Gutachten Einsparpotenziale in der GKV-Arzneimittelversorgung

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Einsparpotenziale in der GKV-Arzneimittelversorgung
Zur Belastbarkeit von Potenzialberechnungen als Richtschnur für
eine rationale Regulierung des Arzneimittelmarktes
Gutachten
für den
Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie e.V. (BPI)
von
Prof. Dr. Dieter Cassel, Universität Duisburg-Essen
Prof. Dr. Volker Ulrich, Universität Bayreuth
Endbericht
vom 14. September 2012
Inhalt
Kernaussagen des Gutachtens ......................................................................... I
Anlass, Zielsetzung und Aufbau ................................................................... XIV
1
Quantifizierte Einsparpotenziale zwischen Wunsch und Wirklichkeit ......1
1.1 Gesundheitspolitische Funktion von Potenzialberechnungen............................ 1
1.2 Alternative Berechnungsansätze im Vergleich .................................................. 4
1.3 Beliebigkeit von Methoden und Berechnungsergebnissen ............................... 15
2
Potenzialberechnungen des Arzneiverordnungs-Reports (AVR) ............. 17
2.1 Berechnungsgrundlagen und Berechnungsmethoden ...................................... 17
2.2 Einsparpotenziale bei umstrittenen Arzneimitteln ........................................... 25
2.3 Einsparpotenziale aus nationalen Preisvergleichen .......................................... 27
2.4 Einsparpotenziale aus internationalen Preisvergleichen .................................. 31
3
Fallstricke bei Potenzialberechnungen................................................... 40
3.1 Mangelnde Neutralität und Transparenz der Berechnungen ............................ 40
3.2 Unrealistische Annahmen und inadäquate Berechnungsmodalitäten............... 46
3.3 Missachtung von Besonderheiten der internationalen Preisreferenzierung...... 52
4
Einsparpotenziale: Leuchtturm oder Irrlicht für die
Gesundheitspolitik? ............................................................................... 62
Anhang ........................................................................................ 66
Verzeichnisse ............................................................................... 70
Abkürzungsverzeichnis .................................................................................. 70
Literaturverzeichnis....................................................................................... 72
Autoren......................................................................................................... 78
Cassel/Ulrich
I
Kernaussagen des Gutachtens
Anlass und Zielsetzung
1.
Anlass des Gutachtens sind wiederholte Versuche, Wirtschaftlichkeits- bzw. Effizienzreserven in der GKV-Arzneimittelversorgung in Form von Einsparpotenzialen (ESP) zu
berechnen. Sie sollen angeben, in welcher Höhe die Arzneimittelausgaben gesenkt
werden könnten, ohne die medizinische Versorgung dadurch zu beeinträchtigen. Dies
stößt naturgemäß immer wieder auf lebhaftes öffentliches Interesse.
2.
Fraglich ist jedoch, ob es wissenschaftlich vertretbare und praktikable Methoden gibt,
derartige ESP exakt in Geld zu beziffern, und ob es gesundheitspolitisch auch die Mittel
gibt, sie auszuschöpfen bzw. zu realisieren. Ziel der Expertise ist es, vorliegende ESPBerechnungen daraufhin zu untersuchen, ob sie diesen Kriterien entsprechen.
3.
Gefragt wird insbesondere nach der Tragfähigkeit der vorhandenen Datenbasis, nach
dem adäquaten Umgang mit der therapeutischen und internationalen Substituierbarkeit
der Wirkstoffe und Präparate, nach der hinreichenden Berücksichtigung der preisbestimmenden Marktdynamik und nicht zuletzt nach der Angemessenheit des jeweils verwendeten Algorithmus. Dabei versteht sich die Expertise als „Metaanalyse“ der einschlägigen Veröffentlichungen, enthält also keine eigenen ESP-Berechnungen.
4.
Über allem steht die Frage, ob die turnusmäßigen Potenzialberechnungen so valide und
belastbar sind, dass sich darauf eine rationale, dem tatsächlichen Handlungsbedarf entsprechende Regulierung der GKV-Arzneimittelversorgung durch die gesundheitspolitischen Entscheidungsträger stützen lässt.
1
Quantifizierte Einsparpotenziale zwischen Wunsch und Wirklichkeit
1.1 Gesundheitspolitische Funktion von Potenzialberechnungen
5.
Im Brennpunkt der öffentlichen Diskussion stehen Unwirtschaftlichkeiten, die sich aus
der Verordnung von Medikamenten mit einer vergleichsweise schlechten Preis- bzw.
Kosten-Wirksamkeits-Relation ergeben. Das kann alle Arzneimittelkategorien betreffen
– umstrittene Medikamente, Generika, Analoga und importierte Präparate genauso, wie
Arzneimittel-Innovationen mit und ohne Zusatznutzen.
6.
Gesundheitspolitisch wird darin ein gravierender Verstoß gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot (§ 12 SGB V) gesehen, der die Einhaltung der gesetzlich gebotenen Beitragssatzstabilität (§ 71 SGB V) gefährden kann. Deshalb fehlt es nicht an Versuchen, über den
Einzelnachweis unwirtschaftlicher Pharmakotherapien hinaus für das GKV-System als
Ganzes zu beziffern, was sich durch Substitution von umstrittenen oder für zu teuer gehaltene Präparate einsparen ließe.
7.
Ihr Ergebnis sind Einsparpotenziale, die mit verschiedenen Methoden aufgrund unterschiedlicher hypothetischer Annahmen zur Arzneimittelsubstitution aus dem laufenden
Verordnungsgeschehen abgeleitet werden und daher im Ergebnis ziemlich divergent
sind. Führend auf diesem Gebiet sind derzeit der Arzneiverordnungs-Report (AVR) von
Schwabe/Paffrath und der BARMER GEK Arzneimittelreport (BARMER GEK) von Glaeske/
Schicktanz.
8.
Der AVR berechnet für die GKV allein aus der Generikasubstitution ein ESP von 4,9 Mrd.
Euro (2010), sofern teure Produkte durch die jeweils billigsten Generika ersetzt und
Cassel/Ulrich
II
diese aus dem noch preisgünstigeren Großbritannien (GB) importiert würden. Über alle
Arzneimittelkategorien und alle nationalen und internationalen Substitutionsmöglichkeiten hinweg kommt er sogar auf ein jährliches ESP von 12,1 Mrd. Euro – das wären in
2010 immerhin 41 % der gesamten GKV-Ausgaben für Fertigarzneimittel in Höhe von 29,7
Mrd. Euro gewesen. Derartige Größenordnungen übersteigen jedoch bei weitem die
praktischen Realisierungsmöglichkeiten.
9.
Auch werden Einsparpotenziale zum hochrangigen Politikum, wenn sie unmittelbar
gesetzgeberische Maßnahmen provozieren – wie zuletzt beim GKV-WSG von 2007 oder
beim AMNOG von 2011. Wenn Potenzialberechnungen derart weitreichende Folgen
haben können, darf es nicht verwundern, dass sie gegebenenfalls nicht nur politisch
instrumentalisiert, sondern auch interessengeleitet konzipiert werden. Deshalb ist auch
klar zwischen Einsparvolumina (ESV) im Sinne von sächlich erzielten Ausgabensenkungen
und Einsparpotenzialen (ESP) im Sinne von für wünschenswert und realisierbar gehaltenen Einsparungen zu unterscheiden.
1.2 Alternative Berechnungsansätze im Vergleich
Berechnung von Einsparvolumina (ESV)
10. Am Beispiel verschiedener Einsparkonzepte (Techniker Krankenkasse (TK): Versorgungsmanagement; AOK-BV und Pro Generika: Rabattverträge; GKV-SV: Festbetragssystem)
wird zunächst gezeigt, mit welchen Intentionen und Methoden ESV errechnet werden,
welche Ergebnisse erzielt wurden und wie valide sie einzuschätzen sind. Mit Ausnahme
des IGES-Arzneimittel-Atlas erscheinen diese Ansätze statistisch-methodisch mehr oder
weniger undurchsichtig, beruhen teilweise auf unrealistischen Annahmen und beziehen
sich meist auf die medizinisch eher unproblematische Generikasubstitution.
Berechnung von Einsparpotenzialen (ESP)
11. ESP sollen das quantitative Ausmaß vorhandener Unwirtschaftlichkeiten und die sich
daraus ergebenden Wirtschaftlichkeits- bzw. Effizienzreserven angeben. Ihre Berechnung basiert wie die der ESV zwar ebenfalls auf Ex-post-Daten, ist aber insofern
prospektiv, als sie notwendigerweise hypothetische Annahmen zur Möglichkeit
therapeutischer oder preislicher Substitution von Arzneimitteln impliziert, verbunden
mit dem Ziel, diese auch zur Erzielung von Einsparungen pragmatisch zu nutzen.
12. Die dabei erzielbaren Einsparungen können z. B. aus Verordnungseinschränkungen,
therapeutischen Effektivitätssteigerungen, medizinisch-pharmazeutischen Fortschritten
oder der Vermeidung von Krankheitsfolgekosten resultieren. Dagegen konzentrieren
sich die in Deutschland seit 1985 (AVR) und 2000 (GEK) bzw. 2010 (BARMER GEK)
periodisch erscheinenden Reporte bei ihren ESP-Berechnungen auf den Nachweis vermeidbarer Ausgaben durch Substitution hochpreisiger bzw. kostspieliger Arzneimittel
durch günstigere Alternativen.
ESP-Berechnungen des AVR und BARMER GEK Arzneimittelreports
13. Beide Reporte verwenden für die Arzneimittel-Klassifikation dasselbe ATC-System mit
definierten Tagesdosen (DDD) und in etwa die gleichen Marktsegmente. Allerdings
unterscheiden sie sich u. a. in der populationsbezogenen Datenbasis (GEK- / BARMER
GEK- bzw. GKV-Versicherte) sowie hinsichtlich der Substitutionsannahmen und des
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statistischen Bruchs durch die Fusion von GEK und BARMER GEK erheblich. Daraus
resultieren ESP-Ergebnisse, die sich – wenn überhaupt – nur in der Berechnung als prozentuale Ausgaben- bzw. Umsatzanteile vergleichen lassen.
14. Der ESP-Anteil an den Arzneimittelausgaben (AMA) der vormaligen GEK – und ab 2010
der BARMER GEK – nimmt infolge gesundheitspolitischer Maßnahmen von 2005-2008
kontinuierlich ab und macht von da an einen kaum zu erklärenden Sprung von 4,9 %
über 7,7 % (2010) auf 10,0 % (2011). Immerhin bleibt er damit noch deutlich unter dem
vom AVR ausgewiesenen ESP-Anteil am Fertigarzneimittelumsatz (AMU): Dieser stieg im
Zeitraum von 2008-2010 von 12,9 % auf 15,7 % und war damit in 2010 mehr als doppelt
so hoch wie im BARMER GEK-Report.
15. Dies ist nicht allein mit den Besonderheiten der GEK / BARMER GEK und der unterschiedlichen Datenbasis zur Berechnung der ESP-Anteile erklärbar. Ein Blick hinter die
methodischen Kulissen lässt vielmehr ergebnisrelevante Unterschiede in den Verfahrensweisen bei der unterstellten Arzneimittelsubstitution insbesondere im generikafähigen Markt vermuten. Dies wird anhand von vier Substitutionsvarianten von
Pfannkuche et al. am Beispiel omeprazolhaltiger Verordnungen nach GEK-Daten für das
Jahr 2005 belegt.
16. Ausgangspunkt ist, dass die Tagestherapiekosten (in Euro pro DDD) auch maßgeblich
von der verordneten Wirkstärke und Packungsgröße abhängen. Denn „größere“
Packungen z. B. sind in der Regel preis- bzw. kostengünstiger als kleinere. Werden nun
Präparate nach DDD-Durchschnittskosten substituiert, bleiben derartige Unterschiede
unberücksichtigt. Im Vergleich zum Austausch durch einen Substituenten mit jeweils der
gleichen Packungsgröße wie das ersetzte Medikament, kommt es deshalb zu verzerrten
ESP, die die Preis- und Verordnungsrealität nicht mehr adäquat abbilden.
17. Der Austausch über DDD-Durchschnittskosten (Methodik 1) ist zwar einfach zu berechnen, ergibt aber für alle omeprazolhaltigen Verordnungen mit über 741 Tsd. Euro
und einem Anteil an den Omeprazol-Ausgaben von 13,1 % das im Methodenvergleich
größte ESP für die GEK. Der AVR hat für diese Wirkstoffgruppe ebenfalls ein ESP berechnet und kommt für die GKV insgesamt auf einen Umsatzanteil von 12,6 % (2005)
bzw. 14,9 % (2006). Die vergleichbaren Ergebnisse lassen vermuten, dass er nach der
gleichen Methodik arbeitet.
18. Werden sukzessive unterschiedliche Wirkstärken (Methodik 2) sowie verschiedene
Packungsgrößen und Darreichungsformen (Methodik 3) rechnerisch berücksichtigt,
fallen die ESP quantitativ immer geringer aus. Die Verzerrungen, die sich aus der Beschränkung auf die DDD-Durchschnittskosten ergeben, verringern sich also umso mehr,
je differenzierter die Vorgehensweise ist. Am geringsten sind sie, wenn die zum Verordnungszeitpunkt jeweils preisgünstigsten Substituenten unter Berücksichtigung aller
anderen Parameter zum Zuge kommen (Methodik 4).
19. Diese Vorgehensweise ist sehr aufwendig, weil sie zusätzlich auch noch die produktspezifischen Preisstände in kürzeren zeitlichen Abständen benötigt. Allerdings generiert
sie auch das mit Abstand geringste ESP. Offensichtlich bildet sie die Preis- und Verordnungsrealität am besten ab, weshalb sie auch als „Goldstandard“ gilt. Hiernach hätte
die GEK in 2005 nur mit einem Omeprazol-ESP von rund 165 Tsd. Euro bzw. 2,9 % ihrer
Omeprazol-Ausgaben rechnen können – das sind gerade einmal 22 % des ESP nach
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IV
Methodik 1. Hochgerechnet auf die GKV, hätte das ESP statt 54 Mio. Euro nach AVR
(Methodik 1) nur 12 Mio. Euro (Methodik 4) ergeben.
1.3 Beliebigkeit von Methoden und Berechnungsergebnissen
20. Pragmatisch gesehen, sollten ESP wirkstoffbezogene Informationen darüber liefern, an
welcher Stelle, in welcher Form und vor allem in welcher Größenordnung Unwirtschaftlichkeiten bestehen und wie hoch die in Geld ausgedrückten Einsparmöglichkeiten zu
veranschlagen sind. Dazu ist erforderlich, dass sie „realistisch“ in dem Sinne sind, dass
sie mit geeigneten gesundheits- und wirtschaftspolitischen Instrumenten auch realisiert
werden können.
21. Deshalb ist das Vorgehen bei der ESP-Berechnung so anzulegen, dass nachfrageseitig
das pharmakotherapeutische Verordnungsgeschehen und angebotsseitig die Entwicklungsdynamik des Arzneimittelmarktes durch die notwendigen Annahmen und einbezogenen Parameter möglichst realitätsnah abgebildet werden. Dem entspricht von
den oben skizzierten vier Ansätzen die Methodik 4 am besten.
22. Von daher ist es zu begrüßen, dass der BARMER GEK Arzneimittelreport dem methodischen „Goldstandard“ folgt. Dagegen bleibt die Vorgehensweise des AVR hinsichtlich
der Kriterien, die bei der Arzneimittelsubstitution unterstellt werden, weitgehend intransparent. Allem Anschein nach verwendet der AVR eine Methodik, die zu unrealistisch hohen ESP führt. Anders wäre nicht zu erklären, warum der ESP-Anteil am
Arzneimittelumsatz im GKV-System ständig so viel höher liegen soll als in der hierzulande größten Einzelkasse.
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Potenzialberechnungen des Arzneiverordnungs-Reports (AVR)
2.1 Berechnungsgrundlagen und Berechnungsmethoden
ATC-Klassifikationen und definierte Tagesdosen (DDD)
23. Eine Grundlage zur Berechnung von ESP stellt die ATC/DDD-Klassifikation dar. Zur
Messung des Verordnungsvolumens innerhalb der ATC-Systematik kommt auf internationaler Ebene das System der definierten Tagesdosen (DDD – Defined Daily Doses)
der WHO zum Einsatz. Für jeden Wirkstoff legt die WHO eine Arzneistoffmenge fest, die
als Erhaltungsdosis für einen Erwachsenen in der Hauptindikation konsentiert wurde.
24. Die Höhe der errechneten ESP hängt entscheidend von der angewandten Methodik ab.
Eine Substitution, die auf der Basis der mittleren Tagestherapiekosten (Preis je DDD)
erfolgt, ist zwar relativ einfach zu berechnen, verzerrt aber das ausgewiesene Ergebnis
vergleichsweise stark. Problematisch bei dieser Methode ist insbesondere, dass die
Verwendung von Durchschnittskosten eine gleiche Verteilung der Verordnungsmenge in
Bezug auf die verschiedenen Packungsgrößen und Wirkstärken voraussetzt. In der Praxis
ist aber ein so berechnetes ESP nicht vorhanden.
25. Vom AVR, der ja eine Vorreiterrolle bei der Berechnung von ESP spielt, sollte daher erwartet werden, dass er diejenige Methodik verwendet, die den praktischen Gegebenheiten am nächsten kommt, vor allem aber keine unrealistischen ESP generiert und deshalb auch keine unerfüllbaren Einsparwünsche auslöst.
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2.2 Einsparpotenziale bei umstrittenen Arzneimitteln
26. Als umstrittene Arzneimittel werden Wirkstoffe oder Fertigarzneimittel bezeichnet,
deren therapeutische Wirksamkeit nicht oder nicht in ausreichendem Maße durch
kontrollierte klinische Studien nachgewiesen worden ist. Das errechnete ESP beläuft sich
für das Jahr 2010 auf 572 Mio. Euro. Da ein Teil dieser umstrittenen Arzneimittel durch
wirksame Präparate ersetzt werden sollte, stehen als Einsparsumme nicht die gesamten
Ausgaben zur Disposition, sondern nur die Differenz, die nach der Substitution durch
wirksame Präparate verbleibt.
27. Die Berechnungen setzen voraus, dass nach eindeutigen Kriterien bestimmt werden
kann, welches Präparat umstritten ist und welches nicht. Dies sollte aus der Perspektive
des Patienten entschieden werden. Allerdings fehlt im AVR bei der Berechnung der ESP
die genaue Beschreibung der Methodik. Die Angaben über die DDD-Kosten bei den
Substitutionsvorschlägen legen aber die Schlussfolgerung nahe, dass Methodik 1 angewandt wird, die ein zu hoch geschätzten ESP ausweist.
2.3 Einsparpotenziale aus nationalen Preisvergleichen
28. Das ESP bei den generikafähigen Wirkstoffen beläuft sich nach AVR im Jahr 2010 auf 1,6
Mrd. Euro. Von Interesse ist hier der Zusammenhang zwischen ESP und Effizienz der
Arzneimittelversorgung. Eine Veränderung des ESP im generikafähigen Markt lässt zunächst noch keine Aussage über die Effizienz der Arzneimittelversorgung zu. Eine
effiziente Arzneimittelversorgung kann sowohl mit einem zunehmenden als auch mit
einem sinkenden ESP einhergehen.
29. Analogpräparate enthalten neue Wirkstoffmoleküle mit pharmakologischen Wirkungen,
die mit denen des Originalpräparates vergleichbar sind. Diese Innovationen können
wegen verbesserter Pharmakokinetik oder verminderter unerwünschter Arzneimittelwirkungen mit therapeutischen Vorzügen einhergehen, besitzen jedoch zumeist keinen
relevanten therapeutischen Vorteil gegenüber der Leitsubstanz. Nach AVRBerechnungen steigt das Analoga-ESP seit dem Jahr 2008 wieder an und erreicht im Jahr
2010 einen vorläufigen Höchstwert von 2,5 Mrd. Euro.
30. Auch bei den Analogpräparaten basiert die ESP-Berechnung des AVR vermutlich auf
Methodik 1. Dabei wird die DDD-Verordnungsmenge des zu substituierenden teuren
Präparates multipliziert mit der Differenz aus seinem DDD-Preis und dem DDD-Preis des
Austauschpräparates. Als Substituent wird der preisgünstigste Wirkstoff herangezogen,
falls er eine Mindestmenge von 100.000 DDD erreicht, um Verzerrungen bei irrelevant
kleinen Mengen zu vermeiden. Das ESP ist dann die Differenz zwischen dem Umsatz
nach generischer Substitution und dem Umsatz nach Wirkstoffsubstitution.
2.4 Einsparpotenziale aus internationalen Preisvergleichen
Neues Berechnungskonzept für neue Einsparpotenziale
31. Beim nationalen Preisvergleich resultiert das ESP aus der angenommenen Substitution
von teuren durch billigere Präparate, die hierzulande erhältlich sind. Das ESP aus internationalen Preisvergleichen ist dagegen die bloße Differenz zwischen den faktischen im
Inland getätigten Ausgaben bzw. Umsätzen und den fiktiven, zu internationalen Vergleichspreisen in anderen Ländern ermittelten Volumina.
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32. Länder wie Schweden (SE) und Großbritannien (GB) regulieren ihren Pharmamarkt im
Vergleich zu Deutschland (DE) ähnlich moderat, haben aber im Durchschnitt niedrigere
Arzneimittelpreise. Dies mag den AVR veranlasst haben, in 2010 und 2011 Preisvergleiche für die jeweils 50 umsatzstärksten patentgeschützten und generischen Präparate
zwischen DE und SE bzw. GB anzustellen und daraus ESP abzuleiten.
33. Damit wurde das nationale Vergleichskonzept um eine neue, pragmatisch aktuelle
Dimension ergänzt. Denn die Art und Weise, wie die Berechnungen methodisch angelegt
und ihre Ergebnisse kommuniziert wurden, deuten darauf hin, dass der Ausweis von
möglichst hohen Preisunterschieden und Einsparpotenzialen intendiert war, um im Vorfeld des AMNOG – wie auch danach bei den einsetzenden Preisverhandlungen – kassenseitig Handlungsdruck zu erzeugen.
34. Die bisherigen internationalen Preisvergleiche sind nach Bekunden des AVR „exemplarisch“: Die in DE geltenden Produktpreise werden nacheinander mit den Preisen in zwei
Referenzländern (SE in 2010; GB in 2011) verglichen. Dabei sind auch nur die jeweils 50
umsatzstärksten patentgeschützten Original- und Analogpräparate und Generika bzw.
generikafähigen Wirkstoffe mit ihrer in DE meistverordneten Packungsgröße einbezogen.
35. Verglichen werden die Apothekenverkaufspreise (AVP) im Falle des Vergleichs mit SE
inclusive MWSt (SE kennt jedoch keine Umsatzsteuer auf Pharmaka, so dass die AVP in
DE mit MWSt erhoben werden und die Steuer dann nachträglich pauschal herausgerechnet wird), und im Falle GB ohne MWSt. Rabatte, Zuzahlungen und Handels- bzw.
Preisspannen von Herstellern, Apotheken und Großhandel bleiben unberücksichtigt, so
dass Rückschlüsse auf den Abgabepreis des pharmazeutischen Unternehmers (ApU)
oder die tatsächliche Ausgabenbelastung der Kostenträger bzw. Krankenkassen ohne
Weiteres nicht möglich sind.
36. Da SE und GB nicht der Europäischen Währungsunion angehören, müssen ihre Arzneimittelpreise in Euro umgerechnet werden. Dazu dienen stichtagsbezogene Kassakurse
von Mitte 2010 (SE) und 2011 (GB), während die Verordnungsmengen aus dem jeweiligen Vorjahr datieren. Geglättete Durchschnittskurse, der Kurs bei Einführung der
Präparate (Einführungskurs) oder gar Kaufkraftparitäten werden nicht verwendet.
Einsparpotenziale bei Patentarzneimitteln und Generika
37. Hieraus ermittelt der AVR, dass die 10 umsatzstärksten Patentpräparate in DE 55,9 %
bzw. 66,1 % mehr gekostet haben als in SE und GB. Der Korb mit den 50 umsatzstärksten
Medikamenten war im Durchschnitt in DE um 48 % bzw. 65 % teurer, was alarmierend
hoch erscheint. Hätte der AVR umgekehrt gerechnet und angegeben, dass die Ausgaben
für die 10 umsatzstärksten in SE durchschnittlich um 35,8 % und in GB um 39,8 % billiger
waren als in DE, hätte das weniger spektakulär geklungen und zudem einen realistischeren Blick auf die Einsparmöglichkeiten eröffnet.
38. Aus den produktspezifischen Preisdifferenzen, multipliziert mit den deutschen Verordnungsmengen, ergeben sich die ESP der einzelnen Präparate. Für alle 50 Produkte
aufaddiert und über ihrem Umsatzanteil am gesamten Patentmarkt in DE in Höhe von
55,7 % hochgerechnet, stellte sich das umsatzsteuerfreie ESP bei Patentarzneimitteln in
SE auf 2,5 Mrd. Euro und in GB auf 4,1 Mrd. Euro.
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39. Wäre z. B. das ESP gegenüber GB tatsächlich realisierbar und vollständig zu Lasten der
Hersteller gegangen, hätte es 45-50 % des Nettoerlöses ausgemacht, den die forschende
Arzneimittelindustrie im deutschen Patentmarkt netto nach MWSt, Abschlägen und
Rabatten erzielt. Man könnte derartige Berechnungen übergehen, wenn daran nicht
entsprechende Handlungsempfehlungen an Kassen und Verbände, vor allem aber an die
Gesundheitspolitik geknüpft worden wären.
40. Dennoch ist unverkennbar, dass bei Patentpräparaten international beträchtliche Preisdiskrepanzen gegenüber Deutschland bestehen. Sie beziehen sich aber zunächst einmal
auf die Apothekenverkaufspreise (AVP). Ob und inwieweit sie sich in dieser Höhe auch
auf der Ebene der Herstellerabgabepreise (ApU) wiederfinden und den pharmazeutischen Unternehmern angelastet werden können, hat der AVR nicht untersucht und
lässt sich auch nicht ohne Weiteres aus den Vergleichen mit AVP ableiten.
41. Das gleiche Verfahren wie bei den Patentarzneimitteln wendet der AVR auch auf
Generika und generikafähige Wirkstoffe an. Auch hierbei zeigt sich, dass die analysierten
Präparate zu AVP in SE und GB deutlich preisgünstiger als in DE sind: Der Korb mit den
10 umsatzstärksten Generika hätte in DE 60,8 % mehr gekostet als in SE und wäre um
90,1 % teurer als in GB gewesen – oder anders herum gerechnet: In SE war er 37,8 %
und in GB 52,6 % billiger als in DE.
42. Werden die aufaddierten ESP der 50 analysierten Medikamente aus dem AVP-Vergleich
mit GB auf alle generikafähigen Präparate in DE hochgerechnet, beträgt das mehrwertsteuerfreie ESP gut 4,9 Mrd. Euro, was unrealistisch hoch erscheint. Tatsächlich werden
dabei in DE weder die Nachlässe der Hersteller aus selektiven Rabattverträgen, noch die
Abschläge aus dem gesetzlichen Herstellerrabatt auf Generika und Festbetragspräparate
preismindernd abgesetzt. Noch dazu wirkt sich hierzulande der fixe Apothekenaufschlag
gerade bei Generika mit niedrigen AVP vergleichsweise preiserhöhend aus.
43. Um Doppelzählungen zu vermeiden, setzt der AVR hiervon die im nationalen Preisvergleich bereits ermittelten Generika-ESP von rund 1,6 Mrd. Euro ab. Damit addieren sich
die verbleibenden 3,3 Mrd. Euro Generika-ESP und die 4,1 Mrd. Euro PatentpräparateESP aus dem Vergleich mit GB zusammen mit den 4,7 Mrd. Euro aus dem nationalen
Preisvergleich zur stattlichen Summe von 12,1 Mrd. Euro. Dies hätte 2010 rund 41 % des
gesamten GKV-Arzneimittelumsatzes von 29,7 Mrd. Euro ausgemacht.
44. Wäre es vollständig zu Lasten der Arzneimittelhersteller realisiert worden, hätten diese
über drei Viertel ihres Netto-Umsatzes von rund 15,7 Mrd. Euro nach ApU abzüglich
aller Abschläge und Rabatte eingebüßt. Die gesamte GKV-Arzneimittelversorgung hätte
somit auf der Herstellerebene nur noch 3,6 Mrd. Euro kosten dürfen. Derart unrealistische Ergebnisse lassen darauf schließen, dass ESP-Berechnungen ein ziemlich gewagtes und manipulationsanfälliges Unterfangen sind.
3
Fallstricke bei Potenzialberechnungen
3.1 Mangelnde Neutralität und Transparenz der Berechnungen
Ergebnisgeleitete Daten- und Methodenauswahl
45. Ein vielfach erhobener Vorwurf gegen den AVR lautet, dass er am Ausweis möglichst
hoher ESP interessiert sei, um immer neue Maßnahmen zur Kostensenkung in der GKVArzneimittelversorgung anzustoßen bzw. zu fordern. Durch die Veröffentlichung hoher
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ESP ist dem AVR nicht nur hohe Aufmerksamkeit in den Medien sicher, sondern er übt
auch Handlungsdruck auf die Organe der Selbstverwaltung und den Gesetzgeber aus,
die errechneten ESP auch zu realisieren. ESP-Berechnungen können aber nur dann handlungsleitend sein und auf Akzeptanz stoßen, wenn die verwendete Methodik offen gelegt wird und Transparenz über die einzelnen Berechnungsschritte vorliegt.
Berechnungen von oben und von unten
46. Bei internationalen Preisvergleichen möchte man grundsätzlich die Frage beantworten,
um wie viel Prozent die Preise im Ausland – wie etwa nach AVR in Schweden und Großbritannien – günstiger sind. Hierbei muss die Preisdifferenz auf den deutschen und nicht
auf schwedischen oder den englischen Preis bezogen werden. Formal gesehen macht
das einen Unterschied, da die Basis der Berechnung eine andere ist, je nachdem ob man
von oben oder von unten rechnet.
47. Konkret führt diese Vorgehensweise dazu, dass der Korb, der die jeweils 10 umsatzstärksten Medikamente in Schweden, Großbritannien und Deutschland enthält, in DE
55,9 % bzw. 66,1 % mehr kostet als in SE und GB. Das sind zunächst erstaunlich große
Preisunterschiede zu den beiden betrachteten Ländern. Von unten verringert sich der
Preisabstand auf 35,8 % (SE) und 39,8 % (GB).
Preisunterschiede zwischen Inland und Ausland
48. Internationale Preisvergleiche sind sehr komplex. Vergleiche sollten grundsätzlich auf
Basis der ApU durchgeführt werden. Nur diesen Preis hat der Hersteller zu verantworten. Bei Vergleichen auf AVP-Basis muss sichergestellt sein, dass Unterschiede in den
Distributionsketten (Handelsspannen, MWSt, Rabatte) berücksichtigt werden.
49. In Großbritannien berechnet sich der Public Price, der dem deutschen AVP entspricht
aus dem ApU zuzüglich einer Großhandelspanne (GH-Spanne) von 12,5 %. Von der
Großhandelsspanne erhält der Apotheker durch den Großhändler einen Rabatt von rund
10 %, so dass die tatsächliche GH-Spanne bei rund 2,5 % liegt. Der National Health
Service (NHS) schöpft jedoch den vom Großhändler an den Apotheker gewährten Rabatt
weitgehend wieder ab. Damit gibt es in Großbritannien keine eindeutige Apothekenspanne, wie dies in Deutschland der Fall ist. Unterschiedliche Rechnungen führen damit
auch zu unterschiedlichen AVP und ESP.
50. Ein Preisvergleich bei Vorliegen von Wechselkursen macht nur Sinn, wenn man die
Preise bei Markteinführung zum damals gültigen Wechselkurs vergleicht. Ansonsten
werden aus Wechselkursschwankungen Preisdifferenzen errechnet, die der pharmazeutische Unternehmer weder beeinflussen kann noch zu vertreten hat.
51. Zu berücksichtigen sind auch die gewährten Rabatte, da diese die GKV bzw. den Versicherten entlasten. Grundsätzlich müssten die Einsparungen aus Rabattverträgen bzw.
die gesetzlich fixierten Herstellerrabatte abgezogen werden. Da die gewährten produktbezogenen Rabatte aus einzelnen Selektiverträgen nicht öffentlich bekannt sind, ist es
allenfalls möglich, sie auf Ebene der einzelnen Kassen oder der GKV insgesamt zu erfassen und abzusetzen.
Cassel/Ulrich
IX
Überschätzung des Umsatzwachstums bei patentgeschützten Arzneimitteln
52. Der AVR hat mehrfach die These der Vervielfachung der Umsätze patengeschützter
Arzneimittel vertreten. Fragwürdig daran ist die zugrunde liegende Grundgesamtheit,
welche für die ausgewiesenen Steigerungsraten und die daraus rechnerisch generierten
ESP maßgeblich ist. Der AVR setzt die durch Fricke/Klaus bewerteten patentgeschützten
Arzneimittel mit der Gesamtheit aller patentgeschützten Arzneimittel gleich. Das führt
dazu, dass die Ausgaben für patentgeschützte Arzneimittel zunächst unterschätzt und
dadurch ihr Umsatzwachstum und damit auch das ESP für patentgeschützte Präparate
über die Jahre hinweg überschätzt werden.
53. Geht man davon aus, dass die Netto-Patentschutzdauer bis zu 15 Jahren beträgt, ist die
AVR-Statistik erst etwa ab dem Jahr 2000/2001 aussagefähig. Denn erst wenn alle nicht
bewerteten Bestandspräparate ihren Patentschutz verloren haben, sind beide Mengen
– alle patengeschützten und alle von Fricke/Klaus bewerteten Arzneimittel – identisch.
Nach unseren Berechnungen sind die Umsätze patentgeschützter Arzneimittel von 1993
bis 2009 tatsächlich nur von 4,9 Mrd. Euro auf 14,2 Mrd. Euro gestiegen. Damit hat der
AVR die Umsatzsteigerungen um 3,2 Mrd. Euro bzw. 34 % überschätzt. Die Wachstumsrate hat er um 287 % bzw. 545 Prozentpunkte überschätzt.
54. Bei Preisvergleichen sollte auf die Einhaltung von Mindeststandards in Bezug auf Neutralität und Transparenz geachtet, das Forschungsziel klar beschrieben, die Methodik
dargestellt und die Daten entsprechend aufbereitet werden. Es genügt auch nicht, ESP
einfach nur zu berechnen, es sollten auch die Instrumente benannt werden, die zur
Schöpfung der ESP zur Verfügung stehen. Dazu rechnet letztlich auch eine Diskussion
über die Grenzen und die Fallstricke für Preisvergleiche und ESP-Berechnungen.
55. Von daher steht der AVR im Mittelpunkt einer kritischen Bewertung, denn der AM-Atlas
nimmt fortlaufend keine eigenen ESP-Berechnungen vor und der BARMER GEK-Report
weist lediglich relativ grobe Schätzungen aus, die letztlich nur kassenspezifisch interpretiert werden. Der AVR ist demnach der einzige Verordnungsreport, der nationale und
internationale Preisvergleiche vornimmt und quantitative Berechnungen zu den ESP auf
GKV-Ebene anstellt.
3.2 Unrealistische Annahmen und inadäquate Berechnungsmodalitäten
Relevanz von Rabatten, Handelsspannen und Mehrwertsteuer
56. Bei der Abgrenzung des relevanten Marktes verwendet der AVR den Begriff des GKVFertigarzneimittelumsatzes (AMU). Dieser beläuft sich für das Jahr 2010 auf 29,7 Mrd.
Euro. Der Umsatz der pharmazeutischen Industrie mit der GKV ist allerdings wesentlich
geringer, so dass bereits an dieser Stelle eine zu große Grundgesamtheit und damit
grundsätzlich auch ein zu hohes ESP ausgewiesen werden.
57. Im AMU der GKV sind u. a. die finanziellen Auswirkungen der Arzneimitteldistribution
über Großhandel und Apotheken sowie im Direktvertrieb enthalten. Schlüsselt man den
AMU nach Distributionsstufen auf, verbleibt nur noch ein GKV-Umsatz der pharmazeutischen Industrie in Höhe von 15,7 Mrd. Euro. Das vom AVR für 2010 ausgewiesene
ESP in Höhe von 12,1 Mrd. Euro entspräche somit einem Anteil von 77 % an den GKVUmsätzen der Hersteller, die nach Abzug nur noch 3,6 Mrd. € betragen würden.
