 Mio. Euro) und Analoga (104,4 Mio. Euro) – trugen in der genannten Höhe zu Mehrausgaben bei. Der Vorteil dieser Methodik besteht vor allem darin, dass das ESV retrospektiv als (zeitraumbezogene) Stromgröße in Form der innerhalb eines Jahres tatsächlich erzielten Ausgabenverringerung ermittelt wird, ausschließlich auf statistischen Ex-post-Daten beruht und getrennt nach pragmatisch relevanten Ausgabenkomponenten berechnet werden kann. Schwachpunkte bestehen allerdings in zweierlei Hinsicht: zum einen darin, dass ein zunehmender Verbrauch höchst unkritisch als in jedem Falle medizinisch indiziert angesehen wird, und zum anderen darin, dass nur die betragsmäßige Verringerung der Komponenten (negatives Vorzeichen) als Einsparung gilt, nicht aber auch ein durchaus möglicher Minderanstieg im Vergleich zu einem entsprechenden ex ante erwarteten Betrag. Berechnung von Einsparpotenzialen (ESP) Einsparpotenziale sollen als Bestandsgröße die in einem bestimmten Zeitpunkt vorhandene absolute Höhe der Unwirtschaftlichkeit und die sich daraus ergebenden Wirtschaftlichkeitsbzw. Effizienzreserven angeben (Rürup et al. 2009,2, S. 103). Die ESP-Berechnung basiert zwar ebenfalls auf statistischen Ex-post-Daten, ist aber insofern prospektiv, als sie notwendigerweise hypothetische Annahmen zur Möglichkeit therapeutischer oder preislicher Substitution von Arzneimitteln impliziert, verbunden mit der Zielsetzung, diese auch zur Erzielung von Einsparungen pragmatisch zu nutzen. 3 Der AM-Atlas (AM-Atlas 2006, S. 9 ff. und S. 234 ff.; Häussler 2006) versteht sich seit seinem ersten Erscheinen im Jahr 2006 methodisch und inhaltlich als Alternative zu dem von Ulrich Schwabe/Dieter Paffrath unter Mitarbeit des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) seit 1985 herausgegebenen Arzneiverordnungs-Report (AVR 1985 ff.). Hieraus hat sich eine heftige „Methodenkontroverse“ ergeben, aus der sich wichtige Hinweise zu den analytischen Gemeinsamkeiten und Unterschieden beider Reporte entnehmen lassen (Häussler/Höer 2006; Schröder et al. 2007). Die Kontroverse wird weiter unten in Abschnitt 2.1 aufgegriffen. Cassel/Ulrich 8 Ein Beispiel dafür sind die im Vorfeld des GKV-Modernisierungsgesetzes (GMG) von 2003 von Uwe May/Jürgen Wasem (2003) vorgelegten Modellrechnungen für mögliche Einsparungen durch Selbstmedikation bei geringfügigen Gesundheitsstörungen. Die ESP-Berechnung basiert auf der Prämisse, dass die apothekengestützte Selbstmedikation mit nicht rezeptpflichtigen bzw. frei verkäuflichen Arzneimitteln – den so genannten OTC-(Over-the-Counter-) Präparaten 4 – hinsichtlich ihres therapeutischen Nutzens der Arzttherapie mit verordneten OTC-Präparaten ebenbürtig ist. Da die Selbstversorgung mit Arzneimitteln im Vergleich zu nicht rezeptpflichtigen, aber gleichwohl ärztlich verordneten Medikamenten (OTX) unter dieser Prämisse offensichtlich die ökonomisch effizientere Pharmakotherapie ist, lassen sich durch verstärkte Selbstmedikation Einsparungen erzielen. Immerhin wurden 2002 noch 30,1 % der abgegebenen OTC-Packungen mit einem Umsatzanteil von 41 % zu Lasten der GKV verordnet. Hieraus ergab sich unter Berücksichtigung der klinischen Ergebnisparameter ein Substitutionsvolumen von 100 Mio. Packungen und ein ESP von fast 15 Mrd. Euro. Obwohl von den Autoren nicht intendiert oder gar gefordert (May/Wasem 2003, S. 27), wurden mit Wirkung zum 01.01.2004 die OTC-Präparate – mit Ausnahmen der vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) in den Arzneimittel-Richtlinien (AMR) festgelegten Ausnahmen – durch das GMG von der Erstattungspflicht in der GKV ausgenommen, so dass die Motivation zur Verschreibung derartiger Produkte zu Lasten der Kassen entfiel und der Weg für eine verstärkte Selbstmedikation auf Kosten der Patienten frei war. Während es bei dieser Berechnung unter dem Vorwand der „Stärkung von Subsidiarität und Eigenverantwortung der Patienten“ letztlich um die Frage ging, welches ESP die Aufhebung der Erstattungsfähigkeit bei OTX-Präparaten für die GKV-Solidargemeinschaft haben würde, setzen sich Fallstudien zur medizinischen Optimierung durch Wirkstoffsubsubstitution, Dosisanpassungen, Verfahrensänderungen usw. zum Ziel, die daraus resultierenden Einsparmöglichkeiten zu beziffern. So wird z. B. in einem kürzlich erschienenen Beitrag von Florian Meier/Antonis Kontekakis/Oliver Schöffski (2012) zu quantifizieren versucht, wie hoch das ESP ist, wenn bei den 10 umsatzstärksten ATC-Gruppen individuelle Dosisanpassungen an die Genausprägung aufgrund von Geninformationen im Cytchrom P450 vorgenommen und damit unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) vermieden werden. Die methodisch aufwendige, aber transparente ESP-Berechnung versteht sich als Beitrag zur pharmaökonomischen Bewertung der personalisierten Medizin, der generell eine stark expandierende Marktbedeutung und wachsende Einsparreserven zugeschrieben werden (Laufs 2011). Ohne Berücksichtigung der pharmakogenetischen Testkosten von 100 Euro bzw. 300 Euro könnten allein in zwei Fällen defekter Metabolisierung – bei so genannten Intermediate Metabolizern (IM) und Poor Metabolizern (PM) – in den 10 umsatzstärksten ATC-Gruppen 211,8 Mio. Euro durch Dosisanpassung für die Dauer der Langzeitanwendung eingespart werden. Ernüchternd wird abschließend jedoch festgestellt, dass die Dosisanpassung bei Berücksichtigung von Testkosten in Höhe von 100 Euro nur bei zwei ATC-Gruppen (Psycholeptika und Immunsuppressiva), bei 300 Euro aber in keiner der untersuchten Gruppen wirtschaftlich wäre und somit auch kein ESP mehr böte. Auch werden gelegentlich breiter angelegte ESP-Berechnungen für epidemiologisch relevante und ökonomisch bedeutsame Erkrankungen vorgenommen. Dabei wird geschätzt, welche Einsparungen sich insbesondere bei chronischen Krankheiten durch eine optimale, 4 Diesbezüglich unterscheidet man folgende Kategorien: verschreibungs- bzw. rezeptpflichtige (RX), freiverkäufliche bzw. rezeptfreie (OTC) und freiverkäufliche, aber ärztlich verordnete Präparate (OTX). Cassel/Ulrich 9 d. h. integrative, innovative und vor allem rechtzeitig einsetzende Pharmakotherapie erzielen ließen. Indem verhindert wird, dass Krankheiten nicht oder erst deutlich später fortschreiten oder gar eskalieren, könnten z. B. stationäre Behandlungen verringert, die Dauer der Arbeitsunfähigkeit verkürzt oder Pflegeleistungen reduziert werden. Aufgrund einer Auswertung internationaler Studien für den Verband Forschender Arzneimittelhersteller (vfa), deren Ziele, Methodik und Vorgehensweise allerdings nicht transparent gemacht werden, sieht sich z. B. Matthias P. Schönermark (2010) in der Lage, den gesamtwirtschaftlichen Schaden einerseits und die Einsparmöglichkeiten durch Optimierung der Versorgung – einschließlich innovativer Pharmakotherapie – andererseits bei fünf so genannten Volkskrankheiten anzugeben (Tabelle 1). Allein hieraus „erahnt“ er ein ESP für das Gesamtsystem in Höhe von mehr als 9 Mrd. Euro. Tabelle 1: Gesamtwirtschaftliche Potenzialschätzung bei prävalenten Krankheiten Quelle: Schönermark 2010, S. 17. ESP-Berechnungen des AVR und BARMER GEK Arzneimittelreports Hieraus wird deutlich, dass ESV- und ESP-Berechnungen nicht nur statistisch-methodisch recht unterschiedlich sind, sondern je nach Fragestellung auch ganz verschiedene Sachverhalte beinhalten. Das Ergebnis sind zwar eingesparte bzw. einzusparen gewünschte Geldbeträge, aber diese können z. B. aus Verordnungseinschränkungen, therapeutischen Effektivitätssteigerungen, medizinisch-pharmazeutischen Fortschritten oder die Vermeidung von Krankheitsfolgekosten resultieren. Die in Deutschland periodisch erscheinenden Verordnungs- bzw. Verbrauchsreporte sind jedoch bezüglich der Einsparungen in der GKV-Arzneimittelversorgung auf den Nachweis vermiedener bzw. vermeidbarer Ausgaben durch Substitution hochpreisiger bzw. kostspieliger Arzneimittel durch günstigere Alternativen fokussiert. In dieser Doppelfunktion führend sind derzeit der Arzneiverordnungs-Report (AVR 1985 ff.) und der GEK- bzw. BARMER GEK Arzneimittelreport. Um mehr Transparenz in das Verordnungsgeschehen zu bringen und vermutete Wirtschaftlichkeitsreserven besser lokalisieren und vor allem beziffern zu können, hat die GKV-Selbstverwaltung schon 1980 das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) mit der Erstellung eines GKV Arzneimittelindex betraut, aus dem 1985 der AVR hervorgegangen ist. Er erscheint seitdem jährlich und wird von Ulrich Schwabe (Universität Heidelberg) und Dieter Paffrath (AOK NORDWEST) herausgegeben. Die quantitative Analyse liegt nach wie vor beim WIdO und basierte bis zum Jahr Cassel/Ulrich 10 2000 auf einer repräsentativen Stichprobe und seitdem auf einer Vollerhebung von GKVVerordnungsdaten. Im Jahr 2000 erschien dann unter der Federführung von Gerd Glaeske (Universität Bremen) erstmals der GEK-Arzneimittel-Report (GEK 2000-2009), der seit 2010 als BARMER GEK Arzneimittelreport (BARMER GEK 2010 ff.) von Gerd Glaeske und Christel Schicktanz (Universität Bremen) als Herausgeber weitergeführt wird. Ihnen liegen die Verordnungsdaten der Gmünder Ersatzkasse und – nach deren Zusammengehen am 01.01.2010 mit der Barmer Ersatzkasse zur nun größten Krankenkasse Deutschlands – die Daten der vereinigten BARMER GEK zugrunde. Seit 2006 erscheint dann noch im Auftrag des Verbands der Forschenden Arzneimittelhersteller (vfa) unter der Federführung von Bertram Häussler (IGES / Technische Universität Berlin) der Arzneimittel-Atlas (AM-Atlas 2006 ff.). Wie der AVR, basiert auch er auf GKVRoutinedaten, geht jedoch methodisch andere Wege und berechnet fortlaufend auch keine Einsparpotenziale. Und soweit sich der SVR KAiG (2000/2001,2, S. 22 ff.) bzw. SVR G (2005, S. 572 ff.) gutachterlich mit Einsparpotenzialen befasst haben, legen sie keine eigenen ESPBerechnungen vor, sondern stützen sich primär auf die Ergebnisse des AVR. AVR und BARMER GEK Report verfolgen beide das Ziel, die Verordnungen von erstattungsfähigen Präparaten qualitativ und quantitativ zu analysieren, um ihre Auftraggeber und die politischen Entscheidungsträger, aber auch Ärzte und Patienten über die Struktur und Entwicklung des Verbrauchs von Medikamenten zu informieren sowie medizinisch-pharmazeutische Trends und bestehende Ineffizienzen aufzuzeigen. Um die Versorgungsrealität zeitnah und möglichst verzerrungsfrei abbilden zu können, verwenden sie für die Arzneimittel-Klassifikation dasselbe ATC-System (Anatomical, Therapeutic, Chemical Code) mit definierten Tagesdosen (DDD – Defined Daily Doses) und in etwa die gleichen Marktsegmente (AVR 2011, S. 963 ff.; BARMER GEK 2012, S. 36 ff.). Wesentliche Unterschiede bestehen jedoch in vierfacher Hinsicht: • Erstens sind die BARMER GEK-Ergebnisse kassenspezifisch und nicht repräsentativ für die GKV insgesamt, weil sich die Versichertenpopulation dieser Krankenkasse in relevanten Aspekten (z. B.: Geschlechterverhältnis, Durchschnittsalter, Regionalverteilung) von der der GKV unterscheidet und auf eine Hochrechnung auf GKV-Ebene verzichtet wird. • Zweitens verwendet der BARMER GEK-Report hinsichtlich der unterstellten Arzneimittelsubstitution mittels DDD-Durchschnittskosten und Berücksichtigung verschiedener Wirkstärken, Packungsgrößen, Darreichungsformen und Preisständen eine vom AVR abweichende Methodik, die ergebnisrelevant ist. • Drittens werden die im BARMER GEK-Report genannten ESP nicht aufgrund eines erkennbaren Algorithmus errechnet, sondern haben weitgehend den Charakter von groben Schätzungen – teilweise mit Bandbreiten –, die gleichwohl unter den kassenspezifischen Verordnungsgegebenheiten plausibel erscheinen. • Viertens bestehen in den Arzneimitteldaten zwischen den Reporten der GEK / BARMER GEK statistische Brüche. Zudem fehlen in den einzelnen Jahrgängen systematische bzw. vollständige Angaben zu den ESP in den einzelnen Arzneimittelgruppen, die ebenfalls zeitliche Längsschnitt-Vergleiche und damit die Erkennung von Entwicklungstrends erschweren bzw. unmöglich machen. Cassel/Ulrich 11 Schon daraus ergeben sich für den AVR gewisse Alleinstellungsmerkmale, die in der öffentlichen Wahrnehmung auf ein institutionelles Angebotsmonopol zur Berechnung von Einsparpotenzialen im GKV-Arzneimittelverbrauch hinauslaufen, ohne dass damit ein Qualitätsurteil über den AVR oder alternative Werke verbunden wäre. In den nachfolgenden Tabellen 2 und 3 findet sich eine Zusammenstellung der in den beiden Reporten regelmäßig angegebenen ESP, getrennt nach Arzneimittel-(AM-)Gruppen sowie berechnet als prozentualer Anteil ihrer Summe an den jeweiligen Arzneimittelausgaben (AMA) bzw. Arzneimittelumsätzen (AMU). Wie die Daten für die vormalige GEK erkennen lassen, nimmt ihr ESP absolut wie auch als Anteil an den AMA von 2005-2008 kontinuierlich ab. Angesichts des verstärkten Einsatzes vielfältiger Instrumente zur Generika- und AnalogaSubstitution im letzten Jahrzehnt (Cassel/Wille 2009, S. 85 ff.; Cassel/Ulrich 2012, S. 56 ff.) erscheint die absolute und relative Abnahme des ESP recht plausibel. Leider sind die Angaben für die Zeit danach wegen der Vereinigung von GEK und Barmer Ersatzkasse zur BARMER GEK wenig aussagefähig: Zwischen 2008 und 2010 macht der ESP-Anteil an den Arzneimittelausgaben einen kaum zu erklärenden Sprung von 4,9 % auf 7,7 % und steigt danach sogar auf 10,0 % (2011). Immerhin bleibt er damit noch vergleichsweise moderat (Tabelle 2, letzte Zeile). Nach Angaben des AVR nehmen die ESP im nationalen Preisvergleich (nPV) 5 absolut und prozentual zwar von 2005-2007 ebenfalls ab, steigen aber danach wieder merklich an und erreichen 2010 mit rund 4,7 Mrd. Euro bzw. einem AMU-Anteil von 15,7 % wieder einen vorTabelle 2: Einsparpotenziale der GEK / BARMER GEK bei Arzneimitteln in den Jahren 2005-2011 (in Mio. Euro) Legende: Die ESP-Berechnungen erfolgen von 2005-2008 aufgrund der Arzneimitteldaten der GEK Gmünder Ersatzkasse, von 2009-2011 der fusionierten BARMER GEK. Die Routinedaten beziehen sich auf die Apothekenverkaufspreise (AVP) incl. Mehrwertsteuer (MWSt). AM-Gruppen (nach GEK 2006, S. 54 und S. 72): Generika – Präparate mit identischem Wirkstoff wie das Original; Analoga – Präparate mit modifiziertem Wirkstoff (mit Me-too-Präparaten bzw. Scheininnovationen gleichgesetzt). AM – (Fertig-)Arzneimittel; AMA – Arzneimittelausgaben; ESP – Einsparpotenzial; * - incl. Reimporte; ** - oberster Wert der jeweils angegebenen Bandbreite bei einer angestrebten Erhöhung der Generikaquote von aktuell 73 % auf 85 %; - keine Angaben verfügbar. Quelle: Zusammenstellung und eigene Berechnungen nach GEK 2006-2009 / BARMER GEK 20102012, verschiedene Kapitel. 5 Auf die neuerdings vom AVR berechneten ESP im internationalen Preisvergleich (iPV) wird erst später in Abschnitt 2.4 eingegangen. Cassel/Ulrich 12 Tabelle 3: Einsparpotenziale der GKV bei Arzneimitteln in den Jahren 2000-2010 nach Berechnungen des AVR (in Mrd. Euro) Legende: Die ESP-Berechnungen erfolgen aufgrund der GKV-Arzneimitteldaten auf der Basis von Apothekenverkaufspreisen (AVP), im nPV einschließlich MWSt. Beim iPV mit Schweden (2009) enthalten die AVP auf der Produktebene die MWSt, das ESP wird aber anschließend mehrwertsteuerfrei ausgewiesen. Der iPV mit Großbritannien (2010) wie auch der ESP-Ausweis ist ohne MWSt. AM-Gruppen: Generika und Analoga siehe Legende der Tabelle 2; Umstrittene – AM mit nicht oder nicht hinreichend nachgewiesener Wirksamkeit; Geschützte – AM mit patentgeschützten Wirkstoffen. AM – Arzneimittel; AMU – GKV-Fertigarzneimittelumsatz; ESP – Einsparpotenzial; iPV – internationaler Preisvergleich (in 2009 mit SE – Schweden; in 2010 mit GB – Großbritannien); nPV – nationaler Preisvergleich; - keine Angaben verfügbar. Quelle: Eigene Zusammenstellung nach AVR / Schwabe 2001-2011, Tabellen 1.1, 1.8 und 1.10. läufigen Höhepunkt.6 Dies gilt insbesondere auch unter Berücksichtigung der ESP aus umstrittenen Arzneimitteln, die seit 2005 betragsmäßig stagnieren, aber anteilmäßig kontinuierlich von 2,7 % auf 1,9 % in 2010 sinken. Bemerkenswert ist aber vor allem, dass die vom AVR angegebenen prozentualen ESP-Anteile im Vergleich zur GEK / BARMER GEK mit und ohne Herausrechnung der „Umstrittenen“ durchweg signifikant höher und teilweise – wie z. B. in 2008 – sogar doppelt so hoch sind. Dies ist jedoch nicht allein mit den Besonderheiten der GEK / BARMER GEK (z. B. unterschiedliche Versichertenpopulation im Vergleich zur GKV) und der unterschiedlichen Basis zur Berechnung der ESP-Anteile (AMA bzw. AMU) erklärbar. 6 Das ESP ändert sich als Bestandsgröße immer dann, wenn seine Determinanten signifikant zu- oder abnehmen. Zu einer Zunahme des ESP kann es z. B. immer dann kommen, wenn die Bereitschaft zur Generikasubstitution allgemein zurückgeht, wieder mehr teure, aber rabattierte Generika verordnet werden oder überdurchschnittlich viele Originale mit großer Marktbedeutung (so genannte Blockbuster) ihren Patentschutz verlieren und durch Generika substituiert werden können. Dafür ist jedoch keine Evidenz erkennbar, so dass der im AVR seit 2008 ausgewiesene ESP-Anstieg erklärungsbedürftig bleibt. Cassel/Ulrich 13 Ein Blick hinter die methodischen Kulissen lässt vielmehr ergebnisrelevante Unterschiede in den Verfahrensweisen bei der unterstellten Arzneimittelsubstitution insbesondere im generikafähigen Markt vermuten. So zeigen Matthias S. Pfannkuche et al. (2007) vier methodische Substitutionsvarianten auf und berechnen deren ESP-Effekte am Beispiel von omeprazolhaltigen Verordnungen auf Grundlage von Arzneimitteldaten der GEK für das Jahr 2005 (GEK 2006, S. 65 ff.). Ausgangspunkt der Überlegung ist der bekannte Sachverhalt, dass die Tagestherapiekosten (in Euro pro DDD) auch maßgeblich von der verordneten Wirkstärke und Packungsgröße abhängen. Denn Packungen, die eine größere Menge an DDD enthalten – z. B. mehr Tabletten oder einen höheren Wirkstoffgehalt pro Tablette –, sind in der Regel preis- bzw. kostengünstiger als kleinere Packungen, weichen also vom Durchschnitt nach unten ab (Pfannkuche et al. 2007, Tabelle 2, S. 4). Werden nun wie üblich Präparate nach DDD-Durchschnittskosten substituiert, bleiben derartige Unterschiede unberücksichtigt.7 Im Vergleich zur Substitution eines Präparates durch ein Austauschpräparat (Substituent) mit jeweils der gleichen Wirkstärke und Packungsgröße wie das ausgetauschte Medikament, kommt es deshalb systematisch zu verzerrten Berechnungsergebnissen, die die Preis- und Verordnungsrealität nicht adäquat abbilden. Wie aus Übersicht 1 hervorgeht, ist die Substitution über DDD-Durchschnittskosten (Methodik 1) zwar einfach zu berechnen, ergibt aber im Falle der Omeprazol-Präparate mit rund. 204 Tsd. Euro das vergleichsweise größte Einsparpotenzial für die GEK. Dabei wird unterstellt, dass das am meisten verordnete und relativ teure Omeprazol-Präparat Omep mit einem Durchschnittspreis von 1,06 Euro je DDD vollständig durch Omeprazol AbZ mit einem Durchschnittspreis von 0,92 Euro je DDD ersetzt wird. Bezüglich aller omeprazolhaltigen Verordnungen hätte die GEK 2005 nach dieser Methodik mit einem ESP von rund 741 Tsd. Euro und einem Anteil an ihren Omeprazol-Ausgaben von 13,1 % rechnen können. Der AVR hat das ESP für diese Wirkstoffgruppe ebenfalls berechnet und kommt für die gesamte GKV auf einen ESP-Anteil des Umsatzes von 12,6 % (2005) bzw. 14,9 % (2006) – und damit auf vergleichbare Werte (Schröder 2008, S. 28). Es ist somit naheliegend anzunehmen, dass der AVR auch eine vergleichbare Berechnungsmethode angewandt hat. Werden nun nacheinander noch unterschiedliche Wirkstärken (Methodik 2) sowie verschiedene Packungsgrößen und Darreichungsformen (Methodik 3) in die Beispielsrechnung einbezogen, zeigt sich im Ergebnis, dass die berechneten ESP quantitativ immer geringer ausfallen (Übersicht 1, Spalten 3 und 4 unten). Dadurch wird evident, dass die Verzerrungen, die sich aus der Beschränkung auf Substitutionen über die DDD-Durchschnittskosten ergeben, umso mehr abgebaut werden, je differenzierter die Vorgehensweise ist und je besser 7 Das ESP errechnet sich jeweils wie folgt: DDD-Verordnungsmenge des zu substituierenden Präparats, multipliziert mit der Differenz aus seinem DDD-Preis und dem DDD-Preis des Austauschpräparats (Substituent). Die Ergebnisunterschiede resultieren im Falle der Omeprazol-Präparate aus der Abweichung der Durchschnittspreise pro DDD (1,06 Euro beim zu substituierenden Präparat Omep und 0,92 Euro beim preisgünstigsten Substituent Omeprazol AbZ) von den DDD-Preisen z. B. einer 100er Packung mit der Wirkstärke von 20 mg pro Tablette (1,02 Euro bei Omep und 0,96 Euro beim billigsten Substituent Omeprazol-Biomo). Bei Substitution nach DDD-Durchschnittskosten könnten somit 0,14 Euro pro DDD, nach den DDD-Kosten bei gleicher Packungsgröße aber nur 0,06 Euro pro DDD eingespart werden. Multipliziert mit den DDD-Verordnungsmengen folgt daraus, dass die beiden Berechnungen zu stark divergierenden ESP führen müssen. Cassel/Ulrich 14 Übersicht 1: Berechnungsmethoden von Einsparpotenzialen im Vergleich Legende: Berechnungen am Beispiel von Routinedaten der vormaligen Gmünder Ersatzkasse (GEK) für den Wirkstoff Omeprazol. Methode 1 – Substitution über DDD-Durchschnittskosten. Methode 2 – Methode 1 unter Berücksichtigung von verschiedenen Wirkstärken. Methode 3 – Methode 2 unter zusätzlicher Berücksichtigung von Packungsgrößen und Darreichungsformen. Methode 4 – Substitution unter Berücksichtigung von verschiedenen Wirkstärken, Packungsgrößen, Darreichungsformen und der 14-tägigen Preisstände. AV – Außer Vertrieb; DDD – Defined Daily Dose; ESP – Einsparpotenzial; PZN – Pharmazentranummer; RW – Rückruf. Quelle: Modifiziert nach Pfannkuche et al. 2007, S. 8. damit die Preis- und Verordnungsrealität abgebildet wird. Dies lässt sich schließlich noch verbessern, wenn als Substituenten die zum Verordnungszeitpunkt jeweils preisgünstigsten Präparate bei Berücksichtigung von Wirkstärke, Packungsgröße, und Darreichungsform zum Zuge kommen (Methodik 4). 8 8 Der Effekt lässt sich an einem hypothetischen Fallbeispiel verdeutlichen: Angenommen, eine ESPAnalyse werde nach Methodik 1 zum Preisstand vom 31.12.2011 für 2011 durchgeführt. Am 15.12.2011 sei das Originalpräparat patentfrei geworden und am gleichen Tag seien mehrere Cassel/Ulrich 15 Diese Vorgehensweise ist allerdings sehr aufwendig, weil sie zusätzlich zu den anderen Parametern auch noch die produktspezifischen Preisstände in kürzeren zeitlichen Abständen benötigt. Sie sei jedoch insofern als „Goldstandard“ anzusehen, als sie mit Blick auf die gewünschte Ausschöpfung des ESP der Wirklichkeit am nächsten komme und die vergleichsweise wenigsten Annahmen benötige (Pfannkuche et al. 2007, S. 5). Allerdings generiert sie auch die mit Abstand geringsten ESP: Im Falle Omeprazol, einem relativ häufig verordneten und dementsprechend ausgabenstarken Wirkstoffe (AVR 2011, S. 21), hätte sich für die GEK in 2005 eine Einsparmöglichkeit von nur noch rund 165 Tsd. Euro bzw. von 2,9 % ihrer Omeprazol-Ausgaben ergeben (Übersicht 1, letzte Spalte unten). Das sind nur noch rund 22 % des ESP nach Methodik 1. 