Cassel/Ulrich
X
58. Anstatt die Rabatte zu addieren, wäre es aus methodischer Sicht angebracht, sie aus den
Fertigarzneimittelumsätzen pauschaliert abzuziehen. Zwar lassen sich die Rabatte nicht
aus einzelnen Selektivverträgen nachvollziehen, die „Rabatterlöse“ der GKV insgesamt
sind aber bekannt und belaufen sich in 2010 auf die erwähnten 1,3 Mrd. Euro. Diese
Regulierungswirkungen dürfen bei der Analyse von ESP nicht ignoriert werden, weil
sonst Wirtschaftlichkeitsreserven zur Diskussion stünden, die längst über die gewährten
Rabatte realisiert sind.
Fragwürdige Zurechnung der potenziellen Einsparungen
59. In Politik und Selbstverwaltung wird meist davon ausgegangen, dass die ESP auf der
Ebene der Hersteller zu realisieren seien. Dies abstrahiert nahezu vollständig von den
existierenden Wirkungsmechanismen der Preisbildung in Deutschland und in anderen
marktwirtschaftlichen Ländern: Von einem Arzneimittel, das in der Apotheke 11 Euro zu
Lasten der GKV kostet, erhält der Hersteller nur rund 35 Cent. Der Rest geht an die
Mehrwertsteuer und in die Handelsstufen.
60. Eine vom BPI durchgeführte Vergleichsrechnung liefert ein differenziertes Bild der
Träger von Preiseffekten: Aktualisiert mit der Wechselkursentwicklung bis zum 02.06.
2012, beläuft sich der Preisunterschied nach der AVR-Methode nur noch auf 40,0 % und
nicht mehr auf 48 %. Unter der notwendigen Berücksichtigung der Abschläge von
Herstellern und Apothekern verringert sich diese Differenz auf 21,0 %. Auf der Ebene
der Hersteller sind in DE die 50 Patentarzneimittel sogar um 1,5 % billiger als in SE.
61. Der Hauptunterschied beim Vergleich zwischen DE und SE liegt somit nicht auf der
Herstellerebene, sondern bei der MWSt – die nicht in SE, aber in DE erhoben wird –
sowie bei der in DE höheren Vergütung von Großhandel und Apotheken. Will man die
ausgewiesenen ESP des AVR realisieren, so lassen sich nur rund 10 % auf der Ebene der
Hersteller heben. Etwa 40 % betreffen die MWSt, 8 % den Großhandel und 6 % die Apotheken. Rund 36 % des ESP sind durch Apothekenabschlag und erhöhten Herstellerabschlag bereits realisiert.
62. Die Preisdiskrepanz zu GB für die 50 umsatzstärksten Patentarzneimittel beträgt nach
der AVR-Methode 65 % zu Ungunsten Deutschlands. Bestimmt man wieder die Aufteilung des Betrages auf die einzelnen Teilnehmer der Distributionskette und berücksichtigt die Abschläge von Herstellern und Apothekern, verringert sich diese Diskrepanz
auf 38,4 %. Auf der Ebene der Hersteller sind in DE die 50 betrachteten Arzneimittel nur
noch um 27,7 % teurer als in GB.
63. Das zentrale Problem liegt darin, dass der AVR auf Basis des AVP rechnet. Durch die
zahlreichen Arzneimarkt-Regulierungen in DE, aber auch in den Vergleichsländern, sagt
der AVP inzwischen nur noch wenig darüber aus, was ein Arzneimittel die Krankenkassen kostet. Er informiert zudem nicht darüber, welche Einnahmen die Hersteller aus
dem Verkauf eines Arzneimittels erhalten. Ein solcher Vergleich muss mit Hilfe des
„Preises ab Werk“ stattfinden, da ansonsten den pharmazeutischen Unternehmern Erlöse zugerechnet werden, die ihnen tatsächlich gar nicht zufließen.
Unzulässige Ceteris-paribus-Bedingungen
64. Alle bekannten Berechnungen von Einsparpotenzialen unterliegen der Ceteris-paribusBedingung, d. h. sie erfolgen unter sonst gleichen Bedingungen. Mit diesem statischen
Cassel/Ulrich
XI
Konzept wird man aber der Dynamik auf dem Arzneimittelmarkt – und hier insbesondere auf dem Markt für Generika – nicht gerecht. Die Berechnung von ESP bei
generikafähigen Wirkstoffen zeigt den Nachteil der statischen Analyse sehr anschaulich.
65. Bei der Substitution wird stets das preisgünstigste Generikum verwendet. Käme immer
der günstigste Anbieter zum Zuge, so hätte dies in kürzester Zeit eine starke
Konzentration auf sein Präparat zur Folge. Da es aber beträchtliche Markteintrittshürden gibt, würde der betreffende Anbieter seine Preise wieder erhöhen. In der
statischen Analyse werden diese Effekte vernachlässigt, die aber für eine dynamische
Gesamtbetrachtung entscheidend sind und durch eine Mutatis-mutandis-Betrachtung
erfasst werden müssten.
3.3 Missachtung von Besonderheiten der internationalen Preisreferenzierung
Vergleichsrelevante Besonderheiten
66. Wie gezeigt werden konnte, muss bei der ESP-Berechnung aus internationalen Preisvergleichen bzw. international Price Referencing (IRP) mit unrealistischen und daher praktisch unbrauchbaren Ergebnissen gerechnet werden. Dies liegt an besonderen Sachverhalten, die bei ländervergleichenden Analysen typischerweise relevant sind und das IRP
bis hin zur Unmöglichkeit erschweren.
67. Da internationale Preisvergleiche nicht im überschaubaren institutionellen Rahmen des
Inlands stattfinden, ist zunächst anhand sachlicher Kriterien eine Auswahl geeigneter
Referenzländer zu treffen. Jedes Referenzland weist Regulierungs- und Marktbesonderheiten bei Arzneimitteln auf, die preisbestimmend sein können und den Preisvergleich
mit Deutschland erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen. Dazu zählen insbesondere die Erstattungsregelungen wie auch die vielfältigen angebots- und nachfrageseitigen Preis- und Mengenregulierungen, unterschiedliche Vertriebswege und das
vielfach praktizierte IRP-System.
68. Referenzländer, die einem anderen Währungsgebiet angehören – wie etwa SE und GB–
stellen zudem besondere Anforderungen an das IRP, weil die ausländischen Preise in Inlandswährung umgerechnet werden müssen und sich je nach Wahl des Wechselkurses
erhebliche Preisdiskrepanzen ergeben können. Und selbst innerhalb der Eurozone
können sich kaufkraftbedingte Preisunterschiede ergeben, die beim IRP nicht unberücksichtigt bleiben sollten.
Quantitative Effekte alternativer Berechnungen
69. Durch Missachtung dieser Besonderheiten öffnet sich jedoch ein Einfallstor für
intentionale bzw. interessengeleitete ESP-Berechnungen – von unbeabsichtigten, aber
folgenschweren Erfassungs-, Interpretations- und Berechnungsfehlern ganz abgesehen,
die das Handling derart vieler Aspekte bei aller Sorgfalt mit sich bringt. Anhand von
Kontrollrechnungen für einzelne Medikamente wie für bestimmte Kategorien oder die
Gesamtheit der Arzneimittel lässt sich zeigen, welche Auswirkungen dies auf den
quantitativen Ausweis von internationalen Preisdiskrepanzen und die daraus ermittelten
Einsparpotenziale hat.
70. Am Beispiel eines hochpreisigen patentgeschützten Spezialpräparats im AVR-Vergleich
für 2010 mit GB werden verschiedene Fallstricke der ESP-Berechnung benannt, darunter
Cassel/Ulrich
XII
unterschiedliche Packungsinhalte, Vergleich auf unterschiedlichen Preisstufen, keine
Preisbereinigung um Rabatte und keine stichtagsgleichen Wechselkurse oder gar Einführungswechselkurse. Aufgrund einer anonymisierten Kontrollrechnung werden
schrittweise ihre quantitativen Preis- und ESP-Effekte ermittelt.
71. Die Standardpackung des betreffenden Medikaments hat in DE einen Preis von 100
Euro; sein Preis in GB beträgt umgerechnet 60,66 Euro. Der deutsche Preis liegt damit
fast 65 % höher als der britische bzw. der britische knapp 40 % unter dem deutschen
Preis. Das sich über den Umsatz in DE ergebende und wegen der anonymisierten Berechnung dem Betrag nach rein fiktive ESP beträgt 0,513 Mio. Euro.
72. Werden alle vom AVR übersehenen Fallstricke berücksichtigt, errechnet sich zum Zeitpunkt der Markteinführung für das Präparat in GB ein Preis von 97,80 Euro, während es
gleichzeitig in DE für nur 84,40 Euro zu haben war. Demnach wäre das Medikament in
DE nicht etwa teurer als in GB gewesen, sondern um 13,40 Euro billiger, und das
deutsche ESP wäre zu einem britischen mutiert.
73. Um auch für ganze Kategorien von Arzneimitteln zu zeigen, wie sensibel die Berechnungsergebnisse auf zugrunde gelegte Annahmen reagieren, wurden auch Nachberechnungen für das Segment der 50 umsatzstärksten Patentarzneimittel angestellt.
Ausgangspunkt ist die AVR-Methodik beim IRP mit Großbritannien für 2010 (AVP ohne
MWSt in DE und GB und Kurs des GBP vom Juni 2011). Sie ergibt, dass die 50 Patentpräparate in DE im Durchschnitt 65 % teurer als in GB bzw. GB 32 % billiger als in DE
waren und sich das ESP auf rund 2,3 Mrd. Euro belief.
74. Werden dagegen dem Preisvergleich statt der AVP die Netto-ApU nach Abzug der
Rabatte und adjustierten Handelsmargen zugrunde gelegt, vermindert sich die Preisdiskrepanz von DE gegenüber GB auf 38 %, während sich das ESP mit rund 1 Mrd. Euro
mehr als halbiert. Hätte der AVR korrekterweise auch noch mit Einführungswechselkursen gerechnet, hätten sich zwischen DE und GB weder signifikante Preisdiskrepanzen
noch Einsparpotenziale in Deutschland ergeben.
Anforderungen an adäquate Berechnungsverfahren
75. Derartige Ergebnisse wie auch theoretische Argumente lassen es geboten erscheinen,
an die Berechnungsverfahren des ESP auch und gerade im internationalen Preisvergleich
höchste Ansprüche zu stellen. Die verbindliche Agenda für eine „good practice“ bei ESPBerechnungen im internationalen Preisvergleich müsste nach alledem die nachfolgenden Punkte enthalten.
76. (1) Auswahl von mehreren Referenzländern, die nach theoretisch validen und empirisch
abgesicherten Kriterien miteinander vergleichbar sind; (2) praktikable Verfahren zur Beschaffung von steuer-, abschlags- und rabattbereinigten Erstattungspreisen auf der
Herstellerebene; (3) Bereinigung der Vergleichspreise von besonders preisverzerrenden
nationalen Regulierungen und irregulären Preisdeterminanten; (4) Normierung und
Standardisierung der Vergleichspreise durch einheitliche Packungsgrößen und Wirkstärken sowie Gewichtung mit Verordnungsmengen; und (5) Umrechnung der Fremdwährungspreise zu Einführungswechselkursen und Gewichtung der Auslandspreise
innerhalb der Eurozone mittels Kaufkraftparitäten.
Cassel/Ulrich
XIII
4 Einsparpotenziale: Leuchtturm oder Irrlicht für die Gesundheitspolitik?
77. Berechnung und Ausweis von Einsparpotenzialen sind ein Politikum ersten Ranges. Es
muss deshalb im genuinen Interesse der gesundheitspolitischen Akteure liegen, die von
ihnen geforderten Entscheidungen auf eine tragfähige Informationsbasis zu stellen. Um
nicht einem irrationalen Aktivismus zu verfallen, sollten sie ziemlich genau und verlässlich wissen, wo Unwirtschaftlichkeiten prävalent sind, welchen Umfang sie wirklich
haben, wer sie verursacht und mit welchen Mitteln sie gegebenenfalls beseitigt werden
können. Solche Informationen liefern die vorliegenden Berechnungen nach unserer Analyse jedoch nur sehr bedingt. Einsparpotenziale sind daher eher ein Irrlicht als ein
richtungweisender Leuchtturm für rationales Handeln im Gesundheitswesen.
78. Angesichts der kaum zu überwindenden Schwierigkeiten, wenn nicht gar praktischen
Unmöglichkeiten, belastbare Einsparpotenziale methodisch einwandfrei zu ermitteln,
wäre es ein Gebot der Vernunft und Redlichkeit, auf derartige Versuche zumindest im
internationalen Preisvergleich zu verzichten. Von Ludwig Wittgenstein, dem prominenten Vertreter der analytischen Philosophie der 1920er Jahre, stammt der berühmte
Satz: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“. In Anlehnung
daran lautet unser Fazit: „Was man nicht berechnen kann, muss man sein lassen“!
Cassel/Ulrich
XIV
Anlass, Zielsetzung und Aufbau
In den letzten beiden Jahrzehnten sind die Ausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung
(GKV) für erstattungsfähige Arzneimittel merklich gestiegen und bilden inzwischen nach der
Krankenhausbehandlung und in etwa gleichauf mit der ärztlichen Behandlung den zweitgrößten Ausgabenblock. Die Pharmakotherapie gilt zwar generell als höchst effektiv, doch
wird vielfach bezweifelt, ob sie auch in jedem Falle effizient, d. h. ihr Geld wert ist: Insbesondere die festbetragsfreien, meist hochpreisigen, weil noch patentgeschützten Arzneimittel (Originale und ihre Analoga) seien im internationalen Vergleich zu teuer und würden
dort, wo es generische verfügbare Standardtherapien mit vergleichbarer Wirkung gebe, auch
zu häufig verordnet. Überdies würden Ärzte immer noch Präparate verschreiben, die in ihrer
Wirksamkeit umstritten seien, und die Apotheken Medikamente abgeben, die sie billiger aus
dem Ausland importieren könnten. Schließlich werden auch medikamentöse Über-, Unterund Fehlversorgungen sowie mangelhafte Compliance als Ursache für vermeidbare Arzneimittelausgaben angesehen.
Dementsprechend werden in der GKV-Arzneimittelversorgung erhebliche Einsparmöglichkeiten bzw. Wirtschaftlichkeits- oder Effizienzreserven vermutet, deren Ausschöpfung unter
den Geboten der Wirtschaftlichkeit (§ 12 SGB V) und Beitragssatzstabilität (§ 71 SGB V) gemeinhin als gesundheitspolitische Daueraufgabe gilt. Anlass des vorliegenden Gutachtens
sind wiederholte Versuche, derartige Effizienzreserven quantitativ exakt zu berechnen und
anzugeben, in welcher Höhe die Arzneimittelausgaben gesenkt werden könnten, ohne die
medizinische Versorgung dadurch zu beeinträchtigen. Anders als die rein qualitativen Untersuchungen zu Erscheinungsformen, Ursachen, Verbreitung und Vermeidung von Unwirtschaftlichkeiten, die nur selten auf breites öffentliches Interesse stoßen, wird die Veröffentlichung und mediale Verbreitung von so genannten Einspar- bzw. Effizienzpotenzialen (ESP)
regelmäßig zu einem Politikum höchsten Grades, das nicht ohne Wirkung auf die Verhaltensweisen der Akteure im Gesundheitswesen, darunter insbesondere auf die gesundheitspolitischen Entscheidungsträger bleibt.
Indem man etwa die umstrittenen Arzneimittel streicht oder gegebenenfalls durch wirksame
Präparate substituiert sowie eine unbegrenzte Substitutionsmöglichkeit von teuren durch
preisgünstigere Präparate einerseits sowie von Inlandsangeboten durch Pharmaimporte
andererseits unterstellt, wird z. B. für die GKV im Jahr 2010 ein ESP von 12,1 Mrd. Euro – das
sind immerhin knapp 41 % der gesamten GKV-Ausgaben für Fertigarzneimittel in Höhe von
29,7 Mrd. Euro – ermittelt (AVR 2011, S. 41). Ist man der festen Überzeugung, dass Wirtschaftlichkeitsreserven in einem derartigen Ausmaß tatsächlich existieren und sich darüber
hinaus auch mobilisieren lassen, geraten alle Akteure im Gesundheitswesen regelmäßig
unter erheblichen Handlungsdruck: Die Öffentlichkeit erwartet, dass sie die propagierten ESP
künftig ausschöpfen und die Arzneimittelausgaben dementsprechend beitragswirksam
senken. Hierdurch werden insbesondere die gesundheitspolitischen Entscheidungsträger zu
immer neuen Interventionen in das Markt- und Verordnungsgeschehen gedrängt, wodurch
nicht nur die Pharmaindustrie durch Erlöseinbußen, sondern letztlich auch die Ärzte in ihrer
Therapiefreiheit und die Patienten in ihrem Therapiezugang betroffen sind.
Hiergegen wäre kaum etwas einzuwenden, soweit Einsparmöglichkeiten wirklich manifest
sind, es wissenschaftlich vertretbare und praktikable Methoden gibt, sie exakt in Geldeinheiten zu beziffern, und pragmatisch gesehen wirksame Mittel zur Steuerung des Markt- und
Verordnungsgeschehens verfügbar sind, um sie tatsächlich zu realisieren. Von daher ist es
Ziel der vorliegenden Expertise, die in Deutschland regelmäßig angestellten Berechnungen
Cassel/Ulrich
XV
zum quantitativen Nachweis von Einsparpotenzialen daraufhin zu untersuchen, ob sie diesen
Kriterien standhalten. Gefragt wird insbesondere nach der Tragfähigkeit der vorhandenen
Datenbasis, nach dem adäquaten Umgang mit der therapeutischen und internationalen
Substituierbarkeit der Wirkstoffe und Präparate, nach der hinreichenden Berücksichtigung
der preisbestimmenden Marktdynamik, und nicht zuletzt nach der Angemessenheit des
jeweils verwendeten Algorithmus. Über allem steht jedoch die Frage, ob die turnusmäßigen
Potenzialberechnungen so valide und belastbar sind, dass sich darauf eine rationale, dem
tatsächlichen Handlungsbedarf entsprechende Regulierung der GKV-Arzneimittelversorgung
durch die gesundheitspolitischen Entscheidungsträger stützen lässt – oder anders gewendet:
Sind sie tatsächlich ein wegweisendes Leuchtfeuer oder nicht eher ein verhängnisvolles Irrlicht auf dem Wege zu einer effektiven und zugleich effizienten Pharmakotherapie?
Dementsprechend gliedert sich die Expertise, die sich als „Metaanalyse“ der einschlägigen
Veröffentlichungen versteht und keine eigenen ESP-Berechnungen enthält, in vier Kapitel: Im
ersten Kapitel wird das Spannungsverhältnis zwischen dem politischen Wunsch nach verlässlichen Informationen über vermutete Wirtschaftlichkeitsreserven und den Grenzen, ihn mit
den derzeit praktizierten Ansätzen erfüllen zu können, aufgezeigt. Das zweite Kapitel konzentriert sich auf die Potenzialberechnungen des bekannten Arzneiverordnungs-Reports
(AVR 1985 ff.), der in diesem Jahr zum 28. Mal erscheint: Er hat trotz anhaltender Kritik an
Methodik und Ergebnissen eine gewisse Monopolstellung erlangt, die er neuerdings mit Blick
auf die aktuelle Umsetzung des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes (AMNOG) von 2011
durch ESP-Berechnungen auf der Basis internationaler Vergleichspreise aus Schweden und
Großbritannien sogar noch ausgebaut hat. Davon ausgehend, werden im dritten Kapitel
generell die Fallstricke derartiger Potenzialberechnungen aufgezeigt. Schließlich wird im
vierten und letzten Kapitel ein Fazit gezogen und diskutiert, ob ESP-Berechnungen nicht
grundsätzlich eine verzichtbare „Mission Impossible“ sind. Mit alledem sollen die Möglichkeiten und Grenzen des ESP-Konzepts verdeutlicht und den berechneten Einsparvolumina
der Nimbus genommen werden, der ihre medien- und politikwirksame Kommunikation inzwischen umgibt.
Cassel/Ulrich
1
Quantifizierte Einsparpotenziale zwischen Wunsch und Wirklichkeit
1.1
Gesundheitspolitische Funktion von Potenzialberechnungen
1
Weltweit ist die Anwendung von Arzneimitteln die mit Abstand am häufigsten praktizierte
therapeutische Intervention im Krankheitsfall. Mit der zunehmenden Nachfrage der noch
wachsenden, zugleich aber alternden Weltbevölkerung und dem anhaltenden Angebot
chemisch synthetisierter, zunehmend aber auch gentechnologisch entwickelter ArzneimittelInnovationen wird sich die Pharmakotherapie auch künftig weiter ausbreiten. Damit verbunden ist zwangsläufig ein Anstieg der Arzneimittelausgaben, der den Bemühungen um
Kostendämpfung zuwiderlaufen kann. Da die Anwendung von Pharmaka generell zu den
wirksamsten Therapien zählt, wäre dies hinnehmbar, wenn nicht immer wieder Zweifel
daran bestünden, dass sie im Einzelfall auch effektiv und vor allem effizient sind. Dementsprechend werden gerade in der GKV-Arzneimittelversorgung beträchtliche Einsparmöglichkeiten bzw. Wirtschaftlichkeits- oder Effizienzreserven vermutet, deren Ausschöpfung als
gesundheitspolitische Daueraufgabe anzusehen sei (SVR KAiG 2003, Tz 95 ff.).
Unwirtschaftlichkeiten in der Pharmakotherapie resultieren zunächst einmal aus der medikamentösen Über-, Unter- und Fehlversorgung aufgrund des medizinisch veranlassten Verordnungsverhaltens der Ärzte wie auch aus einer mangelhafte Compliance bzw. Adherence
der Patienten, worauf der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (SVR KAiG) bzw. zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR G)
mehrfach ausführlich eingegangen ist (SVR KAiG 2001/2001,1, Tz 125 ff.; 2000/2001,2, Tz 15
ff., Tz 98 ff.; SVR G 2005, Tz 758 ff.). Hierbei stehen z. B. Verordnungen von Medikamenten,
deren medizinischer Nutzen widerlegt, umstritten oder (noch) nicht belegt ist oder die nicht
indikationsgerecht oder polypragmatisch verordnet werden, als Fälle von Überversorgung im
Vordergrund. Nicht selten geht deren Anwendung mit Fehlversorgung durch Nichtbeachtung
von Kontraindikationen und Wirkstoffinteraktionen sowie mit Unterversorgung durch den
Verzicht auf den leitliniengerechten Einsatz essenzieller Präparate einher. Hinzu kommt, dass
Patienten die ihnen verschriebenen Medikamente nicht oder nicht verordnungsgemäß einnehmen und dadurch ihre mangelnde Compliance Geldverschwendung und Folgekosten
verursachen. Insgesamt ist dies ein zwar relevantes, aber äußerst schwieriges medizinischpharmakologisches Terrain, weshalb sich derartige Fälle – mit Ausnahme der umstrittenen
und erwiesenermaßen unwirksamen Medikamente – einer quantitativen Erfassung ihres
Ausgaben- bzw. Einsparvolumens weitgehend entziehen.
Im Brennpunkt der Diskussion stehen vielmehr Unwirtschaftlichkeiten, die sich aus der Verordnung von Pharmaka mit einer vergleichsweise schlechten Preis- bzw. Kosten-Wirksamkeits-Relation ergibt. So sind für den SVR G (2005, Tz 770) Medikamente immer dann unwirtschaftlich, wenn sie keine Wirksamkeit besitzen, wenn sie eine geringere Wirksamkeit entfalten als solche mit gleichen oder niedrigeren Preisen oder wenn sie nicht besser wirken als
preisgünstigere Präparate. Dementsprechend konzentriert sich das Interesse aktuell, d. h.
nach Inkrafttreten des AMNOG zum 1.1.2011, auf folgende Arzneimittelkategorien:
• Umstrittene Medikamente, die keine Wirksamkeit besitzen oder deren Wirksamkeit
zumindest umstritten ist und die deshalb als unwirtschaftlich gelten, weil für Unnützes
kein Geld ausgegeben werden sollte.
• Generika einschließlich der Biosimilars, die als wirkstoffidentische bzw. biologisch ähnliche Nachahmerprodukte gleiche oder ähnliche Wirkungen wie die nicht mehr patent-
Cassel/Ulrich
2
geschützten Originalpräparate entfalten, aber in der Regel erheblich preisgünstiger
sind und deshalb verstärkt verordnet werden sollten.
• Analoga, die trotz ihrer patentfähigen neuen Molekülvarianten bekannter Wirkstoffe
keine oder nur geringe therapeutischen Vorteile gegenüber den etablierten Originalen
haben, aber teurer als diese bzw. deren bereits ausgebotene Generika sind.
• Arzneimittel-Innovationen, die einen patentgeschützten neuartigen Wirkstoff mit deutlich höherer Wirksamkeit bzw. höherem Zusatznutzen gegenüber vorhandenen Leitsubstanzen haben (so genannte Solisten) und in Deutschland mitunter deutlich teurer
als im Ausland sind.
• Arzneimittel-Innovationen, die trotz ihres patentgeschützten neuartigen Wirkstoffs
keinen relevanten therapeutischen Vorteil bzw. Zusatznutzen gegenüber etablierten
Leitsubstanzen haben (so genannte Nicht-Solisten), aber höhere Therapiekosten als
diese verursachen.
• Importarzneimittel, die als patentgeschützte oder ungeschützte Präparate den in
Deutschland zugelassenen Medikamenten entsprechen, aber im Ausland billiger als
hierzulande sind und als Parallel- oder Reimporte zur Verfügung stehen.
Schon diese Kategorisierung macht deutlich, dass der Nachweis preis- bzw. kostenbedingter
Unwirtschaftlichkeiten kein leichtes Unterfangen ist, zumal er nur unter der Prämisse geführt werden kann, dass die jeweiligen Präparate innerhalb einer Indikation nach medizinisch-pharmakologischen Kriterien sowohl generell als auch in jedem Einzelfall unbedenklich substituierbar sind und somit keine Einbußen der Versorgungsqualität drohen.
Gesundheitspolitisch wird in derartigen Unwirtschaftlichkeiten bzw. Ineffizienzen gleichwohl
ein gravierender Verstoß gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot (§ 12 SGB V) gesehen, der die
Einhaltung der gesetzlich gebotenen Beitragssatzstabilität (§ 71 SGB V) gefährdet. Von daher
sind sie schon Mitte der 1960er Jahre immer wieder diskutiert worden und Mitte der 1970er
Jahre vollends in das Visier der Kostendämpfungspolitik der Bundesregierung geraten
(Baumheier 1994, S. 138 ff.). Seitdem ist die Effizienzsteigerung in der GKV-Arzneimittelversorgung zu einem vorrangigen Ziel der deutschen Gesundheitspolitik avanciert, das mit
einer Fülle von Instrumenten zu erreichen versucht wurde. Sie haben den GKV-Arzneimittelmarkt inzwischen mit einem dichten Netz von ausgabenwirksamen Regulierungen
überzogen (IGES et al. 2006; Cassel/Wille 2009) und mit der Einführung von Erstattungsbeträgen auch auf Basis internationaler Vergleichspreise für Arzneimittel-Innovationen mit
Zusatznutzen (Solisten) durch das AMNOG schließlich auch die letzte Lücke in der Preisregulierung von Pharmaka geschlossen (Cassel 2012; Cassel/Ulrich 2012).
Dazu getrieben wurde der Gesetzgeber außer über eine Reihe einschlägiger Gutachten
hinaus (z. B.: SVR KAiG 2000/2001,2; SVR G 2005; Rürup et al. 2009,1 und 2) nicht zuletzt
durch die jährlich erscheinenden, als „Report“ oder „Atlas“ bezeichneten Berichte zum
Arzneimittelverbrauch in der GKV (AVR 1985 ff.; AM-Atlas 2006 ff.; GEK 2006-2009; BARMER
GEK 2010 ff.). In ihnen werden die Verordnungen von erstattungsfähigen Präparaten mit
unterschiedlichen Fragestellungen, Daten und Methoden analysiert, um Ärzte, Patienten,
Krankenkassen, Selbstverwaltung und politische Entscheidungsträger über die Struktur und
Entwicklung des Verbrauchs von Medikamenten zu informieren sowie medizinisch-pharmazeutische Trends und bestehende Ineffizienzen aufzuzeigen. Letztlich wollen sie damit zu
einer zweckmäßigeren, sichereren und wirtschaftlicheren Pharmakotherapie beitragen. Bei
allen Unterschieden in der Zielsetzung, Datenbasis, Methode und – notabene – den Ergeb-
Cassel/Ulrich
3
nissen ist es als ausgesprochen verdienstvoll, wenn nicht unverzichtbar anzusehen, dass
dadurch der Arzneimittelverbrauch in Deutschland übersichtlicher geworden ist, unwirtschaftliche Verordnungen nicht bloß anekdotisch evident sind und die daraus für alle Beteiligten, insbesondere aber den Gesetzgeber abgeleitete Handlungsempfehlungen öffentlich zur Diskussion stehen.
Politisch-pragmatisch verständlich, aber in verschiedener Hinsicht problematisch sind jedoch
die dabei in einigen Reports gemachten Versuche, über die Darstellung und Begründung
unwirtschaftlich erscheinender Arzneimitteltherapien im Einzelfall hinaus für das GKVSystem als Ganzes zu beziffern, was sich durch Substitution von umstrittenen oder für zu
teuer gehaltenen Pharmaka durch effektivere bzw. preiswertere Medikamente einsparen
ließe. Das Ergebnis derartiger Versuche sind so genannte Einsparpotenziale (ESP), die auch
Effizienz- bzw. Wirtschaftlichkeitspotenziale oder Effizienz- bzw. Wirtschaftlichkeitsreserven
genannt werden. Sie werden mit unterschiedlichen methodischen Ansätzen aufgrund hypothetischer Annahmen zur Arzneimittelsubstitution ex post aus dem faktischen Verordnungsgeschehen abgeleitet und sind daher im Ergebnis ziemlich divergent. So soll z. B. aktuell das
gesamte jährliche ESP der BARMER GEK – je nach unterstelltem Anstieg der Generikaquote
von derzeit 73 % auf avisierte 85 % bzw. 90 % – in der Spanne von 200 bis 500 Mio. Euro
liegen (BARMER GEK 2011, S. 56; 2012, S. 76). Für die GKV insgesamt wird das mehrwertsteuerfreie ESP allein aus der Generikasubstitution mit 4,9 Mrd. Euro (2010) angegeben,
sofern teure Produkte durch billigere Generika substituiert und diese aus dem preisgünstigeren Großbritannien (GB) importiert würden (AVR 2011, S. 25). Über alle Arzneimittelkategorien hinweg, kommt der Arzneiverordnungs-Report sogar auf ein jährliches ESP
von 12,1 Mrd. Euro (2010) – das sind immerhin 41 % der gesamten GKV-Ausgaben für
Fertigarzneimittel in Höhe von 29,7 Mrd. Euro –, sofern alle nationalen und internationalen
Substitutionsmöglichkeiten (letztere nur auf GB bezogen) genutzt worden wären (AVR
2011, S. 41).
Bei derartigen Größenordnungen kann es nicht verwundern, wenn die üblicherweise im
Frühherbst jeden Jahres erscheinenden Verordnungsberichte mit Spannung erwartet werden und beträchtliche Resonanz finden. Auf Pressekonferenzen mit regelmäßiger Beteiligung
prominenter Vertreter aus Politik und Selbstverwaltung vorgestellt und durch die Medien in
der Öffentlichkeit entsprechend kommentiert und verbreitet, baut sich daraufhin regelmäßig
ein beträchtlicher Druck seitens der Gesundheitspolitik, Krankenkassen und Kassenärztlichen
Vereinigungen auf die niedergelassenen Ärzte und ihre Patienten sowie die pharmazeutische
Industrie auf mit dem Ziel, das Verordnungsverhalten entsprechend zu verändern bzw. die
Arzneimittelpreise zu senken. Denn schließlich wird unisono gefordert, alles zu unternehmen, um die ermittelten ESP zur finanziellen Entlastung der Kassen und Versicherten
auszuschöpfen. Nachgerade zum Politikum werden die ESP aber dann, wenn sie unmittelbar
gesetzgeberische Maßnahmen provozieren. So war etwa die „Scharfstellung“ des Instruments der selektivvertraglichen Rabattverträge im Generikamarkt nach § 130a (8) SGB V und
die damit beabsichtigte Intensivierung des Preiswettbewerbs unterhalb der Festbeträge
durch das Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) von 2007 ein Reflex auf den wiederholten Ausweis beträchtlicher Einsparmöglichkeiten durch Generikasubstitution. Und auch
das AMNOG von 2011 mit der Einführung der frühen Nutzenbewertung bei ArzneimittelInnovationen und festbetragsfreien Bestandspräparaten und der Folge, dass Arzneimittel
ohne erkennbaren Zusatznutzen unter Festbetrag gestellt und solche mit Zusatznutzen mit
einem zentral auszuhandelnden Erstattungsbetrag auch auf der Grundlage internationaler
Cassel/Ulrich
4
Vergleichspreise belegt werden, wurde letztlich durch international preisvergleichende ESPBerechnungen angestoßen. 1
1.2
Alternative Berechnungsansätze im Vergleich
Wenn Potenzialberechnungen derart weitreichende Folgen haben können, darf es nicht
verwundern, dass sie Gefahr laufen, nicht nur politisch instrumentalisiert, sondern auch
interessengeleitet konzipiert zu werden. Es erscheint deshalb geboten, sich zunächst einen
kurzen Überblick über die Anbieter der Verordnungsberichte, ihre Ziele und Konzepte zu
verschaffen. Dabei sind zumindest zwei Kategorien zu unterscheiden: nämlich solche
Aktionen, mit denen im Zeichen von „Rationalisieren statt Rationieren“ (SVR 2003, Tz 95)
Einsparvolumina (ESV) im Sinne von tatsächlichen Ausgabensenkungen erzielt oder entsprechende Einsparerfolge beziffert werden sollen, und solche, die im eigentlichen Wortsinn
den Ausweis von betragsmäßigen Einsparpotenzialen (ESP) intendieren. Der Unterschied
besteht im Wesentlichen darin, dass die ESV retrospektiv die tatsächlich in einer zurückliegenden Periode realisierten Ausgabensenkungen erfassen, während die ESP zwar ebenfalls aus Vergangenheitsdaten abgeleitet werden, aber prospektiv die in Zukunft für
wünschenswert bzw. realisierbar gehaltenen Einsparungen beziffern sollen.
Berechnungen von Einsparvolumina (ESV)
An Arzneimitteln zu sparen, ist inzwischen zur vorrangigen Rationalisierungsstrategie der
Krankenkassen geworden, um Zusatzbeiträge zu vermeiden und so im Kassenwettbewerb
konkurrenzfähig zu bleiben. Darin werden sie im Zeichen knapper Mittel durch die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) nach Kräften unterstützt. Gemeinsames Ziel ist, das Verordnungsverhalten der niedergelassenen Ärzte im Konsens mit ihren Patienten so zu beeinflussen, dass
•
•
•
patentfreie, aber teure Analoga durch preisgünstige Generika,
geschützte und teure Analoga durch preisgünstige Generika der Leitsubstanz und
teure Generika durch preiswertere, vorrangig rabattierte Produkte,
ersetzt werden. Hierzu hat z. B. die Techniker Krankenkasse (TK) ein Arzneimittelversorgungsmanagement entwickelt, in dessen Rahmen eingeschriebenen Ärzten u. a. der quartalsweise erscheinender TK-Arzneimittelreport (TK-AMR) und auf Anfrage praxisindividuelle
Hinweise zur pharmakologischen und wirtschaftlichen Verordnungsoptimierung zur Verfügung gestellt werden. Außerdem sind darin auch TK-Patienten durch individuelle Beratungsangebote und eine Versicherteninformation Arzneimittel (TK-ViA) einbezogen. Verbunden ist dies mit einem internen Erfolgsnachweis, demzufolge z. B. die Verordnungen des
Originalpräparats Pantozol aufgrund des TK-AMR um 67 %, ohne ihn aber nur um 35 %
zurückgegangen sein sollen (Steimle 2011, S. 10). Derartige Ansätze werden regional – meist
in Verbindung mit den Verbänden der Krankenkassen – durch KV-Informationen nach § 73
(8) SGB V flankiert. Mit ihnen sollen die Kassenärzte indikations- oder wirkstoffbezogen über
die Möglichkeiten zur wirtschaftlichen „Optimierung der Pharmakotherapie“ aufgeklärt und
zur Generikasubstitution angehalten werden (z. B.: KVWL 2012). Schließlich werden auch die
1
So begründete z. B. der damalige Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler (2010, S. 7661) die Einführung des AMNOG mit den Worten: „Wir als christlich-liberale Koalition wollen es nicht zulassen,
dass die Arzneimittelpreise in Deutschland deutlich höher sind als im europäischen Ausland; deswegen haben wir diesen Entwurf auf den Weg gebracht.“
Cassel/Ulrich
5
GKV-Versicherten von Seiten der Kassenverbände allgemein über Einsparmöglichkeiten bei
Arzneimitteln informiert, um sie für die Generikasubstitution im Verordnungsfall zu disponieren (z. B: vdek 2010).
Derartige Aktionen und ihre Einsparergebnisse sind nicht ohne Relevanz für das ESP-Kalkül:
Schließlich bestimmen sie das jeweilige Ausmaß, in dem zum einen das errechnete
(maximale) ESP einer Periode wegen unvermeidlicher Hemmschwellen der Arzneimittelsubstitution überhaupt mobilisierbar ist und zum anderen das mobilisierbare ESP in den
nachfolgenden Perioden tatsächlich ausgeschöpft wird. So weist der SVR G anhand der
unten wiedergegeben Abbildung 1 ausführlich darauf hin, dass sich aus dem spezifischen
Interaktionsprozess zwischen Arzt und Patient unter den Versorgungsbedingungen in der
ärztlichen Praxis und den komplexen Lebensbedingungen der Patienten nicht unbeträchtliche „systemimmanente und als solche anzuerkennende Effektivitätsverluste“ (SVR G 2005,
Tz 793) einstellen. Hierdurch reduziert sich das maximale ESP auf eine Restgröße, die realistisch betrachtet für Einsparungen nutzbar ist. Da aber weder für die so genannten Transfer-,
Implementierungs- und Umsetzungsverluste noch für die Einsparungen selbst quantitative
Angaben gemacht werden, fehlt diesem Konzept noch die erforderliche empirische Grundlage.
Abbildung 1: Reduzierung des pharmakotherapeutischen Potenzials
durch Transfer, Implementierung und Umsetzung
Quelle: SVR G 2005, S. 602.
Problematisch erscheint auch die meist nur sporadisch von einzelnen Kassen und Verbänden
zu Teilbereichen der Arzneimittelversorgung ausgewiesenen ESV. Am bekanntesten sind
wohl die wiederkehrenden Pressemeldungen des AOK-Systems zu den jährlichen Einsparungen aus den abgeschlossenen Rabattverträgen für Festbetragsarzneimittel. Hiernach
haben die AOKs z. B. im Jahr 2011 insgesamt 683 Mio. Euro weniger für rabattierte Präparate
ausgeben müssen. Das bislang von den AOKs insgesamt erzielte ESV summiere sich seit dem
Start bundesweiter Arzneimittelverträge im Jahr 2007 bis Ende des Jahres 2011 auf 1,6 Mrd.
Euro; und für 2012 wird mit Einsparungen der AOKs bis zu einer Mrd. Euro bei einem Gesamtumsatz in diesem Segment von 4,2 Mrd. Euro in 2011 gerechnet (AOK-BV 2012, S. 1; kritisch
dazu Windt/Glaeske/Hoffmann 2010). 2
2
Nach Angaben des AVR (2011, S. 180) besteht seit 2008 ein eigenes Haushaltskonto der Kassen in
der amtlichen Statistik (KJ 1; seit 2010 auch in KV 45), in dem die Einnahmen der Kassen aus Rabattverträgen mit den pharmazeutischen Unternehmern ausgewiesen werden. Hiernach beliefen sich die
„Rabatterlöse“ der GKV insgesamt in 2009 auf 846 Mio. Euro und in 2010 bereits auf 1,3 Mrd. Euro.
Cassel/Ulrich
6
Der Generikaverband Pro Generika gibt die in 2011 aus Rabattverträgen im GKV-System erzielten Einsparungen mit rund 1,6 Mrd. Euro an, ohne jedoch eine Quelle für deren Berechnung zu nennen (Pro Generika 2012, S. 3). Aus Mangel an öffentlich zugänglichen statistisch-methodischen Erläuterungen muss die Frage offen bleiben, ob in beiden Fällen die von
den Arzneimittelherstellern aufgrund des faktischen Umsatzes mit Rabattarzneimitteln tatsächlich abgerechneten und an die einzelnen Kassen gezahlten Rabatte aufsummiert sind
(tatsächliche ESV) oder die Rabatte jeweils nur aufgrund der beim Abschluss der im Übrigen
vertraulichen Rabattverträge zugrunde gelegten prospektiven Preise bzw. Umsätze berechnet werden (hypothetisches ESV).
Extern noch schwieriger zu beurteilen sind die Angaben zu den Einsparungen, die durch das
Festbetragssystem und den dadurch verschärften Preiswettbewerb im generikafähigen
Markt erzielt worden sind. So informierte der GKV-Spitzenverband (GKV-SV) in einer
Pressemitteilung vom 1. März 2010 die Öffentlichkeit anhand einer Tabelle mit den jährlich
erzielten ESV darüber, dass die gesetzlichen Krankenkassen durch die Einführung des
Festbetragssystems von 1989 bis 2009 insgesamt 38,9 Mrd. Euro eingespart hätten und für
das noch nicht abgeschlossene Jahr 2010 mit 4,6 Mrd. Euro rechnen könnten (GKV-SV 2010,
S. 3 und S. 5). Und der Verband Pro Generika, der die mit Generika erzielbaren Einsparungen
argumentativ in seiner Lobbyarbeit zu verwenden pflegt, berichtet in seinen Marktdaten für
2011, dass das im Generikawettbewerb generierte ESV der Krankenkassen die „bisherige
Rekordmarke von 10 Mrd. Euro aus dem Jahr 2010 geknackt“ habe und gibt das GKV-ESV für
2011 mit 12,9 Mrd. Euro an (Pro Generika 2012, S. 3 und S. 11). Dem lägen Apothekenverkaufspreise unter Berücksichtigung aller Rabatte („AVP Real“) zugrunde, wofür die Datenbasis jedoch nicht preisgegeben wird. Auf dieser Grundlage wird für den Generikamarkt
außerdem ein „maximales“ ESP genannt, das sich im Gesamtjahr 2011 auf 16 Mrd. Euro belaufen haben soll. Als Differenz zum ESV errechnet Pro Generika dann noch ein „zusätzliches“
ESP in Höhe von 3,1 Mrd. Euro, womit sich die bekannte Forderung der Generikaindustrie
nach einer weiteren Erhöhung der Generikaquote begründen ließe. Dabei werden die ESV
und ESP vermutlich nach dem gleichen Prinzip errechnet: Man unterstellt beim ESV, dass die
innerhalb eines Jahres tatsächlich verordneten Generika zum Preis ihrer wirkstoffidentischen
patentfreien Originalpräparate verordnet worden wären, und zieht von dem so errechneten
fiktiven Umsatz den faktischen Generikaumsatz ab. Beim ESP unterstellt man umgekehrt,
dass die bisher verordneten und substituierbaren Originalpräparate vollständig durch
Generika ersetzt werden, und bildet dann das ESP aus der Differenz zwischen faktischem und
fiktivem Generikaumsatz. Der Haken dieser Berechnung liegt jedoch zum einen in den unrealistischen Substitutionsannahmen, zum anderen aber auch darin, dass sich alle relevanten
Preise im Generikawettbewerb bilden und als Folge der substitutionsbedingten Angebotsund Nachfrageverschiebungen auch mehr oder weniger gravierend ändern würden (Jäcker
2004, S. 217 ff.).
Alle diese Ansätze erscheinen statistisch-methodisch undurchsichtig, beruhen teilweise auf
heroischen Annahmen und beziehen sich meist auf die medizinisch eher unproblematische
Generikasubstitution. Im Vergleich dazu basiert der von Bertram Häussler/Ariane Höer/Elke
Hempel vom Institut für Gesundheits- und Sozialforschung (IGES) herausgegebene Arzneimittel-Atlas (AM-Atlas 2006 ff.) auf umfassenden GKV-Routinedaten für 95 Indikationsgruppen einschließlich Impfstoffe und Diagnostika und gewinnt die Ergebnisse zum ESV als
Cassel/Ulrich
7
Desiderat einer differenzierten Analyse des Arzneimittelverbrauchs. 3 Methodisch besteht ihr
Kern in einer Komponentenzerlegung in insgesamt 10 Einflussfaktoren auf die jährlichen
Entwicklung des GKV-Arzneimittelverbrauchs auf Basis von Tagesdosen (DDD), wobei die
Medikamente nach Indikationsgruppen unterschiedlichen, aus medizinischer Sicht nicht
substituierbaren Warenkörben zugeordnet werden (AM-Atlas 2012, S. 412 ff.). Hierdurch
wird es möglich, z. B. Verbrauchsverschiebungen und ihre Ausgabeneffekte zwischen Therapieansätzen, Wirkstoffen, Darreichungsformen und Packungsgrößen sowie die Substitution
durch Generika und Importe separat zu erfassen. Schließlich lassen sich auch die Ausgabenwirkung von Preisänderungen beziffern, so dass daraus ein recht differenziertes Bild von
Einsparungen ableitbar ist. So kommt der Arzneimittel-Atlas 2012 für das Jahr 2011 unter
Berücksichtigung aller Abschläge und Rabatte von Herstellern und Apotheken – d. h. auf
Basis von Erstattungspreisen – zu einem ESV in Höhe von gut -2,4 Mrd. Euro (AMAtlas 2012, S. 10 ff.). Davon gingen allein -1.763,5 Mio. auf das Konto gesunkener Arzneimittelpreise, während die Generikasubstitution wegen der inzwischen bereits hohen
Generikaquote nur noch -350 Mio. erbrachte. Der Wechsel zu preiswerteren Herstellern
führte zu -142,5 Mio., die Verordnung größerer Packungen erbrachte -65,7 Mio. Euro und
preisgünstige Parallelimporte -105,3 Mio. Alle anderen Komponenten – darunter insbesondere der gestiegene, in DDD gemessene Verbrauch (968,1 Mio. Euro) sowie die Verschiebung zwischen Wirkstärken (34,1 Mio. Euro), Therapieansätzen (321,7 Mio. Euro) und
Analoga (104,4 Mio. Euro) – trugen in der genannten Höhe zu Mehrausgaben bei.
Der Vorteil dieser Methodik besteht vor allem darin, dass das ESV retrospektiv als (zeitraumbezogene) Stromgröße in Form der innerhalb eines Jahres tatsächlich erzielten Ausgabenverringerung ermittelt wird, ausschließlich auf statistischen Ex-post-Daten beruht und getrennt
nach pragmatisch relevanten Ausgabenkomponenten berechnet werden kann. Schwachpunkte bestehen allerdings in zweierlei Hinsicht: zum einen darin, dass ein zunehmender
Verbrauch höchst unkritisch als in jedem Falle medizinisch indiziert angesehen wird, und
zum anderen darin, dass nur die betragsmäßige Verringerung der Komponenten (negatives
Vorzeichen) als Einsparung gilt, nicht aber auch ein durchaus möglicher Minderanstieg im
Vergleich zu einem entsprechenden ex ante erwarteten Betrag.
Berechnung von Einsparpotenzialen (ESP)
Einsparpotenziale sollen als Bestandsgröße die in einem bestimmten Zeitpunkt vorhandene
absolute Höhe der Unwirtschaftlichkeit und die sich daraus ergebenden Wirtschaftlichkeitsbzw. Effizienzreserven angeben (Rürup et al. 2009,2, S. 103). Die ESP-Berechnung basiert
zwar ebenfalls auf statistischen Ex-post-Daten, ist aber insofern prospektiv, als sie notwendigerweise hypothetische Annahmen zur Möglichkeit therapeutischer oder preislicher
Substitution von Arzneimitteln impliziert, verbunden mit der Zielsetzung, diese auch zur Erzielung von Einsparungen pragmatisch zu nutzen.
3
Der AM-Atlas (AM-Atlas 2006, S. 9 ff. und S. 234 ff.; Häussler 2006) versteht sich seit seinem ersten
Erscheinen im Jahr 2006 methodisch und inhaltlich als Alternative zu dem von Ulrich Schwabe/Dieter
Paffrath unter Mitarbeit des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) seit 1985 herausgegebenen Arzneiverordnungs-Report (AVR 1985 ff.). Hieraus hat sich eine heftige „Methodenkontroverse“
ergeben, aus der sich wichtige Hinweise zu den analytischen Gemeinsamkeiten und Unterschieden
beider Reporte entnehmen lassen (Häussler/Höer 2006; Schröder et al. 2007). Die Kontroverse wird
weiter unten in Abschnitt 2.1 aufgegriffen.
Cassel/Ulrich
8
Ein Beispiel dafür sind die im Vorfeld des GKV-Modernisierungsgesetzes (GMG) von 2003 von
Uwe May/Jürgen Wasem (2003) vorgelegten Modellrechnungen für mögliche Einsparungen
durch Selbstmedikation bei geringfügigen Gesundheitsstörungen. Die ESP-Berechnung
basiert auf der Prämisse, dass die apothekengestützte Selbstmedikation mit nicht rezeptpflichtigen bzw. frei verkäuflichen Arzneimitteln – den so genannten OTC-(Over-the-Counter-)
Präparaten 4 – hinsichtlich ihres therapeutischen Nutzens der Arzttherapie mit verordneten
OTC-Präparaten ebenbürtig ist. Da die Selbstversorgung mit Arzneimitteln im Vergleich zu
nicht rezeptpflichtigen, aber gleichwohl ärztlich verordneten Medikamenten (OTX) unter
dieser Prämisse offensichtlich die ökonomisch effizientere Pharmakotherapie ist, lassen sich
durch verstärkte Selbstmedikation Einsparungen erzielen. Immerhin wurden 2002 noch
30,1 % der abgegebenen OTC-Packungen mit einem Umsatzanteil von 41 % zu Lasten der
GKV verordnet. Hieraus ergab sich unter Berücksichtigung der klinischen Ergebnisparameter
ein Substitutionsvolumen von 100 Mio. Packungen und ein ESP von fast 15 Mrd. Euro.
Obwohl von den Autoren nicht intendiert oder gar gefordert (May/Wasem 2003, S. 27),
wurden mit Wirkung zum 01.01.2004 die OTC-Präparate – mit Ausnahmen der vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) in den Arzneimittel-Richtlinien (AMR) festgelegten
Ausnahmen – durch das GMG von der Erstattungspflicht in der GKV ausgenommen, so dass
die Motivation zur Verschreibung derartiger Produkte zu Lasten der Kassen entfiel und der
Weg für eine verstärkte Selbstmedikation auf Kosten der Patienten frei war.
Während es bei dieser Berechnung unter dem Vorwand der „Stärkung von Subsidiarität und
Eigenverantwortung der Patienten“ letztlich um die Frage ging, welches ESP die Aufhebung
der Erstattungsfähigkeit bei OTX-Präparaten für die GKV-Solidargemeinschaft haben würde,
setzen sich Fallstudien zur medizinischen Optimierung durch Wirkstoffsubsubstitution,
Dosisanpassungen, Verfahrensänderungen usw. zum Ziel, die daraus resultierenden Einsparmöglichkeiten zu beziffern. So wird z. B. in einem kürzlich erschienenen Beitrag von Florian
Meier/Antonis Kontekakis/Oliver Schöffski (2012) zu quantifizieren versucht, wie hoch das
ESP ist, wenn bei den 10 umsatzstärksten ATC-Gruppen individuelle Dosisanpassungen an
die Genausprägung aufgrund von Geninformationen im Cytchrom P450 vorgenommen und
damit unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) vermieden werden. Die methodisch
aufwendige, aber transparente ESP-Berechnung versteht sich als Beitrag zur pharmaökonomischen Bewertung der personalisierten Medizin, der generell eine stark expandierende
Marktbedeutung und wachsende Einsparreserven zugeschrieben werden (Laufs 2011). Ohne
Berücksichtigung der pharmakogenetischen Testkosten von 100 Euro bzw. 300 Euro könnten
allein in zwei Fällen defekter Metabolisierung – bei so genannten Intermediate Metabolizern
(IM) und Poor Metabolizern (PM) – in den 10 umsatzstärksten ATC-Gruppen 211,8 Mio. Euro
durch Dosisanpassung für die Dauer der Langzeitanwendung eingespart werden. Ernüchternd wird abschließend jedoch festgestellt, dass die Dosisanpassung bei Berücksichtigung
von Testkosten in Höhe von 100 Euro nur bei zwei ATC-Gruppen (Psycholeptika und Immunsuppressiva), bei 300 Euro aber in keiner der untersuchten Gruppen wirtschaftlich wäre und
somit auch kein ESP mehr böte.
Auch werden gelegentlich breiter angelegte ESP-Berechnungen für epidemiologisch relevante und ökonomisch bedeutsame Erkrankungen vorgenommen. Dabei wird geschätzt,
welche Einsparungen sich insbesondere bei chronischen Krankheiten durch eine optimale,
4
Diesbezüglich unterscheidet man folgende Kategorien: verschreibungs- bzw. rezeptpflichtige (RX),
freiverkäufliche bzw. rezeptfreie (OTC) und freiverkäufliche, aber ärztlich verordnete Präparate
(OTX).
Cassel/Ulrich
9
d. h. integrative, innovative und vor allem rechtzeitig einsetzende Pharmakotherapie erzielen ließen. Indem verhindert wird, dass Krankheiten nicht oder erst deutlich später fortschreiten oder gar eskalieren, könnten z. B. stationäre Behandlungen verringert, die Dauer
der Arbeitsunfähigkeit verkürzt oder Pflegeleistungen reduziert werden. Aufgrund einer
Auswertung internationaler Studien für den Verband Forschender Arzneimittelhersteller
(vfa), deren Ziele, Methodik und Vorgehensweise allerdings nicht transparent gemacht
werden, sieht sich z. B. Matthias P. Schönermark (2010) in der Lage, den gesamtwirtschaftlichen Schaden einerseits und die Einsparmöglichkeiten durch Optimierung der Versorgung
– einschließlich innovativer Pharmakotherapie – andererseits bei fünf so genannten Volkskrankheiten anzugeben (Tabelle 1). Allein hieraus „erahnt“ er ein ESP für das Gesamtsystem
in Höhe von mehr als 9 Mrd. Euro.
Tabelle 1: Gesamtwirtschaftliche Potenzialschätzung bei prävalenten Krankheiten
Quelle: Schönermark 2010, S. 17.
ESP-Berechnungen des AVR und BARMER GEK Arzneimittelreports
Hieraus wird deutlich, dass ESV- und ESP-Berechnungen nicht nur statistisch-methodisch
recht unterschiedlich sind, sondern je nach Fragestellung auch ganz verschiedene Sachverhalte beinhalten. Das Ergebnis sind zwar eingesparte bzw. einzusparen gewünschte Geldbeträge, aber diese können z. B. aus Verordnungseinschränkungen, therapeutischen Effektivitätssteigerungen, medizinisch-pharmazeutischen Fortschritten oder die Vermeidung von
Krankheitsfolgekosten resultieren. Die in Deutschland periodisch erscheinenden Verordnungs- bzw. Verbrauchsreporte sind jedoch bezüglich der Einsparungen in der GKV-Arzneimittelversorgung auf den Nachweis vermiedener bzw. vermeidbarer Ausgaben durch
Substitution hochpreisiger bzw. kostspieliger Arzneimittel durch günstigere Alternativen
fokussiert.
In dieser Doppelfunktion führend sind derzeit der Arzneiverordnungs-Report (AVR 1985 ff.)
und der GEK- bzw. BARMER GEK Arzneimittelreport. Um mehr Transparenz in das Verordnungsgeschehen zu bringen und vermutete Wirtschaftlichkeitsreserven besser lokalisieren und vor allem beziffern zu können, hat die GKV-Selbstverwaltung schon 1980 das
Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) mit der Erstellung eines GKV Arzneimittelindex
betraut, aus dem 1985 der AVR hervorgegangen ist. Er erscheint seitdem jährlich und wird
von Ulrich Schwabe (Universität Heidelberg) und Dieter Paffrath (AOK NORDWEST) herausgegeben. Die quantitative Analyse liegt nach wie vor beim WIdO und basierte bis zum Jahr
Cassel/Ulrich
10
2000 auf einer repräsentativen Stichprobe und seitdem auf einer Vollerhebung von GKVVerordnungsdaten.
Im Jahr 2000 erschien dann unter der Federführung von Gerd Glaeske (Universität Bremen)
erstmals der GEK-Arzneimittel-Report (GEK 2000-2009), der seit 2010 als BARMER GEK
Arzneimittelreport (BARMER GEK 2010 ff.) von Gerd Glaeske und Christel Schicktanz (Universität Bremen) als Herausgeber weitergeführt wird. Ihnen liegen die Verordnungsdaten
der Gmünder Ersatzkasse und – nach deren Zusammengehen am 01.01.2010 mit der Barmer
Ersatzkasse zur nun größten Krankenkasse Deutschlands – die Daten der vereinigten
BARMER GEK zugrunde.
Seit 2006 erscheint dann noch im Auftrag des Verbands der Forschenden Arzneimittelhersteller (vfa) unter der Federführung von Bertram Häussler (IGES / Technische Universität
Berlin) der Arzneimittel-Atlas (AM-Atlas 2006 ff.). Wie der AVR, basiert auch er auf GKVRoutinedaten, geht jedoch methodisch andere Wege und berechnet fortlaufend auch keine
Einsparpotenziale. Und soweit sich der SVR KAiG (2000/2001,2, S. 22 ff.) bzw. SVR G (2005,
S. 572 ff.) gutachterlich mit Einsparpotenzialen befasst haben, legen sie keine eigenen ESPBerechnungen vor, sondern stützen sich primär auf die Ergebnisse des AVR.
AVR und BARMER GEK Report verfolgen beide das Ziel, die Verordnungen von erstattungsfähigen Präparaten qualitativ und quantitativ zu analysieren, um ihre Auftraggeber und die
politischen Entscheidungsträger, aber auch Ärzte und Patienten über die Struktur und Entwicklung des Verbrauchs von Medikamenten zu informieren sowie medizinisch-pharmazeutische Trends und bestehende Ineffizienzen aufzuzeigen. Um die Versorgungsrealität
zeitnah und möglichst verzerrungsfrei abbilden zu können, verwenden sie für die Arzneimittel-Klassifikation dasselbe ATC-System (Anatomical, Therapeutic, Chemical Code) mit
definierten Tagesdosen (DDD – Defined Daily Doses) und in etwa die gleichen Marktsegmente (AVR 2011, S. 963 ff.; BARMER GEK 2012, S. 36 ff.). Wesentliche Unterschiede bestehen jedoch in vierfacher Hinsicht:
•
Erstens sind die BARMER GEK-Ergebnisse kassenspezifisch und nicht repräsentativ für
die GKV insgesamt, weil sich die Versichertenpopulation dieser Krankenkasse in
relevanten Aspekten (z. B.: Geschlechterverhältnis, Durchschnittsalter, Regionalverteilung) von der der GKV unterscheidet und auf eine Hochrechnung auf GKV-Ebene
verzichtet wird.
•
Zweitens verwendet der BARMER GEK-Report hinsichtlich der unterstellten Arzneimittelsubstitution mittels DDD-Durchschnittskosten und Berücksichtigung verschiedener Wirkstärken, Packungsgrößen, Darreichungsformen und Preisständen
eine vom AVR abweichende Methodik, die ergebnisrelevant ist.
•
Drittens werden die im BARMER GEK-Report genannten ESP nicht aufgrund eines erkennbaren Algorithmus errechnet, sondern haben weitgehend den Charakter von
groben Schätzungen – teilweise mit Bandbreiten –, die gleichwohl unter den kassenspezifischen Verordnungsgegebenheiten plausibel erscheinen.
•
Viertens bestehen in den Arzneimitteldaten zwischen den Reporten der GEK / BARMER GEK statistische Brüche. Zudem fehlen in den einzelnen Jahrgängen systematische bzw. vollständige Angaben zu den ESP in den einzelnen Arzneimittelgruppen, die ebenfalls zeitliche Längsschnitt-Vergleiche und damit die Erkennung von
Entwicklungstrends erschweren bzw. unmöglich machen.
Cassel/Ulrich
11
Schon daraus ergeben sich für den AVR gewisse Alleinstellungsmerkmale, die in der öffentlichen Wahrnehmung auf ein institutionelles Angebotsmonopol zur Berechnung von Einsparpotenzialen im GKV-Arzneimittelverbrauch hinauslaufen, ohne dass damit ein Qualitätsurteil über den AVR oder alternative Werke verbunden wäre.
In den nachfolgenden Tabellen 2 und 3 findet sich eine Zusammenstellung der in den beiden
Reporten regelmäßig angegebenen ESP, getrennt nach Arzneimittel-(AM-)Gruppen sowie
berechnet als prozentualer Anteil ihrer Summe an den jeweiligen Arzneimittelausgaben
(AMA) bzw. Arzneimittelumsätzen (AMU). Wie die Daten für die vormalige GEK erkennen
lassen, nimmt ihr ESP absolut wie auch als Anteil an den AMA von 2005-2008 kontinuierlich
ab. Angesichts des verstärkten Einsatzes vielfältiger Instrumente zur Generika- und AnalogaSubstitution im letzten Jahrzehnt (Cassel/Wille 2009, S. 85 ff.; Cassel/Ulrich 2012, S. 56 ff.)
erscheint die absolute und relative Abnahme des ESP recht plausibel. Leider sind die Angaben für die Zeit danach wegen der Vereinigung von GEK und Barmer Ersatzkasse zur
BARMER GEK wenig aussagefähig: Zwischen 2008 und 2010 macht der ESP-Anteil an den
Arzneimittelausgaben einen kaum zu erklärenden Sprung von 4,9 % auf 7,7 % und steigt
danach sogar auf 10,0 % (2011). Immerhin bleibt er damit noch vergleichsweise moderat
(Tabelle 2, letzte Zeile).
Nach Angaben des AVR nehmen die ESP im nationalen Preisvergleich (nPV) 5 absolut und
prozentual zwar von 2005-2007 ebenfalls ab, steigen aber danach wieder merklich an und
erreichen 2010 mit rund 4,7 Mrd. Euro bzw. einem AMU-Anteil von 15,7 % wieder einen vorTabelle 2: Einsparpotenziale der GEK / BARMER GEK bei Arzneimitteln
in den Jahren 2005-2011 (in Mio. Euro)
Legende: Die ESP-Berechnungen erfolgen von 2005-2008 aufgrund der Arzneimitteldaten der GEK Gmünder Ersatzkasse, von 2009-2011 der fusionierten BARMER GEK. Die Routinedaten beziehen sich
auf die Apothekenverkaufspreise (AVP) incl. Mehrwertsteuer (MWSt).
AM-Gruppen (nach GEK 2006, S. 54 und S. 72): Generika – Präparate mit identischem Wirkstoff wie
das Original; Analoga – Präparate mit modifiziertem Wirkstoff (mit Me-too-Präparaten bzw. Scheininnovationen gleichgesetzt).
AM – (Fertig-)Arzneimittel; AMA – Arzneimittelausgaben; ESP – Einsparpotenzial; * - incl. Reimporte;
** - oberster Wert der jeweils angegebenen Bandbreite bei einer angestrebten Erhöhung der
Generikaquote von aktuell 73 % auf 85 %; - keine Angaben verfügbar.
Quelle: Zusammenstellung und eigene Berechnungen nach GEK 2006-2009 / BARMER GEK 20102012, verschiedene Kapitel.
5
Auf die neuerdings vom AVR berechneten ESP im internationalen Preisvergleich (iPV) wird erst
später in Abschnitt 2.4 eingegangen.
Cassel/Ulrich
12
Tabelle 3: Einsparpotenziale der GKV bei Arzneimitteln in den Jahren 2000-2010
nach Berechnungen des AVR (in Mrd. Euro)
Legende: Die ESP-Berechnungen erfolgen aufgrund der GKV-Arzneimitteldaten auf der Basis von
Apothekenverkaufspreisen (AVP), im nPV einschließlich MWSt. Beim iPV mit Schweden (2009) enthalten die AVP auf der Produktebene die MWSt, das ESP wird aber anschließend mehrwertsteuerfrei
ausgewiesen. Der iPV mit Großbritannien (2010) wie auch der ESP-Ausweis ist ohne MWSt.
AM-Gruppen: Generika und Analoga siehe Legende der Tabelle 2; Umstrittene – AM mit nicht oder
nicht hinreichend nachgewiesener Wirksamkeit; Geschützte – AM mit patentgeschützten Wirkstoffen.
AM – Arzneimittel; AMU – GKV-Fertigarzneimittelumsatz; ESP – Einsparpotenzial; iPV – internationaler Preisvergleich (in 2009 mit SE – Schweden; in 2010 mit GB – Großbritannien); nPV – nationaler
Preisvergleich; - keine Angaben verfügbar.
Quelle: Eigene Zusammenstellung nach AVR / Schwabe 2001-2011, Tabellen 1.1, 1.8 und 1.10.
läufigen Höhepunkt.6 Dies gilt insbesondere auch unter Berücksichtigung der ESP aus umstrittenen Arzneimitteln, die seit 2005 betragsmäßig stagnieren, aber anteilmäßig kontinuierlich von 2,7 % auf 1,9 % in 2010 sinken. Bemerkenswert ist aber vor allem, dass die vom
AVR angegebenen prozentualen ESP-Anteile im Vergleich zur GEK / BARMER GEK mit und
ohne Herausrechnung der „Umstrittenen“ durchweg signifikant höher und teilweise – wie z. B.
in 2008 – sogar doppelt so hoch sind. Dies ist jedoch nicht allein mit den Besonderheiten der
GEK / BARMER GEK (z. B. unterschiedliche Versichertenpopulation im Vergleich zur GKV) und
der unterschiedlichen Basis zur Berechnung der ESP-Anteile (AMA bzw. AMU) erklärbar.
6
Das ESP ändert sich als Bestandsgröße immer dann, wenn seine Determinanten signifikant zu- oder
abnehmen. Zu einer Zunahme des ESP kann es z. B. immer dann kommen, wenn die Bereitschaft zur
Generikasubstitution allgemein zurückgeht, wieder mehr teure, aber rabattierte Generika verordnet
werden oder überdurchschnittlich viele Originale mit großer Marktbedeutung (so genannte Blockbuster) ihren Patentschutz verlieren und durch Generika substituiert werden können. Dafür ist
jedoch keine Evidenz erkennbar, so dass der im AVR seit 2008 ausgewiesene ESP-Anstieg erklärungsbedürftig bleibt.
Cassel/Ulrich
13
Ein Blick hinter die methodischen Kulissen lässt vielmehr ergebnisrelevante Unterschiede in
den Verfahrensweisen bei der unterstellten Arzneimittelsubstitution insbesondere im
generikafähigen Markt vermuten. So zeigen Matthias S. Pfannkuche et al. (2007) vier methodische Substitutionsvarianten auf und berechnen deren ESP-Effekte am Beispiel von omeprazolhaltigen Verordnungen auf Grundlage von Arzneimitteldaten der GEK für das Jahr 2005
(GEK 2006, S. 65 ff.).
Ausgangspunkt der Überlegung ist der bekannte Sachverhalt, dass die Tagestherapiekosten
(in Euro pro DDD) auch maßgeblich von der verordneten Wirkstärke und Packungsgröße abhängen. Denn Packungen, die eine größere Menge an DDD enthalten – z. B. mehr Tabletten
oder einen höheren Wirkstoffgehalt pro Tablette –, sind in der Regel preis- bzw. kostengünstiger als kleinere Packungen, weichen also vom Durchschnitt nach unten ab (Pfannkuche et al. 2007, Tabelle 2, S. 4). Werden nun wie üblich Präparate nach DDD-Durchschnittskosten substituiert, bleiben derartige Unterschiede unberücksichtigt.7 Im Vergleich
zur Substitution eines Präparates durch ein Austauschpräparat (Substituent) mit jeweils der
gleichen Wirkstärke und Packungsgröße wie das ausgetauschte Medikament, kommt es deshalb systematisch zu verzerrten Berechnungsergebnissen, die die Preis- und Verordnungsrealität nicht adäquat abbilden.
Wie aus Übersicht 1 hervorgeht, ist die Substitution über DDD-Durchschnittskosten (Methodik 1) zwar einfach zu berechnen, ergibt aber im Falle der Omeprazol-Präparate mit rund.
204 Tsd. Euro das vergleichsweise größte Einsparpotenzial für die GEK. Dabei wird unterstellt, dass das am meisten verordnete und relativ teure Omeprazol-Präparat Omep mit
einem Durchschnittspreis von 1,06 Euro je DDD vollständig durch Omeprazol AbZ mit einem
Durchschnittspreis von 0,92 Euro je DDD ersetzt wird. Bezüglich aller omeprazolhaltigen
Verordnungen hätte die GEK 2005 nach dieser Methodik mit einem ESP von rund 741 Tsd.
Euro und einem Anteil an ihren Omeprazol-Ausgaben von 13,1 % rechnen können. Der AVR
hat das ESP für diese Wirkstoffgruppe ebenfalls berechnet und kommt für die gesamte GKV
auf einen ESP-Anteil des Umsatzes von 12,6 % (2005) bzw. 14,9 % (2006) – und damit auf
vergleichbare Werte (Schröder 2008, S. 28). Es ist somit naheliegend anzunehmen, dass der
AVR auch eine vergleichbare Berechnungsmethode angewandt hat.
Werden nun nacheinander noch unterschiedliche Wirkstärken (Methodik 2) sowie verschiedene Packungsgrößen und Darreichungsformen (Methodik 3) in die Beispielsrechnung
einbezogen, zeigt sich im Ergebnis, dass die berechneten ESP quantitativ immer geringer
ausfallen (Übersicht 1, Spalten 3 und 4 unten). Dadurch wird evident, dass die Verzerrungen,
die sich aus der Beschränkung auf Substitutionen über die DDD-Durchschnittskosten ergeben, umso mehr abgebaut werden, je differenzierter die Vorgehensweise ist und je besser
7
Das ESP errechnet sich jeweils wie folgt: DDD-Verordnungsmenge des zu substituierenden
Präparats, multipliziert mit der Differenz aus seinem DDD-Preis und dem DDD-Preis des Austauschpräparats (Substituent). Die Ergebnisunterschiede resultieren im Falle der Omeprazol-Präparate aus
der Abweichung der Durchschnittspreise pro DDD (1,06 Euro beim zu substituierenden Präparat
Omep und 0,92 Euro beim preisgünstigsten Substituent Omeprazol AbZ) von den DDD-Preisen z. B.
einer 100er Packung mit der Wirkstärke von 20 mg pro Tablette (1,02 Euro bei Omep und 0,96 Euro
beim billigsten Substituent Omeprazol-Biomo). Bei Substitution nach DDD-Durchschnittskosten könnten somit 0,14 Euro pro DDD, nach den DDD-Kosten bei gleicher Packungsgröße aber nur 0,06 Euro
pro DDD eingespart werden. Multipliziert mit den DDD-Verordnungsmengen folgt daraus, dass die
beiden Berechnungen zu stark divergierenden ESP führen müssen.
Cassel/Ulrich
14
Übersicht 1: Berechnungsmethoden von Einsparpotenzialen im Vergleich
Legende: Berechnungen am Beispiel von Routinedaten der vormaligen Gmünder Ersatzkasse (GEK)
für den Wirkstoff Omeprazol.
Methode 1 – Substitution über DDD-Durchschnittskosten.
Methode 2 – Methode 1 unter Berücksichtigung von verschiedenen Wirkstärken.
Methode 3 – Methode 2 unter zusätzlicher Berücksichtigung von Packungsgrößen und Darreichungsformen.
Methode 4 – Substitution unter Berücksichtigung von verschiedenen Wirkstärken, Packungsgrößen,
Darreichungsformen und der 14-tägigen Preisstände.
AV – Außer Vertrieb; DDD – Defined Daily Dose; ESP – Einsparpotenzial; PZN – Pharmazentranummer; RW – Rückruf.