1.3 Beliebigkeit von Methoden und Berechnungsergebnissen Damit wird die Methodenfrage zwangsläufig zum Politikum. Wie in anderen Wirtschafts- und Versorgungsbereichen, ist auch bei der Arzneimittelverwendung eine effiziente Allokation der knappen Ressourcen erwünscht. Besteht unter den Bedingungen einer sozialen Krankenversicherung aber ein so weitgehendes Marktversagen, dass sich der Staat in Erwartung besserer Ergebnisse genötigt sieht, regulierend einzugreifen (Schlander/Jäcker/Völkl 2012, S. A526), braucht er dafür verlässliche Informationen über Vorhandensein und Ausmaß von Ineffizienzen, um den Arzneimittelverbrauch adäquat steuern zu können. An vorderster Stelle stehen dabei Einsparpotenziale: Sie sollen indikations- und wirkstoffbezogene Informationen darüber liefern, an welcher Stelle, in welcher Form und vor allem in welcher Größenordnung Unwirtschaftlichkeiten bestehen und wie hoch die in Geld ausgedrückten Einsparmöglichkeiten zu veranschlagen sind. Dazu ist erforderlich, dass sie „realistisch“ in dem Sinne sind, dass sie mit geeigneten gesundheits- und wirtschaftspolitischen Instrumenten auch tatsächlich nutzbar sind. Deshalb sollte das methodische Vorgehen bei der ESP-Berechnung so angelegt sein, dass nachfrageseitig das pharmakotherapeutische Verordnungsgeschehen und angebotsseitig die Entwicklungsdynamik des Arzneimittelmarktes durch die notwendigen Annahmen und einbezogenen Parameter adäquat, d. h. möglichst realitätsnah abgebildet werden. Dem entspricht von den oben skizzierten vier Methoden die Methodik 4 zweifellos am besten: Sie gewährleistet, dass Verordnungsfrequenzen, Wirkstärken, Packungsgrößen und Darreichungsformen berücksichtigt werden. Vor allem aber wird die Preisdynamik im Generikamarkt, die durch das Festbetragssystem, Aut-idem-Verordnungen, kassenindividuelle Rabattverträge und Zuzahlungsbefreiungen bei besonderen Generikarabatten stark zugenommen hat und ständig Preisveränderungen nach sich zieht (Cassel et al. 2008, S. 181 ff.), kontinuierlich nachverfolgt. Hierdurch könnte vermieden werden, dass stattdessen ein methodischer „Nirwana-Ansatz“ verfolgt wird und die ESP zu pragmatisch unbrauchbaren Artefakten mutieren. Generika mit einem um 50 % niedrigeren Preis eingeführt worden. Das Original wurde annahmegemäß von Anfang Januar bis Mitte Dezember 2011 zum Preis von 100 Euro 115 mal verordnet. Auf die Generika soll dann in der zweiten Dezemberhälfte per Annahme ein Marktanteil von 100 % = 5 Verordnungen entfallen sein. Methodik 1 behandelt diese Situation nun so, als ob die Generika am 01.01.2011 auf den Markt gekommen wären und ermittelt demzufolge ein ESP von 5.750 Euro, obwohl tatsächlich keine Einsparmöglichkeit bestand. Methodik 4 würde dagegen in diesem Beispiel korrekterweise kein ESP ausweisen. Cassel/Ulrich 16 Wie sensitiv die Berechnungsergebnisse auf unterschiedliche Methoden reagieren, konnte bereits am Omeprazol-Beispiel gezeigt werden: Würde die GEK statt des „Goldstandards“ (Methodik 4) die zwar leichter anwendbare und weniger aufwendige, dafür aber irreführende Methodik 1 angewandt haben, hätte sie bei ihrer Strategieplanung zur Optimierung der Pharmakotherapie von einem viereinhalb mal so hohen ESP ausgehen können (Übersicht 1, Spalten 2 und 5 unten). Ob dies der GEK – außer der Enttäuschung hochgespannter Erwartungen bezüglich der erzielbaren Einsparungen – etwas gebracht hätte, darf bezweifelt werden, wäre aber auch als kassenindividuelle Episode nicht systemrelevant. Anders dagegen eine GKV-weite ESP-Berechnung: Hier hätte allein beim Wirkstoff Omeprazol nach Daten aus 2005 statt eines ESP in Höhe von 12 Mio. Euro (Methodik 4) ein Einsparvolumen von 54 Mio. Euro (Methodik 1) zur Diskussion gestanden (Pfannkuche et al. 2007, S. 7) – mit allen Konsequenzen für den daraus resultierenden Handlungsdruck auf Gesundheitspolitik und Selbstverwaltung.9 Vor diesem Hintergrund erscheinen die in diesem Abschnitt vorgestellten Ansätze und Ergebnisse in einem eher gedämpften Licht: Erstens wird nicht immer klar zwischen dem Ausweis von tatsächlich erzielten Einsparvolumina (ESV) und den hypothetisch bzw. theoretisch vorhandenen Einsparpotenzialen (ESP) unterschieden. Zweitens können in diesen beiden Konzepten ganz unterschiedliche Sachverhalte Gegenstand der empirischen Analyse sein, die methodisch von anekdotischer Evidenz über systematische qualitative Einschätzungen bis hin zu modellgestützten quantitativen Berechnungen reicht. Drittens liegen die Ergebnisse auf verschiedenen Aggregationsstufen und sind weder in gleicher Weise repräsentativ noch miteinander vergleichbar. Und viertens schließlich liegen den Berechnungen meist Apothekenverkaufspreise (AVP) ohne Berücksichtigung der immer umfangreicheren Rabatte sowie stark divergierende Umsatz-, Ausgaben- und Erstattungskonzepte zugrunde. Umso wichtiger ist es, dass die jeweiligen Studien und ihre Ergebnisse hinsichtlich ihrer Zielsetzungen, Methoden, Modelle und Prämissen transparent und nachvollziehbar sind. Das ist nötig, um ihre empirische und pragmatische Relevanz beurteilen zu können und den Eindruck zu vermeiden, die Berechnungsverfahren und -ergebnisse seien letztlich beliebig und demzufolge praktisch irrelevant. Von daher gesehen ist es zu begrüßen, dass die Autoren des GEK / BARMER GEK Arzneimittelreports die von ihnen angewandte Methodik 4 anwenden und offensiv kommunizieren (Pfannkuche 2007; 2009; Pfannkuche/Hoffmann/Glaeske 2008). Dagegen bleibt die Vorgehensweise des AVR – trotz der mit dem AM-Atlas um die Zerlegung der Strukturkomponente geführten Methodenkontroverse (siehe oben Fn 3) – insbesondere hinsichtlich der Kriterien, die bei der Arzneimittelsubstitution unterstellt werden und die in hohem Maße ergebnisrelevant sind, weitgehend intransparent (Schröder et al. 2007; Schröder 2008). Allem Anschein nach verwendet der AVR hierbei die Methodik 1. Wie gezeigt, sind hiernach aber die ESP systematisch verzerrt und können unrealistisch hoch ausfallen. Anders wäre nicht zu 9 Nach GKV-Fertigarzneimittelumsätzen (AMU) berechnet der AVR für 2005 ein ähnlich großes Omeprazol-ESP in Höhe von 52 Mio. Euro bzw. 12,6 % des AMU (AVR 2005, Tabelle 1.4, S. 19) – und sogar 65,6 Mio. Euro bzw. 14,9 % für 2006 (AVR 2007, Tabelle 1.4, S. 20). Die öffentliche Aufmerksamkeit für derartige Zahlen wird dadurch garantiert, dass die vom AVR berechneten ESP inzwischen nicht nur selbstverwaltungsintern bei Kassen- und Ärzteverbänden, sondern auch für den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) als untergesetzlichem Normgeber und den Sozialgesetzgeber selbst handlungsleitend sind. Cassel/Ulrich 17 erklären, warum der Anteil des ESP an den Arzneimittelumsätzen im GKV-System ständig so viel höher sein soll als in der GEK / BARMER GEK. 2 Potenzialberechnungen des Arzneiverordnungs-Reports (AVR) 2.1 Berechnungsgrundlagen und Berechnungsmethoden Die Berechnung eines konkreten Einsparpotenzials durch die Substitution verordneter Arzneimittel mit vermeintlich (preis-)günstigeren Produkten ist eine komplexe Analyse, die – je nach Intention – verschiedene Annahmen und Abstraktionen unterstellt. Zunächst kann eine Unterscheidung getroffen werden, ob ESP bei patentgeschützten Arzneimittel, bei generikafähigen Wirkstoffen, bei Analogpräparaten oder bei umstrittenen Arzneimitteln untersucht werden. Einsparung durch Substitution klingt bei patentgeschützten Arzneimitteln zunächst nach einer contradictio in adjecto, da es hierfür definitionsgemäß keine bzw. nur wenige Substitutionsmöglichkeiten durch Analogpräparate oder durch eine generische Leitsubstanz gibt. Der AVR ist daher auch das einzige Rechenwerk, das hier eine Berechnung unter Zugrundelegung ausländischer Preise bzw. internationaler Vergleichspreise (iVP) der jeweiligen Präparate vornimmt und dabei unterstellt, dass diese auch in Deutschland zur Anwendung kommen. Allgemein üblich ist dagegen die Berechnung von ESP durch Generikasubstitution, d. h. den Austausch patentfreier und meist hochpreisiger Originale und Analoga sowie teurer Generika durch preiswertere, vorrangig rabattierte generische Produkte. Hinzu kommen dann noch ESP, die aus der Substitution patentgeschützter und hochpreisiger Analoga durch generisch verfügbare Leitsubstanzen oder der Vermeidung umstrittener Arzneimittel resultieren können (siehe oben Tabelle 3 in Abschnitt 1.2). ATC-Klassifikationen und definierte Tagesdosen (DDD) Zwei zentrale Annahmen, die der Ermittlung solcher Effizienzreserven generell zugrunde liegen, betreffen die Preisvergleiche auf Basis der ATC/DDD-Klassifikation und die Zerlegung der Ausgaben in eine Preis-, Mengen- und Strukturkomponente. Ausgabenveränderungen werden zwar gemeinsam von der Entwicklung bei den Preisen, den Verordnungen und der Strukturkomponente bestimmt, dennoch werden Veränderungen innerhalb und zwischen Indikationsgruppen, also innerhalb der Strukturkomponente, im AVR zumindest unterschwellig auch als empirische Evidenz für Ineffizienzen angesehen (Reichelt 1988; Schröder et al. 2007, S. 30 ff.; AVR 2011, S. 973ff.; AM-Atlas 2011, S. 345 ff.). Neben den Arzneimitteldaten werden weitere Klassifikationen benötigt, die es ermöglichen, die einzelnen Wirkstoffe und Produkte für Verbrauchsanalysen zu gruppieren. Das international verwendete anatomisch-therapeutisch-chemische (ATC-)Klassifikationssystem teilt Arzneimittel nach dem Organ bzw. Organsystem, auf das sie einwirken, und dem enthaltenen Wirkstoff in verschiedene hierarchisch gegliederte Gruppen ein. Das Klassifikationsschema umfasst fünf verschiedene Ebenen, die eine unterschiedliche Tiefe von Arzneimittelverbrauchsstudien zulassen. Die ATC-Klassifikation wurde 1981 von der World Health Organization (WHO) entwickelt und vom WIdO an die spezifischen Belange des deutschen Arzneimittelmarkts angepasst. Sie ist die Basis der national gültigen Klassifikation, die durch das Bundesgesundheitsministerium jeweils zum 1. Januar veröffentlicht wird. Zur Messung des Verordnungsvolumens sind die Anzahl der Packungen oder Tabletten in diesem Zusammenhang eine ungenaue Maßzahl, da Medikamente mit gleichem Wirkstoff in Cassel/Ulrich 18 verschiedenen Wirkstärken und Packungsgrößen auf dem Markt sind. Hier hat sich auf internationaler Ebene das System der definierten Tagesdosen (DDD – Defined Daily Doses) der WHO etabliert. Für jeden Wirkstoff legt die WHO eine Arzneistoffmenge fest, die als Erhaltungsdosis für einen Erwachsenen in der Hauptindikation konsentiert wurde. Das WIdO erstellt eine adaptierte Fassung für den deutschen Markt und führt gegebenenfalls notwendige Anpassungen an hiesige Marktgegebenheiten durch. Die DDD-Angaben stellen keine Dosierungsempfehlungen dar, sondern sind zunächst eine rechnerische Größe, mit deren Hilfe vergleichbare statistische Auswertungen des Arzneimittelmarktes auf nationaler und internationaler Ebene ermöglicht werden sollen. Gegenüber anderen Messgrößen, wie etwa der Anzahl der abgegebenen Packungen, besitzen sie den Vorteil, dass der Verbrauch eines Arzneimittels anhand einer zuvor festgelegten Wirkstoffmenge direkt gemessen werden kann. Veränderungen der Packungsgröße, der Dosisstärke oder der Darreichungsform können den in DDD gemessenen Verbrauch also nicht verzerren (Schröder et al. 2007, S. 31). Allerdings hängt der Ausweis von ESP sehr stark von der angewandten Methode ab (siehe Abschnitt 1.2). Die darin beschriebene Methodik 1 führt zwar zum größten ESP-Volumen, ist aber am wenigsten überzeugend, da hier Verzerrungen besonders deutlich auftreten. Die Berechnung des ESP besteht bei dieser Methode im Austausch auf Basis der mittleren Tagestherapiekosten (Preis je DDD), d. h. es werden die tatsächlichen Kosten je DDD (Jahresdurchschnittswert) in Relation zu den Durchschnittswerten des günstigsten Vergleichspräparates gesetzt. Die Durchschnittskosten je DDD werden dabei über alle Packungsgrößen und Wirkstärken gebildet. Die Kosten pro DDD des Austauschpräparates werden mit den verordneten Tagesdosen des zu ersetzenden Präparats multipliziert, und das Ergebnis wird dann von den Gesamtverordnungskosten des zu ersetzenden Präparats abgezogen (Pfannkuche et al. 2007, S. 3). In der Praxis ist dieses ESP aber so nicht vorhanden, sondern wird durch den statistischen Durchschnittswert verzerrt. Problematisch bei dieser Methode ist insbesondere, dass die Verwendung von Durchschnittskosten eine gleiche Verteilung der Verordnungsmenge in Bezug auf die verschiedenen Packungsgrößen und Wirkstärken voraussetzt. Große Packungen bzw. Packungen mit einem hohen Wirkstoffgehalt sind in der Regel günstiger als kleine Packungen bzw. Packungen mit einem geringeren Wirkstoffgehalt. Vom AVR, der ja eine Vorreiterrolle bei der Berechnung von ESP spielt, sollte daher erwartet werden, dass er diejenige Methode verwendet, die eine Substitution unter Berücksichtigung von verschiedenen Wirkstärken, Packungsgrößen, Darreichungsformen und des Preisstandes erlaubt. Weiterhin sollten Rabattverträge und Herstellerrabatte bei den Einsparungen pauschaliert abgezogen werden, da sie nicht die Versichertengemeinschaft und die Patienten belasten. Die Frage, ob sich die DDD-Kosten-Systematik, neben ihrem primären Einsatzgebiet zur Verbesserung der Qualität der Arzneimittelversorgung, auch für Preisvergleiche und zur Kostensteuerung eignet, wird in der Literatur kontrovers diskutiert (Pfannkuche et al. 2009, S. 18). Bei der WHO findet man dazu folgende Einschätzung: „Similarly, basing reimbursement and pricing comparisons on inclusion of drugs in ATC groups is not recommended. The main indications for drugs (on which ATC assignments are based) often differ widely between countries and, like the PDD, can change over time. However, the ATC classifications can be useful when costs need to be aggregated into drug groups or therapeutic areas to determine, for example, to what extent increased costs can be attributed to increased use of a therapeutic group over time.” (WHO 2011, S. 1). Heute steht man Kostenvergleichen auf Basis der DDDSystematik kritisch bis ablehnend gegenüber (Wasem/Bramlage 2009, S. 54, Bratzke 2008, Cassel/Ulrich 19 S. 1). Ein zentrales Problem der Anwendung von DDD ist die Nichtberücksichtigung der zugelassenen Dosierungen bei Abweichungen von der theoretischen DDD und die Nichtberücksichtigung der Behandlungsdauer bzw. der Therapiezyklen. Das führt zu Verzerrungen der ausgewiesenen Kosten insbesondere bei onkologischen Therapien und anderen zyklenbasierten Therapien (Wasem/Bramlage 2009, S. 53). Der Einsatz der DDD-Tagestherapiekosten zur Preisermittlung und für Preisvergleiche wird von einigen Autoren daher sogar ganz abgelehnt (Bratzke 2008, S. 1). Da die tatsächlich eingesetzte Dosis von den DDD teilweise erheblich abweicht, wären „Prescribed Daily Doses“ (PDD) grundsätzlich die angemessenere Basis für eine Preisermittlung (Wasem/Bramlage 2009, S. 54). Pfannkuche et al. fassen ihre Einschätzung wie folgt zusammen: „Verschiedene Limitationen der Systematik erfordern bei Wirtschaftlichkeitsberechnungen und -vergleichen auf dieser Grundlage sowie bei der Interpretation der entsprechenden Daten einen Einsatz mit „Sinn und Verstand“ sowie eine hohe Transparenz, um die Validität und Vergleichbarkeit von Ergebnissen zu gewährleisten bzw. einschätzen zu können.“ (Pfannkuche et al. 2009, S. 21). Ein korrektes Verfahren ist sicherlich in den meisten Fällen komplizierter und schwieriger umzusetzen, sichert jedoch die Vergleichbarkeit von Ergebnissen und damit auch die Akzeptanz der Berechnungen. Zur Berechnung von realistischen Einsparpotenzialen sollten daher, wie durch den Methodenvergleich in Abschnitt 1.2 beschrieben, alle zum Zeitpunkt der Verordnung verfügbaren Austauschpräparate unter Berücksichtigung von Packungsgröße, Wirkstärke und Darreichungsform verwendet werden. Hinzu kommt die Berücksichtigung des aktuellen Preisstandes. Ein solches Vorgehen stellt insofern einen methodischen „Goldstandard“ dar, als es alle marktrelevanten Faktoren berücksichtigt und damit den praktischen Gegebenheiten am nächsten kommt, vor allem aber keine unrealistischen ESP generiert und deshalb auch keine unerfüllbaren Einsparwünsche auslöst (Pfannkuche et al. 2007, S. 5). Komponentenzerlegung Das Konzept der Komponentenzerlegung wurde Ende der 1980er Jahre zur Bestimmung zentraler Determinanten der GKV-Arzneimittelausgaben entwickelt (Reichelt 1988, S. 10 ff.; AVR 2011, S. 973 ff.; AM-Atlas 2011, S. 352 ff.). Das Konzept dient der Zerlegung der Ausgabenentwicklung in Preis-, Mengen- und Strukturkomponente. Die Komponentenzerlegung findet sich in den Analysen des AVR und des AM-Atlas. Relativ einfach zu ermitteln sind die Veränderungen des Verbrauchs bzw. der Menge (beispielsweise Stückzahl, Verordnung oder DDD) und Preise, die durch eine Mengen- und eine PreisKomponente dargestellt werden. Darüber hinaus kann die Umsatzänderung auch durch strukturelle Änderungen bedingt sein, beispielsweise durch Verschiebungen der Anteile von Wirkstoffen, Packungsgrößen und Dosisstärken. Strukturelle Änderungen innerhalb eines Marktes können selbst dann zu Umsatzänderungen führen, wenn die Verbrauchs- und PreisKomponente keine Änderungen gegenüber dem Vergleichszeitraum aufweisen, etwa wenn der Anteil von höherpreisigen Arzneimitteln oder Arzneimitteln mit höherer Wirkstärke sich verändert. Der Einfluss derartiger Verschiebungen wird mit Hilfe der so genannten Strukturkomponente erfasst. Die Berechnung der Strukturkomponente geht auf Arbeiten des WIdO zurück und liegt sowohl dem AVR als auch dem AM-Atlas zugrunde (Reichelt 1988, S. 13). Das Konzept eignet sich zur Erfassung von Determinanten der Arzneimittelumsatzentwicklung mit Hilfe einer geeigneten Komponentenzerlegung. Als Mengeneinheit verwendet der AVR die Zahl der Verordnungen. Damit kann im AVR berechnet werden, welcher Anteil der Umsatzveränderung auf Änderungen in der Zahl der Cassel/Ulrich 20 Verordnungen – als Verbrauch interpretiert –, aus Preisänderungen und aus Änderungen der Struktur der Verordnungen resultiert. Diese Berechnungen können sowohl für einzelne Indikationsgruppen als auch für den Gesamtmarkt durchgeführt werden (Schröder et al. 2007, S. 40). Wie Abbildung 2 zeigt, lässt sich die Strukturkomponente zurückführen auf Verschiebungen zwischen und innerhalb der Indikationsgruppen (Inter- und Intramedikamenteneffekt). Der Intramedikamenteneffekt kann noch in einen Darreichungsformen- und Stärkeneffekt sowie einen Packungsgrößeneffekt untergliedert werden. Der IntermedikamentenEffekt wird in diesem Kontext häufig als Beleg und Maß dafür herangezogen, dass bei den Arzneiverordnungen eine systematische Verschiebung hin zu neuen und teuren Präparaten stattfindet, „die im Vergleich zu den bereits verfügbaren Medikamenten keinen oder einen nur marginalen therapeutischen Zusatznutzen hätten“ (Rürup et al. 2009,2, S. 100). Abbildung 2: Strukturkomponente auf dem Arzneimittelmarkt Quelle: Eigene Darstellung. So kommt der AVR 2011 für das Jahr 2010 zu dem Ergebnis, dass der Anstieg der Ausgaben auf dem Fertigarzneimittelmarkt (4,3 %) mehrheitlich auf strukturelle Veränderungen (4,2 %) zurückzuführen sei. Die Strukturkomponente teilt sich wiederum in den Intermedikamenteneffekt (2,3 %) – also durch Wechsel zwischen verschiedenen Medikamenten verursachte Ausgabensteigerungen – und den Intramedikamenteneffekt (1,94 %) – d. h. durch Wechsel zu größeren Packungen oder höheren Dosierungen verursachte Ausgabensteigerungen (AVR 2011, S. 6). Allerdings gilt es zu beachten, dass die Strukturkomponente des AVR und der zugrunde liegende GKV Fertigarzneimittelumsatz eher unscharfe Maße für die Wirtschaftlichkeit der Arzneiverordnungen sind. Die Basis der Komponentenzerlegung, der GKV-Fertigarzneimittelumsatz (AMU; AVR 2011, S. 966 ff.), ist bei näherer Betrachtung eine schwer interpretierbare Größe. Anders als der „normale“ betriebswirtschaftliche Umsatz enthält er auch Rabatte und ist nicht „unternehmensbezogen“. Er enthält vielmehr die Umsätze mehrerer Beteiligter (Unternehmen, Apotheken, Großhändler) sowie die Mehrwertsteuer, welche die Umsätze aber nicht schmälert und daher üblicherweise nicht ausgewiesen wird. Der Begriff suggeriert, dass die pharmazeutischen Unternehmer diese Umsätze zu Lasten der GKV erzielen, was aber nicht der Fall ist. Korrekt wäre der Begriff GKV-Arzneimittelumsatz wie folgt zu umschreiben: fiktiver auf- Cassel/Ulrich 21 summierter Umsatz der pharmazeutischen Unternehmen, Apotheken, Großhändler, wenn es keine Rabattverträge, Herstellerrabatte und Apothekenabschläge gäbe zuzüglich der Mehrwertsteuer. Die Aussagekraft einer derartigen Größe bleibt allerdings diskussionswürdig. Der AM-Atlas hat erstmals für das Jahr 2010 die Ausgabenveränderungen nicht nur auf Basis der Apothekenverkaufspreise bestimmt, sondern auch auf der Ebene des so genannten Erstattungspreises der Versichertengemeinschaft. Dabei wird berücksichtigt, dass von Seiten der pharmazeutischen Unternehmer und der Apotheken Rabatte an die GKV gewährt werden, welche von der Gemeinschaft aus Krankenkassen und Versicherten nicht getragen werden müssen (AM-Atlas 2011, S. 352). Der gesonderte Ausweis einer Strukturkomponente zielt darauf ab, einen differenzierten Einblick in die Struktur der GKV-Arzneimittelausgaben zu gewähren. Zur Gliederung werden unterschiedliche Ebenen der Aggregation herangezogen. Dazu wird der Gesamtmarkt in die rund 60 Therapie- bzw. Indikationsgruppen der Roten Liste oder in Gruppierungen nach der ATC-Klassifikation unterteilt (Schröder et al. 2007, S. 11). Weiterhin ist die Analyse auf die 3.000 verordnungsstärksten Präparate (Standardaggregate) eines Jahres fokussiert, die das Hauptanwendungsgebiet charakterisieren. Die Indikationsgruppe umschließt mehrere Standardaggregate, wobei ein Standardaggregat sich aus den unterschiedlichen Packungsgrößen, Dosierungen und Darreichungsformen eines Artikels gleichen Handelsnamens zusammensetzt. Der GKV-Arzneimittelindex erlaubt zwar die Erfassung einer Vielzahl von Einzelentwicklungen, er besitzt aber keine hinreichende Trennschärfe zwischen Preis- und Mengeneffekten. Dies erkennt man bereits daran, dass die Strukturkomponente einen Teil der Mengenkomponente bildet. In die Strukturkomponente gehen somit auch Preissteigerungen ein, die daraus resultieren, dass die Hersteller beispielsweise die Änderung der Packungsgröße oder Darreichungsformen zu Preiserhöhungen nutzen, die man üblicherweise nicht zur Struktur- bzw. Mengenkomponente rechnen würde. Eine zweite Besonderheit besteht in der von ökonomischen Konventionen abweichenden Definition der Mengeneinheit. Der GKV-Arzneimittelindex definiert als Mengeneinheit die Verordnung. Üblicherweise notiert man nicht die Preise für Packungen, sondern pro Gewichtseinheit, pro Zähleinheit oder pro Tagesdosis und gibt damit die Menge durch das Gewicht oder das Volumen der Packung an. Hierdurch wirkt der Intramedikamenteneffekt als Ausgabentreiber, obwohl Verschiebungen auf größere – und in Bezug auf die Tagesdosis zumeist preisgünstigere – Packungen zu Einsparungen führen können. Der Bezug auf die Verordnung, der nur beim Vorliegen relativ homogener Zähleinheiten sinnvoll ist, erschwert den Vergleich auch in internationaler Hinsicht mit anderen Märkten. Für den AVR ergibt sich damit das heterogene Bild, dass für die ESP-Berechnungen auf DDD-Kosten zurückgegriffen wird, bei der Komponentenzerlegung aber auf Verordnungen. Ein weiteres methodisches Defizit betrifft die Messung des Intermedikamenteneffekts. Dieser verstärkt sich, sobald der relative Anteil eines Arzneimittels mit überdurchschnittlichem Preis an den gesamten Verordnungen eines Jahres steigt. Zu einem solchen Anstieg kann es kommen, wenn das teure Arzneimittel häufiger verordnet wird, aber auch wenn billigere Arzneimittel seltener verordnet werden oder wenn beides gleichzeitig geschieht. Bertram Häussler et al. verdeutlichen diese Situation an einem praktischen Beispiel: Der Intermedikamenteneffekt habe sich 2005 auch deshalb vergrößert, weil die absolute Verordnungsmenge sehr teurer Immunsuppressiva weitgehend unverändert geblieben ist, während niedrigpreisige und wenig wirksame Venensalben seltener verordnet wurden Cassel/Ulrich 22 (Häussler et