Quelle: Modifiziert nach Pfannkuche et al. 2007, S. 8.
damit die Preis- und Verordnungsrealität abgebildet wird. Dies lässt sich schließlich noch
verbessern, wenn als Substituenten die zum Verordnungszeitpunkt jeweils preisgünstigsten
Präparate bei Berücksichtigung von Wirkstärke, Packungsgröße, und Darreichungsform zum
Zuge kommen (Methodik 4). 8
8
Der Effekt lässt sich an einem hypothetischen Fallbeispiel verdeutlichen: Angenommen, eine ESPAnalyse werde nach Methodik 1 zum Preisstand vom 31.12.2011 für 2011 durchgeführt. Am
15.12.2011 sei das Originalpräparat patentfrei geworden und am gleichen Tag seien mehrere
Cassel/Ulrich
15
Diese Vorgehensweise ist allerdings sehr aufwendig, weil sie zusätzlich zu den anderen
Parametern auch noch die produktspezifischen Preisstände in kürzeren zeitlichen Abständen
benötigt. Sie sei jedoch insofern als „Goldstandard“ anzusehen, als sie mit Blick auf die gewünschte Ausschöpfung des ESP der Wirklichkeit am nächsten komme und die vergleichsweise wenigsten Annahmen benötige (Pfannkuche et al. 2007, S. 5). Allerdings generiert sie
auch die mit Abstand geringsten ESP: Im Falle Omeprazol, einem relativ häufig verordneten
und dementsprechend ausgabenstarken Wirkstoffe (AVR 2011, S. 21), hätte sich für die GEK
in 2005 eine Einsparmöglichkeit von nur noch rund 165 Tsd. Euro bzw. von 2,9 % ihrer
Omeprazol-Ausgaben ergeben (Übersicht 1, letzte Spalte unten). Das sind nur noch rund
22 % des ESP nach Methodik 1.
1.3
Beliebigkeit von Methoden und Berechnungsergebnissen
Damit wird die Methodenfrage zwangsläufig zum Politikum. Wie in anderen Wirtschafts- und
Versorgungsbereichen, ist auch bei der Arzneimittelverwendung eine effiziente Allokation
der knappen Ressourcen erwünscht. Besteht unter den Bedingungen einer sozialen Krankenversicherung aber ein so weitgehendes Marktversagen, dass sich der Staat in Erwartung
besserer Ergebnisse genötigt sieht, regulierend einzugreifen (Schlander/Jäcker/Völkl 2012, S.
A526), braucht er dafür verlässliche Informationen über Vorhandensein und Ausmaß von
Ineffizienzen, um den Arzneimittelverbrauch adäquat steuern zu können. An vorderster
Stelle stehen dabei Einsparpotenziale: Sie sollen indikations- und wirkstoffbezogene Informationen darüber liefern, an welcher Stelle, in welcher Form und vor allem in welcher
Größenordnung Unwirtschaftlichkeiten bestehen und wie hoch die in Geld ausgedrückten
Einsparmöglichkeiten zu veranschlagen sind. Dazu ist erforderlich, dass sie „realistisch“ in
dem Sinne sind, dass sie mit geeigneten gesundheits- und wirtschaftspolitischen Instrumenten auch tatsächlich nutzbar sind.
Deshalb sollte das methodische Vorgehen bei der ESP-Berechnung so angelegt sein, dass
nachfrageseitig das pharmakotherapeutische Verordnungsgeschehen und angebotsseitig die
Entwicklungsdynamik des Arzneimittelmarktes durch die notwendigen Annahmen und einbezogenen Parameter adäquat, d. h. möglichst realitätsnah abgebildet werden. Dem entspricht von den oben skizzierten vier Methoden die Methodik 4 zweifellos am besten: Sie
gewährleistet, dass Verordnungsfrequenzen, Wirkstärken, Packungsgrößen und Darreichungsformen berücksichtigt werden. Vor allem aber wird die Preisdynamik im Generikamarkt, die durch das Festbetragssystem, Aut-idem-Verordnungen, kassenindividuelle Rabattverträge und Zuzahlungsbefreiungen bei besonderen Generikarabatten stark zugenommen
hat und ständig Preisveränderungen nach sich zieht (Cassel et al. 2008, S. 181 ff.), kontinuierlich nachverfolgt. Hierdurch könnte vermieden werden, dass stattdessen ein methodischer „Nirwana-Ansatz“ verfolgt wird und die ESP zu pragmatisch unbrauchbaren Artefakten mutieren.
Generika mit einem um 50 % niedrigeren Preis eingeführt worden. Das Original wurde annahmegemäß von Anfang Januar bis Mitte Dezember 2011 zum Preis von 100 Euro 115 mal verordnet. Auf
die Generika soll dann in der zweiten Dezemberhälfte per Annahme ein Marktanteil von 100 % = 5
Verordnungen entfallen sein. Methodik 1 behandelt diese Situation nun so, als ob die Generika am
01.01.2011 auf den Markt gekommen wären und ermittelt demzufolge ein ESP von 5.750 Euro, obwohl tatsächlich keine Einsparmöglichkeit bestand. Methodik 4 würde dagegen in diesem Beispiel
korrekterweise kein ESP ausweisen.
Cassel/Ulrich
16
Wie sensitiv die Berechnungsergebnisse auf unterschiedliche Methoden reagieren, konnte
bereits am Omeprazol-Beispiel gezeigt werden: Würde die GEK statt des „Goldstandards“
(Methodik 4) die zwar leichter anwendbare und weniger aufwendige, dafür aber irreführende Methodik 1 angewandt haben, hätte sie bei ihrer Strategieplanung zur Optimierung der Pharmakotherapie von einem viereinhalb mal so hohen ESP ausgehen können
(Übersicht 1, Spalten 2 und 5 unten). Ob dies der GEK – außer der Enttäuschung hochgespannter Erwartungen bezüglich der erzielbaren Einsparungen – etwas gebracht hätte,
darf bezweifelt werden, wäre aber auch als kassenindividuelle Episode nicht systemrelevant.
Anders dagegen eine GKV-weite ESP-Berechnung: Hier hätte allein beim Wirkstoff
Omeprazol nach Daten aus 2005 statt eines ESP in Höhe von 12 Mio. Euro (Methodik 4) ein
Einsparvolumen von 54 Mio. Euro (Methodik 1) zur Diskussion gestanden (Pfannkuche et al.
2007, S. 7) – mit allen Konsequenzen für den daraus resultierenden Handlungsdruck auf
Gesundheitspolitik und Selbstverwaltung.9
Vor diesem Hintergrund erscheinen die in diesem Abschnitt vorgestellten Ansätze und Ergebnisse in einem eher gedämpften Licht: Erstens wird nicht immer klar zwischen dem Ausweis von tatsächlich erzielten Einsparvolumina (ESV) und den hypothetisch bzw. theoretisch
vorhandenen Einsparpotenzialen (ESP) unterschieden. Zweitens können in diesen beiden
Konzepten ganz unterschiedliche Sachverhalte Gegenstand der empirischen Analyse sein, die
methodisch von anekdotischer Evidenz über systematische qualitative Einschätzungen bis
hin zu modellgestützten quantitativen Berechnungen reicht. Drittens liegen die Ergebnisse
auf verschiedenen Aggregationsstufen und sind weder in gleicher Weise repräsentativ noch
miteinander vergleichbar. Und viertens schließlich liegen den Berechnungen meist Apothekenverkaufspreise (AVP) ohne Berücksichtigung der immer umfangreicheren Rabatte
sowie stark divergierende Umsatz-, Ausgaben- und Erstattungskonzepte zugrunde. Umso
wichtiger ist es, dass die jeweiligen Studien und ihre Ergebnisse hinsichtlich ihrer Zielsetzungen, Methoden, Modelle und Prämissen transparent und nachvollziehbar sind. Das ist
nötig, um ihre empirische und pragmatische Relevanz beurteilen zu können und den Eindruck zu vermeiden, die Berechnungsverfahren und -ergebnisse seien letztlich beliebig und
demzufolge praktisch irrelevant.
Von daher gesehen ist es zu begrüßen, dass die Autoren des GEK / BARMER GEK Arzneimittelreports die von ihnen angewandte Methodik 4 anwenden und offensiv kommunizieren
(Pfannkuche 2007; 2009; Pfannkuche/Hoffmann/Glaeske 2008). Dagegen bleibt die Vorgehensweise des AVR – trotz der mit dem AM-Atlas um die Zerlegung der Strukturkomponente
geführten Methodenkontroverse (siehe oben Fn 3) – insbesondere hinsichtlich der Kriterien,
die bei der Arzneimittelsubstitution unterstellt werden und die in hohem Maße ergebnisrelevant sind, weitgehend intransparent (Schröder et al. 2007; Schröder 2008). Allem Anschein nach verwendet der AVR hierbei die Methodik 1. Wie gezeigt, sind hiernach aber die
ESP systematisch verzerrt und können unrealistisch hoch ausfallen. Anders wäre nicht zu
9
Nach GKV-Fertigarzneimittelumsätzen (AMU) berechnet der AVR für 2005 ein ähnlich großes
Omeprazol-ESP in Höhe von 52 Mio. Euro bzw. 12,6 % des AMU (AVR 2005, Tabelle 1.4, S. 19) – und
sogar 65,6 Mio. Euro bzw. 14,9 % für 2006 (AVR 2007, Tabelle 1.4, S. 20). Die öffentliche Aufmerksamkeit für derartige Zahlen wird dadurch garantiert, dass die vom AVR berechneten ESP inzwischen
nicht nur selbstverwaltungsintern bei Kassen- und Ärzteverbänden, sondern auch für den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) als untergesetzlichem Normgeber und den Sozialgesetzgeber
selbst handlungsleitend sind.
Cassel/Ulrich
17
erklären, warum der Anteil des ESP an den Arzneimittelumsätzen im GKV-System ständig so
viel höher sein soll als in der GEK / BARMER GEK.
2
Potenzialberechnungen des Arzneiverordnungs-Reports (AVR)
2.1
Berechnungsgrundlagen und Berechnungsmethoden
Die Berechnung eines konkreten Einsparpotenzials durch die Substitution verordneter
Arzneimittel mit vermeintlich (preis-)günstigeren Produkten ist eine komplexe Analyse, die
– je nach Intention – verschiedene Annahmen und Abstraktionen unterstellt. Zunächst kann
eine Unterscheidung getroffen werden, ob ESP bei patentgeschützten Arzneimittel, bei
generikafähigen Wirkstoffen, bei Analogpräparaten oder bei umstrittenen Arzneimitteln
untersucht werden.
Einsparung durch Substitution klingt bei patentgeschützten Arzneimitteln zunächst nach
einer contradictio in adjecto, da es hierfür definitionsgemäß keine bzw. nur wenige
Substitutionsmöglichkeiten durch Analogpräparate oder durch eine generische Leitsubstanz
gibt. Der AVR ist daher auch das einzige Rechenwerk, das hier eine Berechnung unter Zugrundelegung ausländischer Preise bzw. internationaler Vergleichspreise (iVP) der jeweiligen
Präparate vornimmt und dabei unterstellt, dass diese auch in Deutschland zur Anwendung
kommen. Allgemein üblich ist dagegen die Berechnung von ESP durch Generikasubstitution,
d. h. den Austausch patentfreier und meist hochpreisiger Originale und Analoga sowie teurer
Generika durch preiswertere, vorrangig rabattierte generische Produkte. Hinzu kommen
dann noch ESP, die aus der Substitution patentgeschützter und hochpreisiger Analoga durch
generisch verfügbare Leitsubstanzen oder der Vermeidung umstrittener Arzneimittel
resultieren können (siehe oben Tabelle 3 in Abschnitt 1.2).
ATC-Klassifikationen und definierte Tagesdosen (DDD)
Zwei zentrale Annahmen, die der Ermittlung solcher Effizienzreserven generell zugrunde
liegen, betreffen die Preisvergleiche auf Basis der ATC/DDD-Klassifikation und die Zerlegung
der Ausgaben in eine Preis-, Mengen- und Strukturkomponente. Ausgabenveränderungen
werden zwar gemeinsam von der Entwicklung bei den Preisen, den Verordnungen und der
Strukturkomponente bestimmt, dennoch werden Veränderungen innerhalb und zwischen
Indikationsgruppen, also innerhalb der Strukturkomponente, im AVR zumindest unterschwellig auch als empirische Evidenz für Ineffizienzen angesehen (Reichelt 1988; Schröder
et al. 2007, S. 30 ff.; AVR 2011, S. 973ff.; AM-Atlas 2011, S. 345 ff.).
Neben den Arzneimitteldaten werden weitere Klassifikationen benötigt, die es ermöglichen,
die einzelnen Wirkstoffe und Produkte für Verbrauchsanalysen zu gruppieren. Das international verwendete anatomisch-therapeutisch-chemische (ATC-)Klassifikationssystem teilt
Arzneimittel nach dem Organ bzw. Organsystem, auf das sie einwirken, und dem enthaltenen Wirkstoff in verschiedene hierarchisch gegliederte Gruppen ein. Das Klassifikationsschema umfasst fünf verschiedene Ebenen, die eine unterschiedliche Tiefe von
Arzneimittelverbrauchsstudien zulassen. Die ATC-Klassifikation wurde 1981 von der World
Health Organization (WHO) entwickelt und vom WIdO an die spezifischen Belange des
deutschen Arzneimittelmarkts angepasst. Sie ist die Basis der national gültigen Klassifikation,
die durch das Bundesgesundheitsministerium jeweils zum 1. Januar veröffentlicht wird.
Zur Messung des Verordnungsvolumens sind die Anzahl der Packungen oder Tabletten in
diesem Zusammenhang eine ungenaue Maßzahl, da Medikamente mit gleichem Wirkstoff in
Cassel/Ulrich
18
verschiedenen Wirkstärken und Packungsgrößen auf dem Markt sind. Hier hat sich auf internationaler Ebene das System der definierten Tagesdosen (DDD – Defined Daily Doses) der
WHO etabliert. Für jeden Wirkstoff legt die WHO eine Arzneistoffmenge fest, die als Erhaltungsdosis für einen Erwachsenen in der Hauptindikation konsentiert wurde. Das WIdO
erstellt eine adaptierte Fassung für den deutschen Markt und führt gegebenenfalls notwendige Anpassungen an hiesige Marktgegebenheiten durch. Die DDD-Angaben stellen keine
Dosierungsempfehlungen dar, sondern sind zunächst eine rechnerische Größe, mit deren Hilfe
vergleichbare statistische Auswertungen des Arzneimittelmarktes auf nationaler und internationaler Ebene ermöglicht werden sollen. Gegenüber anderen Messgrößen, wie etwa der
Anzahl der abgegebenen Packungen, besitzen sie den Vorteil, dass der Verbrauch eines
Arzneimittels anhand einer zuvor festgelegten Wirkstoffmenge direkt gemessen werden kann.
Veränderungen der Packungsgröße, der Dosisstärke oder der Darreichungsform können den in
DDD gemessenen Verbrauch also nicht verzerren (Schröder et al. 2007, S. 31).
Allerdings hängt der Ausweis von ESP sehr stark von der angewandten Methode ab (siehe
Abschnitt 1.2). Die darin beschriebene Methodik 1 führt zwar zum größten ESP-Volumen, ist
aber am wenigsten überzeugend, da hier Verzerrungen besonders deutlich auftreten. Die
Berechnung des ESP besteht bei dieser Methode im Austausch auf Basis der mittleren Tagestherapiekosten (Preis je DDD), d. h. es werden die tatsächlichen Kosten je DDD (Jahresdurchschnittswert) in Relation zu den Durchschnittswerten des günstigsten Vergleichspräparates
gesetzt. Die Durchschnittskosten je DDD werden dabei über alle Packungsgrößen und
Wirkstärken gebildet. Die Kosten pro DDD des Austauschpräparates werden mit den verordneten Tagesdosen des zu ersetzenden Präparats multipliziert, und das Ergebnis wird
dann von den Gesamtverordnungskosten des zu ersetzenden Präparats abgezogen (Pfannkuche et al. 2007, S. 3).
In der Praxis ist dieses ESP aber so nicht vorhanden, sondern wird durch den statistischen
Durchschnittswert verzerrt. Problematisch bei dieser Methode ist insbesondere, dass die
Verwendung von Durchschnittskosten eine gleiche Verteilung der Verordnungsmenge in
Bezug auf die verschiedenen Packungsgrößen und Wirkstärken voraussetzt. Große Packungen bzw. Packungen mit einem hohen Wirkstoffgehalt sind in der Regel günstiger als kleine
Packungen bzw. Packungen mit einem geringeren Wirkstoffgehalt. Vom AVR, der ja eine Vorreiterrolle bei der Berechnung von ESP spielt, sollte daher erwartet werden, dass er diejenige Methode verwendet, die eine Substitution unter Berücksichtigung von verschiedenen
Wirkstärken, Packungsgrößen, Darreichungsformen und des Preisstandes erlaubt. Weiterhin
sollten Rabattverträge und Herstellerrabatte bei den Einsparungen pauschaliert abgezogen
werden, da sie nicht die Versichertengemeinschaft und die Patienten belasten.
Die Frage, ob sich die DDD-Kosten-Systematik, neben ihrem primären Einsatzgebiet zur Verbesserung der Qualität der Arzneimittelversorgung, auch für Preisvergleiche und zur Kostensteuerung eignet, wird in der Literatur kontrovers diskutiert (Pfannkuche et al. 2009, S. 18).
Bei der WHO findet man dazu folgende Einschätzung: „Similarly, basing reimbursement and
pricing comparisons on inclusion of drugs in ATC groups is not recommended. The main indications for drugs (on which ATC assignments are based) often differ widely between countries and, like the PDD, can change over time. However, the ATC classifications can be useful
when costs need to be aggregated into drug groups or therapeutic areas to determine, for
example, to what extent increased costs can be attributed to increased use of a therapeutic
group over time.” (WHO 2011, S. 1). Heute steht man Kostenvergleichen auf Basis der DDDSystematik kritisch bis ablehnend gegenüber (Wasem/Bramlage 2009, S. 54, Bratzke 2008,
Cassel/Ulrich
19
S. 1). Ein zentrales Problem der Anwendung von DDD ist die Nichtberücksichtigung der zugelassenen Dosierungen bei Abweichungen von der theoretischen DDD und die Nichtberücksichtigung der Behandlungsdauer bzw. der Therapiezyklen. Das führt zu Verzerrungen der
ausgewiesenen Kosten insbesondere bei onkologischen Therapien und anderen zyklenbasierten Therapien (Wasem/Bramlage 2009, S. 53). Der Einsatz der DDD-Tagestherapiekosten zur Preisermittlung und für Preisvergleiche wird von einigen Autoren daher sogar
ganz abgelehnt (Bratzke 2008, S. 1). Da die tatsächlich eingesetzte Dosis von den DDD teilweise erheblich abweicht, wären „Prescribed Daily Doses“ (PDD) grundsätzlich die angemessenere Basis für eine Preisermittlung (Wasem/Bramlage 2009, S. 54). Pfannkuche et al.
fassen ihre Einschätzung wie folgt zusammen: „Verschiedene Limitationen der Systematik
erfordern bei Wirtschaftlichkeitsberechnungen und -vergleichen auf dieser Grundlage sowie
bei der Interpretation der entsprechenden Daten einen Einsatz mit „Sinn und Verstand“ sowie
eine hohe Transparenz, um die Validität und Vergleichbarkeit von Ergebnissen zu gewährleisten bzw. einschätzen zu können.“ (Pfannkuche et al. 2009, S. 21). Ein korrektes Verfahren
ist sicherlich in den meisten Fällen komplizierter und schwieriger umzusetzen, sichert jedoch
die Vergleichbarkeit von Ergebnissen und damit auch die Akzeptanz der Berechnungen. Zur
Berechnung von realistischen Einsparpotenzialen sollten daher, wie durch den Methodenvergleich in Abschnitt 1.2 beschrieben, alle zum Zeitpunkt der Verordnung verfügbaren Austauschpräparate unter Berücksichtigung von Packungsgröße, Wirkstärke und Darreichungsform verwendet werden. Hinzu kommt die Berücksichtigung des aktuellen Preisstandes. Ein
solches Vorgehen stellt insofern einen methodischen „Goldstandard“ dar, als es alle marktrelevanten Faktoren berücksichtigt und damit den praktischen Gegebenheiten am nächsten
kommt, vor allem aber keine unrealistischen ESP generiert und deshalb auch keine unerfüllbaren Einsparwünsche auslöst (Pfannkuche et al. 2007, S. 5).
Komponentenzerlegung
Das Konzept der Komponentenzerlegung wurde Ende der 1980er Jahre zur Bestimmung
zentraler Determinanten der GKV-Arzneimittelausgaben entwickelt (Reichelt 1988, S. 10 ff.;
AVR 2011, S. 973 ff.; AM-Atlas 2011, S. 352 ff.). Das Konzept dient der Zerlegung der Ausgabenentwicklung in Preis-, Mengen- und Strukturkomponente.
Die Komponentenzerlegung findet sich in den Analysen des AVR und des AM-Atlas. Relativ
einfach zu ermitteln sind die Veränderungen des Verbrauchs bzw. der Menge (beispielsweise
Stückzahl, Verordnung oder DDD) und Preise, die durch eine Mengen- und eine PreisKomponente dargestellt werden. Darüber hinaus kann die Umsatzänderung auch durch
strukturelle Änderungen bedingt sein, beispielsweise durch Verschiebungen der Anteile von
Wirkstoffen, Packungsgrößen und Dosisstärken. Strukturelle Änderungen innerhalb eines
Marktes können selbst dann zu Umsatzänderungen führen, wenn die Verbrauchs- und PreisKomponente keine Änderungen gegenüber dem Vergleichszeitraum aufweisen, etwa wenn
der Anteil von höherpreisigen Arzneimitteln oder Arzneimitteln mit höherer Wirkstärke sich
verändert. Der Einfluss derartiger Verschiebungen wird mit Hilfe der so genannten Strukturkomponente erfasst. Die Berechnung der Strukturkomponente geht auf Arbeiten des WIdO
zurück und liegt sowohl dem AVR als auch dem AM-Atlas zugrunde (Reichelt 1988, S. 13).
Das Konzept eignet sich zur Erfassung von Determinanten der Arzneimittelumsatzentwicklung mit Hilfe einer geeigneten Komponentenzerlegung.
Als Mengeneinheit verwendet der AVR die Zahl der Verordnungen. Damit kann im AVR berechnet werden, welcher Anteil der Umsatzveränderung auf Änderungen in der Zahl der
Cassel/Ulrich
20
Verordnungen – als Verbrauch interpretiert –, aus Preisänderungen und aus Änderungen der
Struktur der Verordnungen resultiert. Diese Berechnungen können sowohl für einzelne Indikationsgruppen als auch für den Gesamtmarkt durchgeführt werden (Schröder et al. 2007,
S. 40). Wie Abbildung 2 zeigt, lässt sich die Strukturkomponente zurückführen auf Verschiebungen zwischen und innerhalb der Indikationsgruppen (Inter- und Intramedikamenteneffekt). Der Intramedikamenteneffekt kann noch in einen Darreichungsformen- und Stärkeneffekt sowie einen Packungsgrößeneffekt untergliedert werden. Der IntermedikamentenEffekt wird in diesem Kontext häufig als Beleg und Maß dafür herangezogen, dass bei den
Arzneiverordnungen eine systematische Verschiebung hin zu neuen und teuren Präparaten
stattfindet, „die im Vergleich zu den bereits verfügbaren Medikamenten keinen oder einen
nur marginalen therapeutischen Zusatznutzen hätten“ (Rürup et al. 2009,2, S. 100).
Abbildung 2: Strukturkomponente auf dem Arzneimittelmarkt
Quelle: Eigene Darstellung.
So kommt der AVR 2011 für das Jahr 2010 zu dem Ergebnis, dass der Anstieg der Ausgaben
auf dem Fertigarzneimittelmarkt (4,3 %) mehrheitlich auf strukturelle Veränderungen (4,2 %)
zurückzuführen sei. Die Strukturkomponente teilt sich wiederum in den Intermedikamenteneffekt (2,3 %) – also durch Wechsel zwischen verschiedenen Medikamenten verursachte Ausgabensteigerungen – und den Intramedikamenteneffekt (1,94 %) – d. h. durch
Wechsel zu größeren Packungen oder höheren Dosierungen verursachte Ausgabensteigerungen (AVR 2011, S. 6). Allerdings gilt es zu beachten, dass die Strukturkomponente
des AVR und der zugrunde liegende GKV Fertigarzneimittelumsatz eher unscharfe Maße für
die Wirtschaftlichkeit der Arzneiverordnungen sind.
Die Basis der Komponentenzerlegung, der GKV-Fertigarzneimittelumsatz (AMU; AVR 2011, S.
966 ff.), ist bei näherer Betrachtung eine schwer interpretierbare Größe. Anders als der
„normale“ betriebswirtschaftliche Umsatz enthält er auch Rabatte und ist nicht „unternehmensbezogen“. Er enthält vielmehr die Umsätze mehrerer Beteiligter (Unternehmen, Apotheken, Großhändler) sowie die Mehrwertsteuer, welche die Umsätze aber nicht schmälert
und daher üblicherweise nicht ausgewiesen wird. Der Begriff suggeriert, dass die pharmazeutischen Unternehmer diese Umsätze zu Lasten der GKV erzielen, was aber nicht der Fall
ist. Korrekt wäre der Begriff GKV-Arzneimittelumsatz wie folgt zu umschreiben: fiktiver auf-
Cassel/Ulrich
21
summierter Umsatz der pharmazeutischen Unternehmen, Apotheken, Großhändler, wenn es
keine Rabattverträge, Herstellerrabatte und Apothekenabschläge gäbe zuzüglich der Mehrwertsteuer. Die Aussagekraft einer derartigen Größe bleibt allerdings diskussionswürdig.
Der AM-Atlas hat erstmals für das Jahr 2010 die Ausgabenveränderungen nicht nur auf Basis
der Apothekenverkaufspreise bestimmt, sondern auch auf der Ebene des so genannten Erstattungspreises der Versichertengemeinschaft. Dabei wird berücksichtigt, dass von Seiten
der pharmazeutischen Unternehmer und der Apotheken Rabatte an die GKV gewährt
werden, welche von der Gemeinschaft aus Krankenkassen und Versicherten nicht getragen
werden müssen (AM-Atlas 2011, S. 352).
Der gesonderte Ausweis einer Strukturkomponente zielt darauf ab, einen differenzierten
Einblick in die Struktur der GKV-Arzneimittelausgaben zu gewähren. Zur Gliederung werden
unterschiedliche Ebenen der Aggregation herangezogen. Dazu wird der Gesamtmarkt in die
rund 60 Therapie- bzw. Indikationsgruppen der Roten Liste oder in Gruppierungen nach der
ATC-Klassifikation unterteilt (Schröder et al. 2007, S. 11). Weiterhin ist die Analyse auf die
3.000 verordnungsstärksten Präparate (Standardaggregate) eines Jahres fokussiert, die das
Hauptanwendungsgebiet charakterisieren. Die Indikationsgruppe umschließt mehrere
Standardaggregate, wobei ein Standardaggregat sich aus den unterschiedlichen Packungsgrößen, Dosierungen und Darreichungsformen eines Artikels gleichen Handelsnamens zusammensetzt.
Der GKV-Arzneimittelindex erlaubt zwar die Erfassung einer Vielzahl von Einzelentwicklungen, er besitzt aber keine hinreichende Trennschärfe zwischen Preis- und Mengeneffekten. Dies erkennt man bereits daran, dass die Strukturkomponente einen Teil der
Mengenkomponente bildet. In die Strukturkomponente gehen somit auch Preissteigerungen
ein, die daraus resultieren, dass die Hersteller beispielsweise die Änderung der Packungsgröße oder Darreichungsformen zu Preiserhöhungen nutzen, die man üblicherweise nicht
zur Struktur- bzw. Mengenkomponente rechnen würde. Eine zweite Besonderheit besteht in
der von ökonomischen Konventionen abweichenden Definition der Mengeneinheit. Der
GKV-Arzneimittelindex definiert als Mengeneinheit die Verordnung. Üblicherweise notiert
man nicht die Preise für Packungen, sondern pro Gewichtseinheit, pro Zähleinheit oder pro
Tagesdosis und gibt damit die Menge durch das Gewicht oder das Volumen der Packung an.
Hierdurch wirkt der Intramedikamenteneffekt als Ausgabentreiber, obwohl Verschiebungen
auf größere – und in Bezug auf die Tagesdosis zumeist preisgünstigere – Packungen zu Einsparungen führen können. Der Bezug auf die Verordnung, der nur beim Vorliegen relativ
homogener Zähleinheiten sinnvoll ist, erschwert den Vergleich auch in internationaler Hinsicht mit anderen Märkten. Für den AVR ergibt sich damit das heterogene Bild, dass für die
ESP-Berechnungen auf DDD-Kosten zurückgegriffen wird, bei der Komponentenzerlegung
aber auf Verordnungen.
Ein weiteres methodisches Defizit betrifft die Messung des Intermedikamenteneffekts.
Dieser verstärkt sich, sobald der relative Anteil eines Arzneimittels mit überdurchschnittlichem Preis an den gesamten Verordnungen eines Jahres steigt. Zu einem solchen Anstieg
kann es kommen, wenn das teure Arzneimittel häufiger verordnet wird, aber auch wenn
billigere Arzneimittel seltener verordnet werden oder wenn beides gleichzeitig geschieht.
Bertram Häussler et al. verdeutlichen diese Situation an einem praktischen Beispiel: Der
Intermedikamenteneffekt habe sich 2005 auch deshalb vergrößert, weil die absolute Verordnungsmenge sehr teurer Immunsuppressiva weitgehend unverändert geblieben ist,
während niedrigpreisige und wenig wirksame Venensalben seltener verordnet wurden
Cassel/Ulrich
22
(Häussler et al. 2006, S. A-2456). Die abnehmenden Verordnungen von Venensalben erzeugten also rechnerisch einen höheren Verordnungsanteil der Immunsuppressiva und verstärkten damit die Strukturkomponente. „Die Konzepte von Intermedikamenteneffekt und
Strukturkomponente stellen damit für die niedergelassenen Ärzte eine Falle dar: Je mehr sie
sich an Vorgaben zur Einsparung bei unwirtschaftlichen Arzneimitteln halten, desto höher
wächst der Intramedikamenteneffekt, der ihnen dann aber fälschlicherweise als Beleg für die
Unwirtschaftlichkeit ihrer Verordnungsweise ausgelegt wird“ (Häussler et al. 2006, S. A2456). Unter Versorgungsgesichtspunkten durchaus erwünschte Entwicklungen können auf
diese Weise unter Umständen falsch klassifiziert und möglicherweise sogar als Ineffizienzen
interpretiert werden. Methodisch geht diese Fehleinschätzung im AVR auf die zugrunde
liegende Annahme zurück, dass auf dem Arzneimittelmarkt nahezu uneingeschränkte
Substitutionsmöglichkeiten bestehen.
Beim AM-Atlas wird dagegen die Verbrauchs- bzw. Mengenkomponente anhand von Veränderungen der verordneten DDD gemessen. Grundsätzlich bilden Tagesdosen Verbrauchsänderungen präziser ab, da sie unabhängig von Packungsgrößen und Wirkstärken sind. Der
AM-Atlas weist damit aus, welcher Anteil der Umsatzveränderung auf veränderten Verbrauch (DDD), veränderte Preise sowie eine veränderte Struktur der Verordnungen innerhalb einzelner ATC-Gruppen zurückzuführen ist.10 Als Strukturkomponenten werden beim
AM-Atlas Verschiebungen auf der Ebene von Therapieansätzen (Wirkstoffgruppen, die als
Indikationsgruppe bezeichnet werden und die durch die therapeutische Untergruppe der
ATC-Klassifikation beschrieben werden), Analog-Wettbewerb (Verlagerungen zwischen
Wirkstoffen innerhalb einer Wirkstoffgruppe), Darreichungsformen, Wirkstärken, Packungsgrößen sowie Substitutionseffekte durch Reimporte, Generika und Hersteller definiert
(Häussler et al. 2007, S. 331). Um den Effekt einer Strukturkomponente nur einmal zu erfassen, sind die Strukturkomponenten hierarchisch gegliedert, d. h. der Einfluss des
Therapie-Ansatzes wird vor dem Einfluss einer möglichen Substitution zwischen den AnalogWirkstoffen betrachtet.
Eine weitere Annahme des AM-Atlas besteht darin, dass die Entwicklung neuer Therapieoptionen bzw. die Wiederentdeckung bereits bekannter Ansätze zu einer Veränderung der
Struktur der Arzneimittelversorgung führen kann. Daher unterscheidet der Atlas zwischen
den Verschiebungen zwischen therapeutischen Ansätzen und den Verschiebungen zwischen
Analog-Wirkstoffen (AM-Atlas 2011, S. 355). Unter „therapeutischen Ansätzen“ werden in
der Regel unterschiedliche Wirkstoffgruppen verstanden, die meist nacheinander entwickelt
werden, auf verschiedenen Wirkprinzipien, die aber in gewissen Grenzen untereinander
substituierbar sind. (AM-Atlas 2011, S. 356). Der Analog-Wettbewerb umfasst die Substitution zwischen Analog-Wirkstoffen, d. h. zwischen vergleichbaren, aber nicht identischen
Substanzen innerhalb einer Wirkstoffgruppe. Sie sind meist in zentralen Indikationen gegeneinander substituierbar.
Umsatzveränderungen, die auf Verschiebungen zwischen therapeutischen Ansätzen oder
Analog-Wirkstoffen zurückzuführen sind, werden innerhalb einer Indikationsgruppe bzw.
10
Es handelt sich dabei üblicherweise um die zweite ATC-Ebene. Nicht immer beschreiben die Indikationsgruppen auch tatsächlich Therapieansätze bzw. Wirkstoffe, die prinzipiell substituierbar
sind. In solchen Fällen werden die Indikationsgruppen in Teil-Indikationsgruppen aufgespalten. Damit
setzt die Messung der Strukturkomponenten „Therapieansatz“ und „Analog-Wirkstoff“ auch die Erfassung von Verschiebungen auf der dritten und vierten Ebene der ATC-Klassifikation voraus
(Schröder et al. 2007, S. 42; Häussler et al. 2007, S. 240).
Cassel/Ulrich
23
innerhalb eines therapeutischen Ansatzes in der Strukturkomponente des AM-Atlas erfasst.
Vor allem die „Analog-Komponente“ ist von hohem gesundheitspolitischen Interesse, da hier
der Verdacht besteht, dass ein großer Teil des jährlichen Umsatzanstiegs auf die Verschiebung zu teuren Analog-Arzneimitteln zurückzuführen ist. Es erfolgt bei diesem Ansatz
eine additive Verknüpfung der Ergebnisse auf der Ebene der Wirkstoffe, die dann über das
Gesamtmarktergebnis informiert. Die im AM-Atlas errechneten Indexwerte selbst sind Steigerungs- bzw. Wachstumsraten, so dass er vor allem eine Stromanalyse und weniger eine
Bestandsanalyse beinhaltet. Übersicht 2 enthält eine Synopse der zentralen Charakteristika
des AVR und des AM-Atlas.
Zwischen den jeweiligen Autoren des AVR und des AM-Atlas besteht insbesondere Uneinigkeit hinsichtlich der Aussagefähigkeit des jeweils anderen Berichts mit Blick auf folgende
Aspekte:
•
•
•
•
Verbrauchsmessung: Verordnung oder DDD
Eingeschränkte oder uneingeschränkte Substitution: innerhalb und zwischen Indikationsgruppen sowie Standardaggregaten
Ergebnisinterpretation: Struktureffekte oder Bedarf
Existenz und Berechnung von ESP
Für das Jahr 2010 weist der AVR einen Umsatzanstieg von 4,3 % aus, der AM-Atlas 3,4 %. Beide
Werke betonen dann aber sehr unterschiedliche Gründe für diese Diskrepanz. Beim AVR ist
der Wert je Verordnung stark angestiegen, d. h. es wurden vermehrt die teuren patentgeschützten Medikamente verordnet, während die Zahl der Verordnungen nahezu unverändert blieb. Der Wert der Verordnung wird dabei entscheidend von der Strukturkomponente
bestimmt, während der durchschnittliche Preis leicht gesunken ist. Innerhalb der Strukturkomponente dominiert der Intermedikamenteneffekt, der vor allem die Verschiebungen zu
anderen, meist teureren Produkten erfasst. Wie bereits erwähnt, wird der Intermedikamenten-Effekt häufig als Beleg dafür herangezogen, dass bei den Arzneiverordnungen eine
systematische Verschiebung hin zu neuen und teuren Präparaten stattfindet, was unter den
Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten kritisch hinterfragt wird (AVR 2011, S. 10 ff.).