al. 2006, S. A-2456). Die abnehmenden Verordnungen von Venensalben erzeugten also rechnerisch einen höheren Verordnungsanteil der Immunsuppressiva und verstärkten damit die Strukturkomponente. „Die Konzepte von Intermedikamenteneffekt und Strukturkomponente stellen damit für die niedergelassenen Ärzte eine Falle dar: Je mehr sie sich an Vorgaben zur Einsparung bei unwirtschaftlichen Arzneimitteln halten, desto höher wächst der Intramedikamenteneffekt, der ihnen dann aber fälschlicherweise als Beleg für die Unwirtschaftlichkeit ihrer Verordnungsweise ausgelegt wird“ (Häussler et al. 2006, S. A2456). Unter Versorgungsgesichtspunkten durchaus erwünschte Entwicklungen können auf diese Weise unter Umständen falsch klassifiziert und möglicherweise sogar als Ineffizienzen interpretiert werden. Methodisch geht diese Fehleinschätzung im AVR auf die zugrunde liegende Annahme zurück, dass auf dem Arzneimittelmarkt nahezu uneingeschränkte Substitutionsmöglichkeiten bestehen. Beim AM-Atlas wird dagegen die Verbrauchs- bzw. Mengenkomponente anhand von Veränderungen der verordneten DDD gemessen. Grundsätzlich bilden Tagesdosen Verbrauchsänderungen präziser ab, da sie unabhängig von Packungsgrößen und Wirkstärken sind. Der AM-Atlas weist damit aus, welcher Anteil der Umsatzveränderung auf veränderten Verbrauch (DDD), veränderte Preise sowie eine veränderte Struktur der Verordnungen innerhalb einzelner ATC-Gruppen zurückzuführen ist.10 Als Strukturkomponenten werden beim AM-Atlas Verschiebungen auf der Ebene von Therapieansätzen (Wirkstoffgruppen, die als Indikationsgruppe bezeichnet werden und die durch die therapeutische Untergruppe der ATC-Klassifikation beschrieben werden), Analog-Wettbewerb (Verlagerungen zwischen Wirkstoffen innerhalb einer Wirkstoffgruppe), Darreichungsformen, Wirkstärken, Packungsgrößen sowie Substitutionseffekte durch Reimporte, Generika und Hersteller definiert (Häussler et al. 2007, S. 331). Um den Effekt einer Strukturkomponente nur einmal zu erfassen, sind die Strukturkomponenten hierarchisch gegliedert, d. h. der Einfluss des Therapie-Ansatzes wird vor dem Einfluss einer möglichen Substitution zwischen den AnalogWirkstoffen betrachtet. Eine weitere Annahme des AM-Atlas besteht darin, dass die Entwicklung neuer Therapieoptionen bzw. die Wiederentdeckung bereits bekannter Ansätze zu einer Veränderung der Struktur der Arzneimittelversorgung führen kann. Daher unterscheidet der Atlas zwischen den Verschiebungen zwischen therapeutischen Ansätzen und den Verschiebungen zwischen Analog-Wirkstoffen (AM-Atlas 2011, S. 355). Unter „therapeutischen Ansätzen“ werden in der Regel unterschiedliche Wirkstoffgruppen verstanden, die meist nacheinander entwickelt werden, auf verschiedenen Wirkprinzipien, die aber in gewissen Grenzen untereinander substituierbar sind. (AM-Atlas 2011, S. 356). Der Analog-Wettbewerb umfasst die Substitution zwischen Analog-Wirkstoffen, d. h. zwischen vergleichbaren, aber nicht identischen Substanzen innerhalb einer Wirkstoffgruppe. Sie sind meist in zentralen Indikationen gegeneinander substituierbar. Umsatzveränderungen, die auf Verschiebungen zwischen therapeutischen Ansätzen oder Analog-Wirkstoffen zurückzuführen sind, werden innerhalb einer Indikationsgruppe bzw. 10 Es handelt sich dabei üblicherweise um die zweite ATC-Ebene. Nicht immer beschreiben die Indikationsgruppen auch tatsächlich Therapieansätze bzw. Wirkstoffe, die prinzipiell substituierbar sind. In solchen Fällen werden die Indikationsgruppen in Teil-Indikationsgruppen aufgespalten. Damit setzt die Messung der Strukturkomponenten „Therapieansatz“ und „Analog-Wirkstoff“ auch die Erfassung von Verschiebungen auf der dritten und vierten Ebene der ATC-Klassifikation voraus (Schröder et al. 2007, S. 42; Häussler et al. 2007, S. 240). Cassel/Ulrich 23 innerhalb eines therapeutischen Ansatzes in der Strukturkomponente des AM-Atlas erfasst. Vor allem die „Analog-Komponente“ ist von hohem gesundheitspolitischen Interesse, da hier der Verdacht besteht, dass ein großer Teil des jährlichen Umsatzanstiegs auf die Verschiebung zu teuren Analog-Arzneimitteln zurückzuführen ist. Es erfolgt bei diesem Ansatz eine additive Verknüpfung der Ergebnisse auf der Ebene der Wirkstoffe, die dann über das Gesamtmarktergebnis informiert. Die im AM-Atlas errechneten Indexwerte selbst sind Steigerungs- bzw. Wachstumsraten, so dass er vor allem eine Stromanalyse und weniger eine Bestandsanalyse beinhaltet. Übersicht 2 enthält eine Synopse der zentralen Charakteristika des AVR und des AM-Atlas. Zwischen den jeweiligen Autoren des AVR und des AM-Atlas besteht insbesondere Uneinigkeit hinsichtlich der Aussagefähigkeit des jeweils anderen Berichts mit Blick auf folgende Aspekte: • • • • Verbrauchsmessung: Verordnung oder DDD Eingeschränkte oder uneingeschränkte Substitution: innerhalb und zwischen Indikationsgruppen sowie Standardaggregaten Ergebnisinterpretation: Struktureffekte oder Bedarf Existenz und Berechnung von ESP Für das Jahr 2010 weist der AVR einen Umsatzanstieg von 4,3 % aus, der AM-Atlas 3,4 %. Beide Werke betonen dann aber sehr unterschiedliche Gründe für diese Diskrepanz. Beim AVR ist der Wert je Verordnung stark angestiegen, d. h. es wurden vermehrt die teuren patentgeschützten Medikamente verordnet, während die Zahl der Verordnungen nahezu unverändert blieb. Der Wert der Verordnung wird dabei entscheidend von der Strukturkomponente bestimmt, während der durchschnittliche Preis leicht gesunken ist. Innerhalb der Strukturkomponente dominiert der Intermedikamenteneffekt, der vor allem die Verschiebungen zu anderen, meist teureren Produkten erfasst. Wie bereits erwähnt, wird der Intermedikamenten-Effekt häufig als Beleg dafür herangezogen, dass bei den Arzneiverordnungen eine systematische Verschiebung hin zu neuen und teuren Präparaten stattfindet, was unter den Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten kritisch hinterfragt wird (AVR 2011, S. 10 ff.). Beim AM-Atlas wird die Umsatzentwicklung dagegen mehrheitlich durch die Verbrauchskomponente getrieben, d. h. durch eine höhere Nachfrage nach Arzneimitteln. Allerdings nahmen auch beim Atlas die Mehrausgaben durch den Einsatz von teureren Arzneimitteln gegenüber dem Vorjahr deutlich zu. Der Ausweis weiterer Differenzierungsgrade ergibt beim Atlas das zentrale Ergebnis, dass die Ausgabensteigerungen des Jahres 2010 verglichen mit 2009 sowohl in der Grund- als auch in der Spezialversorgung primär verbrauchsgetrieben waren (AM-Atlas 2011, S. 21). Das spannende Thema, ob und inwieweit denn ESP im System stecken, wird beim AM-Atlas gegenüber dem AVR allerdings fast vollständig ausgeklammert. Die Steigerungen, welche auf die Komponente „Verbrauch“ fallen, werden nicht weiter hinterfragt, so dass jede Verbrauchserhöhung als medizinisch indiziert interpretiert wird, was in dieser Form sicherlich nicht der Realität entspricht. Den Verschiebungen zwischen den Therapieansätzen und den Analog-Wirkstoffen kommt dagegen keine zentrale empirische Bedeutung zu. Helmut Schröder et al (2007, S. 43 ff.) kritisieren hier durchaus zu Recht, dass Mengensteigerungen automatisch als Versorgungsverbesserungen dargestellt werden und Einsparreserven definitionsgemäß nicht existent sind. Dabei werden größere Packungen pauschal als Einsparungen gewertet, was nicht über Cassel/Ulrich 24 Übersicht 2: Methoden-Merkmale von AVR und AM-Atlas im Vergleich Merkmal Warenkorb Analyseebene / Klassifikationsmodell Preisvariable Methode der Umsatzanalyse Verbrauchsmessung Aggregationsebene Komponentenanalyse AVR Akzeptierte Abrechnungsdaten der Krankenkassen (quartalsweise Hochrechnung auf die amtliche Ausgabenstatistik); keine Nicht-Fertigarzneimittel und Sprechstundenbedarf Rohdaten der Apothekenrechenzentren der nationalen VerordnungsInformationen (NVI); Sprechstundenbedarf (Impfstoffe), Diagnostika enthalten Apothekenverkaufspreis Apothekenverkaufspreis, Erstattungspreis Indikationsgruppen, Standardaggregate, ATC-Klassen Komponentenmethode Verordnungen (Packungen) Indikationsgruppen und Standardaggregate Preise Verordnung Strukturkomponente Intermedikamenteneffekt Intramedikamenteneffekt Darreichungsform/Stärke Packungsgröße Substitution Einsparpotenzial Interpretation Quelle: Eigene Darstellung. AM-Atlas Substitution zwischen Standardaggregaten (in und zwischen Indikationsgruppen) ESP bei Solisten (Auslandspreise), Generika, Analog-Präparate, Umstrittene Arzneimittel) Dominanter Struktureffekt Wirkstoffbezogene Indikationsgruppen Komponentenmethode DDD Indikationsgruppen auf Basis von ATC-Gruppen Preise Verbrauch (DDD) Strukturkomponente Therapieansatz Analog-Wettbewerb Darreichungsform Wirkstärke Packungsgröße Parallelimport Generika Hersteller Substitution in Marktsegmenten (nur in Indikationsgruppen) ESP nur bei Generika Dominanter Verbrauch zeugend ist, sofern dahinter keine medizinische Indikation steht. Andererseits werden beim AM-Atlas in den weiteren Strukturkomponenten, die als wirtschaftlich motivierte Veränderungen des Verbrauchs interpretiert werden, „technische“ Einsparungen gesehen (AMAtlas 2011, S. 355). Solche Einsparungen zeigen, dass auch der AM-Atlas – zumindest implizit – auf die Existenz von ESP hinweist. Cassel/Ulrich 25 Beim AVR konzentriert sich die Diskussion über ESP auf der Ebene der Komponentenzerlegung insbesondere auf den Intermedikamenteneffekt. Dieser fängt grundsätzlich die Verschiebungen zwischen den Therapieansätzen und die Verlagerungen zwischen den AnalogWirkstoffen auf. Da der AVR aber ein anderes Substitutionskonzept im Vergleich zum Atlas verwendet, zeigt der Intermedikamenteneffekt eine positive Strukturkomponente an, sobald der relative Anteil eines Arzneimittels mit überdurchschnittlichem Preis an den gesamten Verordnungen eines Jahres steigt und vice versa, wenn das billigere Arzneimittel seltener verordnet wird. Unter Versorgungsgesichtspunkten erscheint diese Klassifikation problematisch, da sie nicht transparent und nachvollziehbar zwischen erwünschten und unerwünschten Entwicklungen differenziert. Dieser „Zahlensalat“ kommt natürlich in erster Linie durch die erwähnten Unterschiede in der Anwendung der zentralen Konzepte „ATC/DDD-Klassifikation“ und der „Komponentenzerlegung“ zustande. Je nach angewandter Methode und Datenbasis erhält man unterschiedliche Ergebnisse und damit auch unterschiedliche Interpretationen der interessierenden Zusammenhänge. Lässt man Verlagerungen zwischen Indikationsgruppen und Standardaggregaten und damit letztlich eine nahezu unbegrenzte Substitution gedanklich zu, kommt der Strukturkomponente – und damit auch dem ESP – eine deutlich größere Bedeutung zu als bei einer Substitution, die sich vornehmlich innerhalb von Indikationsgruppen vollzieht. Letztlich muss es darum gehen, die Methoden und Datensätze transparent und überprüfbar zu machen, damit die Ergebnisse für Dritte nachvollziehbar sind und darüber hinaus auch erkennbar wird, ob bei den Berechnungen im Einzelfall eine ergebnisgeleitete Daten- und Methodenwahl vermutet werden kann. 2.2 Einsparpotenziale bei umstrittenen Arzneimitteln Als umstrittene Arzneimittel werden Wirkstoffe oder Fertigarzneimittel bezeichnet, deren therapeutische Wirksamkeit nicht oder nicht in ausreichendem Maße durch kontrollierte klinische Studien nachgewiesen worden ist (Schwabe 2004, S. 898). Im aktuellen AVR basiert die Verordnungsanalyse diesbezüglich auf 58 Gruppen – die erste Aufstellung aus dem Jahr 1986 umfasste erst 11 Arzneimittelgruppen mit einem Verordnungsvolumen von 1,7 Mrd. Euro (AVR 2011, S. 32). Der AVR weist für das Jahr 2010 ein Umsatzvolumen bei den umstrittenen Arzneimitteln von Höhe von 755 Mio. Euro aus, womit sich der rückläufige Umsatztrend seit 1992 – in diesem Jahr betrug es noch 5,1 Mrd. Euro – fortsetzt. Ulrich Schwabe interpretiert diesen Ausgabenrückgang in Höhe von rund 4,3 Mrd. Euro fälschlich als Einsparungen, die bei den umstrittenen Arzneimitteln insgesamt erzielt wurden. Dieses Einsparvolumen resultiert allerdings aus einer Bruttogröße, da die gesamten Ausgaben für umstrittene Arzneimittel der Berechnung zugrunde gelegt werden. Bei der Berechnung der ESP wählt der AVR selbst eine andere Vorgehensweise und berechnet als ESP nur die Ausgaben, die über die Substitution durch andere wirksame Arzneimittel hinausgehen (AVR 2011, S. 32, und Tabelle 4). Das errechnete ESP beläuft sich für das Jahr 2010 auf 572 Mio. Euro. Allerdings gilt auch: „Da ein Teil dieser umstrittenen Arzneimittel durch wirksame Präparate ersetzt werden sollte, handelt es sich bei diesem Einsparpotenzial um Differenzbeträge“ (SVR G 2005, S. 295). Als Einsparsumme steht also nicht die gesamten Ausgaben zur Disposition, sondern nur die Differenz, die nach der Substitution durch wirksame Präparate verbleibt. Cassel/Ulrich 26 Tabelle 4: Einsparpotenziale bei umstrittenen Arzneimitteln Gruppe Gesamtumsatz Umsatzanteil Gesamtmarkt Substitution durch wirksame AM ESP Umsatz 2009 Umsatz 2010 778,1 755,4 in Mio. Euro 2,7 195,7 582,4 Quelle: Eigene Darstellung nach AVR 2011, S. 38. Differenz in Mio. Euro In Mio. Euro 2,5 — 183,9 571,5 -22,7 — -10,9 Diese Differenzgröße wird im AVR ausführlich erläutert (AVR 2011, S. 32 ff.). In 28 der 58 Indikationsgruppen sind laut AVR wirksame Substitutionsmöglichkeiten verfügbar. Falls als Substituenten verschreibungspflichtige Arzneimittel herangezogen werden, die nicht mehr erstattungsfähig sind, werden die entsprechenden Substitutionskosten nicht berücksichtigt. In einigen Gruppen gibt es jedoch keine Substituenten, die empfohlen werden können. Bei geringfügigen Gesundheitsstörungen kann die Pharmakotherapie überwiegend in die Eigenverantwortung der Versicherten übergeben werden; bei anderen umstrittenen Medikamenten bestehen Zweifel bezüglich ihres therapeutischen Nutzens (beispielsweise bei Grippemitteln, Laxantien oder Mund- und Rachentherapeutika). Aber auch bei Präparaten gegen schwere Erkrankungen gibt es nicht immer eine wirksame Alternative (zum Beispiel bei Urologika oder durchblutungsfördernden Mitteln). Insgesamt erscheint die Vorgehensweise des AVR zur Substitution bei der Berechnung der ESP im Falle umstrittener Arzneimittel sinnvoll und angemessen. Allerdings fehlt auch hier die genaue Beschreibung der Methodik zur Berechnung der ESP. Die Angaben über die DDDKosten bei den Substitutionsvorschlägen legen aber die Schlussfolgerung nahe, dass Methodik 1 angewandt wurde, d. h. die Substitution erfolgt nach den DDD-Durchschnittskosten. Damit bleibt unberücksichtigt, dass die Tagestherapiekosten auch maßgeblich von den Wirkstärken, der Packungsgröße und dem aktuellen Preisstand abhängen. Ein solches Vorgehen weist zwar in der Tendenz die höchsten ESP aus, die aber unrealistisch sind und damit letztlich unerfüllbare Einsparwünsche wecken. In der Längsschnittperspektive stellen die umstrittenen Arzneimittel gegenwärtig kein zentrales Thema mehr dar (WIdO 2011, S. 2). Anfang der 1990er Jahre machten ihre Verordnungen noch fast ein Drittel des gesamten GKV-Arzneimittelumsatzes aus. Im Jahr 2010 lag dieser Wert bei nur noch 2,5 %. Insgesamt zeigt die Diskussion, dass es Befürworter und Gegner bestimmter Präparate und Therapien gibt, eine in der gesamten Medizin nach wie vor weit verbreitete Situation. Seit dem Ausschluss der nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel aus der GKV-Erstattung durch das GKV-Modernisierungsgesetz im Jahr 2004 verharren die Verordnungen umstrittener Arzneimittel, die meistens auch rezeptfrei sind, auf einem niedrigen Niveau (WIdO 2011, S. 2). Ulrich Schwabe sieht in dieser Entwicklung einen Erfolg für die GKV und ihre Versicherten sowie auch einen „bemerkenswerte(n) Beitrag der Vertragsärzte zur Ausschöpfung von Rationalisierungsreserven im System“ (Schwabe 2004, S. 910). Cassel/Ulrich 27 Diese Sichtweise setzt allerdings voraus, dass nach eindeutigen Kriterien bestimmt werden kann, welches Präparat umstritten ist und welches nicht. Aus ökonomischer Sicht sollte dies aus der Perspektive des Patienten entschieden werden. Hierzu bedürfte es dann wieder demokratisch legitimierter Institutionen, die diese Aufgabe übernehmen, da der Patient durch die vorherrschende asymmetrische Informationsverteilung dazu in den meisten Fällen nicht in der Lage ist. 2.3 Einsparpotenziale aus nationalen Preisvergleichen Im Unterschied zu den umstrittenen Arzneimitteln erfolgt bei den generikafähigen Wirkstoffen ein steter Zufluss von Rationalisierungsmöglichkeiten nach Ablauf des Patentschutzes von Originalen (Wille 2004). Bei einem Patentablauf umsatzstarker Arzneimittel kann das ESP durch die Generikasubstitution auch dann zunehmen, wenn die Ärzte verstärkt Generika verordnen (siehe Fn 6 in Abschnitt 1.2 und SVR G 2005, Tz 772). Dies ist offensichtlich dadurch begründet, dass eine zunehmende Generikasubstitution grundsätzlich zu einer Abnahme des ESP führt, die in einem solchen Fall aber durch die möglich gewordene Substitution des relativ teuren Originals überkompensiert wird. Ein fiktives Beispiel soll dies verdeutlichen: Die Erhöhung der Generikaquote von 70 % auf 80 % könnte das ESP beispielsweise um 1 Mio. Euro senken, da die zahlreichen Maßnahmen zur Generikasubstitution eine absolute und relative Abnahme des ESP plausibel erscheinen lassen (siehe Abschnitt 1.2). Die möglich gewordene Substitution eines teuren Originals erhöht dagegen das ESP um 1,5 Mio. Euro, so dass das ESP insgesamt trotz einer verstärkten Generikaverordnung steigt. Von Interesse ist auch der Zusammenhang zwischen ESP und Effizienz der Arzneimittelversorgung. Eine Veränderung des ESP im generikafähigen Markt lässt zunächst noch keine Aussage über die Effizienz der Arzneimittelversorgung zu (SVR G 2005, S. 297). Eine effiziente Arzneimittelversorgung kann sowohl mit einem zunehmenden als auch mit einem sinkenden ESP einhergehen. Wenn ein umsatzstarkes Arzneimittel seinen Patentschutz verliert, kann das ESP durch die Generikasubstitution auch dann zunehmen, wenn die Ärzte verstärkt Generika verordnen. Der Anteil der Generika-Präparate nach Verordnungen und Umsatz ist in den letzten Jahren stark gestiegen (auch nach der Umstellung des Arzneimittelindex auf den neuen Warenkorb im Jahr 2001). Für das Jahr 2010 beläuft sich der Generikaanteil im GKVGesamtmarkt auf 71,1 % (nach Verordnungen) und 34,7 % (nach Umsatz). Damit waren 71 % der für GKV-Versicherte verschriebenen Arzneimittel Generika-Präparate (AVR 2011, S. 18). Durch die Rabattverträge zwischen den Krankenkassen und den Herstellern sowie die Patentabläufe hochpreisiger Originale ist der Generika-Umsatzanteil im Jahr 2010 etwas gesunken. Falls die Preise von Originalen im Durchschnitt über jenen von Generika liegen, fällt der Umsatzanteil im generikafähigen Markt kleiner aus als der Verordnungsanteil. Diese Differenz hat sich in den letzten Jahren aber verringert, da sich die Preise von patentfreien Originalpräparaten und Generika in dem meisten Fällen angenähert haben. Allerdings gibt es trotz fallender Preise immer noch erhebliche Preisunterschiede zwischen patentfreien Originalen und Generika (WIdO 2011, S. 2). Analogpräparate enthalten neue Wirkstoffe, die im Vergleich zu existierenden eine veränderte Molekülstruktur haben. Die Klassifikation erfolgt grundsätzlich nach pharmakologischen Kriterien (AVR 2011, S. 26). Analoga werden entweder vom Hersteller des ursprünglichen Arzneimittels als Weiterentwicklung auf den Markt gebracht oder von einem Konkurrenzunternehmen entwickelt. In jedem Fall ist der Wirkstoff mit der neuen Molekül- Cassel/Ulrich 28 struktur patentierbar. Bei den Konkurrenzentwicklungen kann es sich dabei um Entwicklungsprogramme handeln, die zeitgleich durchgeführt oder aber später beendet wurden. Analogpräparate enthalten neue Wirkstoffmoleküle mit pharmakologischen Wirkungen, die mit denen des Originalpräparates vergleichbar sind: „Diese Innovationen können wegen verbesserter Pharmakokinetik und/oder verminderter unerwünschter Arzneimittelwirkungen mit therapeutischen Vorzügen einhergehen, besitzen jedoch zumeist keine relevanten therapeutischen Vorzüge gegenüber bereits eingeführten Wirkstoffen. Analogpräparate bieten aus dieser Perspektive aber nicht per se einen Ansatzpunkt für Rationalisierungsmaßnahmen“ (SVR G 2005, Tz 773). Durch Analoga kann es im Preiswettbewerb zu Preissenkungen bei vergleichbaren Präparaten kommen, sofern die Analogpräparate preisgünstiger als diese ausgeboten werden. Unter Rationalisierungsaspekten kommt es darauf an, ob das jeweilige Analogpräparat mit teureren oder preiswerteren Medikamenten mit ähnlichen oder gleichartigen Wirkungen konkurriert (SVR G 2005, Tz 773). Sofern Arzneimittel-Innovationen einen größeren therapeutischen Nutzen aufweisen als bisher verfügbare Präparate, erhöhen sie über eine Verbesserung der Effektivität der Behandlung auch die Wohlfahrt der Patienten. Handelt es sich jedoch um Medikamente ohne relevante Vorteile, liegt eine ineffiziente Ressourcenallokation vor, d. h. in der Strukturkomponente schlagen sich dann verdeckte Preissteigerungen nieder (Wille 1994; SVR KAiG 2002; SVR G 2005). Im AVR zeigt das Analoga-ESP seit dem Jahr 2008 wieder einen steigenden Trend und erreicht im Jahr 2010 einen vorläufigen Höchstwert von 2,5 Mrd. Euro (siehe oben Tabelle 3). Das Einsparpotenzial liegt über dem des Jahres 2009 (2,2 Mrd. Euro), sei aber kaum mit ihm vergleichbar, da neue Substitutionsmöglichkeiten mit Generika hinzugekommen seien (AVR 2011, S. 29). Zur Berechnung der ESP wählt der AVR wohl erneut die Methodik 1, d. h. die Substitution erfolgt über die DDD-Durchschnittskosten. Im Falle der Generika liefert dieses Vorgehen für den im Vergleich AM-Atlas und AVR bereits vorgestellten Wirkstoff Omeprazol ein ESP in Höhe von 128,8 Mio. Euro (AVR 2011, S. 21). Dieses Ergebnis resultiert daraus, dass die DDDVerordnungsmenge des zu substituierenden teuren Präparates multipliziert wird mit der Differenz aus seinem DDD-Preis und dem DDD-Preis des Austauschpräparates. Als Substituent wird dabei der preisgünstigste Wirkstoff herangezogen, falls er eine Mindestmenge von 100.000 DDD erreicht, um Verzerrungen bei irrelevant kleinen Mengen zu vermeiden. Das teuerste Omeprazol-Präparat ist Omep mit DDD-Kosten in Höhe von 0,57 Euro und einer Verordnungsmenge in Höhe von 210,3 Mio. DDD. Diese Menge wäre mit der entsprechenden Preisdifferenz der DDD-Kosten zwischen Omep und seinem Substituenten zu multiplizieren. Gemäß AVR müsste dies, unter Beachtung der Mindestmenge, Omeprazol AL, mit DDD-Kosten in Höhe von 0,32 Euro sein (AVR 2011, S. 706). Allein für Omep resultiert hieraus dann ein ESP in Höhe von 210,3 x (0,57-0,32)=52,58 Mio. Euro. Für alle Omeprazol-Wirkstoffe ergibt sich ein ESP in Höhe von 128,8 Mio. Euro (AVR 2011, S. 21). Für das OmeprazolOriginal Antra, dessen Patentschutz abgelaufen ist, erfolgt die Substitution ebenfalls über das günstigste wirkstoffgleiche Generikum. Das ESP beim Wirkstoff Omeprazol resultiert aber im Wesentlichen aus der Substitution von teuren Omeprazol-Generika durch preisgünstigere Produkte. So hat Antra, das nach wie vor hohe DDD-Kosten von 0,89 Euro verursacht, nur noch einen Marktanteil von 1 % am Umsatz (AVR 2011, S. 706). Die Wahl des preisgünstigsten Generikums verdeutlicht noch einmal sehr plastisch, wie statisch der Ansatz letztlich ist. Käme immer der günstigste Anbieter zum Zuge, so hätte dies in kürzester Zeit eine starke Konzentration auf sein Präparat zur Folge. Da es aber beträcht- Cassel/Ulrich 29 liche Markteintrittshürden gibt, würde der betreffende Anbieter sofort wieder seine Preise deutlich erhöhen. Aus ökonomischer Perspektive ist offensichtlich, dass eine kritische Anzahl von Generikaanbietern am Markt vorhanden sein muss, um einen Preiswettbewerb zu induzieren. Preis- und Mengenschwankungen hat es auf dem deutschen Generikamarkt schon mehrfach gegeben. Im Jahr 2007 vergab die AOK einen Exklusivvertrag für den Wirkstoff Omeprazol an einen kleinen Mittelständler, das Unternehmen biomo pharma aus Hennef. Anfangs gab es prompt Lieferengpässe. Am 29.04.2009 erhielt KSK-Pharma, ebenfalls ein kleiner Mittelständler aus Karlsruhe/Berghausen, den Zuschlag des AOK-Systems als exklusiver Rabattpartner für Omeprazol in ganz Deutschland (FTD 2009, S. 9). Die Umsätze hätten sich unmittelbar vervielfachen können, wenn die Politik Hindernisse beim Austausch der Packungen rechtzeitig beseitigt hätte. KSK hatte nämlich mehrheitlich andere Packungsgrößen im Rabattvertrag als die Mitbewerber. Eine sinnvolle Staffelung gelang dem Gesetzgeber jedoch erst durch die Packungsgrößenverordnung Anfang Mai 2011, dem letzten Monat des AOK-Vertrags. Wegen der stark gestiegenen AOK-Rabattumsätze erzielte KSK im ersten Halbjahr 2011 einen Rekordumsatz von 26 Mio. Euro vor Rabatten. Die Margen blieben jedoch unter Druck, und durch Substitution hin zu Rabattvertragsprodukten Dritter verlor KSK bei verschreibungspflichtigen Produkten sogar an Umsatz (KSK 2012). Diese Beispiele verdeutlichen sehr anschaulich die Schwächen einer statischen Vorgehensweise, bei der unterstellt wird, dass der im Zeitpunkt der Berechnung günstigste Anbieter zum Zuge kommt und ceteris paribus alle rechnerisch zu substituierenden Umsätze tätigt. Unterstellt man eine Substitution innerhalb von Wirkstoffgruppen, d. h. bei wirkstoffgleichen Präparaten, erfolgen diese Berechnungen des ESP gemäß Methodik 1 nicht nur in der Gruppe Omeprazol, sondern auch in den anderen Wirkstoffgruppen der Protonenpumpenhemmer (Pantoprazol, Lansoprazol, Esomeprazol und Rabeprazol). Insgesamt weist der AVR bei den generikafähigen Wirkstoffen ein Einsparpotenzial von 930 Mio. Euro für die 20 umsatzstärksten Wirkstoffe und von 1,6 Mrd. Euro für alle Generika-Wirkstoffe aus (AVR 2011, S. 21 und S. 38). Im Bereich der Protonenpumpenhemmer sind vor einiger Zeit Analogpräparate zu Omeprazol ausgeboten worden, die billiger als die Mitbewerber waren (Pantoprazol, Lansoprazol) und dadurch einen Preiswettbewerb induzierten. Der AVR verwendet daher bei den Protonenpumpenhemmern als Substituenten auch Präparate mit pharmakologischtherapeutisch vergleichbaren Wirkstoffen, analog zur Festbetragsstufe 2 (AVR 2011, S. 31). Bei Substitution von Analoga in der Gruppe der Protonenpumpenhemmer wären nach AVR Einsparungen in Höhe von 16 Mio. Euro möglich. Die Berechnung von ESP erfolgt auf nationaler Ebene neben den generikafähigen Wirkstoffen also auch für Analogpräparate. Hierbei ist die Berechnungsrundlage sowie die Wahl der Substituenten jedoch deutlich unübersichtlicher. Das Grundprinzip lautet, dass das ESP der Differenz zwischen dem Umsatz nach generischer Substitution und dem Umsatz nach Wirkstoffsubstitution entspricht. Insgesamt ergibt die Substitution von Analogpräparaten durch Präparate mit pharmakologisch-therapeutisch vergleichbaren Wirkstoffen ein ESP von 2,5 Mrd. Euro. Wie aus Tabelle 5 ersichtlich ist, spielt dabei die Umsatzverringerung nach generischer Substitution im Vergleich zur Wirkstoffsubstitution nur eine untergeordnete Rolle. In allen Fällen, in denen keine generische Substitution innerhalb der Wirkstoffgruppe möglich ist, kann man dieses Vorgehen durchaus rechtfertigen. Der Austausch von vergleichbaren Wirkstoffen in den Fällen, in denen wirkstoffgleiche Generika zur Verfügung stehen, stellt allerdings eine Substitution dar, die auch nicht in allen Fällen unumstritten sein dürfte. Cassel/Ulrich 30 Der AVR weist zudem ESP nach Herstellern aus (AVR 2011, S. 213 ff.). Auf die 50 umsatzstärksten Anbieter entfallen 82 % des gesamten ESP. Gegliedert nach den Teilmärkten entfallen auf diese Gruppe von Herstellern 82 % des ESP bei Generika, 87 % bei Analoga und 42 % bei umstrittenen Arzneimitteln. Auch hier erfolgt die Berechnung des ESP offensichtlich nach Methodik 1 (siehe Abschnitt 1.2). Bei der Berechnung nach Herstellern zeigen sich erneut die bereits erwähnten zentralen Kritikpunkte gegen die Vorgehensweise des AVR. Auch werden die Nachlässe der Hersteller aus selektiven Rabattverträgen, die Abschläge aus dem Tabelle 5: Einsparpotenziale aus nationalen Preisvergleichen Gruppe Umsatz 2009 Umsatz 2010 in Mio. Euro in Mio. Euro Umsatz aller generikafähigen Wirkstoffe 13.138,8 13.690,0 551,2 Preisgünstigster Umsatz ohne umstrittene Wirkstoffe 11.600,3 11.552,5 Generikafähige Wirkstoffe Umsatzanteil ohne umstrittene Wirkstoffe ESP in Mio. Euro 12.934,2 13.136,0 Analogpräparate 1.333,9 Gesamtumsatz 5.902,9 5.505,4 Umsatz nach Wirkstoffsubstitution 3.355,1 2.649,4 Umsatz nach generischer Substitution ESP Quelle: Eigene Darstellung nach AVR 2011, S. 38. 5.522,8 2.167,7 Differenz 1.583,5 249,6 -397,5 5.153,4 2.504,0 336,4 16%igen Zwangsrabatt sowie die geltenden fixen Apothekenaufschläge nicht berücksichtigt, was die Analyse verzerrt und zur Fiktion werden lässt. Berechnungen auf der Basis von AVP enthalten zu wenig Informationen darüber, welche ESP bei den Herstellern zu realisieren sind. Das ist auch einer der Gründe, warum der AM-Atlas neuerdings seinen Berechnungen auch Erstattungspreise je DDD hinzufügt. Die zentrale Einflussgröße des Wachstums der Arzneimittelausgaben in der GKV nach AVR, nämlich die Strukturkomponente, geht auch im Jahr 2010 überwiegend auf den Intermedikamenteneffekt zurück. Allerdings kann er, wie in Abschnitt 2.1 erläutert, nicht nur auf die Verordnung höherpreisiger Analoga zurückgeführt werden, die zum Teil keinen zusätzlichen therapeutischen Nutzen stiften. Der Intermedikamenteneffekt misst bei positivem Vorzeichen auch Substitutionen von Präparaten mit niedrigeren Preisen durch teurere Arzneimittel-Innovationen mit therapeutischer Relevanz. Weiterhin ergibt sich ein positiver Intermedikamenteneffekt auf dem Gesamtmarkt, wenn die Verordnung teurer Präparate nahezu unverändert bleibt, während niedrigpreisige und wenig wirksame Präparate seltener verordnet wurden (SVR G 2005, Tz 774). Cassel/Ulrich 31 Auch beim AM-Atlas zeigt die Komponente „Analog-Wettbewerb“ eine positive Ausgabenentwicklung an, die dadurch zustande kommt, dass sich innerhalb von Indikationsgruppen der Anteil niedrigpreisiger gegenüber dem Anteil höherpreisiger Analog-Wirkstoffe verringert hat (AM-Atlas 2011, S. 2). Die Mehrausgaben betreffen beispielsweise die Indikationsgruppen der Analgetika, Psycholeptika oder Antiepileptika. Im Atlas finden sich aber auch Indikationsgruppen mit Einsparungen gegenüber dem Vorjahr, etwa bei Mitteln für säurebedingte Erkrankungen oder mit Wirkung auf das Renin-Angiotensin-System. In beiden Indikationsgebieten sind die Einsparungen aber rückläufig. Insgesamt zeigt sich, dass zwei Drittel der Ausgabensteigerungen bei den Analoga 11 Erkrankungen zugeordnet werden können. Dazu zählen Schmerzen, HIV/AIDS, neurologische und psychiatrische Erkrankungen sowie verschiedene Krebserkrankungen (AM-Atlas 2011, S. 2). 2.4 Einsparpotenziale aus internationalen Preisvergleichen Neues Berechnungskonzept für neue Einsparpotenziale Während die Berechnung von ESP aus nationalen Preisvergleichen auf der möglichen Substitution von teuren durch preisgünstigere Präparate beruht, die hierzulande vertrieben werden und insofern ohne Weiteres erhältlich sind, folgt das ESP-Kalkül bei internationalen Preisvergleichen einer gänzlich anderen Logik: Es wird nämlich nach so genannten Referenzländern gesucht, in denen die in Deutschland vertriebenen Präparate ebenfalls ausgeboten, aber anscheinend preisgünstiger zu haben sind. Dabei kommt es nicht darauf an, ob und inwieweit die im Ausland billigeren Produkte hierzulande überhaupt bzw. zu den dortigen Preisen erhältlich wären. Was zählt, ist lediglich eine Antwort auf die relativ simple Frage, welche Arzneimittelausgaben bzw. -umsätze entstehen würden, wenn die hier verordneten Mengen zu den günstigeren Auslandspreisen abgegeben würden. Die Differenz zwischen den innerhalb eines Jahres tatsächlich entstandenen Ausgaben bzw. Umsätzen und den fiktiven, zu internationalen Vergleichspreisen ermittelten Volumina ist dann das rechnerische ESP. Ein solcher internationaler Preisvergleich kann sich auf einzelne Präparate, Wirkstoffgruppen, Originale, Analoga, Generika, Festbetrags- und Nichtfestbetragsprodukte oder gar alle im In- und Ausland gleichzeitig ausgebotenen Arzneimittel beziehen. Schon hieran zeigt sich die Fragwürdigkeit dieses Ansatzes, wenn bei der ESP-Berechnung nicht auch die Möglichkeiten zur Realisierung der ermittelten Wirtschaftlichkeitsreserven mitgedacht werden. Denn zur Absenkung der heimischen Preise auf das Auslandsniveau stehen theoretisch nur zwei Wege zur Verfügung: entweder preisgünstige Re- und Parallelimporte oder staatliche Preisregulierungen, darunter äußerstenfalls Preisdiktate oder Zwangsrabatte. Beide Optionen stoßen jedoch rasch auf Grenzen, zumal das Import- und Regulierungspotenzial aufgrund der bisher hierzulande bereits ergriffenen Kostendämpfungs-Maßnahmen bei Arzneimitteln schon weitgehend ausgeschöpft sein dürfte. Von daher verbietet es sich von selbst, Produktsegmente oder Niedrigpreisländer beliebig – vor allem aber ohne Berücksichtigung der pharmaspezifischen bzw. nationalen Marktbesonderheiten – zur Potenzialberechnung heranzuziehen (Cassel/Ulrich 2012, S. 113 ff.). Die adäquate Auswahl von Referenzländern zur ESP-Ermittlung ist unter dieser Prämisse keine leichte Aufgabe, stehen doch allein in der Europäischen Union (EU) 26 Länder zur Wahl. Darunter sind jedoch von vornherein jene Länder auszuschließen, die eine viel zu kleine Marktbedeutung haben (wie Luxemburg, Malta, Slowenien oder Zypern), ihre Arzneimittelpreise besonders scharf regulieren (wie Griechenland und Ungarn) oder neuartige Cassel/Ulrich 32 Pharmakotherapien nur stark verzögert oder gar nicht verfügbar machen (wie Belgien, Italien, Portugal oder Spanien). Somit fällt die Wahl fast zwangsläufig auf Länder wie Großbritannien (GB) und Schweden (SE), die im Vergleich zu Deutschland (DE) ihren Arzneimittelmarkt ähnlich moderat regulieren und ein vergleichbares Arzneimittelangebot, aber im Durchschnitt niedrigere Apothekenverkaufspreise haben. Dies mag Ulrich Schwabe, den Mitherausgeber des AVR, veranlasst haben, in den von ihm verfassten Einleitungsbeiträgen zum AVR der letzten beiden Jahre einen Preisvergleich für die jeweils 50 umsatzstärksten patentgeschützten und generischen Präparate zwischen DE und SE (Schwabe 2010, S. 15 ff. und S. 22 ff.) sowie DE und GB (Schwabe 2011, S. 13 ff. und S. 20 ff.) anzustellen und daraus ESP abzuleiten. Schon in den beiden Jahren zuvor hatte der AVR (2008, S. 73; 2009, S. 41) auf das Preisgefälle zwischen DE und den USA im Falle neuartiger Impfstoffe gegen humane Papillomaviren (Gardasil; Cervarix) und der TNF-Antagonisten zur Behandlung der rheumatoiden Arthritis hingewiesen, ohne jedoch eigene Berechnungen anzustellen. Als sich dann abzuzeichnen begann, dass die mit dem Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) in 2008 eingeführten „Erstattungshöchstbeträge“ für festbetragsfreie, meist patentierte Neu- und Bestandspräparate praktisch scheitern würden (Cassel et al. 2008, S. 190 f.) und eine Neuregelung der Preisfindung durch zentrale Verhandlungen von „Erstattungsbeträgen“ auf Grundlage früher Nutzenbewertungen und internationaler Vergleichspreise im AMNOG geplant war (Cassel/Zeiner 2010, S. 1860 ff.), hat der AVR dann in 2010 und 2011 eigene internationale Preisvergleiche (iPV) vorgelegt. Damit sollten die traditionellen nationalen Preisvergleiche (nPV) und die darauf aufbauenden ESP-Berechnungen ganz offensichtlich um eine neue, pragmatisch aktuelle Dimension ergänzt werden. Denn die Art und Weise, in der die Berechnungen methodisch angelegt (Schwabe 2010, S. 15 ff. und S. 22 ff.; 2011, S. 13 ff. und S. 20 ff.) und ihre Ergebnisse interpretiert und kommuniziert wurden (Schwabe 2010,1; 2011,1,), deuten darauf hin, dass möglichst hohe Preisunterschiede und Einsparpotenziale intendiert waren, um im Vorfeld des AMNOG – wie auch danach bei den einsetzenden Preisverhandlungen – kassenseitig Handlungsdruck zu erzeugen. Die bislang vorliegenden Preisvergleiche sind nach eigenem Bekunden „exemplarisch“ (Schwabe 2010, S. 15). Dies lässt sich an folgenden Merkmalen festmachen: • Erstens: In DE geltende Arzneimittelpreise werden nacheinander zunächst nur mit denen zweier Referenzländer (SE in 2009; GB in 2010) verglichen. Andere Länder könnten noch folgen, zumal die Rahmenvereinbarungen zwischen Kassen- und Pharmaverbänden für die Preisverhandlungen bei Arzneimittel-Innovationen eine Liste mit insgesamt 15 EU-Ländern – darunter auch Griechenland (!) – enthält, die durch Schiedsspruch festgeschrieben wurde. • Zweitens: Einbezogen sind jeweils nur die 50 umsatzstärksten patentgeschützten Arzneimittel (Original- und Analogpräparate) und die 50 umsatzstärksten Generika bzw. generikafähigen Wirkstoffe, aber z. B. keine Biosimilars, Impfstoffe und Rezepturen. Außerdem bezieht sich der iPV nicht auf alle Packungsgrößen, sondern nur auf die in DE jeweils umsatzstärksten. Im Ausland nicht erhältliche Packungsgrößen werden auf deutsche Verhältnisse umgerechnet. • Drittens: Verglichen werden nur die Apothekenverkaufspreise (AVP) – im Falle SE inklusive MWSt (obwohl es dort auf AM gar keine gibt; sie wird aber nachträglich Cassel/Ulrich 33 herausgerechnet), und GB ohne MWSt. Rabatte, Zuzahlungen und Handels- bzw. Preisspannen von Herstellern, Apotheken und Großhandel bleiben unberücksichtigt, so dass Rückschlüsse auf den ApU oder die tatsächliche Ausgabenbelastung der Kostenträger bzw. Krankenkassen nicht möglich sind. • Viertens: Da GB und SE nicht der Europäischen Währungsunion angehören, müssen ihre Arzneimittelpreise in Euro umgerechnet werden. Zur Umrechnung dienen stichtagsbezogene Kassakurse (SE: 100 Schwedische Kronen (SEK) = 10,4528 Euro zum 02.06.2010; GB: 1 Britisches Pfund (GBP) = 1,1198 Euro zum 06.06.2011). Verschiedene Stichtagskurse, Durchschnittskurse oder gar Kaufkraftparitäten kommen nicht zur Anwendung. Wie sich dieses exemplarische Vorgehen auf die Ergebnisse und ihre öffentliche Wahrnehmung auswirkt, wird weiter unten im Abschnitt 3.3 noch eingehender thematisiert. Einsparpotenziale bei Patentarzneimitteln In den Tabellen 6 und 7 sind zunächst die Ergebnisse des Preisvergleichs für patentgeschützte Arzneimittel beispielhaft anhand der jeweils 10 umsatzstärksten Medikamente dargestellt. Unter ihnen befinden sich nach AVR mit Seroquel, Zyprexa und Lyrica auch drei Analogpräparate. Angegeben wird der prozentuale „Unterschied“ zwischen den AVP der jeweils verglichenen Länder in Euro. Daran zeige sich, dass alle Präparate hierzulande teilweise beträchtlich teurer seien als im Ausland (SE: zwischen 32,2 % bei Symbicort und 86,3 % bei Zyprexa; GB: zwischen 10,2 % bei Lyrica und 105,4 % bei Zyprexa). Im Durchschnitt hat der Korb, gebildet aus je einer Packung der 10 Präparate (Summe der Ränge 1-10) in DE 55,9 % bzw. 66,1 % mehr gekostet als in SE und GB, was alarmierend hoch erscheint. Statt dessen hätte man auch angeben können, dass die Preise in SE durchschnittlich 35,8 % und in GB 39,8 % niedriger als in DE sind, was sich schon nicht mehr so spektakulär ausnimmt und zudem einen adäquateren Zugang zur Frage nach den tatsächlichen Einsparmöglichkeiten eröffnet. Die Potenzialberechnung basiert auf diesen Preisunterschieden und ist ziemlich trivial: Für jedes einzelne Präparat wie für ganze Körbe wird dazu die in Euro ermittelte (positive) Differenz zwischen dem in Euro gerechneten AVP in Deutschland und im Ausland multipliziert mit der deutschen Verordnungsmenge der jeweiligen Packungsgröße. 11 Diese Differenz ist dann das rechnerische ESP. In Tabelle 8 finden sich einige ESP für Patentarzneimittel (Geschützte) aus dem Preisvergleich mit GB für das Jahr 2010. So soll das ESP für das rangerste Präparat (Humira) 187,3 Mio. Euro und das rangletzte (Xalatan) 14,6 Mio. Euro betragen haben. Die ersten 10 Patentpräparate kämen auf ein ESP von 977,3 Mio. Euro, alle 50 auf 2.286,7 Mio. Euro. 12 Über den Umsatzanteil der 50 umsatzstärksten Präparate am gesamten Patentmarkt in Höhe von 55,7 % wird dann hochgerechnet, dass sich das ESP für patentgeschützte Arzneimittel aus GB auf exakt 4.105,4 Mio. oder rund 4,1 Mrd. Euro stelle (siehe auch oben Tabelle 3). Wäre dieses ESP tatsächlich realisierbar und ginge es vollständig zu Lasten der Hersteller, würde es etwa 45-50 % des Nettoerlöses ausmachen, den die 11 Die DE-Verordnungsmengen lassen sich aus den Tabellen 6 und 7 errechnen, indem man den angegebenen DE-Umsatz durch den DE-AVP dividiert. 12 Zu Angaben des ESP siehe Tabelle A-1 im Anhang, letzte Spalte. Cassel/Ulrich 34 forschende Arzneimittelindustrie im deutschen Patentmarkt netto nach MWSt, Abschlägen und Rabatten erzielt. 13 Tabelle 6: Patentgeschützte Arzneimittel Deutschland-Schweden, 2009 Quelle: Schwabe 2010, S. 1/3 f. Tabelle 7: Patentgeschützte Arzneimittel Deutschland-Großbritannien, 2010 Quelle: Schwabe 2011, S. 1/3 f. 13 Nach AVR (2011, S. 11) beträgt der AVP-Umsatz patentgeschützter Arzneimittel rund 14,2 Mrd. Euro. Davon entfallen je nach Einschätzung des Vertriebsanteils von Großhandel und Apotheken zwischen 8 und 9 Mrd. Euro auf den Nettoerlös der pharmazeutischen Unternehmer. Cassel/Ulrich 35 Tabelle 8: Einsparpotenziale aus dem Preisvergleich Deutschland-Großbritannien, 2010 (in Mio. Euro) Legende: Berechnungen nach AVR 2011 (Tabellen A-1 und A-2 im Anhang) zu Apothekenverkaufspreisen (AVP) ohne Mehrwertsteuer (MWSt) im Jahr 2010. AM – (Fertig-)Arzneimittel; Geschützte – Patentgeschützte Arzneimittel; Generika – Generika und generikafähige Arzneimittel; Rang – Stellung der AM nach Umsatz in Deutschland in Mio. Euro; Gesamtmarkt – GKV-Markt der betreffenden AM-Gruppe. Quelle: Zusammenstellung und eigene Berechnung nach AVR/Schwabe 2011, S. 14 ff. und S. 22 ff. Man könnte derartige Potenzialberechnungen als abstruse Zahlenspielerei abtun, wenn daran nicht fragwürdige pharmaökonomische Schlussfolgerungen und unverhohlene Handlungsempfehlungen an die Gesundheitspolitik und GKV-Selbstverwaltung geknüpft wären. So beziffert Ulrich Schwabe (2010, S. 18) das auf alle Patentpräparate hochgerechnete ESP ohne MWSt im DE-SE-Vergleich 2009 auf 2,5 Mrd. Euro (AVR 2010, S. 17) und kommentiert dies als eine eher „konservative Schätzung der Wirtschaftlichkeitsreserven im Sektor der patentgeschützten Arzneimittel“. Hieran knüpft er dann die Schlussfolgerung: „Da Deutschland der größte Arzneimittelmarkt in Europa ist und marktgerechte Preise auch immer von gesamt zu erzielenden Umsatzvolumen abhängen, ist die Annahme berechtigt, dass in Deutschland nach den Regeln der Marktwirtschaft noch niedrigere Preise als in anderen europäischen Ländern zu rechtfertigen sind“. Und weiter: „Der Hauptgrund für die großen Preisunterschiede ist die Tatsache, dass wir eines der wenigen europäischen Länder sind, die keinerlei Preiskontrollen vor der Markteinführung patentgeschützter Arzneimittel durchführt.“ 14 Gerade Schweden und Großbritannien haben aber wie Deutschland ihren Patentmarkt bislang ebenfalls nur schwach (preis-)reguliert und auf die in der EU sonst übliche inter14 Hier ist nicht der Ort, um auf die merkwürdigen Vorstellungen Schwabes zur Preisbildung bei patentgeschützten Arzneimitteln nach den „Regeln der Marktwirtschaft“ und die Abhängigkeit „marktgerechter Preise“ von Umsatzvolumen und Größe eines Landes einzugehen (hat China etwa deshalb so niedrige Preise, weil es bevölkerungs- und flächenmäßig so groß ist?). Die im Patentmarkt relevanten Stichworte wie „temporäres Angebotsmonopol“, „versunkene Forschungs- und Entwicklungskosten“ oder „internationale Preisdifferenzierung nach Zahlungsfähigkeit und Zahlungsbereitschaft eines Landes“ sollten genügen, um eine differenziertere ökonomische Perspektive einzunehmen. Siehe hierzu ausführlich Cassel/Ulrich 2012, insbesondere Kapitel 2 und 3). Cassel/Ulrich 36 nationale Preisreferenzierung (IRP – International Reference Pricing) verzichtet. Dennoch bestehen beachtliche Preisdiskrepanzen, die sich zunächst einmal auf die Apothekenverkaufspreise (AVP) beziehen. Ob sie sich in dieser Höhe auch auf der Ebene der Herstellerabgabepreise bzw. Abgabepreise pharmazeutischer Unternehmer (ApU) wiederfinden und deshalb die Preiskalkulation der pharmazeutischen Unternehmen der Grund allen Übels sind – wie von Ulrich Schwabe anscheinend unterstellt wird –, hat der AVR aber gar nicht untersucht und kann dies auch nicht aus den angestellten Preisvergleichen schließen. Eine vom Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) angestellte und veröffentlichte Vergleichsrechnung zeigt z. B. für das auch von Schwabe im DE-SE-Vergleich 2009 (siehe oben Tabelle 6) besonders diskutierte Beispiel des Rheumamittels Humira, dass das Präparat auf der Herstellerebene nach Berücksichtigung von Handelsanteilen, MWSt, Rabatten und Wechselkursen vom Juni 2010 den Kassen in DE „nur“ 16,5 % teurer komme als in SE; und bei den 50 umsatzstärksten Patentpräparaten betrüge die Preisdiskrepanz zu ApU netto gerade einmal 4,5 % (Übersicht 3). Vom ausgewiesenen ESP bei Humira in Höhe von 187,3 Mio. Euro bliebe somit auf der Herstellerebene nicht mehr viel übrig. Übersicht 3: Preisvergleich des Antirheumapräparats Humira Deutschland-Schweden, 2009 Quelle: BPI 2012,1, S. 75, nach Berechnungen von BPI 2011,2. Schließlich ist vor diesem Hintergrund auch vor voreiligen Handlungsempfehlungen an die Adresse von GKV-Spitzenverband (GKV-SV) und Schiedsstelle zu warnen, die nach Inkrafttreten des AMNOG die Zügel für die Bildung der Erstattungsbeträge von ArzneimittelInnovationen mit nachgewiesenem Zusatznutzen (so genannte Solisten) für das GKV-System in der Hand halten. So schließt beispielsweise Ulrich Schwabe (2011, S. 17 f.) seine Kommentierung des milliardenschweren ESP aus dem Vergleich mit Großbritannien mit der Befürchtung, es sei kaum anzunehmen, „… dass die betroffenen pharmazeutischen Unternehmen ohne weiteres bereit sind, Preise für patentgeschützte Arzneimittel auf dem Niveau der britischen Arzneimittelpreise zu akzeptieren“. Für diesen Fall sehe aber das AMNOG eine Lösung durch eine Schiedsstelle vor. Und weiter: „Selbst wenn zunächst nur der Nutzen der 10 führenden patentgeschützten Arzneimittel bewertet würde und alle diese Präparate einen Zusatznutzen hätten, wären auf der Basis der britischen Arzneimittelpreise kurzfristig Einsparungen von 1,0 Mrd. Euro zu erzielen.