Beim AM-Atlas wird die Umsatzentwicklung dagegen mehrheitlich durch die Verbrauchskomponente getrieben, d. h. durch eine höhere Nachfrage nach Arzneimitteln. Allerdings
nahmen auch beim Atlas die Mehrausgaben durch den Einsatz von teureren Arzneimitteln
gegenüber dem Vorjahr deutlich zu. Der Ausweis weiterer Differenzierungsgrade ergibt beim
Atlas das zentrale Ergebnis, dass die Ausgabensteigerungen des Jahres 2010 verglichen mit
2009 sowohl in der Grund- als auch in der Spezialversorgung primär verbrauchsgetrieben
waren (AM-Atlas 2011, S. 21). Das spannende Thema, ob und inwieweit denn ESP im System
stecken, wird beim AM-Atlas gegenüber dem AVR allerdings fast vollständig ausgeklammert.
Die Steigerungen, welche auf die Komponente „Verbrauch“ fallen, werden nicht weiter
hinterfragt, so dass jede Verbrauchserhöhung als medizinisch indiziert interpretiert wird,
was in dieser Form sicherlich nicht der Realität entspricht.
Den Verschiebungen zwischen den Therapieansätzen und den Analog-Wirkstoffen kommt
dagegen keine zentrale empirische Bedeutung zu. Helmut Schröder et al (2007, S. 43 ff.)
kritisieren hier durchaus zu Recht, dass Mengensteigerungen automatisch als Versorgungsverbesserungen dargestellt werden und Einsparreserven definitionsgemäß nicht existent
sind. Dabei werden größere Packungen pauschal als Einsparungen gewertet, was nicht über
Cassel/Ulrich
24
Übersicht 2: Methoden-Merkmale von AVR und AM-Atlas im Vergleich
Merkmal
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Verbrauchsmessung
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Komponentenanalyse
AVR
Akzeptierte Abrechnungsdaten
der Krankenkassen (quartalsweise Hochrechnung auf die
amtliche Ausgabenstatistik);
keine Nicht-Fertigarzneimittel
und Sprechstundenbedarf
Rohdaten der Apothekenrechenzentren der
nationalen VerordnungsInformationen (NVI);
Sprechstundenbedarf
(Impfstoffe), Diagnostika
enthalten
Apothekenverkaufspreis
Apothekenverkaufspreis,
Erstattungspreis
Indikationsgruppen, Standardaggregate, ATC-Klassen
Komponentenmethode
Verordnungen (Packungen)
Indikationsgruppen und
Standardaggregate
Preise
Verordnung
Strukturkomponente
Intermedikamenteneffekt
Intramedikamenteneffekt
Darreichungsform/Stärke
Packungsgröße
Substitution
Einsparpotenzial
Interpretation
Quelle: Eigene Darstellung.
AM-Atlas
Substitution zwischen
Standardaggregaten (in und
zwischen Indikationsgruppen)
ESP bei Solisten (Auslandspreise), Generika, Analog-Präparate,
Umstrittene Arzneimittel)
Dominanter Struktureffekt
Wirkstoffbezogene Indikationsgruppen
Komponentenmethode
DDD
Indikationsgruppen auf
Basis von ATC-Gruppen
Preise
Verbrauch (DDD)
Strukturkomponente
Therapieansatz
Analog-Wettbewerb
Darreichungsform
Wirkstärke
Packungsgröße
Parallelimport
Generika
Hersteller
Substitution in Marktsegmenten (nur in Indikationsgruppen)
ESP nur bei Generika
Dominanter Verbrauch
zeugend ist, sofern dahinter keine medizinische Indikation steht. Andererseits werden beim
AM-Atlas in den weiteren Strukturkomponenten, die als wirtschaftlich motivierte Veränderungen des Verbrauchs interpretiert werden, „technische“ Einsparungen gesehen (AMAtlas 2011, S. 355). Solche Einsparungen zeigen, dass auch der AM-Atlas – zumindest implizit – auf die Existenz von ESP hinweist.
Cassel/Ulrich
25
Beim AVR konzentriert sich die Diskussion über ESP auf der Ebene der Komponentenzerlegung insbesondere auf den Intermedikamenteneffekt. Dieser fängt grundsätzlich die Verschiebungen zwischen den Therapieansätzen und die Verlagerungen zwischen den AnalogWirkstoffen auf. Da der AVR aber ein anderes Substitutionskonzept im Vergleich zum Atlas
verwendet, zeigt der Intermedikamenteneffekt eine positive Strukturkomponente an, sobald
der relative Anteil eines Arzneimittels mit überdurchschnittlichem Preis an den gesamten
Verordnungen eines Jahres steigt und vice versa, wenn das billigere Arzneimittel seltener
verordnet wird. Unter Versorgungsgesichtspunkten erscheint diese Klassifikation problematisch, da sie nicht transparent und nachvollziehbar zwischen erwünschten und unerwünschten Entwicklungen differenziert.
Dieser „Zahlensalat“ kommt natürlich in erster Linie durch die erwähnten Unterschiede in
der Anwendung der zentralen Konzepte „ATC/DDD-Klassifikation“ und der „Komponentenzerlegung“ zustande. Je nach angewandter Methode und Datenbasis erhält man unterschiedliche Ergebnisse und damit auch unterschiedliche Interpretationen der interessierenden Zusammenhänge. Lässt man Verlagerungen zwischen Indikationsgruppen und
Standardaggregaten und damit letztlich eine nahezu unbegrenzte Substitution gedanklich zu,
kommt der Strukturkomponente – und damit auch dem ESP – eine deutlich größere Bedeutung zu als bei einer Substitution, die sich vornehmlich innerhalb von Indikationsgruppen
vollzieht. Letztlich muss es darum gehen, die Methoden und Datensätze transparent und
überprüfbar zu machen, damit die Ergebnisse für Dritte nachvollziehbar sind und darüber
hinaus auch erkennbar wird, ob bei den Berechnungen im Einzelfall eine ergebnisgeleitete
Daten- und Methodenwahl vermutet werden kann.
2.2
Einsparpotenziale bei umstrittenen Arzneimitteln
Als umstrittene Arzneimittel werden Wirkstoffe oder Fertigarzneimittel bezeichnet, deren
therapeutische Wirksamkeit nicht oder nicht in ausreichendem Maße durch kontrollierte
klinische Studien nachgewiesen worden ist (Schwabe 2004, S. 898). Im aktuellen AVR basiert
die Verordnungsanalyse diesbezüglich auf 58 Gruppen – die erste Aufstellung aus dem Jahr
1986 umfasste erst 11 Arzneimittelgruppen mit einem Verordnungsvolumen von 1,7 Mrd.
Euro (AVR 2011, S. 32). Der AVR weist für das Jahr 2010 ein Umsatzvolumen bei den umstrittenen Arzneimitteln von Höhe von 755 Mio. Euro aus, womit sich der rückläufige Umsatztrend seit 1992 – in diesem Jahr betrug es noch 5,1 Mrd. Euro – fortsetzt.
Ulrich Schwabe interpretiert diesen Ausgabenrückgang in Höhe von rund 4,3 Mrd. Euro
fälschlich als Einsparungen, die bei den umstrittenen Arzneimitteln insgesamt erzielt
wurden. Dieses Einsparvolumen resultiert allerdings aus einer Bruttogröße, da die gesamten
Ausgaben für umstrittene Arzneimittel der Berechnung zugrunde gelegt werden. Bei der
Berechnung der ESP wählt der AVR selbst eine andere Vorgehensweise und berechnet als
ESP nur die Ausgaben, die über die Substitution durch andere wirksame Arzneimittel hinausgehen (AVR 2011, S. 32, und Tabelle 4). Das errechnete ESP beläuft sich für das Jahr 2010 auf
572 Mio. Euro. Allerdings gilt auch: „Da ein Teil dieser umstrittenen Arzneimittel durch wirksame Präparate ersetzt werden sollte, handelt es sich bei diesem Einsparpotenzial um
Differenzbeträge“ (SVR G 2005, S. 295). Als Einsparsumme steht also nicht die gesamten
Ausgaben zur Disposition, sondern nur die Differenz, die nach der Substitution durch wirksame Präparate verbleibt.
Cassel/Ulrich
26
Tabelle 4: Einsparpotenziale bei umstrittenen Arzneimitteln
Gruppe
Gesamtumsatz
Umsatzanteil Gesamtmarkt
Substitution durch wirksame AM
ESP
Umsatz 2009
Umsatz 2010
778,1
755,4
in Mio. Euro
2,7
195,7
582,4
Quelle: Eigene Darstellung nach AVR 2011, S. 38.
Differenz
in Mio. Euro
In Mio. Euro
2,5
—
183,9
571,5
-22,7
—
-10,9
Diese Differenzgröße wird im AVR ausführlich erläutert (AVR 2011, S. 32 ff.). In 28 der 58
Indikationsgruppen sind laut AVR wirksame Substitutionsmöglichkeiten verfügbar. Falls als
Substituenten verschreibungspflichtige Arzneimittel herangezogen werden, die nicht mehr
erstattungsfähig sind, werden die entsprechenden Substitutionskosten nicht berücksichtigt.
In einigen Gruppen gibt es jedoch keine Substituenten, die empfohlen werden können. Bei
geringfügigen Gesundheitsstörungen kann die Pharmakotherapie überwiegend in die Eigenverantwortung der Versicherten übergeben werden; bei anderen umstrittenen Medikamenten bestehen Zweifel bezüglich ihres therapeutischen Nutzens (beispielsweise bei
Grippemitteln, Laxantien oder Mund- und Rachentherapeutika). Aber auch bei Präparaten
gegen schwere Erkrankungen gibt es nicht immer eine wirksame Alternative (zum Beispiel
bei Urologika oder durchblutungsfördernden Mitteln).
Insgesamt erscheint die Vorgehensweise des AVR zur Substitution bei der Berechnung der
ESP im Falle umstrittener Arzneimittel sinnvoll und angemessen. Allerdings fehlt auch hier
die genaue Beschreibung der Methodik zur Berechnung der ESP. Die Angaben über die DDDKosten bei den Substitutionsvorschlägen legen aber die Schlussfolgerung nahe, dass Methodik 1 angewandt wurde, d. h. die Substitution erfolgt nach den DDD-Durchschnittskosten.
Damit bleibt unberücksichtigt, dass die Tagestherapiekosten auch maßgeblich von den
Wirkstärken, der Packungsgröße und dem aktuellen Preisstand abhängen. Ein solches Vorgehen weist zwar in der Tendenz die höchsten ESP aus, die aber unrealistisch sind und damit
letztlich unerfüllbare Einsparwünsche wecken.
In der Längsschnittperspektive stellen die umstrittenen Arzneimittel gegenwärtig kein
zentrales Thema mehr dar (WIdO 2011, S. 2). Anfang der 1990er Jahre machten ihre Verordnungen noch fast ein Drittel des gesamten GKV-Arzneimittelumsatzes aus. Im Jahr 2010
lag dieser Wert bei nur noch 2,5 %. Insgesamt zeigt die Diskussion, dass es Befürworter und
Gegner bestimmter Präparate und Therapien gibt, eine in der gesamten Medizin nach wie
vor weit verbreitete Situation. Seit dem Ausschluss der nicht verschreibungspflichtigen
Arzneimittel aus der GKV-Erstattung durch das GKV-Modernisierungsgesetz im Jahr 2004
verharren die Verordnungen umstrittener Arzneimittel, die meistens auch rezeptfrei sind,
auf einem niedrigen Niveau (WIdO 2011, S. 2). Ulrich Schwabe sieht in dieser Entwicklung
einen Erfolg für die GKV und ihre Versicherten sowie auch einen „bemerkenswerte(n) Beitrag
der Vertragsärzte zur Ausschöpfung von Rationalisierungsreserven im System“ (Schwabe
2004, S. 910).
Cassel/Ulrich
27
Diese Sichtweise setzt allerdings voraus, dass nach eindeutigen Kriterien bestimmt werden
kann, welches Präparat umstritten ist und welches nicht. Aus ökonomischer Sicht sollte dies
aus der Perspektive des Patienten entschieden werden. Hierzu bedürfte es dann wieder
demokratisch legitimierter Institutionen, die diese Aufgabe übernehmen, da der Patient
durch die vorherrschende asymmetrische Informationsverteilung dazu in den meisten Fällen
nicht in der Lage ist.
2.3
Einsparpotenziale aus nationalen Preisvergleichen
Im Unterschied zu den umstrittenen Arzneimitteln erfolgt bei den generikafähigen Wirkstoffen ein steter Zufluss von Rationalisierungsmöglichkeiten nach Ablauf des Patentschutzes von Originalen (Wille 2004). Bei einem Patentablauf umsatzstarker Arzneimittel kann das
ESP durch die Generikasubstitution auch dann zunehmen, wenn die Ärzte verstärkt Generika
verordnen (siehe Fn 6 in Abschnitt 1.2 und SVR G 2005, Tz 772). Dies ist offensichtlich
dadurch begründet, dass eine zunehmende Generikasubstitution grundsätzlich zu einer Abnahme des ESP führt, die in einem solchen Fall aber durch die möglich gewordene
Substitution des relativ teuren Originals überkompensiert wird. Ein fiktives Beispiel soll dies
verdeutlichen: Die Erhöhung der Generikaquote von 70 % auf 80 % könnte das ESP beispielsweise um 1 Mio. Euro senken, da die zahlreichen Maßnahmen zur Generikasubstitution
eine absolute und relative Abnahme des ESP plausibel erscheinen lassen (siehe Abschnitt
1.2). Die möglich gewordene Substitution eines teuren Originals erhöht dagegen das ESP um
1,5 Mio. Euro, so dass das ESP insgesamt trotz einer verstärkten Generikaverordnung steigt.
Von Interesse ist auch der Zusammenhang zwischen ESP und Effizienz der Arzneimittelversorgung. Eine Veränderung des ESP im generikafähigen Markt lässt zunächst noch keine Aussage über die Effizienz der Arzneimittelversorgung zu (SVR G 2005, S. 297). Eine effiziente
Arzneimittelversorgung kann sowohl mit einem zunehmenden als auch mit einem sinkenden
ESP einhergehen. Wenn ein umsatzstarkes Arzneimittel seinen Patentschutz verliert, kann das
ESP durch die Generikasubstitution auch dann zunehmen, wenn die Ärzte verstärkt Generika
verordnen. Der Anteil der Generika-Präparate nach Verordnungen und Umsatz ist in den
letzten Jahren stark gestiegen (auch nach der Umstellung des Arzneimittelindex auf den neuen
Warenkorb im Jahr 2001). Für das Jahr 2010 beläuft sich der Generikaanteil im GKVGesamtmarkt auf 71,1 % (nach Verordnungen) und 34,7 % (nach Umsatz). Damit waren 71 %
der für GKV-Versicherte verschriebenen Arzneimittel Generika-Präparate (AVR 2011, S. 18).
Durch die Rabattverträge zwischen den Krankenkassen und den Herstellern sowie die Patentabläufe hochpreisiger Originale ist der Generika-Umsatzanteil im Jahr 2010 etwas gesunken.
Falls die Preise von Originalen im Durchschnitt über jenen von Generika liegen, fällt der Umsatzanteil im generikafähigen Markt kleiner aus als der Verordnungsanteil. Diese Differenz
hat sich in den letzten Jahren aber verringert, da sich die Preise von patentfreien Originalpräparaten und Generika in dem meisten Fällen angenähert haben. Allerdings gibt es trotz
fallender Preise immer noch erhebliche Preisunterschiede zwischen patentfreien Originalen
und Generika (WIdO 2011, S. 2).
Analogpräparate enthalten neue Wirkstoffe, die im Vergleich zu existierenden eine veränderte Molekülstruktur haben. Die Klassifikation erfolgt grundsätzlich nach pharmakologischen Kriterien (AVR 2011, S. 26). Analoga werden entweder vom Hersteller des ursprünglichen Arzneimittels als Weiterentwicklung auf den Markt gebracht oder von einem
Konkurrenzunternehmen entwickelt. In jedem Fall ist der Wirkstoff mit der neuen Molekül-
Cassel/Ulrich
28
struktur patentierbar. Bei den Konkurrenzentwicklungen kann es sich dabei um Entwicklungsprogramme handeln, die zeitgleich durchgeführt oder aber später beendet wurden.
Analogpräparate enthalten neue Wirkstoffmoleküle mit pharmakologischen Wirkungen, die
mit denen des Originalpräparates vergleichbar sind: „Diese Innovationen können wegen verbesserter Pharmakokinetik und/oder verminderter unerwünschter Arzneimittelwirkungen mit
therapeutischen Vorzügen einhergehen, besitzen jedoch zumeist keine relevanten therapeutischen Vorzüge gegenüber bereits eingeführten Wirkstoffen. Analogpräparate bieten aus
dieser Perspektive aber nicht per se einen Ansatzpunkt für Rationalisierungsmaßnahmen“
(SVR G 2005, Tz 773). Durch Analoga kann es im Preiswettbewerb zu Preissenkungen bei
vergleichbaren Präparaten kommen, sofern die Analogpräparate preisgünstiger als diese
ausgeboten werden. Unter Rationalisierungsaspekten kommt es darauf an, ob das jeweilige
Analogpräparat mit teureren oder preiswerteren Medikamenten mit ähnlichen oder gleichartigen Wirkungen konkurriert (SVR G 2005, Tz 773).
Sofern Arzneimittel-Innovationen einen größeren therapeutischen Nutzen aufweisen als
bisher verfügbare Präparate, erhöhen sie über eine Verbesserung der Effektivität der Behandlung auch die Wohlfahrt der Patienten. Handelt es sich jedoch um Medikamente ohne
relevante Vorteile, liegt eine ineffiziente Ressourcenallokation vor, d. h. in der Strukturkomponente schlagen sich dann verdeckte Preissteigerungen nieder (Wille 1994; SVR KAiG
2002; SVR G 2005). Im AVR zeigt das Analoga-ESP seit dem Jahr 2008 wieder einen steigenden Trend und erreicht im Jahr 2010 einen vorläufigen Höchstwert von 2,5 Mrd. Euro
(siehe oben Tabelle 3). Das Einsparpotenzial liegt über dem des Jahres 2009 (2,2 Mrd. Euro),
sei aber kaum mit ihm vergleichbar, da neue Substitutionsmöglichkeiten mit Generika hinzugekommen seien (AVR 2011, S. 29).
Zur Berechnung der ESP wählt der AVR wohl erneut die Methodik 1, d. h. die Substitution
erfolgt über die DDD-Durchschnittskosten. Im Falle der Generika liefert dieses Vorgehen für
den im Vergleich AM-Atlas und AVR bereits vorgestellten Wirkstoff Omeprazol ein ESP in
Höhe von 128,8 Mio. Euro (AVR 2011, S. 21). Dieses Ergebnis resultiert daraus, dass die DDDVerordnungsmenge des zu substituierenden teuren Präparates multipliziert wird mit der
Differenz aus seinem DDD-Preis und dem DDD-Preis des Austauschpräparates. Als Substituent wird dabei der preisgünstigste Wirkstoff herangezogen, falls er eine Mindestmenge
von 100.000 DDD erreicht, um Verzerrungen bei irrelevant kleinen Mengen zu vermeiden.
Das teuerste Omeprazol-Präparat ist Omep mit DDD-Kosten in Höhe von 0,57 Euro und einer
Verordnungsmenge in Höhe von 210,3 Mio. DDD. Diese Menge wäre mit der entsprechenden Preisdifferenz der DDD-Kosten zwischen Omep und seinem Substituenten zu multiplizieren. Gemäß AVR müsste dies, unter Beachtung der Mindestmenge, Omeprazol AL, mit
DDD-Kosten in Höhe von 0,32 Euro sein (AVR 2011, S. 706). Allein für Omep resultiert hieraus
dann ein ESP in Höhe von 210,3 x (0,57-0,32)=52,58 Mio. Euro. Für alle Omeprazol-Wirkstoffe ergibt sich ein ESP in Höhe von 128,8 Mio. Euro (AVR 2011, S. 21). Für das OmeprazolOriginal Antra, dessen Patentschutz abgelaufen ist, erfolgt die Substitution ebenfalls über
das günstigste wirkstoffgleiche Generikum. Das ESP beim Wirkstoff Omeprazol resultiert
aber im Wesentlichen aus der Substitution von teuren Omeprazol-Generika durch preisgünstigere Produkte. So hat Antra, das nach wie vor hohe DDD-Kosten von 0,89 Euro verursacht, nur noch einen Marktanteil von 1 % am Umsatz (AVR 2011, S. 706).
Die Wahl des preisgünstigsten Generikums verdeutlicht noch einmal sehr plastisch, wie
statisch der Ansatz letztlich ist. Käme immer der günstigste Anbieter zum Zuge, so hätte dies
in kürzester Zeit eine starke Konzentration auf sein Präparat zur Folge. Da es aber beträcht-
Cassel/Ulrich
29
liche Markteintrittshürden gibt, würde der betreffende Anbieter sofort wieder seine Preise
deutlich erhöhen. Aus ökonomischer Perspektive ist offensichtlich, dass eine kritische Anzahl
von Generikaanbietern am Markt vorhanden sein muss, um einen Preiswettbewerb zu induzieren. Preis- und Mengenschwankungen hat es auf dem deutschen Generikamarkt schon
mehrfach gegeben. Im Jahr 2007 vergab die AOK einen Exklusivvertrag für den Wirkstoff
Omeprazol an einen kleinen Mittelständler, das Unternehmen biomo pharma aus Hennef.
Anfangs gab es prompt Lieferengpässe. Am 29.04.2009 erhielt KSK-Pharma, ebenfalls ein
kleiner Mittelständler aus Karlsruhe/Berghausen, den Zuschlag des AOK-Systems als exklusiver Rabattpartner für Omeprazol in ganz Deutschland (FTD 2009, S. 9). Die Umsätze
hätten sich unmittelbar vervielfachen können, wenn die Politik Hindernisse beim Austausch
der Packungen rechtzeitig beseitigt hätte. KSK hatte nämlich mehrheitlich andere Packungsgrößen im Rabattvertrag als die Mitbewerber. Eine sinnvolle Staffelung gelang dem Gesetzgeber jedoch erst durch die Packungsgrößenverordnung Anfang Mai 2011, dem letzten
Monat des AOK-Vertrags. Wegen der stark gestiegenen AOK-Rabattumsätze erzielte KSK im
ersten Halbjahr 2011 einen Rekordumsatz von 26 Mio. Euro vor Rabatten. Die Margen
blieben jedoch unter Druck, und durch Substitution hin zu Rabattvertragsprodukten Dritter
verlor KSK bei verschreibungspflichtigen Produkten sogar an Umsatz (KSK 2012). Diese Beispiele verdeutlichen sehr anschaulich die Schwächen einer statischen Vorgehensweise, bei
der unterstellt wird, dass der im Zeitpunkt der Berechnung günstigste Anbieter zum Zuge
kommt und ceteris paribus alle rechnerisch zu substituierenden Umsätze tätigt.
Unterstellt man eine Substitution innerhalb von Wirkstoffgruppen, d. h. bei wirkstoffgleichen
Präparaten, erfolgen diese Berechnungen des ESP gemäß Methodik 1 nicht nur in der
Gruppe Omeprazol, sondern auch in den anderen Wirkstoffgruppen der Protonenpumpenhemmer (Pantoprazol, Lansoprazol, Esomeprazol und Rabeprazol). Insgesamt weist der AVR
bei den generikafähigen Wirkstoffen ein Einsparpotenzial von 930 Mio. Euro für die 20 umsatzstärksten Wirkstoffe und von 1,6 Mrd. Euro für alle Generika-Wirkstoffe aus (AVR 2011,
S. 21 und S. 38).
Im Bereich der Protonenpumpenhemmer sind vor einiger Zeit Analogpräparate zu
Omeprazol ausgeboten worden, die billiger als die Mitbewerber waren (Pantoprazol,
Lansoprazol) und dadurch einen Preiswettbewerb induzierten. Der AVR verwendet daher bei
den Protonenpumpenhemmern als Substituenten auch Präparate mit pharmakologischtherapeutisch vergleichbaren Wirkstoffen, analog zur Festbetragsstufe 2 (AVR 2011, S. 31).
Bei Substitution von Analoga in der Gruppe der Protonenpumpenhemmer wären nach AVR
Einsparungen in Höhe von 16 Mio. Euro möglich.
Die Berechnung von ESP erfolgt auf nationaler Ebene neben den generikafähigen Wirkstoffen also auch für Analogpräparate. Hierbei ist die Berechnungsrundlage sowie die Wahl
der Substituenten jedoch deutlich unübersichtlicher. Das Grundprinzip lautet, dass das ESP
der Differenz zwischen dem Umsatz nach generischer Substitution und dem Umsatz nach
Wirkstoffsubstitution entspricht. Insgesamt ergibt die Substitution von Analogpräparaten
durch Präparate mit pharmakologisch-therapeutisch vergleichbaren Wirkstoffen ein ESP von
2,5 Mrd. Euro. Wie aus Tabelle 5 ersichtlich ist, spielt dabei die Umsatzverringerung nach
generischer Substitution im Vergleich zur Wirkstoffsubstitution nur eine untergeordnete
Rolle. In allen Fällen, in denen keine generische Substitution innerhalb der Wirkstoffgruppe
möglich ist, kann man dieses Vorgehen durchaus rechtfertigen. Der Austausch von vergleichbaren Wirkstoffen in den Fällen, in denen wirkstoffgleiche Generika zur Verfügung stehen,
stellt allerdings eine Substitution dar, die auch nicht in allen Fällen unumstritten sein dürfte.
Cassel/Ulrich
30
Der AVR weist zudem ESP nach Herstellern aus (AVR 2011, S. 213 ff.). Auf die 50 umsatzstärksten Anbieter entfallen 82 % des gesamten ESP. Gegliedert nach den Teilmärkten entfallen auf diese Gruppe von Herstellern 82 % des ESP bei Generika, 87 % bei Analoga und
42 % bei umstrittenen Arzneimitteln. Auch hier erfolgt die Berechnung des ESP offensichtlich
nach Methodik 1 (siehe Abschnitt 1.2). Bei der Berechnung nach Herstellern zeigen sich erneut die bereits erwähnten zentralen Kritikpunkte gegen die Vorgehensweise des AVR. Auch
werden die Nachlässe der Hersteller aus selektiven Rabattverträgen, die Abschläge aus dem
Tabelle 5: Einsparpotenziale aus nationalen Preisvergleichen
Gruppe
Umsatz 2009
Umsatz 2010
in Mio. Euro
in Mio. Euro
Umsatz aller generikafähigen Wirkstoffe
13.138,8
13.690,0
551,2
Preisgünstigster Umsatz ohne umstrittene
Wirkstoffe
11.600,3
11.552,5
Generikafähige Wirkstoffe
Umsatzanteil ohne umstrittene Wirkstoffe
ESP
in Mio. Euro
12.934,2
13.136,0
Analogpräparate
1.333,9
Gesamtumsatz
5.902,9
5.505,4
Umsatz nach Wirkstoffsubstitution
3.355,1
2.649,4
Umsatz nach generischer Substitution
ESP
Quelle: Eigene Darstellung nach AVR 2011, S. 38.
5.522,8
2.167,7
Differenz
1.583,5
249,6
-397,5
5.153,4
2.504,0
336,4
16%igen Zwangsrabatt sowie die geltenden fixen Apothekenaufschläge nicht berücksichtigt,
was die Analyse verzerrt und zur Fiktion werden lässt. Berechnungen auf der Basis von AVP
enthalten zu wenig Informationen darüber, welche ESP bei den Herstellern zu realisieren
sind. Das ist auch einer der Gründe, warum der AM-Atlas neuerdings seinen Berechnungen
auch Erstattungspreise je DDD hinzufügt.
Die zentrale Einflussgröße des Wachstums der Arzneimittelausgaben in der GKV nach AVR,
nämlich die Strukturkomponente, geht auch im Jahr 2010 überwiegend auf den Intermedikamenteneffekt zurück. Allerdings kann er, wie in Abschnitt 2.1 erläutert, nicht nur auf
die Verordnung höherpreisiger Analoga zurückgeführt werden, die zum Teil keinen zusätzlichen therapeutischen Nutzen stiften. Der Intermedikamenteneffekt misst bei positivem
Vorzeichen auch Substitutionen von Präparaten mit niedrigeren Preisen durch teurere
Arzneimittel-Innovationen mit therapeutischer Relevanz. Weiterhin ergibt sich ein positiver
Intermedikamenteneffekt auf dem Gesamtmarkt, wenn die Verordnung teurer Präparate
nahezu unverändert bleibt, während niedrigpreisige und wenig wirksame Präparate seltener
verordnet wurden (SVR G 2005, Tz 774).
Cassel/Ulrich
31
Auch beim AM-Atlas zeigt die Komponente „Analog-Wettbewerb“ eine positive Ausgabenentwicklung an, die dadurch zustande kommt, dass sich innerhalb von Indikationsgruppen
der Anteil niedrigpreisiger gegenüber dem Anteil höherpreisiger Analog-Wirkstoffe verringert hat (AM-Atlas 2011, S. 2). Die Mehrausgaben betreffen beispielsweise die Indikationsgruppen der Analgetika, Psycholeptika oder Antiepileptika. Im Atlas finden sich aber
auch Indikationsgruppen mit Einsparungen gegenüber dem Vorjahr, etwa bei Mitteln für
säurebedingte Erkrankungen oder mit Wirkung auf das Renin-Angiotensin-System. In beiden
Indikationsgebieten sind die Einsparungen aber rückläufig. Insgesamt zeigt sich, dass zwei
Drittel der Ausgabensteigerungen bei den Analoga 11 Erkrankungen zugeordnet werden
können. Dazu zählen Schmerzen, HIV/AIDS, neurologische und psychiatrische Erkrankungen
sowie verschiedene Krebserkrankungen (AM-Atlas 2011, S. 2).
2.4
Einsparpotenziale aus internationalen Preisvergleichen
Neues Berechnungskonzept für neue Einsparpotenziale
Während die Berechnung von ESP aus nationalen Preisvergleichen auf der möglichen
Substitution von teuren durch preisgünstigere Präparate beruht, die hierzulande vertrieben
werden und insofern ohne Weiteres erhältlich sind, folgt das ESP-Kalkül bei internationalen
Preisvergleichen einer gänzlich anderen Logik: Es wird nämlich nach so genannten Referenzländern gesucht, in denen die in Deutschland vertriebenen Präparate ebenfalls ausgeboten,
aber anscheinend preisgünstiger zu haben sind. Dabei kommt es nicht darauf an, ob und
inwieweit die im Ausland billigeren Produkte hierzulande überhaupt bzw. zu den dortigen
Preisen erhältlich wären. Was zählt, ist lediglich eine Antwort auf die relativ simple Frage,
welche Arzneimittelausgaben bzw. -umsätze entstehen würden, wenn die hier verordneten
Mengen zu den günstigeren Auslandspreisen abgegeben würden. Die Differenz zwischen den
innerhalb eines Jahres tatsächlich entstandenen Ausgaben bzw. Umsätzen und den fiktiven,
zu internationalen Vergleichspreisen ermittelten Volumina ist dann das rechnerische ESP.
Ein solcher internationaler Preisvergleich kann sich auf einzelne Präparate, Wirkstoffgruppen, Originale, Analoga, Generika, Festbetrags- und Nichtfestbetragsprodukte oder gar alle
im In- und Ausland gleichzeitig ausgebotenen Arzneimittel beziehen. Schon hieran zeigt sich
die Fragwürdigkeit dieses Ansatzes, wenn bei der ESP-Berechnung nicht auch die Möglichkeiten zur Realisierung der ermittelten Wirtschaftlichkeitsreserven mitgedacht werden.
Denn zur Absenkung der heimischen Preise auf das Auslandsniveau stehen theoretisch nur
zwei Wege zur Verfügung: entweder preisgünstige Re- und Parallelimporte oder staatliche
Preisregulierungen, darunter äußerstenfalls Preisdiktate oder Zwangsrabatte. Beide Optionen stoßen jedoch rasch auf Grenzen, zumal das Import- und Regulierungspotenzial aufgrund der bisher hierzulande bereits ergriffenen Kostendämpfungs-Maßnahmen bei Arzneimitteln schon weitgehend ausgeschöpft sein dürfte. Von daher verbietet es sich von selbst,
Produktsegmente oder Niedrigpreisländer beliebig – vor allem aber ohne Berücksichtigung
der pharmaspezifischen bzw. nationalen Marktbesonderheiten – zur Potenzialberechnung
heranzuziehen (Cassel/Ulrich 2012, S. 113 ff.).
Die adäquate Auswahl von Referenzländern zur ESP-Ermittlung ist unter dieser Prämisse
keine leichte Aufgabe, stehen doch allein in der Europäischen Union (EU) 26 Länder zur
Wahl. Darunter sind jedoch von vornherein jene Länder auszuschließen, die eine viel zu
kleine Marktbedeutung haben (wie Luxemburg, Malta, Slowenien oder Zypern), ihre Arzneimittelpreise besonders scharf regulieren (wie Griechenland und Ungarn) oder neuartige
Cassel/Ulrich
32
Pharmakotherapien nur stark verzögert oder gar nicht verfügbar machen (wie Belgien,
Italien, Portugal oder Spanien). Somit fällt die Wahl fast zwangsläufig auf Länder wie Großbritannien (GB) und Schweden (SE), die im Vergleich zu Deutschland (DE) ihren Arzneimittelmarkt ähnlich moderat regulieren und ein vergleichbares Arzneimittelangebot, aber im
Durchschnitt niedrigere Apothekenverkaufspreise haben. Dies mag Ulrich Schwabe, den
Mitherausgeber des AVR, veranlasst haben, in den von ihm verfassten Einleitungsbeiträgen
zum AVR der letzten beiden Jahre einen Preisvergleich für die jeweils 50 umsatzstärksten
patentgeschützten und generischen Präparate zwischen DE und SE (Schwabe 2010, S. 15 ff.
und S. 22 ff.) sowie DE und GB (Schwabe 2011, S. 13 ff. und S. 20 ff.) anzustellen und daraus
ESP abzuleiten.
Schon in den beiden Jahren zuvor hatte der AVR (2008, S. 73; 2009, S. 41) auf das Preisgefälle zwischen DE und den USA im Falle neuartiger Impfstoffe gegen humane Papillomaviren (Gardasil; Cervarix) und der TNF-Antagonisten zur Behandlung der rheumatoiden
Arthritis hingewiesen, ohne jedoch eigene Berechnungen anzustellen. Als sich dann abzuzeichnen begann, dass die mit dem Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) in 2008 eingeführten „Erstattungshöchstbeträge“ für festbetragsfreie, meist patentierte Neu- und Bestandspräparate praktisch scheitern würden (Cassel et al. 2008, S. 190 f.) und eine Neuregelung der Preisfindung durch zentrale Verhandlungen von „Erstattungsbeträgen“ auf
Grundlage früher Nutzenbewertungen und internationaler Vergleichspreise im AMNOG geplant war (Cassel/Zeiner 2010, S. 1860 ff.), hat der AVR dann in 2010 und 2011 eigene internationale Preisvergleiche (iPV) vorgelegt.
Damit sollten die traditionellen nationalen Preisvergleiche (nPV) und die darauf aufbauenden ESP-Berechnungen ganz offensichtlich um eine neue, pragmatisch aktuelle Dimension ergänzt werden. Denn die Art und Weise, in der die Berechnungen methodisch angelegt
(Schwabe 2010, S. 15 ff. und S. 22 ff.; 2011, S. 13 ff. und S. 20 ff.) und ihre Ergebnisse interpretiert und kommuniziert wurden (Schwabe 2010,1; 2011,1,), deuten darauf hin, dass möglichst hohe Preisunterschiede und Einsparpotenziale intendiert waren, um im Vorfeld des
AMNOG – wie auch danach bei den einsetzenden Preisverhandlungen – kassenseitig Handlungsdruck zu erzeugen.