“ Wenn dies eine kassenseitige Zielvorgabe für das AMNOG-Procedere sein sollte, kann davor nur gewarnt werden; denn wie noch unten in Abschnitt 3.3 gezeigt wird, genügen derartige ESP weder statistisch-methodischen noch gesundheits- und industrieökonomischen Kriterien und sind von daher pragmatisch kaum belastbar. Cassel/Ulrich 37 Einsparpotenziale bei Generika Die gleiche Berechnungsprozedur wie bei den patentgeschützten Arzneimitteln wendet der AVR auch für Generika und generikafähigen Wirkstoffe an. Auch hierbei werden die deutschen AVP der 50 umsatzstärksten Marken für die jeweils meistverordnete Packungsgröße mit den in Euro denominierten AVP von 2009 in SE (zunächst mit MWSt, danach für den ESP-Ausweis korrigiert) und von 2010 in GB (ohne MWSt) verglichen. Wie die in den Tabellen 9 und 10 zusammengestellten Ergebnisse für die rangersten 10 Präparate zeigen, sind diese ohne Ausnahme in SE und GB preisgünstiger als in DE. Da Generika national wie international dem Preiswettbewerb unterliegen und von daher die Preise der Produkte mit identischem Wirkstoff (z. B. omeprazolhaltige Präparate) tendenziell konvergieren sollten, Tabelle 9: Generika und generikafähige Arzneimittel Deutschland-Schweden, 2009 Quelle: Schwabe 2010, S. 2/3. Tabelle 10: Generika und generikafähige Arzneimittel Deutschland-Großbritannien, 2010 Quelle: Schwabe 2011, S. 2/3 f. Cassel/Ulrich 38 überrascht es doch sehr, dass die prozentualen Unterschiede gegenüber SE und GB wie auch national bei wirkstoffidentischen Produkten untereinander so groß sind. Hinsichtlich der Spannweite der Preisdiskrepanzen ist im Vergleich mit SE das Präparat Pantozol in DE mit 0,5 % praktisch nicht teurer, dafür wäre bei Omep aber ein Aufschlag von 545,9 % zu zahlen. Gegenüber GB kostet Sifrol in DE 51,1 % und Omep 258,7 % mehr. Der Korb der 10 umsatzstärksten Generika würde in DE 60,8 % mehr kosten als in SE, und wäre um 90,1 % teurer als in GB – oder anders herum: In SE wäre der Korb 37,8 % und in GB 52,6 % billiger als in DE. Wendet man den beschriebenen Algorithmus auch auf die Generika im Preisvergleich mit GB von 2010 an, lassen sich die oben in Tabelle 8 exemplarisch ausgewiesenen ESP errechnen. Anders als bei den Patentpräparaten, ergeben sich bei den einzelnen wie auch bei den 50 umsatzstärksten Präparaten deutlich geringere ESP: Am rangersten Generikum Sifrol ließen sich demnach 62 Mio. Euro, beim rangletzten, Simvabeta, nur 22,4 Mio. Euro sparen – und über alle 50 Präparate sind es im Vergleich zu den Geschützten „nur“ 1.355 Mio. Euro (Tabelle A-2 im Anhang, letzte Spalte). Dies resultiert zum einen aus der höheren Zahl der generisch verfügbaren Wirkstoffe und der Vielzahl der Produkte mit identischem Wirkstoff, zum anderen aber auch aus dem insgesamt niedrigeren Generika-Preisniveau. So beträgt der Umsatzanteil der 50 umsatzstärksten Generika und generikafähigen Stoffe an allen derartigen Präparaten auch nur 27,4 %. Das hat jedoch zur Folge, dass das entsprechend hochgerechnete mehrwertsteuerfreie ESP aus dem Preisvergleich mit GB gut 4,9 Mrd. Euro beträgt und damit mehr als 800 Mio. Euro über dem ESP der Geschützten liegt (Tabelle 8, unterste Zeile). Dieses Ergebnis erscheint einigermaßen paradox, herrscht doch im Generika- bzw. Festbetragsmarkt bekanntermaßen ein starker Preis- und Rabattwettbewerb mit der Folge, dass die Generikapreise – bei gleichzeitig steigenden Generikaverordnungen – immer weiter fallen (AVR 2011, S. 189). Außerdem besteht im Gemeinsamen Markt der EU auch bei Arzneimitteln ein freier grenzüberschreitender Warenverkehr und werden Arzneimittelimporte hierzulande in verschiedener Hinsicht gefördert. Die Paradoxie löst sich jedoch schon weitgehend durch die folgenden drei Sachverhalte auf: Erstens werden die Nachlässe der Hersteller aus selektiven Rabattverträgen in Höhe von 1,3 Mrd. Euro in 2010 (AVR 2011, S. 40) nicht preismindernd abgesetzt; zweitens gilt dies auch für die Abschläge aus dem gesetzlichen Rabatt in Höhe von 2,7 Mrd. Euro in 2010 (Schwabe 2011,1, S. 3/3); 15 und drittens wirkt sich der in Deutschland geltende fixe Apothekenaufschlag in Höhe von 8,10 Euro pro Packung gerade bei den niedrigpreisigen Generika im Vergleich zum Ausland preiserhöhend aus. 16 Deshalb wäre auch in diesem Marktsegment zu fordern, dass der Preisvergleich nicht mittels der AVP, sondern auf Ebene der um alle Abschläge und Rabatte bereinigte ApU vorgenommen wird. Dies würde ESP ergeben, die nicht nur realistisch, sondern auch den Herstellern wirklich zurechenbar wären. Ulrich Schwabe (2011, S. 25) löst die Paradoxie argumentativ dagegen wie folgt auf: „Was früher mit Einfuhrzöllen zum Schutze der heimischen Wirtschaft erreicht wurde, gelingt heute offenbar genauso effizient über eine mangelhafte Transparenz des Arzneimittelmarktes. 15 Der gesetzliche Generikarabatt beträgt 10 % und gilt auch für patentfreie Präparate unter Festbetrag. Er kann bis zu 16 % betragen, wenn das patentfreie Präparat nicht festbetragsgeregelt ist. 16 Beispielsweise würde ein zum ApU von 0,00 Euro geliefertes Medikament von der Apotheke zum AVP von 8,10 Euro plus 19 % MWSt, also für 9,64 Euro abgegeben. Siehe dazu auch das Preisbeispiel für Glimepirid, das 2008 einen ApU von 0,03 Euro pro Packung mit 30 Stück zu 1 mg hatte und in der Apotheke 9,67 Euro kostete (Glaeske/Hoffmann 2008, S. 67). Cassel/Ulrich 39 Trotz vielfältiger Regulierungsinstrumente im Generikamarkt (Festbeträge, Zusatzrabatte, Rabattverträge, Generikaquoten) bestehen offensichtlich keine transparenten Preisbedingungen, so dass kein effektiver Preiswettbewerb stattfinden kann“. Und zur Politik gewandt, folgert er: “Wenn Generika in Schweden, Holland und Großbritannien so viel billiger als in Deutschland sind, sollte es eigentlich möglich sein, entsprechende Marktinstrumente auch bei uns zu entwickeln“. Die im AVR getrennt voneinander errechneten Generika-ESP von rund 1,6 Mrd. Euro im nPV und von 4,9 Mrd. Euro im iPV summieren sich zu insgesamt 6,5 Mrd. Euro. Das aber wäre etwa die Hälfte des gesamten Umsatzes von 13,1 Mrd. Euro zu AVP im generikafähigen Markt (AVR 2011, S. 19) – Größenordnungen, die ziemlich utopisch erscheinen.17 In der Endabrechnung der jeweils separat ermittelten Wirtschaftlichkeitsreserven nimmt Schwabe (2010, S. 40) allerdings eine Konsolidierung vor und zieht die 1,6 Mrd. Euro aus dem nPV (Austausch gegen die preisgünstigsten Generika am deutschen Markt) von den 4,9 Mrd. Euro aus dem iPV mit Großbritannien ab. 18 Somit verbleibt „netto“ ein Generika-ESP aus dem iPV in Höhe von 3,3 Mrd. Euro. Dieses addiert sich dann mit den 4,7 Mrd. Euro aus dem nPV und den 4,1 Mrd. Euro aus dem iPV der Patentpräparate zur stattlichen Summe von 12,1 Mrd. Euro (siehe oben Tabellen 3 und 8). 19 Damit beläuft sich das totale Einsparpotenzial für 2010 auf rund 41 % des GKV-Fertigarzneimittelumsatzes von 29,7 Mrd. Euro. Wäre es vollständig zu Lasten der Arzneimittelhersteller realisiert worden, was den Pressekonferenzen und Medienberichten zufolge nach wie vor intendiert ist, hätten diese über drei Viertel ihres Netto-Umsatzes von rund 15,7 Mrd. Euro nach ApU abzüglich aller Abschläge und Rabatte eingebüßt. Demnach dürfte die gesamte GKV-Arzneimittelversorgung auf der Herstellerebene nur noch 3,6 Mrd. Euro 17 So weisen Glaeske/Hoffmann (2008, S. 67) sowie der Verband Pro Generika (2008) in ihren Kommentaren zum AVR 2008 anhand von Berechnungsbeispielen darauf hin, dass das Generika-ESP schon im nPV so hoch ausgefallen sei, dass letztlich der gesamte Generikaumsatz hätte eingespart werden müssen, und sprechen ironisch von einer „Sternstunde der Arithmetik“. 18 Diese Konsolidierung ist zwar gerechtfertigt, weil eine durch nationale Generikasubstitution in DE erreichte Einsparung nicht noch ein zweites Mal im Vergleich mit GB erzielbar ist. Wenn überhaupt, kann nur noch die Differenz zwischen den niedrigen Preisen der Substituenten in DE zu deren noch niedrigeren Preisen in GB potenziell eingespart werden. Dies wird jedoch von Schwabe nicht nachvollziehbar erläutert, wenn er zur Begründung seiner Korrektur schreibt: „Im internationalen Bereich wurde … ein Einsparpotenzial von 4,9 Mrd. € errechnet, das etwa dreifach höher als das mit nationalen Preisvergleichen berechnete Einsparpotenzial von 1,6 Mrd. € liegt. Die Einnahmen der Krankenkassen aus Rabattverträgen mit pharmazeutischen Firmen (1,3 Mrd. €) liegen ohnehin niedriger als das Einsparpotenzial durch die jeweils preisgünstigsten deutschen Generika. Somit ergibt sich zusätzlich zu dem Ergebnis des nationalen Preisvergleichs ein weiteres Einsparpotenzial von 3,3 Mrd. €, wenn die erheblich niedrigeren Generikapreise in Großbritannien zugrunde gelegt werden“ (Schwabe 2011, S. 40). Darüber hinaus scheint aber eine Inkonsistenz darin zu bestehen, dass ein ESP auf AVP-Basis inclusive MWSt (Generika-ESP im nPV) von einem umsatzsteuerfreien ESP (GenerikaESP im iPV) abgezogen wird (siehe auch Tabelle 3). 19 In einem Beitrag zur Pressemappe der Berlin Bundespressekonferenz zum AVR 2011 vom 14. September 2011 wird von Schwabe (2011,1, S. 3/3) zusätzlich ein „reales Einsparpotenzial“ von 8,1 Mrd. Euro bzw. 27 % des Fertigarzneimittelumsatzes angegeben: Es errechnet sich aus den oben im Text angegebenen 12,1 Mrd. Euro ESP durch Abzug von 4,0 Mrd. Euro aus selektiven Rabattverträgen (1,3 Mrd. Euro) und gesetzlichen Abschlägen (2,7 Mrd. Euro) in 2010. Weder die Bezeichnung noch die Berechnung finden sich jedoch im AVR 2011 wieder, was die Frage nach der Glaubwürdigkeit des gesamten Zahlenwerks noch verstärkt. Cassel/Ulrich 40 kosten. 20 Derart unrealistische Ergebnissen lassen darauf schließen, dass Potenzialberechnungen ein ziemlich gewagtes und manipulationsanfälliges Unterfangen sind, weshalb sie im Folgenden hinsichtlich ihrer vielfältigen Fallstricke grundsätzlich hinterfragt werden sollen. 3 Fallstricke bei Potenzialberechnungen 3.1 Mangelnde Neutralität und Transparenz der Berechnungen Ein immer wieder erhobener Vorwurf gegen den AVR lautet, dass er am Ausweis möglichst hoher Wirtschaftlichkeitsreserven und ESP interessiert sei, um immer neue Maßnahmen zur Kostensenkung in der GKV-Arzneimittelversorgung anzustoßen bzw. zu fordern. Durch die Veröffentlichung hoher ESP ist dem AVR nicht nur hohe Aufmerksamkeit in den Medien sicher, sondern er übt auch Handlungsdruck auf die Organe der Selbstverwaltung und den Gesetzgeber aus, diese scheinbar objektiv errechneten ESP auch zu realisieren. Ergebnisgeleitete Daten- und Methodenauswahl Es gibt eine Reihe von Hinweisen darauf, dass der AVR Daten und Methoden zur ESPBerechnung entsprechend auswählt und als Ergebnisse die maximalen, letztlich aber unrealistisch hohen ESP darstellt (Pfannkuche et al. 2007, S. 5, IGES et al. 2009, S. 100). Ein Beispiel dafür ist die Substitution im Fall der Omeprazol-Präparate über DDD-Durchschnittskosten (Abschnitt 1.2). Diese als Methodik 1 beschriebene Vorgehensweise ergibt zwar das größte ESP, ist aber unter methodischen Aspekten die am wenigsten überzeugende Vorgehensweise. In praxi ist dieses ausgewiesene ESP so nicht vorhanden, da es mit Hilfe von Durchschnittskosten berechnet wird, die eine gleichmäßige Verteilung der Verordnungsmengen in Bezug auf Packungsgrößen und Wirkstärken voraussetzen. In der Regel werden aber große Packungen und Packungen mit einer höheren Wirkstärke je DDD günstiger sein als kleine Packungen und solche mit einem geringeren Wirkstoffgehalt. Im OmeprazolBeispiel liefert die Berechnung nach Methodik 1 ein ESP in Höhe von 54 Mio. Euro, nach Methodik 4 verbleiben 12 Mio. Euro, dies entspricht einem Rückgang des ausgewiesenen ESP in Höhe von rund 80 %. Die so ermittelten ESP sind demnach stark von der konkreten Vorgehensweise bei der Arzneimittelsubstitution getrieben. Die Anwendung der Methode, die den Realitäten des Arzneimittelmarktes am nächsten kommt, hätte das ausgewiesene ESP signifikant verringert. Berechnungen von ESP sind letztlich von einer Reihe von Annahmen abhängig und unterliegen offensichtlich vielen Limitationen. ESP-Berechnungen können nur dann auf Akzeptanz stoßen, wenn die verwendete Methodik offen gelegt wird und Transparenz über die einzelnen Berechnungsschritte vorliegt. Preisvergleiche auf der Basis von DDD können nur theoretische Konstrukte bzw. Artefakte darstellen, die Realität erweist sich mit Blick auf die Arzneimittelsubstitution als wesentlich komplexer (Hoffmann/Pfannkuche 2007, S. 36). 20 Unterstellt man mit dem AVR (2011, S. 204) einen Herstelleranteil von 57,2 % am gesamten Arzneimittelumsatz von 29,7 Mrd. Euro, sind das 17 Mrd. Euro, in denen bereits die 2,7 Mrd. Euro Zwangsrabatte der Hersteller berücksichtigt sind. Abzüglich der 1,3 Mrd. Euro aus Rabattverträgen, bleibt den Herstellern somit noch ein Nettoumsatz von 15,7 Mrd. Euro, von dem nach AVR/Schwabe 12,1 Mrd. Euro eingespart werden sollen. Cassel/Ulrich 41 Berechnungen von oben und von unten Bei internationalen Preisvergleichen möchte man grundsätzlich wissen, wie viel man einsparen kann, d. h. man will die Frage beantworten, um wie viel Prozent die Preise im Ausland – in den AVR der Jahre 2010 und 2011 also Schweden und Großbritannien – günstiger sind. Bei dieser Fragestellung muss die Preisdifferenz auf den deutschen und nicht auf schwedischen oder den englischen Preis bezogen werden. Formal gesehen macht das einen Unterschied, da die Basis der Berechnung eine andere ist, je nachdem ob man von oben oder von unten rechnet. In Abschnitt 2.4 wurde diese Vorgehensweise beispielhaft anhand der jeweils 10 umsatzstärksten Medikamente in Schweden, Großbritannien und Deutschland dargestellt. Angegeben wird der prozentuale „Unterschied“ zwischen den AVP der jeweils verglichenen Länder in Euro. Im Durchschnitt hat der Korb, gebildet aus je einer Packung der 10 Präparate (Summe der Ränge 1-10) in DE 55,9 % bzw. 66,1 % mehr gekostet als in SE und GB. Das sind zunächst erstaunlich große Preisunterschiede zu den beiden betrachteten Ländern. Will man die oben gestellte Frage beantworten, hätte man aber angeben sollen, dass die Preise in SE durchschnittlich 35,8 % und in GB 39,8 % niedriger als in DE sind. Damit besteht zwar nach wie vor ein Preisabstand zwischen dem Ausland und dem Inland, die ausgewiesenen Differenzen fallen aber um über ein Drittel niedriger aus. Preisunterschiede zwischen Inland und Ausland Internationale Preisvergleiche sind sehr komplex (Abschnitt 2.4). Wenn nicht die Basisdaten der Berechnungen transparent gemacht werden und alle Berechnungsschritte offengelegt werden, kann man für den Preisvergleich Inland zu Ausland fast jedes beliebige bzw. gewünschte Ergebnis produzieren. Die zentralen Fallstricke sind dabei: • Vergleiche sollten grundsätzlich auf der Basis der ApU durchgeführt werden. Nur diesen Preis hat der Hersteller zu verantworten. Bei Vergleichen auf AVP-Basis muss sichergestellt sein, dass Unterschiede in den Distributionsketten (Handelsspannen, Mehrwertsteuer, Rabatte) berücksichtigt werden. Ferner können natürlich nicht die Preise von Präparaten in unterschiedlichen Packungsgrößen oder Wirkstärken miteinander verglichen werden, was beim AVR auch schon vorgekommen ist. • In Großbritannien berechnet sich der Public Price (entspricht dem deutschen AVP) aus dem Abgabepreis des Herstellers zuzüglich einer Großhandelspanne (GH-Spanne) von 12,5 %. Diese ist zwar nicht kodifiziert, entspricht aber dem üblichen Satz. Von der Großhandelsspanne erhält der Apotheker durch den Großhändler einen Rabatt von rund 10 %, so dass die tatsächliche GH-Spanne bei rund 2,5 % liegt. Diesen Rabatt vereinnahmt der Apotheker aber nicht vollständig, vielmehr wird der vom National Health Service (NHS), erstattete Listenpreis – dieser entspricht dem ApU plus 12, 5 % GH-Spanne – in Abhängigkeit vom Apothekenumsatz prozentual um bis zu 11,5 % gemindert. Der NHS schöpft somit den vom Großhändler an den Apotheker gewährten Rabatt weitgehend wieder ab. Damit gibt es in Großbritannien keine eindeutige Apothekenspanne, wie dies in Deutschland der Fall ist. Weiterhin gibt es Produkte, die direkt an die Apotheken beliefert werden, so dass hier keine GHSpanne angesetzt wird. In diesem Fall ist der ApU gleich dem Public Price. Dieser so genannte Direktvertrieb dürfte gerade bei hochpreisigen Produkten nicht selten sein. Cassel/Ulrich 42 Unterschiedliche Rechnungen führen damit auch zu unterschiedlichen AVPs und damit auch zu unterschiedlichen Vergleichsergebnissen. 21 • Ein Preisvergleich bei Vorliegen von Wechselkursen macht nur Sinn, wenn man die Preise bei Markteinführung zum damals gültigen Wechselkurs vergleicht. Ansonsten werden aus Wechselkursschwankungen Preisdifferenzen errechnet, die der pharmazeutische Unternehmer weder beeinflussen kann noch zu vertreten hat. Sonst müssten dem Hersteller im umgekehrten Fall auch entsprechende Spielräume für Preiserhöhungen eingeräumt werden (siehe ausführlicher Abschnitt 3.3). • Zu berücksichtigen sind auch die gewährten Rabatte, da diese die GKV bzw. den Versicherten entlasten. Grundsätzlich müssten die Einsparungen aus Rabattverträgen bzw. die gesetzlich fixierten Herstellerrabatte abgezogen werden. Da die gewährten produktbezogenen Rabatte aus einzelnen Selektiverträgen nicht öffentlich bekannt sind, ist es allenfalls möglich, sie auf Ebene der einzelnen Kassen oder der GKV insgesamt zu erfassen und abzusetzen. Beim AVR-Preisvergleich Deutschlands mit Schweden und Großbritannien zeigen Kontrollrechnungen für einzelne Medikamente, dass aus einem vom AVR ausgewiesenen Preisnachteil aus deutscher Sicht durchaus ein Preisvorteil werden kann, wenn die oben genannten Aspekte angemessen berücksichtigt worden wären (siehe das Fallbeispiel unten in Abschnitt 3.3). Überschätzung des Umsatzwachstums bei patentgeschützten Arzneimitteln Bereits im AVR 2009 wurde die These formuliert: „Der Umsatzanteil patentgeschützter Arzneimittel am Gesamtmarkt der GKV-Fertigarzneimittelverordnungen hat sich innerhalb der letzten vierzehn Jahre von 10,2 % im Jahr 1993 auf 36,8 % fast vervierfacht“ (AVR 2009, S. 167). Auch im AVR 2011 wird die These der Vervielfachung der Umsätze patengeschützter Arzneimittel wieder aufgenommen: „Lagen die Umsätze patentgeschützter Arzneimittel im Jahre 1993 noch bei 1,7 Mrd. € und hatten damit nur einen Anteil von 11,0 % am Gesamtmarkt, sind sie bis 2010 kontinuierlich auf 14,2 Mrd. € mit einem Anteil von 48,0 % am Gesamtmarkt angestiegen. Damit sind die Umsätze der Patentarzneimittel im Laufe der letzten Jahre um 735 % angestiegen, während der Gesamtmarkt nur um 97 % zunahm“ (AVR 2011, S. 11). Was ist an dieser Aussage des AVR über die Wachstumsrate der Umsätze patentgeschützter Präparate fragwürdig? Den zentralen Kritikpunkt bildet die berechnete Grundgesamtheit, welche für die ausgewiesenen Steigerungsraten maßgeblich ist. Ein hohes Umsatzwachstum bei den patentgeschützten Präparaten generiert auch ein entsprechend hohes ESP. 1986 wurde die Klassifikation zur pharmakologischen Bewertung neuer Wirkstoffe von Uwe Fricke und Wolfgang Klaus eingeführt (AVR 2011, S. 190). Seitdem werden neu eingeführte patentgeschützte Präparate nach ihrem Innovationsgrad bewertet und klassifiziert (ABC21 Im NHS Electronic Drug Tariff heißt es dazu (NHS 2012, Part V): “Deduction Scale (Pharmacy Contractors) (Revised with effect from 1st September 2006): See Part II Clause 6A(i) (b) (4): Payment for services provided by pharmacy contractors in respect of the supply of drugs, appliances and chemical reagents supplied against prescriptions at each separate place of business shall comprise: (i) (a) The total of the prices of the drugs, appliances and chemical reagents so supplied calculated in accordance with the requirements of this Tariff less (b) An amount, based on the total of the prices at (i)(a) above, calculated from the table at Part V ("Deduction Scale")”. Cassel/Ulrich 43 Klassifikation). Seit dem AVR 2010 werden auch Neueinführungen, die nicht durch Fricke/ Klaus bewertet wurden, in die Berechnungen mit einbezogen und unter der Rubrik sonstige patentge-schützte Arzneimittel erfasst. Es handelt sich hierbei insbesondere um Wirkstoffkombinationen und Zweitindikationen (AVR 2010, S. 183). Für diese bewerteten – und seit 2010 auch nicht bewerteten – patentgeschützten Arzneimittel ermittelt der AVR nun für jedes Jahr seit 1986 den GKV-Umsatz. Diesen Umsatz bezieht er jeweils auf die gesamten GKV-Arzneimittelausgaben. Definitionsgemäß war der Anteil der von Fricke/Klaus bewerteten patentgeschützten Arzneimittel 1985 gleich 0 %, da zu diesem Zeitpunkt noch keine Neueinführung bewertet war. Natürlich gab es aber auch 1985 bzw. 1986 bereits patentgeschützte Arzneimittel. Der damalige Bestandsmarkt wurde von ihnen jedoch nicht ex post bewertet und damit auch nicht in den Vergleich mit dem GKV-Gesamtmarkt miteinbezogen. 1986 entsprachen die GKV-Umsätze der bewerteten Arzneimittel nur einem Bruchteil des Umsatzes aller patentgeschützten Arzneimittel: Sie waren also – mathematisch gesehen – nur eine Teilmenge aller patengeschützten Arzneimittel. Der AVR setzt dagegen die durch Fricke/Klaus bewerteten patentgeschützten Arzneimittel einfach mit der Gesamtheit aller patentgeschützten Arzneimittel gleich. Hätte der AVR seine Statistik 1985 beginnen lassen, wäre dies sofort aufgefallen, weil die Kurven durch den Nullpunkt verlaufen wären. Aber auch 1993, dem Zeitpunkt, an dem der AVR seine Statistik beginnen lässt, sind die bewerteten patentgeschützten Arzneimittel immer noch eine Teilmenge aller patentgeschützten Arzneimittel (Abbildung 3). Die Berechnung des AVR führt dazu, dass die Ausgaben für patentgeschützte Arzneimittel zunächst unterschätzt und dadurch ihr Umsatzwachstum und damit auch das ESP für patentgeschützte Präparate über die Jahre hinweg überschätzt werden. Abbildung 3: Umsatzwachstum patentgeschützter Arzneimittel 2010 1993 Umsatz patentgeschützte AM 14,2 Mrd. € Umsatz patentgeschützte AM 4,9 Mrd. € = Umsatz klassi- Umsatz klassi- fizierte patent- fizierte patent- gesch. AM 14,2 gesch. AM 1,7 Mrd. € Mrd. € Fiktives AVRWachstum Quelle: Eigene Berechnung auf Basis der Daten des AVR 2011. Cassel/Ulrich 44 Geht man davon aus, dass die Netto-Patentschutzdauer bis zu 15 Jahren beträgt, 22 ist die Statistik erst etwa ab dem Jahr 2000/2001 aussagefähig (15 Jahre nach 1985/1986). Denn erst wenn alle nicht bewerteten Bestandspräparate ihren Patentschutz nach spätestens 15 Jahren verloren haben, sind beide Mengen – alle patengeschützten und alle von Fricke/Klaus bewerteten Arzneimittel – identisch. Interessanterweise verläuft die Kurve der von ihnen bewerteten patentgeschützten Arzneimittel in Prozent des Gesamtmarktumsatzes seit 2002 eher flach, was für die Existenz des Basiseffekts spricht (Abbildung 4). Abbildung 4: Umsatzanteile patentgeschützter Arzneimittel in % des Gesamtmarktumsatzes, 1993-2010 Quelle: AVR 2011, Abbildung 4.9, S. 191. Die quantitative Bedeutung des Basiseffekts ist nicht exakt ermittelbar, da der AVR in Bezug auf seine Methodik und die Daten nicht vollständig transparent ist – es fehlen z. B. Aufstellungen, welche Produkte in welchem Jahr den Analysen zugrunde liegen. Mit den zur Verfügung stehenden Daten lässt sich aber eine erste Abschätzung vornehmen. 23 Der normale Patentschutz beträgt brutto 20 Jahre. In Abhängigkeit von der Entwicklungszeit können maximal bis zu 5 Jahre Zusatzschutz durch ein ergänzendes Schutzzertifikat (SPC – Supplementary Protection Certificate) hinzukommen. Das SPC wird jedoch nur so gewährt, dass eine Netto-Patentschutzzeit, also die Zeit in der das Produkt vermarktet werden kann, von 15 Jahren nicht überschritten wird. Beträgt nun die Entwicklungszeit des Präparates seit Patentanmeldung beispielsweise 8 Jahre, so errechnet sich die Netto-Patentlaufzeit von 15 Jahren wie folgt: 20 + 3 – 8 = 15. Beträgt die Entwicklungszeit dagegen 10 Jahre, ergibt sich ebenfalls eine Netto-Patentlaufzeit von 15 Jahren: 20 + 5 -10 = 15. 