Die bislang vorliegenden Preisvergleiche sind nach eigenem Bekunden „exemplarisch“
(Schwabe 2010, S. 15). Dies lässt sich an folgenden Merkmalen festmachen:
• Erstens: In DE geltende Arzneimittelpreise werden nacheinander zunächst nur mit
denen zweier Referenzländer (SE in 2009; GB in 2010) verglichen. Andere Länder
könnten noch folgen, zumal die Rahmenvereinbarungen zwischen Kassen- und
Pharmaverbänden für die Preisverhandlungen bei Arzneimittel-Innovationen eine Liste
mit insgesamt 15 EU-Ländern – darunter auch Griechenland (!) – enthält, die durch
Schiedsspruch festgeschrieben wurde.
• Zweitens: Einbezogen sind jeweils nur die 50 umsatzstärksten patentgeschützten
Arzneimittel (Original- und Analogpräparate) und die 50 umsatzstärksten Generika
bzw. generikafähigen Wirkstoffe, aber z. B. keine Biosimilars, Impfstoffe und
Rezepturen. Außerdem bezieht sich der iPV nicht auf alle Packungsgrößen, sondern
nur auf die in DE jeweils umsatzstärksten. Im Ausland nicht erhältliche Packungsgrößen
werden auf deutsche Verhältnisse umgerechnet.
• Drittens: Verglichen werden nur die Apothekenverkaufspreise (AVP) – im Falle SE inklusive MWSt (obwohl es dort auf AM gar keine gibt; sie wird aber nachträglich
Cassel/Ulrich
33
herausgerechnet), und GB ohne MWSt. Rabatte, Zuzahlungen und Handels- bzw. Preisspannen von Herstellern, Apotheken und Großhandel bleiben unberücksichtigt, so dass
Rückschlüsse auf den ApU oder die tatsächliche Ausgabenbelastung der Kostenträger
bzw. Krankenkassen nicht möglich sind.
• Viertens: Da GB und SE nicht der Europäischen Währungsunion angehören, müssen
ihre Arzneimittelpreise in Euro umgerechnet werden. Zur Umrechnung dienen stichtagsbezogene Kassakurse (SE: 100 Schwedische Kronen (SEK) = 10,4528 Euro zum
02.06.2010; GB: 1 Britisches Pfund (GBP) = 1,1198 Euro zum 06.06.2011). Verschiedene
Stichtagskurse, Durchschnittskurse oder gar Kaufkraftparitäten kommen nicht zur Anwendung.
Wie sich dieses exemplarische Vorgehen auf die Ergebnisse und ihre öffentliche Wahrnehmung auswirkt, wird weiter unten im Abschnitt 3.3 noch eingehender thematisiert.
Einsparpotenziale bei Patentarzneimitteln
In den Tabellen 6 und 7 sind zunächst die Ergebnisse des Preisvergleichs für patentgeschützte
Arzneimittel beispielhaft anhand der jeweils 10 umsatzstärksten Medikamente dargestellt.
Unter ihnen befinden sich nach AVR mit Seroquel, Zyprexa und Lyrica auch drei Analogpräparate. Angegeben wird der prozentuale „Unterschied“ zwischen den AVP der jeweils verglichenen Länder in Euro. Daran zeige sich, dass alle Präparate hierzulande teilweise beträchtlich teurer seien als im Ausland (SE: zwischen 32,2 % bei Symbicort und 86,3 % bei Zyprexa; GB:
zwischen 10,2 % bei Lyrica und 105,4 % bei Zyprexa). Im Durchschnitt hat der Korb, gebildet
aus je einer Packung der 10 Präparate (Summe der Ränge 1-10) in DE 55,9 % bzw. 66,1 % mehr
gekostet als in SE und GB, was alarmierend hoch erscheint. Statt dessen hätte man auch angeben können, dass die Preise in SE durchschnittlich 35,8 % und in GB 39,8 % niedriger als in
DE sind, was sich schon nicht mehr so spektakulär ausnimmt und zudem einen adäquateren
Zugang zur Frage nach den tatsächlichen Einsparmöglichkeiten eröffnet.
Die Potenzialberechnung basiert auf diesen Preisunterschieden und ist ziemlich trivial: Für
jedes einzelne Präparat wie für ganze Körbe wird dazu die in Euro ermittelte (positive)
Differenz zwischen dem in Euro gerechneten AVP in Deutschland und im Ausland multipliziert mit der deutschen Verordnungsmenge der jeweiligen Packungsgröße. 11 Diese Differenz ist dann das rechnerische ESP. In Tabelle 8 finden sich einige ESP für Patentarzneimittel
(Geschützte) aus dem Preisvergleich mit GB für das Jahr 2010. So soll das ESP für das rangerste Präparat (Humira) 187,3 Mio. Euro und das rangletzte (Xalatan) 14,6 Mio. Euro betragen haben. Die ersten 10 Patentpräparate kämen auf ein ESP von 977,3 Mio. Euro, alle 50
auf 2.286,7 Mio. Euro. 12 Über den Umsatzanteil der 50 umsatzstärksten Präparate am
gesamten Patentmarkt in Höhe von 55,7 % wird dann hochgerechnet, dass sich das ESP für
patentgeschützte Arzneimittel aus GB auf exakt 4.105,4 Mio. oder rund 4,1 Mrd. Euro stelle
(siehe auch oben Tabelle 3). Wäre dieses ESP tatsächlich realisierbar und ginge es vollständig
zu Lasten der Hersteller, würde es etwa 45-50 % des Nettoerlöses ausmachen, den die
11
Die DE-Verordnungsmengen lassen sich aus den Tabellen 6 und 7 errechnen, indem man den angegebenen DE-Umsatz durch den DE-AVP dividiert.
12
Zu Angaben des ESP siehe Tabelle A-1 im Anhang, letzte Spalte.
Cassel/Ulrich
34
forschende Arzneimittelindustrie im deutschen Patentmarkt netto nach MWSt, Abschlägen
und Rabatten erzielt. 13
Tabelle 6: Patentgeschützte Arzneimittel Deutschland-Schweden, 2009
Quelle: Schwabe 2010, S. 1/3 f.
Tabelle 7: Patentgeschützte Arzneimittel Deutschland-Großbritannien, 2010
Quelle: Schwabe 2011, S. 1/3 f.
13
Nach AVR (2011, S. 11) beträgt der AVP-Umsatz patentgeschützter Arzneimittel rund 14,2 Mrd.
Euro. Davon entfallen je nach Einschätzung des Vertriebsanteils von Großhandel und Apotheken
zwischen 8 und 9 Mrd. Euro auf den Nettoerlös der pharmazeutischen Unternehmer.
Cassel/Ulrich
35
Tabelle 8: Einsparpotenziale aus dem Preisvergleich Deutschland-Großbritannien, 2010
(in Mio. Euro)
Legende: Berechnungen nach AVR 2011 (Tabellen A-1 und A-2 im Anhang) zu Apothekenverkaufspreisen (AVP) ohne Mehrwertsteuer (MWSt) im Jahr 2010.
AM – (Fertig-)Arzneimittel; Geschützte – Patentgeschützte Arzneimittel; Generika – Generika und
generikafähige Arzneimittel; Rang – Stellung der AM nach Umsatz in Deutschland in Mio. Euro; Gesamtmarkt – GKV-Markt der betreffenden AM-Gruppe.
Quelle: Zusammenstellung und eigene Berechnung nach AVR/Schwabe 2011, S. 14 ff. und S. 22 ff.
Man könnte derartige Potenzialberechnungen als abstruse Zahlenspielerei abtun, wenn
daran nicht fragwürdige pharmaökonomische Schlussfolgerungen und unverhohlene Handlungsempfehlungen an die Gesundheitspolitik und GKV-Selbstverwaltung geknüpft wären. So
beziffert Ulrich Schwabe (2010, S. 18) das auf alle Patentpräparate hochgerechnete ESP ohne
MWSt im DE-SE-Vergleich 2009 auf 2,5 Mrd. Euro (AVR 2010, S. 17) und kommentiert dies
als eine eher „konservative Schätzung der Wirtschaftlichkeitsreserven im Sektor der patentgeschützten Arzneimittel“. Hieran knüpft er dann die Schlussfolgerung: „Da Deutschland der
größte Arzneimittelmarkt in Europa ist und marktgerechte Preise auch immer von gesamt zu
erzielenden Umsatzvolumen abhängen, ist die Annahme berechtigt, dass in Deutschland
nach den Regeln der Marktwirtschaft noch niedrigere Preise als in anderen europäischen
Ländern zu rechtfertigen sind“. Und weiter: „Der Hauptgrund für die großen Preisunterschiede ist die Tatsache, dass wir eines der wenigen europäischen Länder sind, die keinerlei
Preiskontrollen vor der Markteinführung patentgeschützter Arzneimittel durchführt.“ 14
Gerade Schweden und Großbritannien haben aber wie Deutschland ihren Patentmarkt bislang ebenfalls nur schwach (preis-)reguliert und auf die in der EU sonst übliche inter14
Hier ist nicht der Ort, um auf die merkwürdigen Vorstellungen Schwabes zur Preisbildung bei
patentgeschützten Arzneimitteln nach den „Regeln der Marktwirtschaft“ und die Abhängigkeit
„marktgerechter Preise“ von Umsatzvolumen und Größe eines Landes einzugehen (hat China etwa
deshalb so niedrige Preise, weil es bevölkerungs- und flächenmäßig so groß ist?). Die im Patentmarkt
relevanten Stichworte wie „temporäres Angebotsmonopol“, „versunkene Forschungs- und Entwicklungskosten“ oder „internationale Preisdifferenzierung nach Zahlungsfähigkeit und Zahlungsbereitschaft eines Landes“ sollten genügen, um eine differenziertere ökonomische Perspektive einzunehmen. Siehe hierzu ausführlich Cassel/Ulrich 2012, insbesondere Kapitel 2 und 3).
Cassel/Ulrich
36
nationale Preisreferenzierung (IRP – International Reference Pricing) verzichtet. Dennoch
bestehen beachtliche Preisdiskrepanzen, die sich zunächst einmal auf die Apothekenverkaufspreise (AVP) beziehen. Ob sie sich in dieser Höhe auch auf der Ebene der Herstellerabgabepreise bzw. Abgabepreise pharmazeutischer Unternehmer (ApU) wiederfinden und
deshalb die Preiskalkulation der pharmazeutischen Unternehmen der Grund allen Übels sind
– wie von Ulrich Schwabe anscheinend unterstellt wird –, hat der AVR aber gar nicht untersucht und kann dies auch nicht aus den angestellten Preisvergleichen schließen. Eine vom
Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) angestellte und veröffentlichte Vergleichsrechnung zeigt z. B. für das auch von Schwabe im DE-SE-Vergleich 2009 (siehe oben
Tabelle 6) besonders diskutierte Beispiel des Rheumamittels Humira, dass das Präparat auf
der Herstellerebene nach Berücksichtigung von Handelsanteilen, MWSt, Rabatten und
Wechselkursen vom Juni 2010 den Kassen in DE „nur“ 16,5 % teurer komme als in SE; und
bei den 50 umsatzstärksten Patentpräparaten betrüge die Preisdiskrepanz zu ApU netto
gerade einmal 4,5 % (Übersicht 3). Vom ausgewiesenen ESP bei Humira in Höhe von 187,3
Mio. Euro bliebe somit auf der Herstellerebene nicht mehr viel übrig.
Übersicht 3: Preisvergleich des Antirheumapräparats Humira
Deutschland-Schweden, 2009
Quelle: BPI 2012,1, S. 75, nach Berechnungen von BPI 2011,2.
Schließlich ist vor diesem Hintergrund auch vor voreiligen Handlungsempfehlungen an die
Adresse von GKV-Spitzenverband (GKV-SV) und Schiedsstelle zu warnen, die nach Inkrafttreten des AMNOG die Zügel für die Bildung der Erstattungsbeträge von ArzneimittelInnovationen mit nachgewiesenem Zusatznutzen (so genannte Solisten) für das GKV-System
in der Hand halten. So schließt beispielsweise Ulrich Schwabe (2011, S. 17 f.) seine Kommentierung des milliardenschweren ESP aus dem Vergleich mit Großbritannien mit der Befürchtung, es sei kaum anzunehmen, „… dass die betroffenen pharmazeutischen Unternehmen ohne weiteres bereit sind, Preise für patentgeschützte Arzneimittel auf dem Niveau der
britischen Arzneimittelpreise zu akzeptieren“. Für diesen Fall sehe aber das AMNOG eine
Lösung durch eine Schiedsstelle vor. Und weiter: „Selbst wenn zunächst nur der Nutzen der 10
führenden patentgeschützten Arzneimittel bewertet würde und alle diese Präparate einen Zusatznutzen hätten, wären auf der Basis der britischen Arzneimittelpreise kurzfristig Einsparungen von 1,0 Mrd. Euro zu erzielen.“ Wenn dies eine kassenseitige Zielvorgabe für das
AMNOG-Procedere sein sollte, kann davor nur gewarnt werden; denn wie noch unten in Abschnitt 3.3 gezeigt wird, genügen derartige ESP weder statistisch-methodischen noch gesundheits- und industrieökonomischen Kriterien und sind von daher pragmatisch kaum belastbar.
Cassel/Ulrich
37
Einsparpotenziale bei Generika
Die gleiche Berechnungsprozedur wie bei den patentgeschützten Arzneimitteln wendet der
AVR auch für Generika und generikafähigen Wirkstoffe an. Auch hierbei werden die
deutschen AVP der 50 umsatzstärksten Marken für die jeweils meistverordnete Packungsgröße mit den in Euro denominierten AVP von 2009 in SE (zunächst mit MWSt, danach für
den ESP-Ausweis korrigiert) und von 2010 in GB (ohne MWSt) verglichen. Wie die in den
Tabellen 9 und 10 zusammengestellten Ergebnisse für die rangersten 10 Präparate zeigen,
sind diese ohne Ausnahme in SE und GB preisgünstiger als in DE. Da Generika national wie
international dem Preiswettbewerb unterliegen und von daher die Preise der Produkte mit
identischem Wirkstoff (z. B. omeprazolhaltige Präparate) tendenziell konvergieren sollten,
Tabelle 9: Generika und generikafähige Arzneimittel Deutschland-Schweden, 2009
Quelle: Schwabe 2010, S. 2/3.
Tabelle 10: Generika und generikafähige Arzneimittel Deutschland-Großbritannien, 2010
Quelle: Schwabe 2011, S. 2/3 f.
Cassel/Ulrich
38
überrascht es doch sehr, dass die prozentualen Unterschiede gegenüber SE und GB wie auch
national bei wirkstoffidentischen Produkten untereinander so groß sind. Hinsichtlich der
Spannweite der Preisdiskrepanzen ist im Vergleich mit SE das Präparat Pantozol in DE mit
0,5 % praktisch nicht teurer, dafür wäre bei Omep aber ein Aufschlag von 545,9 % zu zahlen.
Gegenüber GB kostet Sifrol in DE 51,1 % und Omep 258,7 % mehr. Der Korb der 10 umsatzstärksten Generika würde in DE 60,8 % mehr kosten als in SE, und wäre um 90,1 % teurer als
in GB – oder anders herum: In SE wäre der Korb 37,8 % und in GB 52,6 % billiger als in DE.
Wendet man den beschriebenen Algorithmus auch auf die Generika im Preisvergleich mit GB
von 2010 an, lassen sich die oben in Tabelle 8 exemplarisch ausgewiesenen ESP errechnen.
Anders als bei den Patentpräparaten, ergeben sich bei den einzelnen wie auch bei den 50
umsatzstärksten Präparaten deutlich geringere ESP: Am rangersten Generikum Sifrol ließen
sich demnach 62 Mio. Euro, beim rangletzten, Simvabeta, nur 22,4 Mio. Euro sparen
– und über alle 50 Präparate sind es im Vergleich zu den Geschützten „nur“ 1.355 Mio. Euro
(Tabelle A-2 im Anhang, letzte Spalte). Dies resultiert zum einen aus der höheren Zahl der
generisch verfügbaren Wirkstoffe und der Vielzahl der Produkte mit identischem Wirkstoff,
zum anderen aber auch aus dem insgesamt niedrigeren Generika-Preisniveau. So beträgt der
Umsatzanteil der 50 umsatzstärksten Generika und generikafähigen Stoffe an allen derartigen Präparaten auch nur 27,4 %. Das hat jedoch zur Folge, dass das entsprechend hochgerechnete mehrwertsteuerfreie ESP aus dem Preisvergleich mit GB gut 4,9 Mrd. Euro beträgt und damit mehr als 800 Mio. Euro über dem ESP der Geschützten liegt (Tabelle 8,
unterste Zeile).
Dieses Ergebnis erscheint einigermaßen paradox, herrscht doch im Generika- bzw. Festbetragsmarkt bekanntermaßen ein starker Preis- und Rabattwettbewerb mit der Folge, dass
die Generikapreise – bei gleichzeitig steigenden Generikaverordnungen – immer weiter
fallen (AVR 2011, S. 189). Außerdem besteht im Gemeinsamen Markt der EU auch bei
Arzneimitteln ein freier grenzüberschreitender Warenverkehr und werden Arzneimittelimporte hierzulande in verschiedener Hinsicht gefördert. Die Paradoxie löst sich jedoch
schon weitgehend durch die folgenden drei Sachverhalte auf: Erstens werden die Nachlässe
der Hersteller aus selektiven Rabattverträgen in Höhe von 1,3 Mrd. Euro in 2010 (AVR 2011,
S. 40) nicht preismindernd abgesetzt; zweitens gilt dies auch für die Abschläge aus dem
gesetzlichen Rabatt in Höhe von 2,7 Mrd. Euro in 2010 (Schwabe 2011,1, S. 3/3); 15 und
drittens wirkt sich der in Deutschland geltende fixe Apothekenaufschlag in Höhe von 8,10
Euro pro Packung gerade bei den niedrigpreisigen Generika im Vergleich zum Ausland preiserhöhend aus. 16 Deshalb wäre auch in diesem Marktsegment zu fordern, dass der Preisvergleich nicht mittels der AVP, sondern auf Ebene der um alle Abschläge und Rabatte bereinigte ApU vorgenommen wird. Dies würde ESP ergeben, die nicht nur realistisch, sondern
auch den Herstellern wirklich zurechenbar wären.
Ulrich Schwabe (2011, S. 25) löst die Paradoxie argumentativ dagegen wie folgt auf: „Was
früher mit Einfuhrzöllen zum Schutze der heimischen Wirtschaft erreicht wurde, gelingt heute
offenbar genauso effizient über eine mangelhafte Transparenz des Arzneimittelmarktes.
15
Der gesetzliche Generikarabatt beträgt 10 % und gilt auch für patentfreie Präparate unter Festbetrag. Er kann bis zu 16 % betragen, wenn das patentfreie Präparat nicht festbetragsgeregelt ist.
16
Beispielsweise würde ein zum ApU von 0,00 Euro geliefertes Medikament von der Apotheke zum
AVP von 8,10 Euro plus 19 % MWSt, also für 9,64 Euro abgegeben. Siehe dazu auch das Preisbeispiel
für Glimepirid, das 2008 einen ApU von 0,03 Euro pro Packung mit 30 Stück zu 1 mg hatte und in der
Apotheke 9,67 Euro kostete (Glaeske/Hoffmann 2008, S. 67).
Cassel/Ulrich
39
Trotz vielfältiger Regulierungsinstrumente im Generikamarkt (Festbeträge, Zusatzrabatte,
Rabattverträge, Generikaquoten) bestehen offensichtlich keine transparenten Preisbedingungen, so dass kein effektiver Preiswettbewerb stattfinden kann“. Und zur Politik gewandt,
folgert er: “Wenn Generika in Schweden, Holland und Großbritannien so viel billiger als in
Deutschland sind, sollte es eigentlich möglich sein, entsprechende Marktinstrumente auch
bei uns zu entwickeln“.
Die im AVR getrennt voneinander errechneten Generika-ESP von rund 1,6 Mrd. Euro im nPV
und von 4,9 Mrd. Euro im iPV summieren sich zu insgesamt 6,5 Mrd. Euro. Das aber wäre
etwa die Hälfte des gesamten Umsatzes von 13,1 Mrd. Euro zu AVP im generikafähigen
Markt (AVR 2011, S. 19) – Größenordnungen, die ziemlich utopisch erscheinen.17 In der Endabrechnung der jeweils separat ermittelten Wirtschaftlichkeitsreserven nimmt Schwabe
(2010, S. 40) allerdings eine Konsolidierung vor und zieht die 1,6 Mrd. Euro aus dem nPV
(Austausch gegen die preisgünstigsten Generika am deutschen Markt) von den 4,9 Mrd. Euro
aus dem iPV mit Großbritannien ab. 18 Somit verbleibt „netto“ ein Generika-ESP aus dem iPV
in Höhe von 3,3 Mrd. Euro. Dieses addiert sich dann mit den 4,7 Mrd. Euro aus dem nPV und
den 4,1 Mrd. Euro aus dem iPV der Patentpräparate zur stattlichen Summe von 12,1 Mrd.
Euro (siehe oben Tabellen 3 und 8). 19
Damit beläuft sich das totale Einsparpotenzial für 2010 auf rund 41 % des GKV-Fertigarzneimittelumsatzes von 29,7 Mrd. Euro. Wäre es vollständig zu Lasten der Arzneimittelhersteller realisiert worden, was den Pressekonferenzen und Medienberichten zufolge nach
wie vor intendiert ist, hätten diese über drei Viertel ihres Netto-Umsatzes von rund 15,7
Mrd. Euro nach ApU abzüglich aller Abschläge und Rabatte eingebüßt. Demnach dürfte die
gesamte GKV-Arzneimittelversorgung auf der Herstellerebene nur noch 3,6 Mrd. Euro
17
So weisen Glaeske/Hoffmann (2008, S. 67) sowie der Verband Pro Generika (2008) in ihren
Kommentaren zum AVR 2008 anhand von Berechnungsbeispielen darauf hin, dass das Generika-ESP
schon im nPV so hoch ausgefallen sei, dass letztlich der gesamte Generikaumsatz hätte eingespart
werden müssen, und sprechen ironisch von einer „Sternstunde der Arithmetik“.
18
Diese Konsolidierung ist zwar gerechtfertigt, weil eine durch nationale Generikasubstitution in DE
erreichte Einsparung nicht noch ein zweites Mal im Vergleich mit GB erzielbar ist. Wenn überhaupt,
kann nur noch die Differenz zwischen den niedrigen Preisen der Substituenten in DE zu deren noch
niedrigeren Preisen in GB potenziell eingespart werden. Dies wird jedoch von Schwabe nicht nachvollziehbar erläutert, wenn er zur Begründung seiner Korrektur schreibt: „Im internationalen Bereich
wurde … ein Einsparpotenzial von 4,9 Mrd. € errechnet, das etwa dreifach höher als das mit
nationalen Preisvergleichen berechnete Einsparpotenzial von 1,6 Mrd. € liegt. Die Einnahmen der
Krankenkassen aus Rabattverträgen mit pharmazeutischen Firmen (1,3 Mrd. €) liegen ohnehin
niedriger als das Einsparpotenzial durch die jeweils preisgünstigsten deutschen Generika. Somit ergibt
sich zusätzlich zu dem Ergebnis des nationalen Preisvergleichs ein weiteres Einsparpotenzial von 3,3
Mrd. €, wenn die erheblich niedrigeren Generikapreise in Großbritannien zugrunde gelegt werden“
(Schwabe 2011, S. 40). Darüber hinaus scheint aber eine Inkonsistenz darin zu bestehen, dass ein ESP
auf AVP-Basis inclusive MWSt (Generika-ESP im nPV) von einem umsatzsteuerfreien ESP (GenerikaESP im iPV) abgezogen wird (siehe auch Tabelle 3).
19
In einem Beitrag zur Pressemappe der Berlin Bundespressekonferenz zum AVR 2011 vom 14.
September 2011 wird von Schwabe (2011,1, S. 3/3) zusätzlich ein „reales Einsparpotenzial“ von 8,1
Mrd. Euro bzw. 27 % des Fertigarzneimittelumsatzes angegeben: Es errechnet sich aus den oben im
Text angegebenen 12,1 Mrd. Euro ESP durch Abzug von 4,0 Mrd. Euro aus selektiven Rabattverträgen
(1,3 Mrd. Euro) und gesetzlichen Abschlägen (2,7 Mrd. Euro) in 2010. Weder die Bezeichnung noch
die Berechnung finden sich jedoch im AVR 2011 wieder, was die Frage nach der Glaubwürdigkeit des
gesamten Zahlenwerks noch verstärkt.
Cassel/Ulrich
40
kosten. 20 Derart unrealistische Ergebnissen lassen darauf schließen, dass Potenzialberechnungen ein ziemlich gewagtes und manipulationsanfälliges Unterfangen sind, weshalb sie im
Folgenden hinsichtlich ihrer vielfältigen Fallstricke grundsätzlich hinterfragt werden sollen.
3
Fallstricke bei Potenzialberechnungen
3.1
Mangelnde Neutralität und Transparenz der Berechnungen
Ein immer wieder erhobener Vorwurf gegen den AVR lautet, dass er am Ausweis möglichst
hoher Wirtschaftlichkeitsreserven und ESP interessiert sei, um immer neue Maßnahmen zur
Kostensenkung in der GKV-Arzneimittelversorgung anzustoßen bzw. zu fordern. Durch die
Veröffentlichung hoher ESP ist dem AVR nicht nur hohe Aufmerksamkeit in den Medien
sicher, sondern er übt auch Handlungsdruck auf die Organe der Selbstverwaltung und den
Gesetzgeber aus, diese scheinbar objektiv errechneten ESP auch zu realisieren.
Ergebnisgeleitete Daten- und Methodenauswahl
Es gibt eine Reihe von Hinweisen darauf, dass der AVR Daten und Methoden zur ESPBerechnung entsprechend auswählt und als Ergebnisse die maximalen, letztlich aber unrealistisch hohen ESP darstellt (Pfannkuche et al. 2007, S. 5, IGES et al. 2009, S. 100). Ein Beispiel dafür ist die Substitution im Fall der Omeprazol-Präparate über DDD-Durchschnittskosten (Abschnitt 1.2). Diese als Methodik 1 beschriebene Vorgehensweise ergibt zwar das
größte ESP, ist aber unter methodischen Aspekten die am wenigsten überzeugende Vorgehensweise. In praxi ist dieses ausgewiesene ESP so nicht vorhanden, da es mit Hilfe von
Durchschnittskosten berechnet wird, die eine gleichmäßige Verteilung der Verordnungsmengen in Bezug auf Packungsgrößen und Wirkstärken voraussetzen. In der Regel werden
aber große Packungen und Packungen mit einer höheren Wirkstärke je DDD günstiger sein
als kleine Packungen und solche mit einem geringeren Wirkstoffgehalt. Im OmeprazolBeispiel liefert die Berechnung nach Methodik 1 ein ESP in Höhe von 54 Mio. Euro, nach
Methodik 4 verbleiben 12 Mio. Euro, dies entspricht einem Rückgang des ausgewiesenen ESP
in Höhe von rund 80 %.
Die so ermittelten ESP sind demnach stark von der konkreten Vorgehensweise bei der
Arzneimittelsubstitution getrieben. Die Anwendung der Methode, die den Realitäten des
Arzneimittelmarktes am nächsten kommt, hätte das ausgewiesene ESP signifikant verringert.
Berechnungen von ESP sind letztlich von einer Reihe von Annahmen abhängig und unterliegen offensichtlich vielen Limitationen. ESP-Berechnungen können nur dann auf Akzeptanz
stoßen, wenn die verwendete Methodik offen gelegt wird und Transparenz über die einzelnen Berechnungsschritte vorliegt. Preisvergleiche auf der Basis von DDD können nur
theoretische Konstrukte bzw. Artefakte darstellen, die Realität erweist sich mit Blick auf die
Arzneimittelsubstitution als wesentlich komplexer (Hoffmann/Pfannkuche 2007, S. 36).
20
Unterstellt man mit dem AVR (2011, S. 204) einen Herstelleranteil von 57,2 % am gesamten
Arzneimittelumsatz von 29,7 Mrd. Euro, sind das 17 Mrd. Euro, in denen bereits die 2,7 Mrd. Euro
Zwangsrabatte der Hersteller berücksichtigt sind. Abzüglich der 1,3 Mrd. Euro aus Rabattverträgen,
bleibt den Herstellern somit noch ein Nettoumsatz von 15,7 Mrd. Euro, von dem nach AVR/Schwabe
12,1 Mrd. Euro eingespart werden sollen.
Cassel/Ulrich
41
Berechnungen von oben und von unten
Bei internationalen Preisvergleichen möchte man grundsätzlich wissen, wie viel man einsparen kann, d. h. man will die Frage beantworten, um wie viel Prozent die Preise im Ausland
– in den AVR der Jahre 2010 und 2011 also Schweden und Großbritannien – günstiger sind.
Bei dieser Fragestellung muss die Preisdifferenz auf den deutschen und nicht auf schwedischen oder den englischen Preis bezogen werden. Formal gesehen macht das einen Unterschied, da die Basis der Berechnung eine andere ist, je nachdem ob man von oben oder von
unten rechnet.
In Abschnitt 2.4 wurde diese Vorgehensweise beispielhaft anhand der jeweils 10 umsatzstärksten Medikamente in Schweden, Großbritannien und Deutschland dargestellt. Angegeben wird der prozentuale „Unterschied“ zwischen den AVP der jeweils verglichenen Länder
in Euro. Im Durchschnitt hat der Korb, gebildet aus je einer Packung der 10 Präparate
(Summe der Ränge 1-10) in DE 55,9 % bzw. 66,1 % mehr gekostet als in SE und GB. Das sind
zunächst erstaunlich große Preisunterschiede zu den beiden betrachteten Ländern. Will man
die oben gestellte Frage beantworten, hätte man aber angeben sollen, dass die Preise in SE
durchschnittlich 35,8 % und in GB 39,8 % niedriger als in DE sind. Damit besteht zwar nach
wie vor ein Preisabstand zwischen dem Ausland und dem Inland, die ausgewiesenen
Differenzen fallen aber um über ein Drittel niedriger aus.
Preisunterschiede zwischen Inland und Ausland
Internationale Preisvergleiche sind sehr komplex (Abschnitt 2.4). Wenn nicht die Basisdaten
der Berechnungen transparent gemacht werden und alle Berechnungsschritte offengelegt
werden, kann man für den Preisvergleich Inland zu Ausland fast jedes beliebige bzw. gewünschte Ergebnis produzieren. Die zentralen Fallstricke sind dabei:
•
Vergleiche sollten grundsätzlich auf der Basis der ApU durchgeführt werden. Nur
diesen Preis hat der Hersteller zu verantworten. Bei Vergleichen auf AVP-Basis muss
sichergestellt sein, dass Unterschiede in den Distributionsketten (Handelsspannen,
Mehrwertsteuer, Rabatte) berücksichtigt werden. Ferner können natürlich nicht die
Preise von Präparaten in unterschiedlichen Packungsgrößen oder Wirkstärken miteinander verglichen werden, was beim AVR auch schon vorgekommen ist.
•
In Großbritannien berechnet sich der Public Price (entspricht dem deutschen AVP)
aus dem Abgabepreis des Herstellers zuzüglich einer Großhandelspanne (GH-Spanne)
von 12,5 %. Diese ist zwar nicht kodifiziert, entspricht aber dem üblichen Satz. Von
der Großhandelsspanne erhält der Apotheker durch den Großhändler einen Rabatt
von rund 10 %, so dass die tatsächliche GH-Spanne bei rund 2,5 % liegt. Diesen Rabatt
vereinnahmt der Apotheker aber nicht vollständig, vielmehr wird der vom National
Health Service (NHS), erstattete Listenpreis – dieser entspricht dem ApU plus 12, 5 %
GH-Spanne – in Abhängigkeit vom Apothekenumsatz prozentual um bis zu 11,5 %
gemindert. Der NHS schöpft somit den vom Großhändler an den Apotheker gewährten Rabatt weitgehend wieder ab. Damit gibt es in Großbritannien keine eindeutige Apothekenspanne, wie dies in Deutschland der Fall ist. Weiterhin gibt es
Produkte, die direkt an die Apotheken beliefert werden, so dass hier keine GHSpanne angesetzt wird. In diesem Fall ist der ApU gleich dem Public Price. Dieser so
genannte Direktvertrieb dürfte gerade bei hochpreisigen Produkten nicht selten sein.
Cassel/Ulrich
42
Unterschiedliche Rechnungen führen damit auch zu unterschiedlichen AVPs und
damit auch zu unterschiedlichen Vergleichsergebnissen. 21
•
Ein Preisvergleich bei Vorliegen von Wechselkursen macht nur Sinn, wenn man die
Preise bei Markteinführung zum damals gültigen Wechselkurs vergleicht. Ansonsten
werden aus Wechselkursschwankungen Preisdifferenzen errechnet, die der pharmazeutische Unternehmer weder beeinflussen kann noch zu vertreten hat. Sonst
müssten dem Hersteller im umgekehrten Fall auch entsprechende Spielräume für
Preiserhöhungen eingeräumt werden (siehe ausführlicher Abschnitt 3.3).
•
Zu berücksichtigen sind auch die gewährten Rabatte, da diese die GKV bzw. den Versicherten entlasten. Grundsätzlich müssten die Einsparungen aus Rabattverträgen
bzw. die gesetzlich fixierten Herstellerrabatte abgezogen werden. Da die gewährten
produktbezogenen Rabatte aus einzelnen Selektiverträgen nicht öffentlich bekannt
sind, ist es allenfalls möglich, sie auf Ebene der einzelnen Kassen oder der GKV insgesamt zu erfassen und abzusetzen. Beim AVR-Preisvergleich Deutschlands mit
Schweden und Großbritannien zeigen Kontrollrechnungen für einzelne Medikamente, dass aus einem vom AVR ausgewiesenen Preisnachteil aus deutscher Sicht
durchaus ein Preisvorteil werden kann, wenn die oben genannten Aspekte angemessen berücksichtigt worden wären (siehe das Fallbeispiel unten in Abschnitt
3.3).
Überschätzung des Umsatzwachstums bei patentgeschützten Arzneimitteln
Bereits im AVR 2009 wurde die These formuliert: „Der Umsatzanteil patentgeschützter
Arzneimittel am Gesamtmarkt der GKV-Fertigarzneimittelverordnungen hat sich innerhalb
der letzten vierzehn Jahre von 10,2 % im Jahr 1993 auf 36,8 % fast vervierfacht“ (AVR 2009,
S. 167). Auch im AVR 2011 wird die These der Vervielfachung der Umsätze patengeschützter
Arzneimittel wieder aufgenommen: „Lagen die Umsätze patentgeschützter Arzneimittel im
Jahre 1993 noch bei 1,7 Mrd. € und hatten damit nur einen Anteil von 11,0 % am Gesamtmarkt, sind sie bis 2010 kontinuierlich auf 14,2 Mrd. € mit einem Anteil von 48,0 % am
Gesamtmarkt angestiegen. Damit sind die Umsätze der Patentarzneimittel im Laufe der
letzten Jahre um 735 % angestiegen, während der Gesamtmarkt nur um 97 % zunahm“ (AVR
2011, S. 11). Was ist an dieser Aussage des AVR über die Wachstumsrate der Umsätze
patentgeschützter Präparate fragwürdig? Den zentralen Kritikpunkt bildet die berechnete
Grundgesamtheit, welche für die ausgewiesenen Steigerungsraten maßgeblich ist. Ein hohes
Umsatzwachstum bei den patentgeschützten Präparaten generiert auch ein entsprechend
hohes ESP.
1986 wurde die Klassifikation zur pharmakologischen Bewertung neuer Wirkstoffe von Uwe
Fricke und Wolfgang Klaus eingeführt (AVR 2011, S. 190). Seitdem werden neu eingeführte
patentgeschützte Präparate nach ihrem Innovationsgrad bewertet und klassifiziert (ABC21
Im NHS Electronic Drug Tariff heißt es dazu (NHS 2012, Part V): “Deduction Scale (Pharmacy Contractors) (Revised with effect from 1st September 2006): See Part II Clause 6A(i) (b) (4): Payment for
services provided by pharmacy contractors in respect of the supply of drugs, appliances and chemical
reagents supplied against prescriptions at each separate place of business shall comprise: (i) (a) The
total of the prices of the drugs, appliances and chemical reagents so supplied calculated in accordance with the requirements of this Tariff less (b) An amount, based on the total of the prices at (i)(a)
above, calculated from the table at Part V ("Deduction Scale")”.