23 Die Abschätzung steht allerdings auf schwachen Füßen, da sich die verschiedenen Teilmärkte im AVR nicht zum angegebenen Gesamtumsatz addieren. Im AVR 2011 wird für den generikafähigen Markt ein Fertigarzneimittelumsatz von 13,1 Mrd. Euro angegeben (AVR 2011, S. 21, Tab. 1.5) und ein Umsatz mit patentgeschützten AM von 14,2 Mrd. Euro (AVR 2011, S. 11). Dies addiert sich zu 27,3 22 Cassel/Ulrich 45 Der GKV-Umsatz betrug 1993 rund 15,1 Mrd. Euro (AVR 2011, Abbildung 1.1, S. 3). Der Umsatzanteil der Generika am Gesamtmarkt betrug 1993 rund 32,3 % (AVR 2011, Abbildung 1.6, S. 20). Daraus lässt sich ein Generikaumsatz im Jahre 1993 von ca. 4,9 Mrd. Euro berechnen (15,1 Mrd. Euro x 0,323 = 4,9 Mrd. Euro). Damals betrug der Anteil der Generika am generikafähigen Markt 47,7 % (AVR 2011, Abbildung 1.5, S. 19). Hieraus lässt sich errechnen, dass der Umsatz des generikafähigen Marktes damals 10,2 Mrd. Euro betrug (4,9 Mrd. Euro / 0,477 = 10,2 Mrd. Euro). Wenn ein Präparat nicht generisch oder patentfrei ist, dann ist es patentgeschützt. Daher lässt sich nun der Umsatz aller patentgeschützten Arzneimittel im Jahr 1993 errechnen: Er beträgt 4,9 Mrd. Euro (15,1 Mrd. Euro Gesamtmarkt – 10,2 Mrd. Euro generikafähiger Markt = 4,9 Mrd. Euro patentgeschützter Markt). Damit lässt sich nun auch die Größe der Unter- und Überschätzungen angeben: • Laut AVR 2011 lagen die Umsätze patentgeschützter Arzneimittel 1993 nur bei 1,7 Mrd. Euro (AVR 2011, S. 10). Nach den obigen Berechnungen lag der tatsächliche Umsatz patentgeschützter Arzneimittel 1993 bei etwa 4,9 Mrd. Euro. Der AVR unterschätzt demnach die Umsätze im Jahr 1993 um 3,2 Mrd. Euro bzw. um 65 %. • Der Umsatzanteil patentgeschützter Arzneimittel soll 1993 laut AVR nur 10,8 % betragen haben. Nach unseren Berechnungen lag der tatsächliche Umsatzanteil patentgeschützter Arzneimittel 1993 bei 32,4 % (4,9 Mrd. Euro / 15,1 Mrd. Euro). Der AVR unterschätzt demnach die Umsatzanteile im Jahr 1993 um 67 %. • Der AVR 2011 behauptet, dass die Umsätze patentgeschützter Arzneimittel von 1993 bis 2009 von 1,7 Mrd. Euro auf 14,2 Mrd. Euro (+ 12,5 Mrd. Euro + 735 %) gestiegen sind. Der Gesamtmarkt sei im gleichen Zeitraum aber nur um 97 % gestiegen. Nach unseren Berechnungen sind die Umsätze patentgeschützter Arzneimittel von 1993 bis 2009 tatsächlich nur von 4,9 Mrd. Euro auf 14,2 Mrd. Euro (+ 9,3 Mrd. Euro + 190 %) gestiegen. Damit hat der AVR die Umsatzsteigerungen um 3,2 Mrd. Euro bzw. 34 % überschätzt. Die Wachstumsrate hat er um 287 % bzw. 545 Prozentpunkte überschätzt. Welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus diesen Berechnungen? Insgesamt gesehen sollte der AVR die Entwicklung der Umsatzanteile patentgeschützter Arzneimittel im Jahr 1985 beginnen lassen, damit dieser Niveaueffekt nicht auftritt. Sinnvoll wäre auch, wenn der AVR offen legte, welche patentgeschützten Präparate seinen Berechnungen zugrunde liegen und welche nicht. Weiterhin sollte der AVR immer die Umsatzverteilungen aller Marktsegmente angeben (wie Patentarzneimittel, Generika etc.), um die jeweiligen Marktanteile bestimmen zu können. Die genannten Aspekte verdeutlichen, dass der AVR bei der Berechnung von ESP nicht neutral ist, sondern das Ziel verfolgt, möglichst hohe ESP auszuweisen und seine Berechnungsmethodik in vielen Fällen nicht öffentlich zugänglich ist. Der AVR sollte daher seine Methodik, seine Daten und seine Rechenwege transparent machen. Im Umkehrschluss gilt für Nicht-Transparenz, dass diese immer nur in Ausnahmefällen begründbar erscheint, beispielsweise bei Gründen des Datenschutzes. Mrd. Euro. Der Umsatz wird jedoch mit 29,7 Mrd. Euro angegeben (AVR 2011, S. 3 Abb. 1.1). Selbst wenn man die umstrittenen AM (0,8 Mrd. Euro, AVR 2011, S. 35 Abb. 1.8) noch dazu rechnet, obwohl diese ja eine Teilmenge der patentgeschützten und patenfreien AM sein müssten, ergibt sich nur ein Umsatz von 28,1 Mrd. Euro. Es bleibt eine Differenz in Höhe von 1,6 Mrd. Euro. Dasselbe gilt auch für das Jahr für 1993. Die AVR-Daten sind hier intransparent. Cassel/Ulrich 46 Unter den genannten Aspekten sollte bei Preisvergleichen auf die Einhaltung von Mindeststandards in Bezug auf Neutralität und Transparenz geachtet werden: • Klare Beschreibung des Forschungsziels: Sollen ESP berechnet werden oder eher deskriptiv benannt werden? Welche Daten stehen zur Verfügung und welchen Zwecken dient der Ausweis von ESP? Welche Instrumente stehen zur Schöpfung der ESP zur Verfügung? • Klare Darstellung der Methodik: Annahmen, Vergleichsebene, konkrete Vorgehensweise. • Datentransparenz: Die verwendeten Datensätze, die Methodik und die Klassifikationen sollten im Internet zur Verfügung stehen. • Diskussion der Limitationen: Darstellung der Grenzen und Fallstricke für Preisvergleiche und Berechnungen von ESP. Bewertet man die Verordnungs- bzw. Verbrauchsreports unter diesen Gesichtspunkten, steht der AVR im Mittelpunkt einer kritischen Bewertung. Der AM-Atlas weist keine eigenen ESP-Berechnungen aus und der BARMER GEK-Report weist lediglich relativ grobe Schätzungen aus, die letztlich nur kassenspezifisch interpretiert werden. Der AVR ist demnach der einzige Verordnungsreport, der nationale und internationale Preisvergleiche vornimmt und quantitative Berechnungen zu den ESP auf GKV-Ebene anstellt. Die Einhaltung der oben genannten Mindeststandards in Bezug auf Neutralität und Transparenz werden beim AVR jedoch teilweise nicht eingehalten, was in künftigen Reports unbedingt vermieden werden sollte. 3.2 Unrealistische Annahmen und inadäquate Berechnungsmodalitäten Die konkrete Berechnung von Einsparpotenzialen basiert auf zahlreichen Annahmen über Berechnungsgrundlagen und Berechnungsmethoden und hängt von der Verfügbarkeit international und intertemporal vergleichbarer und valider Daten ab. Insbesondere sind einzelne Annahmen und Berechnungsmodalitäten zu beachten, auf die ausgewiesene ESP höchst sensibel reagieren. Ein nicht zu vernachlässigender Aspekt besteht schließlich auch in der Berücksichtigung der preisbestimmenden Marktdynamik, da Preise und Mengen nicht isoliert gesehen werden können, sondern immer auch eine Reaktion auf veränderte Rahmenbedingungen, insbesondere des Regulierungssystems, sind. Aus alledem sind Schlussfolgerungen dahingehend zu ziehen, welche Fallstricke generell bei der Berechnungsweise von ESP zu beachten sind und welche Folgen ihre Missachtung hat. Relevanz von Rabatten, Handelsspannen und Mehrwertsteuer Bei der Abgrenzung des relevanten Marktes verwendet der AVR den Begriff des GKVFertigarzneimittelumsatzes (siehe Abschnitt 2.1). Dieser beläuft sich für das Jahr 2010 auf 29,7 Mrd. Euro (AVR 2011, S. 1). Der Umsatz der pharmazeutischen Industrie mit der GKV ist allerdings wesentlich geringer, so dass bereits an dieser Stelle eine zu große Grundgesamtheit und damit grundsätzlich auch ein zu hohes ESP ausgewiesen werden. Im GKV-Fertigarzneimittelumsatz sind u. a. die finanziellen Auswirkungen der Arzneimitteldistribution über Großhandel und Apotheken wie im Direktvertrieb enthalten. Schlüsselt man den Fertigarzneimittelumsatz nach Distributionsstufen auf, ergibt sich folgendes Bild (AVR 2011, S. 204): Der Umsatzanteil der Hersteller beläuft sich auf nur noch 57,2 % (16,99 Cassel/Ulrich 47 Mrd. Euro). Von diesem Umsatz müssten jetzt noch die Rabatte aus selektiven Rabattverträgen in Höhe von insgesamt 1,3 Mrd. Euro in 2010 abgezogen werden. Netto bliebe dann nur noch ein GKV-Umsatz der pharmazeutischen Industrie in Höhe von 15,7 Mrd. Euro übrig. Das vom AVR für 2010 ausgewiesene ESP in Höhe von 12,1 Mrd. Euro entspräche somit einem Anteil von rund 77 % an den Netto-Umsätzen der Hersteller mit der GKV. Nach „Realisierung“ des ESP würden diese sogar nur noch 3,6 Mrd. Euro betragen (AVR 2011, S. 41). Die Grundgesamtheit „GKV-Fertigarzneimittelumsatz“ wird somit großgerechnet, indem man die Rabatte und Margen der Distributionsstufen nicht herausrechnet. Der Vergleich mit den durch Absenkung der Herstellerpreise zu erzielenden Einsparungen fällt dann entsprechend hoch aus, obwohl sie in der ermittelten Form gar nicht gegeben sind. In einer Pressemitteilung des Verbandes Pro Generika vom 14. September 2011 weist er darauf hin, dass die vom AVR berechneten Einsparungen bei Generika sogar höher seien als die vom AVR ausgewiesenen Umsätze der Generikahersteller: „Der AVR arbeitet mit unsauberen Fakten und Daten. Erstens unterscheidet er nicht zwischen Generika und patentfrei gewordenen Erstanbieterpräparaten (Altoriginale), sondern fasst beide als "Generika" auf. Dabei ignoriert er bewusst, dass Generika im Durchschnitt ab Werkstor nur ein Drittel dessen kosten, was für die Altoriginale fällig wird. ... Auch scheint es die Autoren des AVR nicht stutzig zu machen, dass die Generikaunternehmen in Deutschland einen Umsatzanteil von lediglich ca. 4 Mrd. Euro zu Herstellerabgabepreisen haben. Denn zieht man davon die vermeintlichen Einsparpotentiale und noch sämtliche Rabatte ab, die der AVR selbst auf über eine Milliarde veranschlagt, bliebe nicht einmal eine schwarze Null" (Pro Generika 2011, S. 1). Allerdings lässt sich auch die Rechnung von Pro Generika hinterfragen: Der AVR bezieht seine Einsparungen auf den gesamten generikafähigen Markt (Generika und patentfreie Originale), während Pro Generika das Einsparpotenzial nur auf die kleinere Grundgesamtheit der Generika bezieht. Das Vorgehen bei den Berechnungsmodalitäten kann bis zu einem gewissen Grad willkürlich sein. Betrachtet man beispielsweise eine 10%ige Absenkung der Festbeträge auf das Preisniveau der Präparate, die bisher schon unter dem Festbetrag lagen, wird keiner der Hersteller seinen Preis senken. Damit ergibt sich auch keine Einsparung, da diese nicht auf den Festbetrag, sondern auf den faktischen Preis bezogen wird. Würde man dagegen einen 10%igen gesetzlichen Rabatt auf den faktischen Preis verfügen, würden diese Einsparungen auf dem Konto für Rabatterlöse erfasst. Hier zeigen sich Unterschiede zwischen den zur Anwendung kommenden Instrumenten. Die Absenkung des Festbetrags muss nicht zu einer Preissenkung führen, während der eingeräumte Rabatt in jedem Fall eine rechnerische Preissenkung bewirkt. Das Vorgehen kann somit höchst uneinheitlich und unsystematisch sein. Eine Modifikation einer ansonsten identischen Regulierungsmaßnahme kann die Höhe der ausgewiesenen GKV-Fertigarzneimittelumsätze unter Umständen signifikant verändern, genauso wie den entsprechenden Ausweis des ESP, ohne dass sich materiell etwas verändert hätte. Anstatt die Rabatte zu addieren, wäre es aus methodischer Sicht angebracht, sie aus den Fertigarzneimittelumsätzen pauschaliert abzuziehen. Nach Angaben des AVR (2011, S. 180) besteht seit 2008 ein eigenes Haushaltskonto der Kassen in der amtlichen Statistik, in dem die Einnahmen der Kassen aus Rabatterträgen ausgewiesen werden. Zwar lassen sich die Rabatte nicht aus einzelnen Selektivverträgen nachvollziehen, die „Rabatterlöse“ der GKV insgesamt sind aber bekannt und belaufen sich in 2010 auf die erwähnten 1,3 Mrd. Euro. Cassel/Ulrich 48 Diese Regulierungswirkungen dürfen bei der Analyse von ESP nicht ignoriert werden, weil sonst Wirtschaftlichkeitsreserven zur Diskussion stünden, die längst über die gewährten Rabatte realisiert sind. Fragwürdige Zurechnung der potenziellen Einsparungen In Politik und Selbstverwaltung wird meist davon ausgegangen, dass die ESP auf der Ebene der Hersteller zu realisieren seien. Diese Vorstellung abstrahiert nahezu vollständig von den existierenden Wirkungsmechanismen der Preisbildung in Deutschland und in anderen marktwirtschaftlichen Ländern: Von einem Arzneimittel, das in der Apotheke 11 Euro zu Lasten der GKV kostet, erhält der Hersteller nur rund 35 Cent (BPI 2011, S. 1). Der Rest geht in die Mehrwertsteuer und in die Handelsstufen. ESP auszurechen und sie den Herstellern anzurechnen, obwohl sie gar nicht bei den Herstellern anfallen, ist methodisch nicht angemessen und bei der Realisierung von ESP auch nicht zielführend. Der AVR ermittelt auf Basis des AVP, dass für die 50 überprüften umsatzstärksten Patentarzneimittel die Kosten in Deutschland um 48 % bzw. 65 % über denen in SE und in GB liegen (AVR 2011, S. 13; Abschnitt 3.3). Das ist zwar plausibel ermittelt, ignoriert aber die unterschiedliche Mehrwertsteuer und die Anteile, die auf Großhandel und Apotheker entfallen. Berücksichtigt man diese, liegt der Unterschied auf Herstellerebene bei 20 %, also deutlich niedriger. Diese Rechnung ist aber noch immer verzerrend, denn sie vernachlässigt die Zwangsabschläge bei Herstellern und Apothekern wie auch den Einfluss der Wechselkurse (siehe Abschnitt 3.3). Eine Beantwortung der eigentlich interessierende Frage: „Wie hoch ist die tatsächliche Belastung der Krankenkassen, wer erhält von den Ausgaben wie viel und bei wem liegen welche Wirtschaftlichkeitsreserven?“ bleibt dabei unbeantwortet. Für entsprechende Antworten wäre es erforderlich, die Arzneimittelpreisbildung nach den Distributionsstufen stärker zu differenzieren: • • • • Ausweis des Anteils Hersteller Ausweis des Anteils Großhändler Ausweis des Anteils Apotheker und Ausweis des Anteils Mehrwertsteuer Eine vom BPI (2012) durchgeführte Vergleichsrechnung sowohl für den Preisvergleich mit SE als auch mit GB zeichnet ein wesentlich differenzierteres Bild der Träger von Preiseffekten im Sinne der tatsächlichen Belastung innerhalb der Distributionskette (Supply Chain) wie auch der entsprechenden Inzidenz der ESP. Abbildung 5 zeigt das Ergebnis des Preisvergleichs mit Schweden aus 2010, aktualisiert um die Wechselkursentwicklung bis 2012. Dabei ist angenommen, dass je eine Packung der 50 verglichenen Patentpräparate zum AVP in Schweden und in Deutschland gekauft wird. Insgesamt kosten diese Arzneimittel den auf der Ordinate angegebenen Euro-Betrag in den beiden Ländern. Relevant ist insbesondere die Aufteilung nach den einzelnen Teilnehmern der Distributionskette. Sie beantwortet die Frage, wer welchen Anteil der Preissumme bzw. Ausgaben für den Warenkorb erhält und wie hoch die tatsächliche Belastung der Krankenkassen letztlich ist. Aktualisiert mit der Wechselkursentwicklung bis zum 02.06.2012, beläuft sich der Preisunterschied nach der AVR-Methode nur noch auf 39,98 % und nicht mehr auf 48 %. Unter der notwendigen Berücksichtigung der Abschläge von Herstellern und Apothekern verringert sich diese Differenz auf 21,04 %. Auf der Ebene der Hersteller sind in DE die 50 Patentarzneimittel sogar um 1,5 % billiger als in SE (in dieser Angabe sind anteilige Cassel/Ulrich 49 Mehrwertsteuer-Rückerstattungen an den Hersteller enthalten). Abbildung 5 enthält zum aktualisierten Vergleich noch einen vierten Balken: Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des AVR 2010 (14.09.2010), der den Vergleich mit SE enthält, war der Herstellerabschlag ab 01.08.2010 auf 16 % erhöht und ein Preismoratorium verhängt worden. Die AVR-Analyse ging zum damaligen Zeitpunkt von dem noch gültigen Herstellerabschlag von nur 6 % aus. Abbildung 5: Preiseffekte auf den Distributionsstufen in Deutschland und Schweden +21,04 % +39,98 % -1,5 % Legende: Die Balken zeigen für DE und SE die Aufteilung des Euro-Betrags, der für den Korb der 50 Patentarzneimittel entrichtet werden muss, auf die Teilnehmer der Distributionskette, wenn angenommen wird, dass je eine Packung zum jeweiligen AVP in den beiden Ländern gekauft würde. Quelle: Eigene Darstellung nach Berechnungen des BPI (2011,2). Der Hauptunterschied beim Vergleich zwischen DE und SE liegt somit nicht auf der Herstellerebene, sondern bei der Mehrwertsteuer – die nicht in SE, aber in DE erhoben wird – sowie bei der in DE höheren Vergütung von Großhandel und Apotheken. Will man die ausgewiesenen ESP des AVR realisieren, so lassen sich nur rund 10 % auf der Ebene der Hersteller heben. Etwa 40 % betreffen die Mehrwertsteuer, 8 % den Großhandel, 6 % die Apotheken – und rund 36 % des ESP sind durch Apothekenabschlag und erhöhten Herstellerabschlag bereits realisiert. Mit Blick auf den Preisvergleich zu GB aus 2011 ergeben sich die in Abbildung 6 enthaltenen Resultate. Die Preisdiskrepanz für die 50 umsatzstärksten Patentarzneimittel beträgt nach der AVR-Methode 65 % zu Ungunsten Deutschlands. Bestimmt man wieder die Aufteilung Cassel/Ulrich 50 des Betrages auf die einzelnen Teilnehmer der Distributionskette und berücksichtigt die Abschläge von Herstellern und Apothekern, verringert sich diese Diskrepanz auf 38,38 %. Auf der Ebene der Hersteller sind in DE die 50 betrachteten Arzneimittel nur noch um 27,74 % teurer als in GB. Abbildung 6: Preiseffekte auf den Distributionsstufen in Deutschland und Großbritannien +64,74 % +38,38 % +27,74 % Legende: Ordinatenbezeichnung Euro-Betrag wie in Abbildung 5. Quelle: Eigene Darstellung nach Berechnungen des BPI (2012,2). Der AVR vergleicht Deutschland und Schweden bzw. Großbritannien zu AVP der jeweils umsatzstärksten Packungsgröße in DE oder einer ähnlichen Packungsgröße, wenn eine entsprechende ausländische Packungsgröße nicht auf dem Markt ist. Der BPI hat von IMS Health für den Vergleich mit Schweden im AVR 2010 ermitteln lassen, für welche der Arzneimittel – und deren Handelsformen – in DE Rabattverträge nach § 130a (8) SGB V bestehen und welchen Marktanteil die im Rahmen der Rabattverträge abgegebenen Packungen haben. Im Ergebnis zeigt sich, dass in DE für rund 60 % der Arzneimittel aus dem SE-Vergleich Rabattverträge vorliegen. Der mittlere Marktanteil der rabattierten Packungen an allen Handelsformen belief sich auf 27 %. Die Marktanteile der rabattierten Packungen sind somit relativ Cassel/Ulrich 51 hoch. Durch die Rabattverträge werden die deutschen Krankenkassen im Ländervergleich noch deutlich entlastet, ohne dass dies in den Berechnungen Berücksichtigung fände. Das zentrale Problem liegt darin, dass der AVR auf Basis des AVP rechnet. Durch die zahlreichen Arzneimarkt-Regulierungen in DE, aber auch in den Vergleichsländern, sagt der AVP inzwischen nur noch wenig darüber aus, was ein Arzneimittel die Krankenkassen kostet. Er informiert zudem nicht darüber, welche Einnahmen die Hersteller aus dem Verkauf eines Arzneimittels erhalten. Ein solcher Vergleich muss mit Hilfe des „Preise ab Werk“ stattfinden, da ansonsten den pharmazeutischen Unternehmern Erlöse zugerechnet werden, die ihnen tatsächlich gar nicht zufließen. Unzulässige Ceteris-paribus-Bedingungen Alle bekannten Berechnungen von Einsparpotenzialen unterliegen der Ceteris-paribusBedingung, d. h. sie erfolgen unter sonst gleichen Bedingungen. Mit diesem statischen Konzept wird man aber der Dynamik auf dem Arzneimittelmarkt – und hier insbesondere auf dem Markt für Generika – nicht gerecht. Die Berechnung von ESP bei generikafähigen Wirkstoffen zeigt den Nachteil der statischen Analyse sehr anschaulich: Bei der Substitution wird stets das preisgünstigste Generikum verwendet. Käme immer der günstigste Anbieter zum Zuge, so hätte dies in kürzester Zeit eine starke Konzentration auf sein Präparat zur Folge. Da es aber beträchtliche Markteintrittshürden gibt, würde der betreffende Anbieter seine Preise wieder erhöhen. In der statischen Analyse werden diese Effekte vernachlässigt, die aber für eine dynamische Gesamtbetrachtung entscheidend sind und durch eine Mutatismutandis-Betrachtung erfasst werden müssten. Aus ökonomischer Perspektive ist offensichtlich, dass eine kritische Anzahl von Generikaanbietern am Markt vorhanden sein muss, um einen Preiswettbewerb – und damit auch die erwünschten Preissenkungen – zu induzieren. Sonst dürfte es nach den gängigen Einsichten der Oligopoltheorie zu unerwünschten Preis- und Mengenreaktionen der Anbieter kommen. Der günstigste Anbieter kann möglicherweise seinen Lieferverpflichtungen nicht nachkommen oder den Preis nicht halten. Diese Dynamik führt zu Folgeänderungen, die das ESPBerechnungsergebnis unrealistisch machen können: Denn es enthält implizit die Annahme, dass das ausgewiesenen ESP unter den angegebenen Bedingungen auch realisiert werden kann. Durch die einsetzenden Folgeänderungen wird die implizite Ceteris-paribus-Annahme jedoch verletzt, und die Voraussetzungen für die ESP-Berechnungen verlieren ihre Gültigkeit. Sinnvoller wäre es zu versuchen, die Marktdynamik besser abzubilden. Ökonomische Ansätze aus der Industrieökonomik liegen dazu vor. Im Kern geht es darum, dass Unternehmen auf Regulierungen und Anreize rational reagieren und handeln. Aus der Sicht eines Unternehmens reflektieren die Preise vor Abzug der Rabatte immer auch die antizipierten Rabatte, d. h. sie werden zuvor entsprechend erhöht. Natürlich kann Marktdynamik auch durch Regulierungsmaßnahmen des Gesetzgebers angestoßen werden, und sie lässt sich noch weiter befördern, sofern man dabei die Reaktionen der Unternehmen antizipativ berücksichtigt. Aber analytisch so zu tun, als gäbe es keinerlei Marktdynamik, wird dem Arzneimittelmarkt nicht gerecht und stellt darauf aufbauende ESP-Berechnungen grundsätzlich in Frage. Cassel/Ulrich 3.3 52 Missachtung von Besonderheiten der internationalen Preisreferenzierung Vergleichsrelevante Besonderheiten Sind Potenzialberechnungen aus nationalen Preisvergleichen schon problematisch genug, birgt die Heranziehung von Vergleichspreisen aus anderen Ländern noch weitere Fallstricke, die ihre Belastbarkeit zusätzlich gefährden können. Wie bereits in Abschnitt 2.4 am Beispiel der AVR-Vergleiche der Arzneimittelpreise Deutschlands mit Schweden und Großbritannien gezeigt wurde, können daraus im Ergebnis völlig unrealistische ESP resultieren. Sie mögen zwar Hoffnungen auf beträchtliche Einsparungen in der GKV-Arzneimittelversorgung wecken, aber als Richtschnur für eine rationale, gesundheits- und industriepolitisch ausgewogene Regulierung des Arzneimittelmarktes sind sie untauglich. Die Schwierigkeiten, pragmatisch belastbare ESP-Ergebnisse durch internationale Preisreferenzierung (IRP – International Reference Pricing) zu erzielen, sind grundsätzlicher Natur und betreffen im Unterschied zum nationalen Preisvergleich im Wesentlichen folgende Sachverhalte: 24 • Erstens vollzieht sich der Preisvergleich nicht im überschaubaren institutionellen Rahmen des Inlands bei weitgehender Preistransparenz – wie z. B. in Deutschland durch die LAUER-Taxe –, sondern kann im Prinzip zwischen beliebig vielen Ländern mit jeweils eigener Jurisdiktion, eigener Politik und einem speziell geprägten Gesundheitssystem stattfinden, so dass eine Länderauswahl getroffen werden muss. Dafür bedarf es zweckmäßiger, vor allem aber sachlich begründeter Kriterien, die sicherstellen, dass die Referenzländer grundsätzlich mit Deutschland vergleichbar sind. • Zweitens weist jedes Referenzland Regulierungs- und Marktbesonderheiten bei Arzneimitteln auf, die preisbestimmend sein können und den Preisvergleich mit Deutschland erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen. Dazu gehören die vielfältigen angebots- und nachfrageseitigen Regulierungen (Cassel/Ulrich 2012, S. 56 ff.) – darunter insbesondere die direkten und indirekten Preisregulierungen wie z. B. Preisfestsetzungen, -verhandlungen, -stopps und -leitlinien sowie Gewinnkontrollen, Rückerstattungen Rabatte usw. • Drittens wirken Erstattungsregelungen – wie z. B. Arzneimittellisten und KostenWirksamkeits-, Kosten-Nutzwert- oder Kosten-Nutzen-Bewertungen – und die daran geknüpfte Preisbestimmung in die gleiche Richtung (Cassel/Ulrich 2012, S. 62 ff.), so dass sich Arzneimittelpreise von Land zu Land schon dadurch unterscheiden können, ob sie gänzlich ohne Nutzenbewertung oder auf Grundlage einer Kosten-NutzenBewertung oder des Konzepts der qualitätskorrigierten Lebensjahre (QALY – Quality Adjusted Life Years) ermittelt werden.25 24 Unter internationaler Preisreferenzierung (IRP) versteht man die Bezugnahme auf Arzneimittelpreise in anderen Ländern bei der Preisregulierung im eigenen Land. Die Bezeichnung wird hier analog verwendet, weil die ESP aus internationalen Preisvergleichen errechnet werden in der Absicht, entsprechende Einsparungen durch Interventionen in den Arzneimittelmarkt zu realisieren. Siehe zum IRP-Konzept ausführlich das Gutachten von Cassel/Ulrich 2012. 25 So richtet sich die Preisermittlung für neue Medikamente in GB auch nach den damit zusätzlich erzielbaren QALYS, die mit einem maximalen Erstattungsbetrag bewertet sind. Das von den meisten Gesundheitsökonomen favorisierte QALY-Konzept wird in Deutschland aber nicht angewendet, weil es politisch u. a. aus ethischen Gründen abgelehnt wird (Deutscher Ethikrat 2011, S. 37 ff.). Eine Referenzierung der britischen AM-Preise würde deshalb einem impliziten Import dieses Konzepts Cassel/Ulrich 53 • Viertens unterscheiden sich mögliche Referenzländer untereinander wie auch gegenüber Deutschland im praktizierten IRP-Konzept: SE und GB kommen ohne IRP aus, Deutschland referenziert neuerdings dem AMNOG entsprechend nur die Preise seiner Arzneimittel-Innovationen, andere EU-Länder richten sich nach den Preisen ausgewählter oder aller anderen Partnerländer; manche Länder referenzieren alle Arzneimittelpreise oder nur Generika- oder Originale-Preise, und häufig werden Niedrigst-, Durchschnitts- oder Medianpreise referenziert. Dies bleibt nicht ohne entsprechende Konsequenzen für die nationalen Arzneimittelpreise und internationalen Preisverflechtungen im IRP-System (Cassel/Ulrich 2012, S. 99 ff.). • Fünftens unterscheiden sich wie bereits in Abschnitt 3.1 für GB gezeigt die Preise zwischen der Hersteller- und Apothekenebene (ApU bzw. AVP) im Vergleich zu Deutschland beträchtlich: etwa durch unterschiedliche Vertriebswege – darunter z. B. der Direktvertrieb vor allem bei hochpreisigen Spezialpräparaten in GB –, durch die Höhe der Handelsspannen auf den Vertriebsebenen – z. B. entfällt in GB die Großhandelsspanne von 12,5 % im Direktvertrieb 26 –, durch fixe, prozentuale oder kombinierte Arzneimitteltaxen und nicht zuletzt durch verschiedene Abschläge und Rabatte innerhalb der gesamten Vertriebskette. 27 • Sechstens richten sich insbesondere die Preise von Arzneimittel-Innovationen nach der Geschwindigkeit des Marktzugangs und der Markterschließung bzw. Marktdiffusion, die von Land zu Land recht unterschiedlich sein kann und vielfach mit spezifischen Preisregulierungen – den so genannten Access Schemes, die Preisnachlässe oder Gratislieferungen in Abhängigkeit von Behandlungsdauer und -erfolg vorsehen können – einhergehen.28 In diesem Marktsegment wird die Preisbildung außerdem noch durch die internationale Preisdifferenzierung geprägt, die Hersteller aufgrund ihres temporären Angebotsmonopols praktizieren können und zur Deckung ihrer Forschungs- und Entwicklungs-(F&E-)Kosten benötigen (Cassel/Ulrich 2012, S. 94 ff.). • Siebtens werden Arzneimittel ganz unterschiedlich mit indirekten Steuern – wie MWSt oder VAT (Value-Added Tax bzw. Sales Tax) – belegt, die preiserhöhend wirken. Andererseits werden aber vom Hersteller auch preismindernde Abschläge und Rabatte gewährt: Sie können staatlich angeordnet und öffentlich bekannt sein oder werden produkt- oder portfoliobezogen sowie pauschaliert oder nach Umsatz gestaffelt zwischen Herstellern und Kostenträgern selektivvertraglich vereinbart und unterliegen nach Deutschland gleichkommen, was vom Grundsatz her auch für alle anderen hierzulande nicht praktizierten Regulierungen gilt und das IRP schon von daher fragwürdig macht. 26 Hierdurch gilt im Direktvertrieb von meist hochpreisigen Spezialpräparaten in GB, dass der AVP (NHS Listenpreis) gleich dem ApU ist. 27 In GB z. B. erhalten die Apotheken einen Anteil von der prozentualen GH-Spanne in Höhe von 12,5 % und eine Packungsgebühr bzw. Container Fee von 90 Pence (siehe oben Abschnitt 3.1). In DE wiederum wird die Dienstleistung der Apotheken im Rx-Markt mit 8,10 Euro pro Packung plus 3 % des Einkaufspreises vergütet, wovon wiederum der Großkundenrabatt von 2,05 Euro pro Packung an die Kassen abgeht; der Großhandel erhält 70 Cent je Packung und 3,15 % des ApU. Als Folge dieser vielschichtigen Besonderheiten im nationalen Arzneimittelvertrieb lassen sich Rückschlüsse vom AVP auf den ApU somit nur aufgrund genauer Kenntnisse der jeweiligen Vergütungsregelungen und des produktspezifischen Vertriebsweges ziehen. 28 Deshalb ist beim IRP immer auch die Mengen- bzw. Verbrauchskomponente – etwa in Form der DDD pro Patient – zu beachten. Cassel/Ulrich 54 von daher dem beiderseitigen Betriebsgeheimnis. Im letzteren Falle kann es unmöglich sein, Rabatterlöse der Kostenträger zu Lasten der Hersteller pauschal oder gar produktbezogen zu ermitteln. • Achtens ist es gängige Praxis, dass Arzneimittel in anderen Ländern unter anderem Namen (so genannten Brands), in unterschiedlichen Darreichungsformen, Packungsgrößen und Wirkstärken angeboten werden, um z. B. unerwünschte Importe oder Exporte zu erschweren. Dies macht von Land zu Land mitunter schwierige Umrechnungen erforderlich, um die Preise mit Deutschland vergleichbar zu machen und damit verzerrende Preisvergleiche bei Packungen zu vermeiden, die in den Referenzländern unterschiedlich stark verordnet werden und nach Größe oder Wirkstärke gestaffelte DDD-Preise haben. • Neuntens schließlich stellen Referenzländer, die einem anderen Währungsgebiet angehören – wie SE und GB im Falle des AVR-Vergleichs – ganz besondere konzeptionelle Anforderungen an das IRP, weil die in Auslandswährung denominierten Preise in Inlandswährung umgerechnet werden müssen und sich je nach Wahl des Wechselkurses erhebliche Preisdiskrepanzen ergeben können (siehe oben Abschnitt 3.1). 29 Aber auch innerhalb eines Währungsgebietes wie der Eurozone können sich kaufkraftbedingte Preisunterschiede ergeben, die beim IRP nicht unberücksichtigt bleiben dürfen (Cassel 2012, S. 7 f.). Allein schon diese Auflistung, die keineswegs erschöpfend ist, lässt befürchten, dass eine adäquate Berücksichtigung aller vergleichsrelevanten Sachverhalte praktisch unmöglich ist. Dadurch ist jedoch das Einfallstor für intentionale bzw. interessengeleitete ESPBerechnungen weit geöffnet – von unbeabsichtigten, aber folgenschweren Erfassungs-, Interpretations- und Berechnungsfehlern ganz abgesehen, die das Handling derart vieler Aspekte bei aller Sorgfalt mit sich bringt. Nur so lässt sich erklären, dass einer Kontrollrechnung des BPI (2012,1, S. 75) zufolge das Rheumamittel Humira nach AVR 2010 auf der AVP-Ebene in Deutschland 770 Euro mehr kostete als in Schweden, auf der ApU-Ebene netto aber nur 183,80 Euro (Übersicht 3 in Abschnitt 2.4) und das daraus errechenbare ESP von 169,2 Mio. Euro nach AVP auf 40,4 Mio. Euro bzw. 22 % nach ApU zusammenschmilzt (Tabellen 6 und A-1). Quantitative Effekte alternativer Berechnungen Dass dies kein Einzelfall ist, zeigt auch eine firmeninterne Kontrollrechnung für ein hochpreisiges patentgeschütztes Spezialpräparat im AVR-Vergleich für 2010 mit GB, die für den Nachweis missachteter Besonderheiten beim IRP exemplarisch ist, hier aber nur anonymisiert wiedergegeben werden kann: • 29 Ausgangssituation nach AVR (2011, Tabelle 1.4, S. 14 ff.; Tabelle A-1): Die Standardpackung des betreffenden Medikaments hat in DE einen Preis von 100 Euro; sein Preis in GB beträgt umgerechnet 60,66 Euro. Der deutsche Preis liegt damit fast 65 % höher als der britische bzw. der britische knapp 40 % unter dem deutschen Preis. Das sich Dies ist von besonderer Relevanz, wenn Währungen wie das Britische Pfund (GBP) gegenüber dem Euro so stark abwerten, wie dies mit fast 30 % zwischen 2008 und 2010 der Fall war. Denn dadurch werden die in GBP denominierten Arzneimittelpreise gegenüber DE abwertungsbedingt entsprechend billiger. Cassel/Ulrich 55 über den Umsatz in DE ergebende und wegen der anonymisierten Berechnung dem Betrag nach rein fiktive ESP beträgt 0,513 Mio. Euro. • Erster Fallstrick: keine stichtagesgleichen Wechselkurse. Der AVR nennt für seine Berechnungen den Preisstand vom 06.06.2011, an dem der hier relevante Brief-Kurs bei 1 GBP = 1,1230 Euro lag. 30 Als Umrechnungskurs dient dem AVR jedoch der vom NHS Prescription Service angegebene Kurs von 1 GBP = 1,1198 Euro, was nicht weiter begründet wird. Korrekter wäre, zumindest den tagesgleichen Kurs zu nehmen. Das würde einen britischen Preis von 61,19 Euro und ein ESP von 0,507 Mio. Euro ergeben. • Zweiter Fallstrick: unterschiedliche Packungsinhalte. Dem Preisvergleich wurden Packungen mit unterschiedlichen Wirkstärken zugrunde gelegt, so dass sich aus der Umrechnung des GBP-Preises auf die gleiche Wirkstärke wie in DE ein britischer Preis von 74,41 Euro und ein ESP von 0,334 Mio. ergibt. • Dritter Fallstrick: Vergleich auf unterschiedlichen Preisstufen. Da das anonymisierte Spezialpräparat in GB im Direktvertrieb distribuiert wird, entspricht dort der AVP wegen der entfallenden GH-Spanne dem ApU. Wenn der AVR nun den deutschen AVP ohne MWSt in Höhe der eingangs genannten 100 Euro mit dem britischen AVP vergleicht, hat er ihn damit faktisch mit dem ApU in GB verglichen. Der Vergleich unterschiedlicher Preisstufen (ApU in GB versus AVP in DE) ist jedoch unzulässig und führt zu verfälschten Ergebnissen. Vergleicht man korrekterweise den britischen mit dem deutschen ApU, so stellt sich der deutsche Vergleichspreis zum Stichtag auf 96,97 Euro. Daraus resultiert mit 0,294 Mio. € auch ein niedrigeres ESP. • Vierter Fallstrick: keine Preisbereinigung um Rabatte. In der AVR-Berechnung wird der gesetzliche Herstellerrabatt in Höhe von 16 %, der in GB unbekannt ist, nicht preissenkend beim ApU abgezogen. Unter Berücksichtigung der Abzugsfähigkeit des Rabattes bei der MWSt stellt sich der deutsche Preis auf 84,40 Euro und das ESP beläuft sich nur noch auf 0,130 Mio. Euro. • Fünfter Fallstrick: keine Einführungswechselkurse. Das Präparat wurde in ganz Europa zu einem einheitlichen ApU in Euro ausgeboten. Zum Zeitpunkt der Marktzulassung stand die britische Währung bei 1 GBP = 1,4803 Euro. Zu diesem Kurs stellte sich der Preis des Präparates in GB auf 98,09 Euro, während das deutsche Präparat am selben Tag 97,80 Euro kostete. Da die Präparate in DE und GB bei der Markteinführung in Euro gerechnet preislich fast gleichauf lagen, gehen fast 32 % der vom AVR ausgewiesenen Preisdifferenz auf den Abwertungseffekt des GBP zurück. 30 Nach AVR (2011, S. 14) sind „alle Preise Stand 06.06.2011“. Da für einen Ökonomen auch Wechselkurse „Preise“ sind, sollte man annehmen, dass die angegebene Parität von 1 GBP = 1,1198 € ebenfalls von diesem Tag datiert. Sie weicht jedoch vom tatsächlichen Brief-/Geld-Kurs in Höhe von 1 GBP = 1,1230/1,1217 € (Oanda 2012) in nicht nachvollziehbarer Weise ab. Bemerkenswert ist aber auch, dass der Preisstand im GB-Vergleich zwar von 2011 datiert, im Vorspann zu den Tabellen 1.4 und 1.6 (AVR 2011, S. 14 und S. 22) aber von einem „Preisvergleich … im Jahre 2010 …“ die Rede ist und die errechneten ESP durchgehend auf das Jahr 2010 datiert werden (AVR 2011, S. 17 und S. 25). Dass dies nicht zufällig sein kann, geht daraus hervor, dass im SE-Preisvergleich ein Preisstand vom 02.06.2010 angegeben wird und alle Resultate ebenfalls dem Vorjahr zugeschrieben werden (AVR 2010, S. 16 ff.). Diese merkwürdige Inkonsistenz resultiert vermutlich daraus, dass der AVR zwar die Preise aus 2011 bzw. 2010 nimmt, die zur Berechnung der ESP erforderlichen Verordnungsmengen bzw. Umsätze aber aus dem jeweiligen Vorjahr. Cassel/Ulrich 56 • Gesamtergebnis: Werden alle genannten Aspekte gleichzeitig berücksichtigt, errechnet sich zum Zeitpunkt der Markteinführung für das Präparat in GB ein Preis von 97,80 Euro, während es gleichzeitig in DE für nur 84,40 Euro zu haben war. Demnach wäre das Medikament in DE nicht etwa teurer als in GB gewesen, sondern um 13, 40 Euro = 13,7 % billiger, und das deutsche ESP wäre zu einem britischen mutiert. Die hier beispielhaft genannten Fallstricke und ihre Auswirkungen auf die Höhe des ESP sind produktbezogen, d. h. sie lassen sich nur für das betreffende Medikament und die vom AVR in diesem speziellen Fall angewandte Verfahrensweise aufzeigen. Für andere Produkte, in anderen Marktsegmenten und bei anderen Ländern ergibt sich möglicherweise eine davon völlig abweichende Konstellation. Dennoch sind die hier exemplarisch aufgedeckten Fallstricke stets virulent und können bei ihrer Missachtung das berechnete ESP mehr oder weniger verfälschen. Dies gilt auch auf der Ebene der aggregierten Daten. Um zu zeigen, wie sensibel die Berechnungsergebnisse auf Veränderungen der jeweils zugrunde gelegten Annahmen reagieren, wurden exemplarisch Nachberechnungen für das Segment der 50 umsatzstärksten Patentarzneimittel angestellt und die Ergebnisse in Tabelle 11 veranschaulicht. Ausgangspunkt ist die in ersten Zeile (I) dargestellte AVR-Methodik (AVR 2011, Tabelle 1.4, S. 14 ff.; Tabelle A-1), die auf einem Vergleich der AVP ohne Umsatzsteuer in Deutschland und Großbritannien und einem Wechselkurs (WK) des GBP zum Preisstand vom 06.06.2011 beruht (siehe Fn 30). Sie ergibt, dass die „… deutschen Patentarzneimittel im Durchschnitt 65 % teurer als die entsprechenden Präparate in Großbritannien (England und Wales) (sind)“ und dass „… das mehrwertsteuerfreie Einsparpotenzial für die 50 umsatzstärksten Patentarzneimittel für das Jahr 2010 2,287 Mrd. € (erreicht)“ (AVR 2011, S. 13 und S. 17). Wie schon mehrfach betont, sollte der Preisvergleich jedoch auf Basis der Netto-ApU erfolgen, die dem Hersteller nach Abzug der Handelsmargen und Rabatte verbleiben. Deshalb wird in einem ersten Schritt die Berechnung auf die Netto-ApU-Basis umgestellt. Dies bedeutet im Vergleich zur AVR-Methodik, dass in GB die GH-Spanne und die Apothekenpackungsgebühr und in DE die Netto-Margen der Apotheken und des Großhandels sowie der gesetzliche Herstellerrabatt vom jeweiligen AVP abgezogen werden. Schon hierdurch vermindert sich die Preisdiskrepanz Deutschlands gegenüber Großbritannien auf 47 % - und umgekehrt von GB gegenüber DE auf 32 % -, während sich das ESP mit 1,171 Mrd. Euro fast halbiert (Tabelle 11, II. A-C). In GB ist der Direktvertrieb von Patentarzneimitteln, insbesondere von hochpreisigen Spezialpräparaten, weit verbreitet. Auf diesem Vertriebsweg fällt jedoch keine GH-Spanne an, so dass der AVP rechnerisch zum ApU wird. Deshalb wäre es inkorrekt, über alle Präparate die GH-Spanne von 12,5 % abzuziehen, wenn man von der AVP- zur ApU-Basis wechselt. Aus Mangel an Informationen darüber, welche der 50 Patentpräparate in GB direkt vertrieben werden, wird im nächsten Schritt angenommen, dass dies auf die Hälfte zutrifft, so dass über alle Medikamente gerechnet nur eine GH-Spanne von 6,25 % anfiele. Diese Annahme reduziert die Preisdiskrepanzen noch weiter auf 38 % bzw. 27 % und das ESP auf nur noch knapp 1 Mrd. Euro (Tabelle 11, III. A-C). Gegenüber dem Stand der AVR-Berechnung vom Juni 2011 ist der Wechselkurs des GBP durch die Euro-Krise wieder gestiegen. Durch diese Aufwertung des GBP müssten sich die in Euro denominierten Arzneimittelpreise entsprechend verteuern und sich die Preisdifferenz Cassel/Ulrich 57 Tabelle 11: Preisdiskrepanzen und Einsparpotenziale bei alternativen Annahmen im Preisvergleich bei Patentarzneimitteln Deutschland-Großbritannien Ergebnisse Annahmen I DE teurer als GB? GB billiger als DE? Einsparpotenzial? GB = 100 DE = 100 In Mrd. Euro 65 % 39 % 2,287 Mrd. € 47 % 32 % 1,171 Mrd. € 38 % 27 % 0,949 Mrd. € 32 % 24 % 0,765 Mrd. € 25 % 20 % 0,519 Mrd. € 10 % 9% -0,116 Mrd. € 4% 4% -0,413 Mrd. € Berechnung mit • Netto-ApU ohne MWSt • 12,5 % GH-Spanne • Einführungs-WK VII Wie groß ist das Berechnung mit • Netto-ApU ohne MWSt • 6,25 % GH-Spanne • WK vom 06.06.2012 VI Um wieviel % ist Berechnung mit • Netto-ApU ohne MWSt • 12,5 % GH-Spanne • WK vom 06.06.2012 V Um wieviel % ist Berechnung mit • Netto-ApU ohne MWSt • 6,25 % GH-Spanne • WK vom 06.06.2011 IV C Berechnung mit • Netto-ApU ohne MWSt • 12,5 % GH-Spanne • WK vom 06.06.2011 III B AVR-Methodik mit • AVP ohne MWSt • WK vom 06.06.2011 II A Berechnung mit • Netto-ApU ohne MWSt • 6,25 % GH-Spanne • Einführungs-WK Legende: In der AVR-Methodik werden Preisdiskrepanzen zwischen DE und GB sowie das daraus resultierende ESP auf der Basis von Apothekenverkaufspreisen (AVP) für die 50 umsatzstärksten Patentpräparate in DE zum Preisstand vom 06.06.2011 berechnet. In GB enthalten die AVP eine Großhandelsspanne (GH-Spanne) von 12,5 % und eine Apothekenpackungsgebühr von 90 Pence, in DE die Apothekentaxen und -abschläge gemäß Preisspannenverordnung (siehe Fn 27). In den Nachberechnungen II-VII werden nacheinander die Annahmen hinsichtlich der Preisebene (AVP bzw. ApU), der GH-Spanne (12,5 % bzw. 6,25 %) und des Stichtages des GBP-Wechselkurses (WK) geändert (Kurse zum 06.06.2011 und 2012 bzw. zum Zeitpunkt der Markteinführung der Präparate). Quelle: Eigene Darstellung nach Berechnungen von AVR 2011, Tabelle 1.4, S. 14 ff, und BPI 2012,2. Cassel/Ulrich 58 zwischen DE und GB verringern. Tatsächlich zeigt die alternativ für die beiden GH-Spannen vorgenommene Nachberechnung mit dem WK vom Juni 2012 abermals eine deutlich reduzierte Preisdiskrepanz und ein merklich verringertes ESP (Tabelle 11, IV. und V. A-C). Schon hieraus wird ersichtlich, dass die in Auslandswährung festgesetzten und in Euro umgerechneten Preise sehr sensibel auf erratisch schwankende Wechselkurse reagieren, wodurch die ESP rein rechnerisch auf eine Berg- und Talfahrt geschickt werden. Ob sich das wechselkursbedingte Auf und Ab der ESP – aus deutscher Sicht steigend bei EuroAufwertungen und fallend bei Abwertungen – aber vernünftigerweise als Veränderung der Wirtschaftlichkeit der Arzneimittelversorgung interpretieren lässt, muss füglich bezweifelt werden. Deshalb wurde in Abschnitt 3.1 bereits vorgeschlagen, statt des letztlich willkürlichen Wechselkurses zum Stichtag der ESP-Berechnung den Einführungs-WK zu nehmen. Dies lässt sich damit begründen, dass der pharmazeutische Unternehmer sein preisstrategisches Kalkül im internationalen Geschäft in der Regel auf jenen WK abstellt, der zum Zeitpunkt der Ausbietung seines Präparates gilt. Die in Zukunft davon möglicherweise abweichenden Tageskurse würden ihm nur flüchtige Preisvor- oder Preisnachteile bescheren, auf die sich keine unternehmerische Preispolitik im Pharmamarkt aufbauen lässt. Da die AVR-Berechnung in eine Abwertungsphase des GBP gefallen ist, waren die ESP, gemessen an den zeitlich vorher liegenden Einführungs-WK, rechnerisch aufgebläht und lagen damit zu hoch. Dies zeigt auch die Nachberechnung auf der Basis von Einführungs-WK, die im Ergebnis für beide Varianten der GH-Spannen vergleichsweise bescheidene Preisdiskrepanzen ergibt und zu einem negativen ESP führt. Letzteres bedeutet, dass Wirtschaftlichkeitsreserven statt in Deutschland nun in Großbritannien vorhanden sind. 31 Anforderungen an adäquate Berechnungsverfahren Wer die beschriebenen Fallstricke umgehen und pragmatisch verwertbare ESP erzielen will, muss beim Berechnungsverfahren auch und gerade im internationalen Preisvergleich höchsten Ansprüchen genügen. Diese lassen sich in folgenden Punkten zusammenfassen: • 31 Ländervielfalt: In allen Ländern der EU, die Arzneimittelpreise aufgrund von internationalen Preisvergleichen (IRP) regulieren, ist keines, das nur ein einziges Land referenziert. In der Regel wird ein Länderkorb herangezogen, in dem mindestens drei, vereinzelt aber auch bis zu 28 Referenzländer enthalten sind (Cassel/Ulrich 2012, Dass sich bei den zwar relativ kleinen, aber immerhin noch positiven Preisdiskrepanzen zu Lasten Deutschlands negative ESP ergeben (Tabelle 11, VI. und VII. A-C), liegt an inkonsistenten Berechnungsverfahren des AVR für die Preis- und ESP-Angaben, die aber zur Vergleichbarkeit der schrittweise erzielten Ergebnisse in den Nachberechnungen beibehalten werden. Während nämlich das aggregierte ESP von 2,287 Mrd. Euro korrekt als Summe der ESP bei den 50 Patentpräparaten ermittelt wird (Tabelle A-1, letzte Spalte), werden die aggregierten Preisdiskrepanzen auf recht kuriose Weise gebildet: So addiert der AVR die Euro-Preise aller Präparate für DE und GB ohne Gewichtung mit den Verordnungsmengen und weist in den Spalten „AVP“ bei DE und „Preis €“ bei GB die Preissummen für einen Warenkorb mit je einer Packung aller 50 Präparate in Höhe von 66.424,8 bzw. 40.346,37 aus (Tabelle A-1, Fußzeile). Durch Division beider Werte ergibt sich dann die Preisdiskrepanz von 65 %. Tatsächlich besagt diese Berechnung aber nur, dass der Warenkorb beim Kauf in GB 65 % weniger gekostet hätte als in DE. Korrekterweise hätten jedoch Preisindizes mit den Verordnungsmengen als Gewichte gebildet werden müssen, um einen unverfälschten Preisvergleich zu ermöglichen. Cassel/Ulrich 59 Übersicht 9, S. 104). Das hat gute Gründe, sind doch in einem Land nicht alle Arzneimittelpreise im Vergleich mit anderen Ländern jeweils am höchsten oder am niedrigsten, können einzelne Präparate billiger, aber auch teurer als im referenzierenden Land sein, sind die Preisstrukturen nach Indikationen oder für patentgeschützte und generische Präparate von Land zu Land unterschiedlich und kann sich dies alles im Zeitablauf gravierend ändern. Hinzu kommt, dass jedes Land pharmaökonomische und -therapeutische Besonderheiten aufweist und seinen Arzneimittelmarkt auf unverwechselbare Weise zu regulieren pflegt. Deshalb erscheint es dringend geboten, nicht nur ein einzelnes Land mit möglichst niedrigen Preisen zum jeweiligen Preisvergleich heranzuziehen – wie bislang im AVR geschehen –, sondern zumindest einen Korb mit mehreren vergleichbaren Referenzländern zusammenzustellen. 32 • Länderauswahl: Bei Patentarzneimitteln ist es ökonomisch für alle Länder vorteilhaft, wenn die pharmazeutischen Unternehmer ihre temporäre Monopolstellung dazu nutzen, die Pharmamärkte länderweise zu segmentieren und unterschiedliche Preise zu setzen. Dabei ist es rational, sich nach der Wirtschaftskraft eines Landes bzw. der Zahlungsfähigkeit seiner Bevölkerung – gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf – und der Preiselastizität der Nachfrage bzw. der Zahlungsbereitschaft – z. B. gemessen an den Gesundheitsausgaben pro Kopf – zu richten. Dementsprechend müssten die Preise von patentgeschützten Arzneimitteln, darunter insbesondere von AMI mit hohem Nutzenvorteil, umso höher sein, je größer das BIP und die AM-Ausgaben pro Kopf in einem Land sind. Tatsächlich ist ein solcher Zusammenhang empirisch nachweisbar (Cassel/Ulrich 2012, S. 145 ff.). Dementsprechend ließen sich Ländercluster bzw. -körbe bilden, in denen sich regional gesehen die wohlhabenden Länder Nordeuropas mit vergleichsweise hohen Preisen und die weit ärmeren zentral- und osteuropäischen Länder mit deutlich niedrigen Preisen wiederfinden. Von daher verböte es sich, dass Deutschland Niedrigpreisländer wie Griechenland oder Polen referenziert und daraus ESP berechnet. • Vertriebsebene: Sofern beabsichtigt ist, mit dem ESP jene Wirtschaftlichkeitsreserven auszuweisen, die im Wesentlichen auf das Preissetzungsverhalten der pharmazeutischen Unternehmer zurückgehen und ausschließlich auch zu deren Lasten ausgeschöpft werden sollen, ist es zwingend erforderlich, den Preisvergleich auf der Hersteller- und nicht auf der Apothekenebene durchzuführen.32 Grundlage müssten also die ApU ohne MWSt und nach Abzug aller Herstellerabschläge und -rabatte sein33 – und gerade nicht der AVP, wie es beim AVR der Fall ist. Dies zum einen, weil es beim ESP um die Ermittlung der den pharmazeutischen Unternehmern netto zufließenden Es ist schon bemerkenswert, dass Ineffizienzen in der deutschen Arzneimitteldistribution (Pharmaceutical Supply Chain) infolge des regulierungsbedingt fehlenden Preiswettbewerbs bei Dienstleistungen im Rx-Segment auf der Großhandels- und Apothekenstufe entstehen, weder öffentlich diskutiert noch quantifiziert werden. Da sie anscheinend nicht unbeträchtlich sind (Friske 2003, S. 245 ff.), wird schon seit Längerem mehr Preiswettbewerb bei Rx-Dienstleistungen auf der Vertriebsebene gefordert und gezeigt, wie dies unter den Bedingungen der Arzneimitteltaxe und des GKVSachleistungsprinzips möglich wäre (Cassel/Wille 2006, S. 432 ff.; Cassel 2009, S. 56 ff.) 33 In Deutschland sind produktbezogene Rabatte der Hersteller aus selektiven Rabattverträgen nach § 130a SGB V nicht öffentlich, sondern sind nur pauschal als „Rabatterlöse“ der Kassen statistisch erfasst (siehe auch Fn 2). Dadurch wird es unmöglich, diese Selektivrabatte für jedes einzelne Medikament im IRP preissenkend abzusetzen. Cassel/Ulrich 60 Erlöse geht und dabei die gesamte Distribution ausgeblendet sein sollte; zum anderen aber auch, weil durch die recht unterschiedlichen länderspezifischen Großhandels- und Apothekenspannen die internationalen Preisunterschiede auf der AVP-Ebene in der Regel deutlich von denen auf der ApU-Ebene abweichen. 