Cassel/Ulrich
43
Klassifikation). Seit dem AVR 2010 werden auch Neueinführungen, die nicht durch Fricke/
Klaus bewertet wurden, in die Berechnungen mit einbezogen und unter der Rubrik sonstige
patentge-schützte Arzneimittel erfasst. Es handelt sich hierbei insbesondere um Wirkstoffkombinationen und Zweitindikationen (AVR 2010, S. 183). Für diese bewerteten – und seit
2010 auch nicht bewerteten – patentgeschützten Arzneimittel ermittelt der AVR nun für
jedes Jahr seit 1986 den GKV-Umsatz. Diesen Umsatz bezieht er jeweils auf die gesamten
GKV-Arzneimittelausgaben. Definitionsgemäß war der Anteil der von Fricke/Klaus bewerteten patentgeschützten Arzneimittel 1985 gleich 0 %, da zu diesem Zeitpunkt noch keine
Neueinführung bewertet war. Natürlich gab es aber auch 1985 bzw. 1986 bereits patentgeschützte Arzneimittel. Der damalige Bestandsmarkt wurde von ihnen jedoch nicht ex post
bewertet und damit auch nicht in den Vergleich mit dem GKV-Gesamtmarkt miteinbezogen.
1986 entsprachen die GKV-Umsätze der bewerteten Arzneimittel nur einem Bruchteil des
Umsatzes aller patentgeschützten Arzneimittel: Sie waren also – mathematisch gesehen –
nur eine Teilmenge aller patengeschützten Arzneimittel.
Der AVR setzt dagegen die durch Fricke/Klaus bewerteten patentgeschützten Arzneimittel
einfach mit der Gesamtheit aller patentgeschützten Arzneimittel gleich. Hätte der AVR seine
Statistik 1985 beginnen lassen, wäre dies sofort aufgefallen, weil die Kurven durch den Nullpunkt verlaufen wären. Aber auch 1993, dem Zeitpunkt, an dem der AVR seine Statistik
beginnen lässt, sind die bewerteten patentgeschützten Arzneimittel immer noch eine Teilmenge aller patentgeschützten Arzneimittel (Abbildung 3). Die Berechnung des AVR führt
dazu, dass die Ausgaben für patentgeschützte Arzneimittel zunächst unterschätzt und
dadurch ihr Umsatzwachstum und damit auch das ESP für patentgeschützte Präparate über
die Jahre hinweg überschätzt werden.
Abbildung 3: Umsatzwachstum patentgeschützter Arzneimittel
2010
1993
Umsatz patentgeschützte
AM 14,2 Mrd. €
Umsatz patentgeschützte
AM 4,9 Mrd. €
=
Umsatz klassi-
Umsatz klassi-
fizierte patent-
fizierte patent-
gesch. AM 14,2
gesch. AM 1,7
Mrd. €
Mrd. €
Fiktives AVRWachstum
Quelle: Eigene Berechnung auf Basis der Daten des AVR 2011.
Cassel/Ulrich
44
Geht man davon aus, dass die Netto-Patentschutzdauer bis zu 15 Jahren beträgt, 22 ist die
Statistik erst etwa ab dem Jahr 2000/2001 aussagefähig (15 Jahre nach 1985/1986). Denn
erst wenn alle nicht bewerteten Bestandspräparate ihren Patentschutz nach spätestens 15
Jahren verloren haben, sind beide Mengen – alle patengeschützten und alle von Fricke/Klaus
bewerteten Arzneimittel – identisch. Interessanterweise verläuft die Kurve der von ihnen
bewerteten patentgeschützten Arzneimittel in Prozent des Gesamtmarktumsatzes seit 2002
eher flach, was für die Existenz des Basiseffekts spricht (Abbildung 4).
Abbildung 4: Umsatzanteile patentgeschützter Arzneimittel in % des Gesamtmarktumsatzes, 1993-2010
Quelle: AVR 2011, Abbildung 4.9, S. 191.
Die quantitative Bedeutung des Basiseffekts ist nicht exakt ermittelbar, da der AVR in Bezug
auf seine Methodik und die Daten nicht vollständig transparent ist – es fehlen z. B. Aufstellungen, welche Produkte in welchem Jahr den Analysen zugrunde liegen. Mit den zur
Verfügung stehenden Daten lässt sich aber eine erste Abschätzung vornehmen. 23
Der normale Patentschutz beträgt brutto 20 Jahre. In Abhängigkeit von der Entwicklungszeit
können maximal bis zu 5 Jahre Zusatzschutz durch ein ergänzendes Schutzzertifikat (SPC –
Supplementary Protection Certificate) hinzukommen. Das SPC wird jedoch nur so gewährt, dass eine
Netto-Patentschutzzeit, also die Zeit in der das Produkt vermarktet werden kann, von 15 Jahren nicht
überschritten wird. Beträgt nun die Entwicklungszeit des Präparates seit Patentanmeldung beispielsweise 8 Jahre, so errechnet sich die Netto-Patentlaufzeit von 15 Jahren wie folgt: 20 + 3 – 8 = 15.
Beträgt die Entwicklungszeit dagegen 10 Jahre, ergibt sich ebenfalls eine Netto-Patentlaufzeit von 15
Jahren: 20 + 5 -10 = 15.
23
Die Abschätzung steht allerdings auf schwachen Füßen, da sich die verschiedenen Teilmärkte im
AVR nicht zum angegebenen Gesamtumsatz addieren. Im AVR 2011 wird für den generikafähigen
Markt ein Fertigarzneimittelumsatz von 13,1 Mrd. Euro angegeben (AVR 2011, S. 21, Tab. 1.5) und
ein Umsatz mit patentgeschützten AM von 14,2 Mrd. Euro (AVR 2011, S. 11). Dies addiert sich zu 27,3
22
Cassel/Ulrich
45
Der GKV-Umsatz betrug 1993 rund 15,1 Mrd. Euro (AVR 2011, Abbildung 1.1, S. 3). Der Umsatzanteil der Generika am Gesamtmarkt betrug 1993 rund 32,3 % (AVR 2011, Abbildung 1.6,
S. 20). Daraus lässt sich ein Generikaumsatz im Jahre 1993 von ca. 4,9 Mrd. Euro berechnen
(15,1 Mrd. Euro x 0,323 = 4,9 Mrd. Euro). Damals betrug der Anteil der Generika am generikafähigen Markt 47,7 % (AVR 2011, Abbildung 1.5, S. 19). Hieraus lässt sich errechnen, dass
der Umsatz des generikafähigen Marktes damals 10,2 Mrd. Euro betrug (4,9 Mrd. Euro /
0,477 = 10,2 Mrd. Euro). Wenn ein Präparat nicht generisch oder patentfrei ist, dann ist es
patentgeschützt. Daher lässt sich nun der Umsatz aller patentgeschützten Arzneimittel im
Jahr 1993 errechnen: Er beträgt 4,9 Mrd. Euro (15,1 Mrd. Euro Gesamtmarkt – 10,2 Mrd.
Euro generikafähiger Markt = 4,9 Mrd. Euro patentgeschützter Markt).
Damit lässt sich nun auch die Größe der Unter- und Überschätzungen angeben:
•
Laut AVR 2011 lagen die Umsätze patentgeschützter Arzneimittel 1993 nur bei 1,7
Mrd. Euro (AVR 2011, S. 10). Nach den obigen Berechnungen lag der tatsächliche
Umsatz patentgeschützter Arzneimittel 1993 bei etwa 4,9 Mrd. Euro. Der AVR unterschätzt demnach die Umsätze im Jahr 1993 um 3,2 Mrd. Euro bzw. um 65 %.
•
Der Umsatzanteil patentgeschützter Arzneimittel soll 1993 laut AVR nur 10,8 % betragen haben. Nach unseren Berechnungen lag der tatsächliche Umsatzanteil patentgeschützter Arzneimittel 1993 bei 32,4 % (4,9 Mrd. Euro / 15,1 Mrd. Euro). Der AVR
unterschätzt demnach die Umsatzanteile im Jahr 1993 um 67 %.
•
Der AVR 2011 behauptet, dass die Umsätze patentgeschützter Arzneimittel von 1993
bis 2009 von 1,7 Mrd. Euro auf 14,2 Mrd. Euro (+ 12,5 Mrd. Euro + 735 %) gestiegen
sind. Der Gesamtmarkt sei im gleichen Zeitraum aber nur um 97 % gestiegen. Nach
unseren Berechnungen sind die Umsätze patentgeschützter Arzneimittel von 1993 bis
2009 tatsächlich nur von 4,9 Mrd. Euro auf 14,2 Mrd. Euro (+ 9,3 Mrd. Euro + 190 %)
gestiegen. Damit hat der AVR die Umsatzsteigerungen um 3,2 Mrd. Euro bzw. 34 %
überschätzt. Die Wachstumsrate hat er um 287 % bzw. 545 Prozentpunkte überschätzt.
Welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus diesen Berechnungen? Insgesamt gesehen
sollte der AVR die Entwicklung der Umsatzanteile patentgeschützter Arzneimittel im Jahr
1985 beginnen lassen, damit dieser Niveaueffekt nicht auftritt. Sinnvoll wäre auch, wenn der
AVR offen legte, welche patentgeschützten Präparate seinen Berechnungen zugrunde liegen
und welche nicht. Weiterhin sollte der AVR immer die Umsatzverteilungen aller Marktsegmente angeben (wie Patentarzneimittel, Generika etc.), um die jeweiligen Marktanteile
bestimmen zu können. Die genannten Aspekte verdeutlichen, dass der AVR bei der Berechnung von ESP nicht neutral ist, sondern das Ziel verfolgt, möglichst hohe ESP auszuweisen und seine Berechnungsmethodik in vielen Fällen nicht öffentlich zugänglich ist. Der
AVR sollte daher seine Methodik, seine Daten und seine Rechenwege transparent machen.
Im Umkehrschluss gilt für Nicht-Transparenz, dass diese immer nur in Ausnahmefällen begründbar erscheint, beispielsweise bei Gründen des Datenschutzes.
Mrd. Euro. Der Umsatz wird jedoch mit 29,7 Mrd. Euro angegeben (AVR 2011, S. 3 Abb. 1.1). Selbst
wenn man die umstrittenen AM (0,8 Mrd. Euro, AVR 2011, S. 35 Abb. 1.8) noch dazu rechnet, obwohl
diese ja eine Teilmenge der patentgeschützten und patenfreien AM sein müssten, ergibt sich nur ein
Umsatz von 28,1 Mrd. Euro. Es bleibt eine Differenz in Höhe von 1,6 Mrd. Euro. Dasselbe gilt auch für
das Jahr für 1993. Die AVR-Daten sind hier intransparent.
Cassel/Ulrich
46
Unter den genannten Aspekten sollte bei Preisvergleichen auf die Einhaltung von Mindeststandards in Bezug auf Neutralität und Transparenz geachtet werden:
•
Klare Beschreibung des Forschungsziels: Sollen ESP berechnet werden oder eher deskriptiv benannt werden? Welche Daten stehen zur Verfügung und welchen Zwecken
dient der Ausweis von ESP? Welche Instrumente stehen zur Schöpfung der ESP zur
Verfügung?
•
Klare Darstellung der Methodik: Annahmen, Vergleichsebene, konkrete Vorgehensweise.
•
Datentransparenz: Die verwendeten Datensätze, die Methodik und die Klassifikationen sollten im Internet zur Verfügung stehen.
•
Diskussion der Limitationen: Darstellung der Grenzen und Fallstricke für Preisvergleiche und Berechnungen von ESP.
Bewertet man die Verordnungs- bzw. Verbrauchsreports unter diesen Gesichtspunkten,
steht der AVR im Mittelpunkt einer kritischen Bewertung. Der AM-Atlas weist keine eigenen
ESP-Berechnungen aus und der BARMER GEK-Report weist lediglich relativ grobe Schätzungen aus, die letztlich nur kassenspezifisch interpretiert werden. Der AVR ist demnach der
einzige Verordnungsreport, der nationale und internationale Preisvergleiche vornimmt und
quantitative Berechnungen zu den ESP auf GKV-Ebene anstellt. Die Einhaltung der oben genannten Mindeststandards in Bezug auf Neutralität und Transparenz werden beim AVR
jedoch teilweise nicht eingehalten, was in künftigen Reports unbedingt vermieden werden
sollte.
3.2
Unrealistische Annahmen und inadäquate Berechnungsmodalitäten
Die konkrete Berechnung von Einsparpotenzialen basiert auf zahlreichen Annahmen über
Berechnungsgrundlagen und Berechnungsmethoden und hängt von der Verfügbarkeit international und intertemporal vergleichbarer und valider Daten ab. Insbesondere sind einzelne
Annahmen und Berechnungsmodalitäten zu beachten, auf die ausgewiesene ESP höchst
sensibel reagieren. Ein nicht zu vernachlässigender Aspekt besteht schließlich auch in der
Berücksichtigung der preisbestimmenden Marktdynamik, da Preise und Mengen nicht isoliert gesehen werden können, sondern immer auch eine Reaktion auf veränderte Rahmenbedingungen, insbesondere des Regulierungssystems, sind. Aus alledem sind Schlussfolgerungen dahingehend zu ziehen, welche Fallstricke generell bei der Berechnungsweise
von ESP zu beachten sind und welche Folgen ihre Missachtung hat.
Relevanz von Rabatten, Handelsspannen und Mehrwertsteuer
Bei der Abgrenzung des relevanten Marktes verwendet der AVR den Begriff des GKVFertigarzneimittelumsatzes (siehe Abschnitt 2.1). Dieser beläuft sich für das Jahr 2010 auf
29,7 Mrd. Euro (AVR 2011, S. 1). Der Umsatz der pharmazeutischen Industrie mit der GKV ist
allerdings wesentlich geringer, so dass bereits an dieser Stelle eine zu große Grundgesamtheit und damit grundsätzlich auch ein zu hohes ESP ausgewiesen werden.
Im GKV-Fertigarzneimittelumsatz sind u. a. die finanziellen Auswirkungen der Arzneimitteldistribution über Großhandel und Apotheken wie im Direktvertrieb enthalten. Schlüsselt
man den Fertigarzneimittelumsatz nach Distributionsstufen auf, ergibt sich folgendes Bild
(AVR 2011, S. 204): Der Umsatzanteil der Hersteller beläuft sich auf nur noch 57,2 % (16,99
Cassel/Ulrich
47
Mrd. Euro). Von diesem Umsatz müssten jetzt noch die Rabatte aus selektiven Rabattverträgen in Höhe von insgesamt 1,3 Mrd. Euro in 2010 abgezogen werden. Netto bliebe dann
nur noch ein GKV-Umsatz der pharmazeutischen Industrie in Höhe von 15,7 Mrd. Euro übrig.
Das vom AVR für 2010 ausgewiesene ESP in Höhe von 12,1 Mrd. Euro entspräche somit
einem Anteil von rund 77 % an den Netto-Umsätzen der Hersteller mit der GKV. Nach
„Realisierung“ des ESP würden diese sogar nur noch 3,6 Mrd. Euro betragen (AVR 2011, S.
41). Die Grundgesamtheit „GKV-Fertigarzneimittelumsatz“ wird somit großgerechnet, indem
man die Rabatte und Margen der Distributionsstufen nicht herausrechnet. Der Vergleich mit
den durch Absenkung der Herstellerpreise zu erzielenden Einsparungen fällt dann entsprechend hoch aus, obwohl sie in der ermittelten Form gar nicht gegeben sind.
In einer Pressemitteilung des Verbandes Pro Generika vom 14. September 2011 weist er
darauf hin, dass die vom AVR berechneten Einsparungen bei Generika sogar höher seien als
die vom AVR ausgewiesenen Umsätze der Generikahersteller: „Der AVR arbeitet mit unsauberen Fakten und Daten. Erstens unterscheidet er nicht zwischen Generika und patentfrei
gewordenen Erstanbieterpräparaten (Altoriginale), sondern fasst beide als "Generika" auf.
Dabei ignoriert er bewusst, dass Generika im Durchschnitt ab Werkstor nur ein Drittel dessen
kosten, was für die Altoriginale fällig wird. ... Auch scheint es die Autoren des AVR nicht
stutzig zu machen, dass die Generikaunternehmen in Deutschland einen Umsatzanteil von
lediglich ca. 4 Mrd. Euro zu Herstellerabgabepreisen haben. Denn zieht man davon die vermeintlichen Einsparpotentiale und noch sämtliche Rabatte ab, die der AVR selbst auf über
eine Milliarde veranschlagt, bliebe nicht einmal eine schwarze Null" (Pro Generika 2011, S. 1).
Allerdings lässt sich auch die Rechnung von Pro Generika hinterfragen: Der AVR bezieht
seine Einsparungen auf den gesamten generikafähigen Markt (Generika und patentfreie
Originale), während Pro Generika das Einsparpotenzial nur auf die kleinere Grundgesamtheit
der Generika bezieht.
Das Vorgehen bei den Berechnungsmodalitäten kann bis zu einem gewissen Grad willkürlich
sein. Betrachtet man beispielsweise eine 10%ige Absenkung der Festbeträge auf das Preisniveau der Präparate, die bisher schon unter dem Festbetrag lagen, wird keiner der
Hersteller seinen Preis senken. Damit ergibt sich auch keine Einsparung, da diese nicht auf
den Festbetrag, sondern auf den faktischen Preis bezogen wird. Würde man dagegen einen
10%igen gesetzlichen Rabatt auf den faktischen Preis verfügen, würden diese Einsparungen
auf dem Konto für Rabatterlöse erfasst. Hier zeigen sich Unterschiede zwischen den zur Anwendung kommenden Instrumenten. Die Absenkung des Festbetrags muss nicht zu einer
Preissenkung führen, während der eingeräumte Rabatt in jedem Fall eine rechnerische Preissenkung bewirkt. Das Vorgehen kann somit höchst uneinheitlich und unsystematisch sein.
Eine Modifikation einer ansonsten identischen Regulierungsmaßnahme kann die Höhe der
ausgewiesenen GKV-Fertigarzneimittelumsätze unter Umständen signifikant verändern,
genauso wie den entsprechenden Ausweis des ESP, ohne dass sich materiell etwas verändert
hätte.
Anstatt die Rabatte zu addieren, wäre es aus methodischer Sicht angebracht, sie aus den
Fertigarzneimittelumsätzen pauschaliert abzuziehen. Nach Angaben des AVR (2011, S. 180)
besteht seit 2008 ein eigenes Haushaltskonto der Kassen in der amtlichen Statistik, in dem
die Einnahmen der Kassen aus Rabatterträgen ausgewiesen werden. Zwar lassen sich die
Rabatte nicht aus einzelnen Selektivverträgen nachvollziehen, die „Rabatterlöse“ der GKV
insgesamt sind aber bekannt und belaufen sich in 2010 auf die erwähnten 1,3 Mrd. Euro.
Cassel/Ulrich
48
Diese Regulierungswirkungen dürfen bei der Analyse von ESP nicht ignoriert werden, weil
sonst Wirtschaftlichkeitsreserven zur Diskussion stünden, die längst über die gewährten
Rabatte realisiert sind.
Fragwürdige Zurechnung der potenziellen Einsparungen
In Politik und Selbstverwaltung wird meist davon ausgegangen, dass die ESP auf der Ebene
der Hersteller zu realisieren seien. Diese Vorstellung abstrahiert nahezu vollständig von den
existierenden Wirkungsmechanismen der Preisbildung in Deutschland und in anderen
marktwirtschaftlichen Ländern: Von einem Arzneimittel, das in der Apotheke 11 Euro zu
Lasten der GKV kostet, erhält der Hersteller nur rund 35 Cent (BPI 2011, S. 1). Der Rest geht
in die Mehrwertsteuer und in die Handelsstufen. ESP auszurechen und sie den Herstellern
anzurechnen, obwohl sie gar nicht bei den Herstellern anfallen, ist methodisch nicht angemessen und bei der Realisierung von ESP auch nicht zielführend.
Der AVR ermittelt auf Basis des AVP, dass für die 50 überprüften umsatzstärksten Patentarzneimittel die Kosten in Deutschland um 48 % bzw. 65 % über denen in SE und in GB liegen
(AVR 2011, S. 13; Abschnitt 3.3). Das ist zwar plausibel ermittelt, ignoriert aber die unterschiedliche Mehrwertsteuer und die Anteile, die auf Großhandel und Apotheker entfallen.
Berücksichtigt man diese, liegt der Unterschied auf Herstellerebene bei 20 %, also deutlich
niedriger. Diese Rechnung ist aber noch immer verzerrend, denn sie vernachlässigt die
Zwangsabschläge bei Herstellern und Apothekern wie auch den Einfluss der Wechselkurse
(siehe Abschnitt 3.3). Eine Beantwortung der eigentlich interessierende Frage: „Wie hoch ist
die tatsächliche Belastung der Krankenkassen, wer erhält von den Ausgaben wie viel und bei
wem liegen welche Wirtschaftlichkeitsreserven?“ bleibt dabei unbeantwortet.
Für entsprechende Antworten wäre es erforderlich, die Arzneimittelpreisbildung nach den
Distributionsstufen stärker zu differenzieren:
•
•
•
•
Ausweis des Anteils Hersteller
Ausweis des Anteils Großhändler
Ausweis des Anteils Apotheker und
Ausweis des Anteils Mehrwertsteuer
Eine vom BPI (2012) durchgeführte Vergleichsrechnung sowohl für den Preisvergleich mit SE
als auch mit GB zeichnet ein wesentlich differenzierteres Bild der Träger von Preiseffekten
im Sinne der tatsächlichen Belastung innerhalb der Distributionskette (Supply Chain) wie
auch der entsprechenden Inzidenz der ESP.
Abbildung 5 zeigt das Ergebnis des Preisvergleichs mit Schweden aus 2010, aktualisiert um
die Wechselkursentwicklung bis 2012. Dabei ist angenommen, dass je eine Packung der 50
verglichenen Patentpräparate zum AVP in Schweden und in Deutschland gekauft wird.
Insgesamt kosten diese Arzneimittel den auf der Ordinate angegebenen Euro-Betrag in den
beiden Ländern. Relevant ist insbesondere die Aufteilung nach den einzelnen Teilnehmern
der Distributionskette. Sie beantwortet die Frage, wer welchen Anteil der Preissumme bzw.
Ausgaben für den Warenkorb erhält und wie hoch die tatsächliche Belastung der Krankenkassen letztlich ist. Aktualisiert mit der Wechselkursentwicklung bis zum 02.06.2012, beläuft
sich der Preisunterschied nach der AVR-Methode nur noch auf 39,98 % und nicht mehr auf
48 %. Unter der notwendigen Berücksichtigung der Abschläge von Herstellern und Apothekern verringert sich diese Differenz auf 21,04 %. Auf der Ebene der Hersteller sind in DE
die 50 Patentarzneimittel sogar um 1,5 % billiger als in SE (in dieser Angabe sind anteilige
Cassel/Ulrich
49
Mehrwertsteuer-Rückerstattungen an den Hersteller enthalten). Abbildung 5 enthält zum
aktualisierten Vergleich noch einen vierten Balken: Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des
AVR 2010 (14.09.2010), der den Vergleich mit SE enthält, war der Herstellerabschlag ab
01.08.2010 auf 16 % erhöht und ein Preismoratorium verhängt worden. Die AVR-Analyse
ging zum damaligen Zeitpunkt von dem noch gültigen Herstellerabschlag von nur 6 % aus.
Abbildung 5: Preiseffekte auf den Distributionsstufen in Deutschland
und Schweden
+21,04 %
+39,98 %
-1,5 %
Legende: Die Balken zeigen für DE und SE die Aufteilung des Euro-Betrags, der für den Korb der 50
Patentarzneimittel entrichtet werden muss, auf die Teilnehmer der Distributionskette, wenn angenommen wird, dass je eine Packung zum jeweiligen AVP in den beiden Ländern gekauft würde.
Quelle: Eigene Darstellung nach Berechnungen des BPI (2011,2).
Der Hauptunterschied beim Vergleich zwischen DE und SE liegt somit nicht auf der Herstellerebene, sondern bei der Mehrwertsteuer – die nicht in SE, aber in DE erhoben wird –
sowie bei der in DE höheren Vergütung von Großhandel und Apotheken. Will man die ausgewiesenen ESP des AVR realisieren, so lassen sich nur rund 10 % auf der Ebene der
Hersteller heben. Etwa 40 % betreffen die Mehrwertsteuer, 8 % den Großhandel, 6 % die
Apotheken – und rund 36 % des ESP sind durch Apothekenabschlag und erhöhten Herstellerabschlag bereits realisiert.
Mit Blick auf den Preisvergleich zu GB aus 2011 ergeben sich die in Abbildung 6 enthaltenen
Resultate. Die Preisdiskrepanz für die 50 umsatzstärksten Patentarzneimittel beträgt nach
der AVR-Methode 65 % zu Ungunsten Deutschlands. Bestimmt man wieder die Aufteilung
Cassel/Ulrich
50
des Betrages auf die einzelnen Teilnehmer der Distributionskette und berücksichtigt die Abschläge von Herstellern und Apothekern, verringert sich diese Diskrepanz auf 38,38 %. Auf
der Ebene der Hersteller sind in DE die 50 betrachteten Arzneimittel nur noch um 27,74 %
teurer als in GB.
Abbildung 6: Preiseffekte auf den Distributionsstufen in Deutschland
und Großbritannien
+64,74 %
+38,38 %
+27,74 %
Legende: Ordinatenbezeichnung Euro-Betrag wie in Abbildung 5.
Quelle: Eigene Darstellung nach Berechnungen des BPI (2012,2).
Der AVR vergleicht Deutschland und Schweden bzw. Großbritannien zu AVP der jeweils umsatzstärksten Packungsgröße in DE oder einer ähnlichen Packungsgröße, wenn eine entsprechende ausländische Packungsgröße nicht auf dem Markt ist. Der BPI hat von IMS Health
für den Vergleich mit Schweden im AVR 2010 ermitteln lassen, für welche der Arzneimittel
– und deren Handelsformen – in DE Rabattverträge nach § 130a (8) SGB V bestehen und
welchen Marktanteil die im Rahmen der Rabattverträge abgegebenen Packungen haben. Im
Ergebnis zeigt sich, dass in DE für rund 60 % der Arzneimittel aus dem SE-Vergleich Rabattverträge vorliegen. Der mittlere Marktanteil der rabattierten Packungen an allen Handelsformen belief sich auf 27 %. Die Marktanteile der rabattierten Packungen sind somit relativ
Cassel/Ulrich
51
hoch. Durch die Rabattverträge werden die deutschen Krankenkassen im Ländervergleich
noch deutlich entlastet, ohne dass dies in den Berechnungen Berücksichtigung fände.
Das zentrale Problem liegt darin, dass der AVR auf Basis des AVP rechnet. Durch die zahlreichen Arzneimarkt-Regulierungen in DE, aber auch in den Vergleichsländern, sagt der AVP
inzwischen nur noch wenig darüber aus, was ein Arzneimittel die Krankenkassen kostet. Er
informiert zudem nicht darüber, welche Einnahmen die Hersteller aus dem Verkauf eines
Arzneimittels erhalten. Ein solcher Vergleich muss mit Hilfe des „Preise ab Werk“ stattfinden,
da ansonsten den pharmazeutischen Unternehmern Erlöse zugerechnet werden, die ihnen
tatsächlich gar nicht zufließen.
Unzulässige Ceteris-paribus-Bedingungen
Alle bekannten Berechnungen von Einsparpotenzialen unterliegen der Ceteris-paribusBedingung, d. h. sie erfolgen unter sonst gleichen Bedingungen. Mit diesem statischen
Konzept wird man aber der Dynamik auf dem Arzneimittelmarkt – und hier insbesondere auf
dem Markt für Generika – nicht gerecht. Die Berechnung von ESP bei generikafähigen Wirkstoffen zeigt den Nachteil der statischen Analyse sehr anschaulich: Bei der Substitution wird
stets das preisgünstigste Generikum verwendet. Käme immer der günstigste Anbieter zum
Zuge, so hätte dies in kürzester Zeit eine starke Konzentration auf sein Präparat zur Folge. Da
es aber beträchtliche Markteintrittshürden gibt, würde der betreffende Anbieter seine
Preise wieder erhöhen. In der statischen Analyse werden diese Effekte vernachlässigt, die
aber für eine dynamische Gesamtbetrachtung entscheidend sind und durch eine Mutatismutandis-Betrachtung erfasst werden müssten.
Aus ökonomischer Perspektive ist offensichtlich, dass eine kritische Anzahl von Generikaanbietern am Markt vorhanden sein muss, um einen Preiswettbewerb – und damit auch die
erwünschten Preissenkungen – zu induzieren. Sonst dürfte es nach den gängigen Einsichten
der Oligopoltheorie zu unerwünschten Preis- und Mengenreaktionen der Anbieter kommen.
Der günstigste Anbieter kann möglicherweise seinen Lieferverpflichtungen nicht nachkommen oder den Preis nicht halten. Diese Dynamik führt zu Folgeänderungen, die das ESPBerechnungsergebnis unrealistisch machen können: Denn es enthält implizit die Annahme,
dass das ausgewiesenen ESP unter den angegebenen Bedingungen auch realisiert werden
kann. Durch die einsetzenden Folgeänderungen wird die implizite Ceteris-paribus-Annahme
jedoch verletzt, und die Voraussetzungen für die ESP-Berechnungen verlieren ihre Gültigkeit.
Sinnvoller wäre es zu versuchen, die Marktdynamik besser abzubilden. Ökonomische Ansätze aus der Industrieökonomik liegen dazu vor. Im Kern geht es darum, dass Unternehmen
auf Regulierungen und Anreize rational reagieren und handeln. Aus der Sicht eines Unternehmens reflektieren die Preise vor Abzug der Rabatte immer auch die antizipierten
Rabatte, d. h. sie werden zuvor entsprechend erhöht. Natürlich kann Marktdynamik auch
durch Regulierungsmaßnahmen des Gesetzgebers angestoßen werden, und sie lässt sich
noch weiter befördern, sofern man dabei die Reaktionen der Unternehmen antizipativ berücksichtigt. Aber analytisch so zu tun, als gäbe es keinerlei Marktdynamik, wird dem
Arzneimittelmarkt nicht gerecht und stellt darauf aufbauende ESP-Berechnungen grundsätzlich in Frage.
Cassel/Ulrich
3.3
52
Missachtung von Besonderheiten der internationalen Preisreferenzierung
Vergleichsrelevante Besonderheiten
Sind Potenzialberechnungen aus nationalen Preisvergleichen schon problematisch genug,
birgt die Heranziehung von Vergleichspreisen aus anderen Ländern noch weitere Fallstricke,
die ihre Belastbarkeit zusätzlich gefährden können. Wie bereits in Abschnitt 2.4 am Beispiel
der AVR-Vergleiche der Arzneimittelpreise Deutschlands mit Schweden und Großbritannien
gezeigt wurde, können daraus im Ergebnis völlig unrealistische ESP resultieren. Sie mögen
zwar Hoffnungen auf beträchtliche Einsparungen in der GKV-Arzneimittelversorgung
wecken, aber als Richtschnur für eine rationale, gesundheits- und industriepolitisch ausgewogene Regulierung des Arzneimittelmarktes sind sie untauglich. Die Schwierigkeiten,
pragmatisch belastbare ESP-Ergebnisse durch internationale Preisreferenzierung (IRP – International Reference Pricing) zu erzielen, sind grundsätzlicher Natur und betreffen im Unterschied zum nationalen Preisvergleich im Wesentlichen folgende Sachverhalte: 24
• Erstens vollzieht sich der Preisvergleich nicht im überschaubaren institutionellen
Rahmen des Inlands bei weitgehender Preistransparenz – wie z. B. in Deutschland
durch die LAUER-Taxe –, sondern kann im Prinzip zwischen beliebig vielen Ländern mit
jeweils eigener Jurisdiktion, eigener Politik und einem speziell geprägten Gesundheitssystem stattfinden, so dass eine Länderauswahl getroffen werden muss. Dafür
bedarf es zweckmäßiger, vor allem aber sachlich begründeter Kriterien, die sicherstellen, dass die Referenzländer grundsätzlich mit Deutschland vergleichbar sind.
• Zweitens weist jedes Referenzland Regulierungs- und Marktbesonderheiten bei
Arzneimitteln auf, die preisbestimmend sein können und den Preisvergleich mit
Deutschland erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen. Dazu gehören die vielfältigen angebots- und nachfrageseitigen Regulierungen (Cassel/Ulrich 2012, S. 56 ff.)
– darunter insbesondere die direkten und indirekten Preisregulierungen wie z. B. Preisfestsetzungen, -verhandlungen, -stopps und -leitlinien sowie Gewinnkontrollen, Rückerstattungen Rabatte usw.
• Drittens wirken Erstattungsregelungen – wie z. B. Arzneimittellisten und KostenWirksamkeits-, Kosten-Nutzwert- oder Kosten-Nutzen-Bewertungen – und die daran
geknüpfte Preisbestimmung in die gleiche Richtung (Cassel/Ulrich 2012, S. 62 ff.), so
dass sich Arzneimittelpreise von Land zu Land schon dadurch unterscheiden können,
ob sie gänzlich ohne Nutzenbewertung oder auf Grundlage einer Kosten-NutzenBewertung oder des Konzepts der qualitätskorrigierten Lebensjahre (QALY – Quality
Adjusted Life Years) ermittelt werden.25
24
Unter internationaler Preisreferenzierung (IRP) versteht man die Bezugnahme auf Arzneimittelpreise in anderen Ländern bei der Preisregulierung im eigenen Land. Die Bezeichnung wird hier analog verwendet, weil die ESP aus internationalen Preisvergleichen errechnet werden in der Absicht,
entsprechende Einsparungen durch Interventionen in den Arzneimittelmarkt zu realisieren. Siehe
zum IRP-Konzept ausführlich das Gutachten von Cassel/Ulrich 2012.
25
So richtet sich die Preisermittlung für neue Medikamente in GB auch nach den damit zusätzlich
erzielbaren QALYS, die mit einem maximalen Erstattungsbetrag bewertet sind. Das von den meisten
Gesundheitsökonomen favorisierte QALY-Konzept wird in Deutschland aber nicht angewendet, weil
es politisch u. a. aus ethischen Gründen abgelehnt wird (Deutscher Ethikrat 2011, S. 37 ff.). Eine
Referenzierung der britischen AM-Preise würde deshalb einem impliziten Import dieses Konzepts
Cassel/Ulrich
53
• Viertens unterscheiden sich mögliche Referenzländer untereinander wie auch gegenüber Deutschland im praktizierten IRP-Konzept: SE und GB kommen ohne IRP aus,
Deutschland referenziert neuerdings dem AMNOG entsprechend nur die Preise seiner
Arzneimittel-Innovationen, andere EU-Länder richten sich nach den Preisen ausgewählter oder aller anderen Partnerländer; manche Länder referenzieren alle
Arzneimittelpreise oder nur Generika- oder Originale-Preise, und häufig werden
Niedrigst-, Durchschnitts- oder Medianpreise referenziert. Dies bleibt nicht ohne entsprechende Konsequenzen für die nationalen Arzneimittelpreise und internationalen
Preisverflechtungen im IRP-System (Cassel/Ulrich 2012, S. 99 ff.).
• Fünftens unterscheiden sich wie bereits in Abschnitt 3.1 für GB gezeigt die Preise
zwischen der Hersteller- und Apothekenebene (ApU bzw. AVP) im Vergleich zu
Deutschland beträchtlich: etwa durch unterschiedliche Vertriebswege – darunter z. B.
der Direktvertrieb vor allem bei hochpreisigen Spezialpräparaten in GB –, durch die
Höhe der Handelsspannen auf den Vertriebsebenen – z. B. entfällt in GB die Großhandelsspanne von 12,5 % im Direktvertrieb 26 –, durch fixe, prozentuale oder kombinierte Arzneimitteltaxen und nicht zuletzt durch verschiedene Abschläge und Rabatte
innerhalb der gesamten Vertriebskette. 27
• Sechstens richten sich insbesondere die Preise von Arzneimittel-Innovationen nach der
Geschwindigkeit des Marktzugangs und der Markterschließung bzw. Marktdiffusion,
die von Land zu Land recht unterschiedlich sein kann und vielfach mit spezifischen
Preisregulierungen – den so genannten Access Schemes, die Preisnachlässe oder
Gratislieferungen in Abhängigkeit von Behandlungsdauer und -erfolg vorsehen können – einhergehen.28 In diesem Marktsegment wird die Preisbildung außerdem noch
durch die internationale Preisdifferenzierung geprägt, die Hersteller aufgrund ihres
temporären Angebotsmonopols praktizieren können und zur Deckung ihrer Forschungs- und Entwicklungs-(F&E-)Kosten benötigen (Cassel/Ulrich 2012, S. 94 ff.).