34 Hinzu kommt, dass es wie bei Großbritannien unterschiedliche Vertriebswege gibt, auf denen – wie etwa im Direktvertrieb vom Hersteller zum Anwender – überhaupt keine Distributionstaxe anfällt, und zudem ganz unterschiedliche Umsatzsteuerbelastungen bestehen (z. B. in SE 0 % und in DE 19 % auf Arzneimittel). Gänzlich unzulässig sind natürlich Preisvergleiche zwischen unterschiedlichen Vertriebsstufen – wie etwa AVP mit ApU. • 34 Währungsdisparitäten: Im internationalen Preisvergleich des AVR wird das britische Pfund (GBP) zum Wechselkurs eines bestimmten Stichtages in Euro umgerechnet. Den Kassakurs mit der Brief-Notierung als Umrechnungskurs heranzuziehen, scheint bei handelsfähigen Gütern wie Arzneimitteln zunächst einmal sachgerecht zu sein. Dies gilt aber nur, wenn seine kurz- und mittelfristigen Schwankungen in geeigneter Form geglättet werden. So hat das GBP z. B. zwischen 2008 und 2010 gegenüber dem Euro nahezu 30 % an Wert verloren – und von seinem Tiefstkurs Anfang 2009 bis Anfang September 2012 im Zuge der Euro-Krise schon wieder um mehr als 15 % gewonnen. Eine derart hohe Abwertung in so kurzer Zeit muss sich aus deutscher Sicht zwangsläufig in gravierender Weise preissenkend auf die in Euro denominierten britischen Arzneimittelpreise auswirken und erklärt zumindest teilweise die neue Rolle Großbritanniens als „Niedrigpreisland“. Um derartige Wechselkurseffekte, die der Hersteller nicht zu vertreten hat und die ihm folglich auch nicht als ESP anzulasten sind, beim IRP auszuschalten, müsste es den jeweiligen Wechselkurs zum Einführungszeitpunkt eines Medikaments im Referenzland (so genannter Einführungswechselkurs) heranziehen.35 Allerdings ist diese Problematik nicht auf die Umrechnung unterschiedlicher Währungen begrenzt. Denn wie Abbildung 7 zeigt, bestehen selbst bei der einheitlichen Währung im Euroraum beträchtliche Unterschiede in den nationalen Inflationsraten – und notabene auch bei den nationalen Preisniveaus. Zum Ausgleich derartiger Differenzen, die den Preisvergleich selbst innerhalb der Eurozone verzerren können, böten sich kaufkraftgewichtete Arzneimittelpreise an.36 So liegt nach AVR-Angaben für 2010 der Preis für Ibuflam Lichtenstein in Deutschland bei 11,47 Euro und in Großbritannien umgerechnet bei 3,24 Euro, also 8,23 Euro über dem britischen AVP (Tabelle A-2 im Anhang). Würde beispielsweise der ApU in Deutschland nur 0,01 Euro betragen, läge der deutsche AVP aufgrund der hier geltenden Vertriebsmargen bei 8,11 Euro und damit immer noch 4,87 Euro über dem britischen ApU. Dies sieht wiederum bei hochpreisigen Präparaten aufgrund der hiesigen Kombination aus absoluter und prozentualer Apothekenspanne gänzlich anders aus. 35 Als Second-best-Lösungen kämen u. U. auch ein längerfristig geglätteter Durchschnittswert der Kassakurse oder die sich weniger erratisch ändernde Kaufkraftparität (KKP) in Betracht. 36 Wie aus Abbildung 7 ersichtlich ist, sind in den Ländern der Eurozone nicht nur die Inflationsraten, gemessen am Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI), sondern auch die Veränderungen der Arzneimittelpreise, gemessen am Preisindex Pharmazeutischer Erzeugnisse, sehr unterschiedlich. In einigen Ländern – wie in Belgien (BE), Estland (ES), Finnland (FI), Griechenland (GR) und Portugal (PT) ist die Preisentwicklung bei Verbrauchsgütern und Arzneimitteln sogar gegenläufig, was auf dirigistische Interventionen in die Arzneimittelpreisbildung schließen lässt. Es wäre deshalb zu erwägen, ob statt der üblicherweise aus den HVPI gebildeten Kaufkraftparitäten (KKP) nicht sogar die aus den Preisindizes Pharmazeutischer Erzeugnisse gebildeten KKP heranzuziehen wären. Dies ist weist einmal mehr auf die besonderen Schwierigkeiten des IRP bei Arzneimitteln hin. Cassel/Ulrich 61 Abbildung 7: Inflationsraten und Preisveränderungen pharmazeutischer Erzeugnisse im Euroraum, 2010 Legende: Inflationsraten als Veränderung des Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI; 2005 = 100) und Preisveränderungen Pharmazeutischer Erzeugnisse als Veränderung des Preisindex Pharmazeutischer Erzeugnisse (2005 = 100) in den 17 EWU-Mitgliedsländern im Jahr 2010 gegenüber dem Vorjahr in %. Quelle: Eigene Darstellung aus Cassel 2012, S. 8, nach Daten von Eurostat 2011,1; 2011,2. • Regulierungen: Schließlich lässt sich nachweisen, dass vor allem die angebotsseitigen Regulierungen der nationalen Pharmamärkte – darunter insbesondere die administrative Fixierung von Preisen, Rabatten und Erstattungsbeträgen, staatlich angeordnete Preisstopps und Preiskürzungen sowie die internationale Preisreferenzierung unter Bezugnahme auf Niedrigstpreise einen preisdämpfenden Effekt bei Arzneimitteln haben. Bei unterschiedlicher Regulierungsintensität in den einzelnen Ländern kommt es folglich zu internationalen Preisdifferenzen, die sich wegen der unvollständigen Arbitrage als Folge der nationalen Marktregulierungen nicht oder nur unzureichend verringern (Cassel/Ulrich 2012, S. 85 ff. und S. 147 f.). So lassen sich die inzwischen vergleichsweise niedrigen Arzneimittelpreise in Großbritannien nicht nur wie gezeigt mit der Abwertung des GBP erklären, sondern auch damit, dass GB seine Pharmapreise bereits zweimal (2006 und 2009) durch eine generelle Preiskürzung (Price Cut) merklich gesenkt hat. Letzteres ist auch aus einigen Euro-Ländern bekannt: So hat z. B. Griechenland bereits 2010 im Zuge der Finanzkrise seine Arzneimittelpreise generell um 25 % gekürzt, was sich in einem Rückgang des Preisindex Pharmazeutischer Erzeugnisse um 9,5 % niedergeschlagen hat, während die griechischen Verbraucherpreise insgesamt im gleichen Jahr sogar um 4,7 % gestiegen sind. Nicht viel anders sieht es in Finnland, Irland, Portugal und Spanien aus. Sollen internationale Cassel/Ulrich 62 Preisvergleiche in ESP resultieren, die einigermaßen verlässlich die jeweiligen Marktgegebenheiten und nicht die Regulierungsregime der einzelnen Referenzländer abbilden, müssen letztere wie auch immer beim IRP in Rechnung gestellt werden. Will man angesichts der vielfältigen Fallstricke, die sich hinter den extrem komplexen Sachverhalten bei internationalen Preisvergleichen verbergen, belastbare Einsparpotenziale berechnen, ist dafür eine verbindliche Agenda zur „good practice“ unabdingbar. Zielführend dafür sind: (1) Auswahl von mehreren Referenzländern, die nach theoretisch validen und empirisch abgesicherten Kriterien miteinander vergleichbar sind; (2) praktikable Verfahren zur Beschaffung von steuer-, abschlags- und rabattbereinigten Erstattungspreisen auf der Herstellerebene; (3) Bereinigung der Vergleichspreise von besonders preisverzerrenden nationalen Regulierungen und irregulären Preisdeterminanten; (4) Normierung und Standardisierung der Vergleichspreise durch einheitliche Packungsgrößen und Wirkstärken sowie Gewichtung mit Verordnungsmengen; und (5) Umrechnung der Fremdwährungspreise zu Einführungswechselkursen und Gewichtung der Auslandspreise innerhalb der Eurozone mittels Kaufkraftparitäten. Dies wäre insgesamt eine methodisch anspruchsvolle und sachgerechte Vorgehensweise, die sich deutlich von der vergleichsweise undifferenzierten AVRMethodik abheben würde. 4 Einsparpotenziale: Leuchtturm oder Irrlicht für die Gesundheitspolitik Berechnung und Ausweis von Einsparpotenzialen sind ein Politikum ersten Ranges. Schließlich geht es um die Aufdeckung und Beseitigung von Unwirtschaftlichkeiten im Bereich der Arzneimittelversorgung, die allein in der GKV mit rund 31 Mrd. Euro und einem Ausgabenanteil von 16,7 % (2011) zu Buche schlägt, staatlicherseits hochgradig reguliert ist und im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung steht. Hinzu kommt, dass man es angebotsseitig mit einer global aufgestellten Großindustrie zu tun hat, von deren Wirtschafts- und Innovationskraft der pharmakotherapeutische Fortschritt und eine Arzneimittelversorgung zu bezahlbaren Preisen abhängt und die noch dazu bei ihren patentgeschützten Wirkstoffen und Präparaten weltweit über ein vielfach kritisch gesehenes temporäres Monopol auf dem Pharmamarkt verfügt. Alles dies schafft in der politischen Öffentlichkeit ein Klima, in dem jedwede Angabe zu vermeintlich vorhandenen Einsparpotenzialen (ESP) und angeblich erzielten Einsparvolumina (ESV) weitgehend unkritisch aufgenommen und zur Begründung für die dringende Notwendigkeit immer neuer Marktinterventionen seitens der Politik und Selbstverwaltung herangezogen wird. Es muss deshalb im genuinen Interesse der gesundheitspolitischen Akteure liegen, die von ihnen geforderten Entscheidungen auf eine tragfähige Informationsbasis zu stellen. Um nicht einem irrationalen Aktivismus zu verfallen, sollten sie ziemlich genau wissen, wo Unwirtschaftlichkeiten prävalent sind, welchen Umfang sie wirklich haben, wer sie verursacht und mit welchen Mitteln sie gegebenenfalls beseitigt werden können. Dazu gehört auch, den Ausweis von ESP und ESV zu einem wirksamen Instrument der gesundheitspolitischen Erfolgskontrolle zu verzahnen. Von daher kann es nicht angehen, dass zwar regelmäßig aufwendige Berechnungen von ESP angestellt und ihre Ergebnisse handlungsleitend kommuniziert werden, aber über die anschließend erfolgten Einsparungen und die dabei entstandenen pharmaökonomischen und -therapeutischen Neben- und Folgewirkungen so gut wie keine systematisch gewonnenen Erkenntnisse vorhanden sind. Denn es genügt ja nicht zu wissen, ob und inwieweit Preise, Mengen oder Umsätze einzelner Medikamente, ganzer Wirkstoffgruppen oder des Arzneimittelverbrauchs insgesamt ex post gesehen gesunken Cassel/Ulrich 63 sind; vielmehr ist nachzuweisen, ob dies wirtschaftliche oder medizinisch-therapeutische Gründe hat, ob und wieweit damit tatsächlich ESP ausgeschöpft wurden, mit welchen Mitteln und von welchen Akteuren dies gegebenenfalls bewirkt wurde und welche ESP im Anschluss daran noch vorhanden sind. Mit Recht wird deshalb von den Akteuren im Gesundheitswesen gefordert, sich diesbezüglich auch einmal selbst dem immer wieder erhobenen Anspruch auf „Evidenzbasierung“ zu stellen. 37 Dieses Unterfangen macht jedoch nur Sinn, wenn es jenseits aller methodischen Finessen grundsätzlich möglich wäre, ESP zu ermitteln, die der Wirklichkeit nach Inzidenz und Umfang entsprechen. Hieran bestehen jedoch berechtigte Zweifel. Diese resultieren aus Einsichten in die Funktionsweise des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs- und Allokationsmechanismus und den daraus ableitbaren Argumenten gegen simple Berechnungen unter Ceteris-paribusBedingungen: So käme beispielsweise niemand auf die Idee zu ermitteln, welcher Geldbetrag genau bei den Transportausgaben eingespart werden könnte, wenn man die jährlich in Deutschland zurückgelegten Entfernungen statt mit einem teuren deutschen Wagen der S-Klasse mit einem weit billigeren britischen Gefährt überwinden würde. Abgesehen von Sicherheit, Komfort und Zeitbedarf käme man zwar mit beiden Fahrzeugen jeweils von A nach B, was hinsichtlich der „Wirksamkeit“ beider Optionen auch harten pharmakotherapeutischen „Endpunkten“ entsprechen würde; aber erstens widerspräche eine solche „Substitution“ nachfrageseitig den subjektiven Präferenzen der Autofahrer und zweitens ist nicht ersichtlich, wie die automobile Wende angebotsseitig unter Wahrung der freiheitlichen Wirtschaftsverfassung Deutschlands erreicht werden könnte. Hinzu kommt, dass die Umstellung viel Zeit braucht und mit erheblichen produktionstechnischen, marktstrukturellen und nicht zuletzt preislichen Anpassungen einhergehen würde. Alle diese Veränderungen sind aber in einem ergebnisoffenen Wettbewerbsprozess auch nicht annähernd konkret vorhersehbar, machen aber die Annahmen, unter denen die ESP-Berechnung vorgenommen wurde, völlig unrealistisch. Wie jedes Beispiel, hinkt auch dieses. Doch sind die Parallelen zum ESP-Kalkül unverkennbar, wenn man die dabei unterstellte „Substitution“ in den verschiedenen Arzneimittelkategorien in Betracht zieht: bei Generika im Rahmen der oben diskutierten vier Methodiken, im Falle von Original- und Analogpräparaten unter dem Aspekt der therapeutisch nur begrenzten Austauschmöglichkeit von nicht identischen, sondern nur vergleichbaren Wirkstoffen und bei den im Ländervergleich unterschiedlich teuren Patentpräparaten und Generika im Kontext mit internationalen Informations- und Handelsbarrieren. Denn auch hierbei geht es im Kern darum, dass man nicht einfach ESP berechnen und verkünden kann, ohne einerseits in Betracht zu ziehen, wie sie unter den hierzulande gegebenen Bedingungen der sozialen Marktwirtschaft wie des solidarischen GKV-Systems realisiert werden könnten, und andererseits in Rechnung zu stellen, wie sich durch die Begleiterscheinungen der Realisierungsbemühungen die Prämissen ändern, unter denen die Berechnung erfolgte. Alle Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen, müssten ex ante beantwortet werden, wenn man, 37 So etwa – wenn auch in einem etwas anderen Zusammenhang – die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE 2012, S. 10). Auch hat diese Gewerkschaft erst kürzlich eine entsprechende Revision des AVR gefordert: „Durch seine eingeschränkte Analyse-Methodik wird regelmäßig ein verzerrtes und zu wenig differenziertes Bild des Arzneimittelmarkts vermittelt. Die IG BCE fordert die gesetzlichen Krankenkassen in ihrer Rolle als Datenlieferant auf, eine kritische Revision dieses Berichtskonzepts einzuleiten“ (IG BCE 2012, S. 14). Cassel/Ulrich 64 statt wie bisher unter Ceteris-paribus-Bedingungen unrealistische ESP zu berechnen, mutatis mutandis der Wirklichkeit näherkommen will. Schließlich bildet auch die Datenbasis der ESP-Berechnung eine Hürde, die nur schwer zu überwinden ist und belastbaren Ergebnissen entgegensteht. Dies gilt sowohl für den nationalen als auch für den internationalen Preisvergleich. So sind zwar die im nPV verwendeten GKV-Routinedaten auf AVP-Ebene weitgehend lückenlos und verlässlich, dafür fehlen aber originäre Daten auf der ApU-Ebene mit der Folge, dass die tatsächlichen Abgabepreise und Umsätze der pharmazeutischen Unternehmer synthetisch ermittelt werden müssen. Haupthindernis sind dabei die nicht öffentlichen produktspezifischen Rabatte aus selektiven Rabattverträgen, die nur pauschal auf Kassenebene erhoben und auch nur pauschal vom Arzneimittelumsatz abgesetzt werden können. Dadurch ist es im generikafähigen Markt wie auch in Teilen des Patentmarktes unmöglich, die unter Berücksichtigung der Selektivrabatte faktisch preiswertesten Substituenten zu identifizieren. Deshalb sind die nach Listenpreisen ermittelten Preisdifferenzen auch als Basis der ESP-Ermittlung nicht geeignet. Kommen dann noch bei einer anspruchsvolleren Vorgehensweise – wie etwa der mehrfach geforderten Methodik 4 – weitere Entscheidungsparameter wie wechselnde Preisstände, Wirkstärken, Packungsgrößen und Darreichungsformen hinzu, dürfte die Komplexität des Algorithmus so stark zunehmen, dass sich zwangsläufig Fehlerquellen und Manipulationsmöglichkeiten ergeben. Weit dramatischer spitzt sich die Situation jedoch im internationalen Preisvergleich zu. Hier sind ebenfalls die AVP noch relativ unproblematisch. Dafür liegen jedoch Vertriebswege, Großhandels- und Apothekenspannen wie auch Abschläge und Rabatte weitgehend im Dunkeln und erschließen sich wie gezeigt erst aufgrund intimer Kenntnis der länder-, marktund produktspezifischen Gegebenheiten. Auch hier gilt, dass sich die Komplexität der Datenbeschaffung und -verarbeitung exponentiell erhöht, je mehr Referenzländer in das IRP einbezogen werden, was wiederum zur Wahrung der Repräsentativität der Vergleichspreise wünschenswert, wenn nicht unbedingt notwendig ist. Hinzu kommt schließlich noch die bei unterschiedlichen Währungsräumen notwendige Preisumrechnung sowie bei divergierenden Preisniveaus und Inflationsraten innerhalb der Eurozone die dann gebotene Kaufkraftgewichtung der Preise. Gerade die Handhabung der Preisumrechnung und -gewichtung durch Wechselkurse bzw. Kaufkraftparitäten, die sich auf recht unterschiedliche Weise bestimmen bzw. berechnen lassen, eröffnet der Willkür und Manipulation ein weites Feld. Bedenkt man dann noch, dass anders als bei der Substitution von Präparaten im nationalen Kontext die internationale Arbitrage vom billigeren Ausland zum teureren Inland aufgrund fehlender Liefermengen, bestehender Handelshemmnisse und hoher Transaktionskosten rasch an ihre Grenzen stößt, liegen dem ESP-Kalkül in aller Regel keinerlei Substitutionsvorgänge zugrunde. Dadurch wird es jedoch zum bloßen Artefakt. Seine Nützlichkeit kann es dann nur noch dadurch erweisen, dass es bei der allenthalben geforderten Erhöhung von Herstellerabschlägen und -rabatten oder Absenkung von Listenpreisen und Festbeträgen oder neuerdings post AMNOG bei der Verhandlung von Erstattungsbeträgen zwischen Hersteller und GKV-Spitzenverband Pate steht. Von daher sind Einsparpotenziale bislang eher ein Irrlicht als ein richtungweisender Leuchtturm für rationales Handeln im Gesundheitswesen. Angesichts dessen wäre es ein Gebot der Vernunft und Redlichkeit, auf derartige Versuche zumindest im internationalen Preisvergleich zu verzichten und es bei qualitativen Analysen von Erscheinungsformen, Ursachen und Verbreitung von Unwirtschaftlichkeiten in der GKV-Arzneimittelversorgung zu belassen. Cassel/Ulrich 65 Ludwig Wittgenstein, prominenter Vertreter der analytischen Philosophie der 1920er Jahre, hat seine methodenkritische Abhandlung „Tractatus Logico-Philosophicus“ mit dem berühmten Satz beendet: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“ (Wittgenstein 1921, S. 262). In Anlehnung daran lautet unser Fazit: „Was man nicht berechnen kann, muss man sein lassen“! Cassel/Ulrich Anhang Tabelle A-1: Einsparpotenzial bei patentgeschützten Arzneimitteln aus dem Preisvergleich mit Großbritannien, 2010 66 Cassel/Ulrich Fortsetzung Tabelle A-1 Quelle: AVR 2011, Tabelle 1.4, S. 14-16. 67 Cassel/Ulrich Tabelle A-2: Einsparpotenzial bei Generika und generikafähigen Wirkstoffen aus dem Preisvergleich mit Großbritannien, 2010 68 Cassel/Ulrich Fortsetzung Tabelle A-2: Quelle: AVR 2011, Tabelle 1.6, S. 22-24. 69 Cassel/Ulrich 70 Verzeichnisse Abkürzungsverzeichnis AM AMA AM-Atlas AMI AMNOG AMR AMU AOK AOK-BV ApU ATC AV AVP AVR BARMER BE DDD DE ED ES ESP ESV EU Eurostat EWU F&E FI Fn FTD GB G-BA GBE GBP GEK GH-Spanne GKV GKV-SV GKV-WSG GMG (Fertig-)Arzneimittel Arzneimittelausgaben Arzneimittel-Atlas (IGES) Arzneimittel-Innovation Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz Arzneimittel-Richtlinien (Fertig-)Arzneimittelumsatz Allgemeine Ortskrankenkasse AOK-Bundesverband Abgabepreis pharmazeutischer Unternehmer Anatomisch-therapeutisch-chemisch Außer Vertrieb Apothekenverkaufspreis Arzneiverordnungs-Report (WIdO) Barmer Ersatzkasse Belgien Defined Daily Dose Deutschland Einzeldosen Spanien Einspar-(Effizienz-, Rationalisierungs-, Wirtschaftlichkeits-)Potenzial Erzieltes bzw. tatsächliches Einsparvolumen Europäische Union Statistisches Amt der Europäischen Union Europäische Währungsunion Forschung & Entwicklung Finnland Fußnote Financial Times Deutschland Großbritannien (hier: England und Wales) Gemeinsamer Bundesausschuss Gesundheitsberichterstattung des Bundes Pound Sterling / Britisches Pfund Gmünder Ersatzkasse Großhandelsspanne Gesetzliche Krankenversicherung GKV-Spitzenverband GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz GKV-Modernisierungsgesetz Cassel/Ulrich GR HVPI IGES iPV IM IMS IRP IVP KBV KKP KV KVWL MWSt NHS nPV OTC OTX PDD PM PT PZN QALY RW Rx RX SE SEK SGB V SPC SVR G SVR KAiG TK TK-AMR TK-VIA Tz UAW USA VAT vfa WIdO WK 71 Griechenland Harmonisierter Verbraucherpreisindex Institut für Gesundheits- und Sozialforschung Internationaler Preisvergleich Intermediate Metabolizer Institut für Medizinische Statistik International Reference Pricing Internationaler Vergleichspreis Kassenärztliche Bundesvereinigung Kaufkraftparität Kassenärztliche Vereinigung Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe Mehrwertsteuer National Health Service (GB) nationaler Preisvergleich Over the Counter / freiverkäufliche bzw. rezeptfreie Arzneimittel Ärztlich verordnete OTC Prescribed Daily Dose Poor Metabolizer Portugal Pharmazentralnummer Quality-Adjusted Life Year Rückruf Rezept Verschreibungs- bzw. rezeptpflichtige Arzneimittel Schweden Schwedische Krone Sozialgesetzbuch. Fünftes Buch (Gesetzliche Krankenversicherung) Supplementary Protection Certificate (GB) Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen Techniker Krankenkasse TK-Arzneimittelreport TK-Versicherteninformation Arzneimittel Textziffer Unerwünschte Arzneimittelwirkung Vereinigte Staaten von Amerika Value-Added Tax Verband Forschender Arzneimittelhersteller e.V. Wissenschaftliches Institut der AOK Wechselkurs Cassel/Ulrich 72 Literaturverzeichnis Albring, M.; Wille, E. (Hg.) (1997): Innovationen in der Arzneimitteltherapie: Definition, medizinische Umsetzung und Finanzierung, 1. Bad Orber Gespräche über kontroverse Themen im Gesundheitswesen 1996, Frankfurt am Main. AM-Atlas – Arzneimittel-Atlas (2006 ff.): Der Arzneimittelverbrauch in der GKV, Häussler, B.; Höer, A.; Hempel, E. (Hg.), München. 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Von 2001-2005 war er Vorsitzender des Ausschusses für Gesundheitsökonomie der Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften – Verein für Socialpolitik – und ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des WIdO, Berlin, und Vorsitzender des Kuratoriums der APOLLON Hochschule der Gesundheitswirtschaft, Bremen. In seinen gesundheitsökonomischen Veröffentlichungen und Gutachten befasst er sich insbesondere mit Fragen des Kassen- und Vertragswettbewerbs, der Reform des Risikostrukturausgleichs, der Deregulierung des Arzneimittelmarktes und der nachhaltigen Finanzierung der GKV. Prof. Dr. Volker Ulrich Universität Bayreuth Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre III, insbesondere Finanzwissenschaft Von 2011-2012 war er Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Gesundheitsökonomie (dggö) Arbeitsgebiete: Finanzwissenschaft, Gesundheitsökonomie, Umbau der sozialen Sicherungssysteme. Mitgliedschaften: Verein für Socialpolitik, Ausschuss für Gesundheitsökonomie im Verein für Socialpolitik, Deutsche Gesellschaft für Gesundheitsökonomie, American Economic Association, Assiociation D`Econometrie Appliqueé, International Institute of Public Finance, Editorial Board der Zeitschrift Health Care Management Science, Editorial Board der Zeitschrift Health Care, Financing and Economics. Veröffentlichungen zur Gesundheitsökonomie (Auswahl): Journal of Human Resources, Journal of Economics and Statistics, Health Economics, PharmacoEconomics, International Journal of Health Care Finance and Economics, Journal for Institutional Comparisons, Finanzarchiv, Gesundheitsökonomie und Qualitätsmanagement. 78