• Siebtens werden Arzneimittel ganz unterschiedlich mit indirekten Steuern – wie MWSt
oder VAT (Value-Added Tax bzw. Sales Tax) – belegt, die preiserhöhend wirken.
Andererseits werden aber vom Hersteller auch preismindernde Abschläge und Rabatte
gewährt: Sie können staatlich angeordnet und öffentlich bekannt sein oder werden
produkt- oder portfoliobezogen sowie pauschaliert oder nach Umsatz gestaffelt
zwischen Herstellern und Kostenträgern selektivvertraglich vereinbart und unterliegen
nach Deutschland gleichkommen, was vom Grundsatz her auch für alle anderen hierzulande nicht
praktizierten Regulierungen gilt und das IRP schon von daher fragwürdig macht.
26
Hierdurch gilt im Direktvertrieb von meist hochpreisigen Spezialpräparaten in GB, dass der AVP
(NHS Listenpreis) gleich dem ApU ist.
27
In GB z. B. erhalten die Apotheken einen Anteil von der prozentualen GH-Spanne in Höhe von
12,5 % und eine Packungsgebühr bzw. Container Fee von 90 Pence (siehe oben Abschnitt 3.1). In DE
wiederum wird die Dienstleistung der Apotheken im Rx-Markt mit 8,10 Euro pro Packung plus 3 %
des Einkaufspreises vergütet, wovon wiederum der Großkundenrabatt von 2,05 Euro pro Packung an
die Kassen abgeht; der Großhandel erhält 70 Cent je Packung und 3,15 % des ApU. Als Folge dieser
vielschichtigen Besonderheiten im nationalen Arzneimittelvertrieb lassen sich Rückschlüsse vom AVP
auf den ApU somit nur aufgrund genauer Kenntnisse der jeweiligen Vergütungsregelungen und des
produktspezifischen Vertriebsweges ziehen.
28
Deshalb ist beim IRP immer auch die Mengen- bzw. Verbrauchskomponente – etwa in Form der
DDD pro Patient – zu beachten.
Cassel/Ulrich
54
von daher dem beiderseitigen Betriebsgeheimnis. Im letzteren Falle kann es unmöglich
sein, Rabatterlöse der Kostenträger zu Lasten der Hersteller pauschal oder gar
produktbezogen zu ermitteln.
• Achtens ist es gängige Praxis, dass Arzneimittel in anderen Ländern unter anderem
Namen (so genannten Brands), in unterschiedlichen Darreichungsformen, Packungsgrößen und Wirkstärken angeboten werden, um z. B. unerwünschte Importe oder Exporte zu erschweren. Dies macht von Land zu Land mitunter schwierige Umrechnungen erforderlich, um die Preise mit Deutschland vergleichbar zu machen und
damit verzerrende Preisvergleiche bei Packungen zu vermeiden, die in den Referenzländern unterschiedlich stark verordnet werden und nach Größe oder Wirkstärke gestaffelte DDD-Preise haben.
• Neuntens schließlich stellen Referenzländer, die einem anderen Währungsgebiet angehören – wie SE und GB im Falle des AVR-Vergleichs – ganz besondere konzeptionelle
Anforderungen an das IRP, weil die in Auslandswährung denominierten Preise in Inlandswährung umgerechnet werden müssen und sich je nach Wahl des Wechselkurses
erhebliche Preisdiskrepanzen ergeben können (siehe oben Abschnitt 3.1). 29 Aber auch
innerhalb eines Währungsgebietes wie der Eurozone können sich kaufkraftbedingte
Preisunterschiede ergeben, die beim IRP nicht unberücksichtigt bleiben dürfen (Cassel
2012, S. 7 f.).
Allein schon diese Auflistung, die keineswegs erschöpfend ist, lässt befürchten, dass eine
adäquate Berücksichtigung aller vergleichsrelevanten Sachverhalte praktisch unmöglich ist.
Dadurch ist jedoch das Einfallstor für intentionale bzw. interessengeleitete ESPBerechnungen weit geöffnet – von unbeabsichtigten, aber folgenschweren Erfassungs-,
Interpretations- und Berechnungsfehlern ganz abgesehen, die das Handling derart vieler
Aspekte bei aller Sorgfalt mit sich bringt. Nur so lässt sich erklären, dass einer Kontrollrechnung des BPI (2012,1, S. 75) zufolge das Rheumamittel Humira nach AVR 2010 auf der
AVP-Ebene in Deutschland 770 Euro mehr kostete als in Schweden, auf der ApU-Ebene netto
aber nur 183,80 Euro (Übersicht 3 in Abschnitt 2.4) und das daraus errechenbare ESP von
169,2 Mio. Euro nach AVP auf 40,4 Mio. Euro bzw. 22 % nach ApU zusammenschmilzt
(Tabellen 6 und A-1).
Quantitative Effekte alternativer Berechnungen
Dass dies kein Einzelfall ist, zeigt auch eine firmeninterne Kontrollrechnung für ein hochpreisiges patentgeschütztes Spezialpräparat im AVR-Vergleich für 2010 mit GB, die für den
Nachweis missachteter Besonderheiten beim IRP exemplarisch ist, hier aber nur
anonymisiert wiedergegeben werden kann:
•
29
Ausgangssituation nach AVR (2011, Tabelle 1.4, S. 14 ff.; Tabelle A-1): Die Standardpackung des betreffenden Medikaments hat in DE einen Preis von 100 Euro; sein Preis
in GB beträgt umgerechnet 60,66 Euro. Der deutsche Preis liegt damit fast 65 % höher
als der britische bzw. der britische knapp 40 % unter dem deutschen Preis. Das sich
Dies ist von besonderer Relevanz, wenn Währungen wie das Britische Pfund (GBP) gegenüber dem
Euro so stark abwerten, wie dies mit fast 30 % zwischen 2008 und 2010 der Fall war. Denn dadurch
werden die in GBP denominierten Arzneimittelpreise gegenüber DE abwertungsbedingt entsprechend billiger.
Cassel/Ulrich
55
über den Umsatz in DE ergebende und wegen der anonymisierten Berechnung dem
Betrag nach rein fiktive ESP beträgt 0,513 Mio. Euro.
•
Erster Fallstrick: keine stichtagesgleichen Wechselkurse. Der AVR nennt für seine Berechnungen den Preisstand vom 06.06.2011, an dem der hier relevante Brief-Kurs bei 1
GBP = 1,1230 Euro lag. 30 Als Umrechnungskurs dient dem AVR jedoch der vom NHS
Prescription Service angegebene Kurs von 1 GBP = 1,1198 Euro, was nicht weiter begründet wird. Korrekter wäre, zumindest den tagesgleichen Kurs zu nehmen. Das
würde einen britischen Preis von 61,19 Euro und ein ESP von 0,507 Mio. Euro ergeben.
•
Zweiter Fallstrick: unterschiedliche Packungsinhalte. Dem Preisvergleich wurden
Packungen mit unterschiedlichen Wirkstärken zugrunde gelegt, so dass sich aus der
Umrechnung des GBP-Preises auf die gleiche Wirkstärke wie in DE ein britischer Preis
von 74,41 Euro und ein ESP von 0,334 Mio. ergibt.
• Dritter Fallstrick: Vergleich auf unterschiedlichen Preisstufen. Da das anonymisierte
Spezialpräparat in GB im Direktvertrieb distribuiert wird, entspricht dort der AVP
wegen der entfallenden GH-Spanne dem ApU. Wenn der AVR nun den deutschen AVP
ohne MWSt in Höhe der eingangs genannten 100 Euro mit dem britischen AVP vergleicht, hat er ihn damit faktisch mit dem ApU in GB verglichen. Der Vergleich unterschiedlicher Preisstufen (ApU in GB versus AVP in DE) ist jedoch unzulässig und führt zu
verfälschten Ergebnissen. Vergleicht man korrekterweise den britischen mit dem
deutschen ApU, so stellt sich der deutsche Vergleichspreis zum Stichtag auf 96,97 Euro.
Daraus resultiert mit 0,294 Mio. € auch ein niedrigeres ESP.
• Vierter Fallstrick: keine Preisbereinigung um Rabatte. In der AVR-Berechnung wird der
gesetzliche Herstellerrabatt in Höhe von 16 %, der in GB unbekannt ist, nicht preissenkend beim ApU abgezogen. Unter Berücksichtigung der Abzugsfähigkeit des
Rabattes bei der MWSt stellt sich der deutsche Preis auf 84,40 Euro und das ESP beläuft sich nur noch auf 0,130 Mio. Euro.
• Fünfter Fallstrick: keine Einführungswechselkurse. Das Präparat wurde in ganz Europa
zu einem einheitlichen ApU in Euro ausgeboten. Zum Zeitpunkt der Marktzulassung
stand die britische Währung bei 1 GBP = 1,4803 Euro. Zu diesem Kurs stellte sich der
Preis des Präparates in GB auf 98,09 Euro, während das deutsche Präparat am selben
Tag 97,80 Euro kostete. Da die Präparate in DE und GB bei der Markteinführung in
Euro gerechnet preislich fast gleichauf lagen, gehen fast 32 % der vom AVR ausgewiesenen Preisdifferenz auf den Abwertungseffekt des GBP zurück.
30
Nach AVR (2011, S. 14) sind „alle Preise Stand 06.06.2011“. Da für einen Ökonomen auch Wechselkurse „Preise“ sind, sollte man annehmen, dass die angegebene Parität von 1 GBP = 1,1198 € ebenfalls von diesem Tag datiert. Sie weicht jedoch vom tatsächlichen Brief-/Geld-Kurs in Höhe von 1 GBP
= 1,1230/1,1217 € (Oanda 2012) in nicht nachvollziehbarer Weise ab. Bemerkenswert ist aber auch,
dass der Preisstand im GB-Vergleich zwar von 2011 datiert, im Vorspann zu den Tabellen 1.4 und 1.6
(AVR 2011, S. 14 und S. 22) aber von einem „Preisvergleich … im Jahre 2010 …“ die Rede ist und die
errechneten ESP durchgehend auf das Jahr 2010 datiert werden (AVR 2011, S. 17 und S. 25). Dass
dies nicht zufällig sein kann, geht daraus hervor, dass im SE-Preisvergleich ein Preisstand vom
02.06.2010 angegeben wird und alle Resultate ebenfalls dem Vorjahr zugeschrieben werden (AVR
2010, S. 16 ff.). Diese merkwürdige Inkonsistenz resultiert vermutlich daraus, dass der AVR zwar die
Preise aus 2011 bzw. 2010 nimmt, die zur Berechnung der ESP erforderlichen Verordnungsmengen
bzw. Umsätze aber aus dem jeweiligen Vorjahr.
Cassel/Ulrich
56
• Gesamtergebnis: Werden alle genannten Aspekte gleichzeitig berücksichtigt, errechnet
sich zum Zeitpunkt der Markteinführung für das Präparat in GB ein Preis von 97,80
Euro, während es gleichzeitig in DE für nur 84,40 Euro zu haben war. Demnach wäre
das Medikament in DE nicht etwa teurer als in GB gewesen, sondern um 13, 40 Euro =
13,7 % billiger, und das deutsche ESP wäre zu einem britischen mutiert.
Die hier beispielhaft genannten Fallstricke und ihre Auswirkungen auf die Höhe des ESP sind
produktbezogen, d. h. sie lassen sich nur für das betreffende Medikament und die vom AVR
in diesem speziellen Fall angewandte Verfahrensweise aufzeigen. Für andere Produkte, in
anderen Marktsegmenten und bei anderen Ländern ergibt sich möglicherweise eine davon
völlig abweichende Konstellation. Dennoch sind die hier exemplarisch aufgedeckten Fallstricke stets virulent und können bei ihrer Missachtung das berechnete ESP mehr oder
weniger verfälschen.
Dies gilt auch auf der Ebene der aggregierten Daten. Um zu zeigen, wie sensibel die Berechnungsergebnisse auf Veränderungen der jeweils zugrunde gelegten Annahmen
reagieren, wurden exemplarisch Nachberechnungen für das Segment der 50 umsatzstärksten Patentarzneimittel angestellt und die Ergebnisse in Tabelle 11 veranschaulicht.
Ausgangspunkt ist die in ersten Zeile (I) dargestellte AVR-Methodik (AVR 2011, Tabelle 1.4, S.
14 ff.; Tabelle A-1), die auf einem Vergleich der AVP ohne Umsatzsteuer in Deutschland und
Großbritannien und einem Wechselkurs (WK) des GBP zum Preisstand vom 06.06.2011 beruht (siehe Fn 30). Sie ergibt, dass die „… deutschen Patentarzneimittel im Durchschnitt 65 %
teurer als die entsprechenden Präparate in Großbritannien (England und Wales) (sind)“ und
dass „… das mehrwertsteuerfreie Einsparpotenzial für die 50 umsatzstärksten Patentarzneimittel für das Jahr 2010 2,287 Mrd. € (erreicht)“ (AVR 2011, S. 13 und S. 17).
Wie schon mehrfach betont, sollte der Preisvergleich jedoch auf Basis der Netto-ApU
erfolgen, die dem Hersteller nach Abzug der Handelsmargen und Rabatte verbleiben.
Deshalb wird in einem ersten Schritt die Berechnung auf die Netto-ApU-Basis umgestellt.
Dies bedeutet im Vergleich zur AVR-Methodik, dass in GB die GH-Spanne und die Apothekenpackungsgebühr und in DE die Netto-Margen der Apotheken und des Großhandels
sowie der gesetzliche Herstellerrabatt vom jeweiligen AVP abgezogen werden. Schon hierdurch vermindert sich die Preisdiskrepanz Deutschlands gegenüber Großbritannien auf 47 %
- und umgekehrt von GB gegenüber DE auf 32 % -, während sich das ESP mit 1,171 Mrd. Euro
fast halbiert (Tabelle 11, II. A-C).
In GB ist der Direktvertrieb von Patentarzneimitteln, insbesondere von hochpreisigen
Spezialpräparaten, weit verbreitet. Auf diesem Vertriebsweg fällt jedoch keine GH-Spanne
an, so dass der AVP rechnerisch zum ApU wird. Deshalb wäre es inkorrekt, über alle
Präparate die GH-Spanne von 12,5 % abzuziehen, wenn man von der AVP- zur ApU-Basis
wechselt. Aus Mangel an Informationen darüber, welche der 50 Patentpräparate in GB
direkt vertrieben werden, wird im nächsten Schritt angenommen, dass dies auf die Hälfte
zutrifft, so dass über alle Medikamente gerechnet nur eine GH-Spanne von 6,25 % anfiele.
Diese Annahme reduziert die Preisdiskrepanzen noch weiter auf 38 % bzw. 27 % und das ESP
auf nur noch knapp 1 Mrd. Euro (Tabelle 11, III. A-C).
Gegenüber dem Stand der AVR-Berechnung vom Juni 2011 ist der Wechselkurs des GBP
durch die Euro-Krise wieder gestiegen. Durch diese Aufwertung des GBP müssten sich die in
Euro denominierten Arzneimittelpreise entsprechend verteuern und sich die Preisdifferenz
Cassel/Ulrich
57
Tabelle 11: Preisdiskrepanzen und Einsparpotenziale bei alternativen Annahmen
im Preisvergleich bei Patentarzneimitteln Deutschland-Großbritannien
Ergebnisse
Annahmen
I
DE teurer als GB?
GB billiger als DE?
Einsparpotenzial?
GB = 100
DE = 100
In Mrd. Euro
65 %
39 %
2,287 Mrd. €
47 %
32 %
1,171 Mrd. €
38 %
27 %
0,949 Mrd. €
32 %
24 %
0,765 Mrd. €
25 %
20 %
0,519 Mrd. €
10 %
9%
-0,116 Mrd. €
4%
4%
-0,413 Mrd. €
Berechnung mit
• Netto-ApU ohne MWSt
• 12,5 % GH-Spanne
• Einführungs-WK
VII
Wie groß ist das
Berechnung mit
• Netto-ApU ohne MWSt
• 6,25 % GH-Spanne
• WK vom 06.06.2012
VI
Um wieviel % ist
Berechnung mit
• Netto-ApU ohne MWSt
• 12,5 % GH-Spanne
• WK vom 06.06.2012
V
Um wieviel % ist
Berechnung mit
• Netto-ApU ohne MWSt
• 6,25 % GH-Spanne
• WK vom 06.06.2011
IV
C
Berechnung mit
• Netto-ApU ohne MWSt
• 12,5 % GH-Spanne
• WK vom 06.06.2011
III
B
AVR-Methodik mit
• AVP ohne MWSt
• WK vom 06.06.2011
II
A
Berechnung mit
• Netto-ApU ohne MWSt
• 6,25 % GH-Spanne
• Einführungs-WK
Legende: In der AVR-Methodik werden Preisdiskrepanzen zwischen DE und GB sowie das daraus
resultierende ESP auf der Basis von Apothekenverkaufspreisen (AVP) für die 50 umsatzstärksten
Patentpräparate in DE zum Preisstand vom 06.06.2011 berechnet. In GB enthalten die AVP eine
Großhandelsspanne (GH-Spanne) von 12,5 % und eine Apothekenpackungsgebühr von 90 Pence, in
DE die Apothekentaxen und -abschläge gemäß Preisspannenverordnung (siehe Fn 27). In den Nachberechnungen II-VII werden nacheinander die Annahmen hinsichtlich der Preisebene (AVP bzw.
ApU), der GH-Spanne (12,5 % bzw. 6,25 %) und des Stichtages des GBP-Wechselkurses (WK) geändert
(Kurse zum 06.06.2011 und 2012 bzw. zum Zeitpunkt der Markteinführung der Präparate).
Quelle: Eigene Darstellung nach Berechnungen von AVR 2011, Tabelle 1.4, S. 14 ff, und BPI 2012,2.
Cassel/Ulrich
58
zwischen DE und GB verringern. Tatsächlich zeigt die alternativ für die beiden GH-Spannen
vorgenommene Nachberechnung mit dem WK vom Juni 2012 abermals eine deutlich
reduzierte Preisdiskrepanz und ein merklich verringertes ESP (Tabelle 11, IV. und V. A-C).
Schon hieraus wird ersichtlich, dass die in Auslandswährung festgesetzten und in Euro umgerechneten Preise sehr sensibel auf erratisch schwankende Wechselkurse reagieren,
wodurch die ESP rein rechnerisch auf eine Berg- und Talfahrt geschickt werden. Ob sich das
wechselkursbedingte Auf und Ab der ESP – aus deutscher Sicht steigend bei EuroAufwertungen und fallend bei Abwertungen – aber vernünftigerweise als Veränderung der
Wirtschaftlichkeit der Arzneimittelversorgung interpretieren lässt, muss füglich bezweifelt
werden.
Deshalb wurde in Abschnitt 3.1 bereits vorgeschlagen, statt des letztlich willkürlichen
Wechselkurses zum Stichtag der ESP-Berechnung den Einführungs-WK zu nehmen. Dies lässt
sich damit begründen, dass der pharmazeutische Unternehmer sein preisstrategisches Kalkül
im internationalen Geschäft in der Regel auf jenen WK abstellt, der zum Zeitpunkt der Ausbietung seines Präparates gilt. Die in Zukunft davon möglicherweise abweichenden Tageskurse würden ihm nur flüchtige Preisvor- oder Preisnachteile bescheren, auf die sich keine
unternehmerische Preispolitik im Pharmamarkt aufbauen lässt. Da die AVR-Berechnung in
eine Abwertungsphase des GBP gefallen ist, waren die ESP, gemessen an den zeitlich vorher
liegenden Einführungs-WK, rechnerisch aufgebläht und lagen damit zu hoch. Dies zeigt auch
die Nachberechnung auf der Basis von Einführungs-WK, die im Ergebnis für beide Varianten
der GH-Spannen vergleichsweise bescheidene Preisdiskrepanzen ergibt und zu einem
negativen ESP führt. Letzteres bedeutet, dass Wirtschaftlichkeitsreserven statt in Deutschland nun in Großbritannien vorhanden sind. 31
Anforderungen an adäquate Berechnungsverfahren
Wer die beschriebenen Fallstricke umgehen und pragmatisch verwertbare ESP erzielen will,
muss beim Berechnungsverfahren auch und gerade im internationalen Preisvergleich
höchsten Ansprüchen genügen. Diese lassen sich in folgenden Punkten zusammenfassen:
•
31
Ländervielfalt: In allen Ländern der EU, die Arzneimittelpreise aufgrund von internationalen Preisvergleichen (IRP) regulieren, ist keines, das nur ein einziges Land
referenziert. In der Regel wird ein Länderkorb herangezogen, in dem mindestens drei,
vereinzelt aber auch bis zu 28 Referenzländer enthalten sind (Cassel/Ulrich 2012,
Dass sich bei den zwar relativ kleinen, aber immerhin noch positiven Preisdiskrepanzen zu Lasten
Deutschlands negative ESP ergeben (Tabelle 11, VI. und VII. A-C), liegt an inkonsistenten Berechnungsverfahren des AVR für die Preis- und ESP-Angaben, die aber zur Vergleichbarkeit der
schrittweise erzielten Ergebnisse in den Nachberechnungen beibehalten werden. Während nämlich
das aggregierte ESP von 2,287 Mrd. Euro korrekt als Summe der ESP bei den 50 Patentpräparaten
ermittelt wird (Tabelle A-1, letzte Spalte), werden die aggregierten Preisdiskrepanzen auf recht
kuriose Weise gebildet: So addiert der AVR die Euro-Preise aller Präparate für DE und GB ohne Gewichtung mit den Verordnungsmengen und weist in den Spalten „AVP“ bei DE und „Preis €“ bei GB
die Preissummen für einen Warenkorb mit je einer Packung aller 50 Präparate in Höhe von 66.424,8
bzw. 40.346,37 aus (Tabelle A-1, Fußzeile). Durch Division beider Werte ergibt sich dann die Preisdiskrepanz von 65 %. Tatsächlich besagt diese Berechnung aber nur, dass der Warenkorb beim Kauf in
GB 65 % weniger gekostet hätte als in DE. Korrekterweise hätten jedoch Preisindizes mit den Verordnungsmengen als Gewichte gebildet werden müssen, um einen unverfälschten Preisvergleich zu
ermöglichen.
Cassel/Ulrich
59
Übersicht 9, S. 104). Das hat gute Gründe, sind doch in einem Land nicht alle Arzneimittelpreise im Vergleich mit anderen Ländern jeweils am höchsten oder am
niedrigsten, können einzelne Präparate billiger, aber auch teurer als im referenzierenden Land sein, sind die Preisstrukturen nach Indikationen oder für patentgeschützte und generische Präparate von Land zu Land unterschiedlich und kann sich
dies alles im Zeitablauf gravierend ändern. Hinzu kommt, dass jedes Land pharmaökonomische und -therapeutische Besonderheiten aufweist und seinen Arzneimittelmarkt
auf unverwechselbare Weise zu regulieren pflegt. Deshalb erscheint es dringend geboten, nicht nur ein einzelnes Land mit möglichst niedrigen Preisen zum jeweiligen
Preisvergleich heranzuziehen – wie bislang im AVR geschehen –, sondern zumindest
einen Korb mit mehreren vergleichbaren Referenzländern zusammenzustellen.
32
•
Länderauswahl: Bei Patentarzneimitteln ist es ökonomisch für alle Länder vorteilhaft,
wenn die pharmazeutischen Unternehmer ihre temporäre Monopolstellung dazu
nutzen, die Pharmamärkte länderweise zu segmentieren und unterschiedliche Preise
zu setzen. Dabei ist es rational, sich nach der Wirtschaftskraft eines Landes bzw. der
Zahlungsfähigkeit seiner Bevölkerung – gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro
Kopf – und der Preiselastizität der Nachfrage bzw. der Zahlungsbereitschaft – z. B. gemessen an den Gesundheitsausgaben pro Kopf – zu richten. Dementsprechend müssten die Preise von patentgeschützten Arzneimitteln, darunter insbesondere von AMI
mit hohem Nutzenvorteil, umso höher sein, je größer das BIP und die AM-Ausgaben
pro Kopf in einem Land sind. Tatsächlich ist ein solcher Zusammenhang empirisch
nachweisbar (Cassel/Ulrich 2012, S. 145 ff.). Dementsprechend ließen sich Ländercluster bzw. -körbe bilden, in denen sich regional gesehen die wohlhabenden Länder
Nordeuropas mit vergleichsweise hohen Preisen und die weit ärmeren zentral- und
osteuropäischen Länder mit deutlich niedrigen Preisen wiederfinden. Von daher verböte es sich, dass Deutschland Niedrigpreisländer wie Griechenland oder Polen
referenziert und daraus ESP berechnet.
•
Vertriebsebene: Sofern beabsichtigt ist, mit dem ESP jene Wirtschaftlichkeitsreserven
auszuweisen, die im Wesentlichen auf das Preissetzungsverhalten der pharmazeutischen Unternehmer zurückgehen und ausschließlich auch zu deren Lasten ausgeschöpft werden sollen, ist es zwingend erforderlich, den Preisvergleich auf der
Hersteller- und nicht auf der Apothekenebene durchzuführen.32 Grundlage müssten
also die ApU ohne MWSt und nach Abzug aller Herstellerabschläge und -rabatte sein33
– und gerade nicht der AVP, wie es beim AVR der Fall ist. Dies zum einen, weil es beim
ESP um die Ermittlung der den pharmazeutischen Unternehmern netto zufließenden
Es ist schon bemerkenswert, dass Ineffizienzen in der deutschen Arzneimitteldistribution (Pharmaceutical Supply Chain) infolge des regulierungsbedingt fehlenden Preiswettbewerbs bei Dienstleistungen im Rx-Segment auf der Großhandels- und Apothekenstufe entstehen, weder öffentlich
diskutiert noch quantifiziert werden. Da sie anscheinend nicht unbeträchtlich sind (Friske 2003, S.
245 ff.), wird schon seit Längerem mehr Preiswettbewerb bei Rx-Dienstleistungen auf der Vertriebsebene gefordert und gezeigt, wie dies unter den Bedingungen der Arzneimitteltaxe und des GKVSachleistungsprinzips möglich wäre (Cassel/Wille 2006, S. 432 ff.; Cassel 2009, S. 56 ff.)
33
In Deutschland sind produktbezogene Rabatte der Hersteller aus selektiven Rabattverträgen nach §
130a SGB V nicht öffentlich, sondern sind nur pauschal als „Rabatterlöse“ der Kassen statistisch erfasst (siehe auch Fn 2). Dadurch wird es unmöglich, diese Selektivrabatte für jedes einzelne Medikament im IRP preissenkend abzusetzen.
Cassel/Ulrich
60
Erlöse geht und dabei die gesamte Distribution ausgeblendet sein sollte; zum anderen
aber auch, weil durch die recht unterschiedlichen länderspezifischen Großhandels- und
Apothekenspannen die internationalen Preisunterschiede auf der AVP-Ebene in der
Regel deutlich von denen auf der ApU-Ebene abweichen. 34 Hinzu kommt, dass es wie
bei Großbritannien unterschiedliche Vertriebswege gibt, auf denen – wie etwa im
Direktvertrieb vom Hersteller zum Anwender – überhaupt keine Distributionstaxe anfällt, und zudem ganz unterschiedliche Umsatzsteuerbelastungen bestehen (z. B. in SE
0 % und in DE 19 % auf Arzneimittel). Gänzlich unzulässig sind natürlich Preisvergleiche
zwischen unterschiedlichen Vertriebsstufen – wie etwa AVP mit ApU.
•
34
Währungsdisparitäten: Im internationalen Preisvergleich des AVR wird das britische
Pfund (GBP) zum Wechselkurs eines bestimmten Stichtages in Euro umgerechnet. Den
Kassakurs mit der Brief-Notierung als Umrechnungskurs heranzuziehen, scheint bei
handelsfähigen Gütern wie Arzneimitteln zunächst einmal sachgerecht zu sein. Dies gilt
aber nur, wenn seine kurz- und mittelfristigen Schwankungen in geeigneter Form geglättet werden. So hat das GBP z. B. zwischen 2008 und 2010 gegenüber dem Euro
nahezu 30 % an Wert verloren – und von seinem Tiefstkurs Anfang 2009 bis Anfang
September 2012 im Zuge der Euro-Krise schon wieder um mehr als 15 % gewonnen.
Eine derart hohe Abwertung in so kurzer Zeit muss sich aus deutscher Sicht zwangsläufig in gravierender Weise preissenkend auf die in Euro denominierten britischen
Arzneimittelpreise auswirken und erklärt zumindest teilweise die neue Rolle Großbritanniens als „Niedrigpreisland“. Um derartige Wechselkurseffekte, die der Hersteller
nicht zu vertreten hat und die ihm folglich auch nicht als ESP anzulasten sind, beim IRP
auszuschalten, müsste es den jeweiligen Wechselkurs zum Einführungszeitpunkt eines
Medikaments im Referenzland (so genannter Einführungswechselkurs) heranziehen.35
Allerdings ist diese Problematik nicht auf die Umrechnung unterschiedlicher
Währungen begrenzt. Denn wie Abbildung 7 zeigt, bestehen selbst bei der einheitlichen Währung im Euroraum beträchtliche Unterschiede in den nationalen Inflationsraten – und notabene auch bei den nationalen Preisniveaus. Zum Ausgleich derartiger
Differenzen, die den Preisvergleich selbst innerhalb der Eurozone verzerren können,
böten sich kaufkraftgewichtete Arzneimittelpreise an.36
So liegt nach AVR-Angaben für 2010 der Preis für Ibuflam Lichtenstein in Deutschland bei 11,47
Euro und in Großbritannien umgerechnet bei 3,24 Euro, also 8,23 Euro über dem britischen AVP
(Tabelle A-2 im Anhang). Würde beispielsweise der ApU in Deutschland nur 0,01 Euro betragen, läge
der deutsche AVP aufgrund der hier geltenden Vertriebsmargen bei 8,11 Euro und damit immer noch
4,87 Euro über dem britischen ApU. Dies sieht wiederum bei hochpreisigen Präparaten aufgrund der
hiesigen Kombination aus absoluter und prozentualer Apothekenspanne gänzlich anders aus.
35
Als Second-best-Lösungen kämen u. U. auch ein längerfristig geglätteter Durchschnittswert der
Kassakurse oder die sich weniger erratisch ändernde Kaufkraftparität (KKP) in Betracht.
36
Wie aus Abbildung 7 ersichtlich ist, sind in den Ländern der Eurozone nicht nur die Inflationsraten,
gemessen am Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI), sondern auch die Veränderungen der
Arzneimittelpreise, gemessen am Preisindex Pharmazeutischer Erzeugnisse, sehr unterschiedlich. In
einigen Ländern – wie in Belgien (BE), Estland (ES), Finnland (FI), Griechenland (GR) und Portugal (PT)
ist die Preisentwicklung bei Verbrauchsgütern und Arzneimitteln sogar gegenläufig, was auf
dirigistische Interventionen in die Arzneimittelpreisbildung schließen lässt. Es wäre deshalb zu erwägen, ob statt der üblicherweise aus den HVPI gebildeten Kaufkraftparitäten (KKP) nicht sogar die
aus den Preisindizes Pharmazeutischer Erzeugnisse gebildeten KKP heranzuziehen wären. Dies ist
weist einmal mehr auf die besonderen Schwierigkeiten des IRP bei Arzneimitteln hin.
Cassel/Ulrich
61
Abbildung 7: Inflationsraten und Preisveränderungen pharmazeutischer Erzeugnisse
im Euroraum, 2010
Legende: Inflationsraten als Veränderung des Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI; 2005 =
100) und Preisveränderungen Pharmazeutischer Erzeugnisse als Veränderung des Preisindex
Pharmazeutischer Erzeugnisse (2005 = 100) in den 17 EWU-Mitgliedsländern im Jahr 2010 gegenüber
dem Vorjahr in %.
Quelle: Eigene Darstellung aus Cassel 2012, S. 8, nach Daten von Eurostat 2011,1; 2011,2.
• Regulierungen: Schließlich lässt sich nachweisen, dass vor allem die angebotsseitigen
Regulierungen der nationalen Pharmamärkte – darunter insbesondere die administrative Fixierung von Preisen, Rabatten und Erstattungsbeträgen, staatlich angeordnete Preisstopps und Preiskürzungen sowie die internationale Preisreferenzierung unter Bezugnahme auf Niedrigstpreise einen preisdämpfenden Effekt bei
Arzneimitteln haben. Bei unterschiedlicher Regulierungsintensität in den einzelnen
Ländern kommt es folglich zu internationalen Preisdifferenzen, die sich wegen der unvollständigen Arbitrage als Folge der nationalen Marktregulierungen nicht oder nur
unzureichend verringern (Cassel/Ulrich 2012, S. 85 ff. und S. 147 f.). So lassen sich die
inzwischen vergleichsweise niedrigen Arzneimittelpreise in Großbritannien nicht nur
wie gezeigt mit der Abwertung des GBP erklären, sondern auch damit, dass GB seine
Pharmapreise bereits zweimal (2006 und 2009) durch eine generelle Preiskürzung
(Price Cut) merklich gesenkt hat. Letzteres ist auch aus einigen Euro-Ländern bekannt:
So hat z. B. Griechenland bereits 2010 im Zuge der Finanzkrise seine Arzneimittelpreise
generell um 25 % gekürzt, was sich in einem Rückgang des Preisindex Pharmazeutischer Erzeugnisse um 9,5 % niedergeschlagen hat, während die griechischen Verbraucherpreise insgesamt im gleichen Jahr sogar um 4,7 % gestiegen sind. Nicht viel
anders sieht es in Finnland, Irland, Portugal und Spanien aus. Sollen internationale
Cassel/Ulrich
62
Preisvergleiche in ESP resultieren, die einigermaßen verlässlich die jeweiligen Marktgegebenheiten und nicht die Regulierungsregime der einzelnen Referenzländer abbilden, müssen letztere wie auch immer beim IRP in Rechnung gestellt werden.
Will man angesichts der vielfältigen Fallstricke, die sich hinter den extrem komplexen Sachverhalten bei internationalen Preisvergleichen verbergen, belastbare Einsparpotenziale berechnen, ist dafür eine verbindliche Agenda zur „good practice“ unabdingbar. Zielführend
dafür sind: (1) Auswahl von mehreren Referenzländern, die nach theoretisch validen und
empirisch abgesicherten Kriterien miteinander vergleichbar sind; (2) praktikable Verfahren
zur Beschaffung von steuer-, abschlags- und rabattbereinigten Erstattungspreisen auf der
Herstellerebene; (3) Bereinigung der Vergleichspreise von besonders preisverzerrenden
nationalen Regulierungen und irregulären Preisdeterminanten; (4) Normierung und
Standardisierung der Vergleichspreise durch einheitliche Packungsgrößen und Wirkstärken
sowie Gewichtung mit Verordnungsmengen; und (5) Umrechnung der Fremdwährungspreise
zu Einführungswechselkursen und Gewichtung der Auslandspreise innerhalb der Eurozone
mittels Kaufkraftparitäten. Dies wäre insgesamt eine methodisch anspruchsvolle und sachgerechte Vorgehensweise, die sich deutlich von der vergleichsweise undifferenzierten AVRMethodik abheben würde.
4 Einsparpotenziale: Leuchtturm oder Irrlicht für die Gesundheitspolitik
Berechnung und Ausweis von Einsparpotenzialen sind ein Politikum ersten Ranges.
Schließlich geht es um die Aufdeckung und Beseitigung von Unwirtschaftlichkeiten im Bereich der Arzneimittelversorgung, die allein in der GKV mit rund 31 Mrd. Euro und einem
Ausgabenanteil von 16,7 % (2011) zu Buche schlägt, staatlicherseits hochgradig reguliert ist
und im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung steht. Hinzu kommt, dass man es angebotsseitig mit einer global aufgestellten Großindustrie zu tun hat, von deren Wirtschafts- und
Innovationskraft der pharmakotherapeutische Fortschritt und eine Arzneimittelversorgung
zu bezahlbaren Preisen abhängt und die noch dazu bei ihren patentgeschützten Wirkstoffen
und Präparaten weltweit über ein vielfach kritisch gesehenes temporäres Monopol auf dem
Pharmamarkt verfügt. Alles dies schafft in der politischen Öffentlichkeit ein Klima, in dem
jedwede Angabe zu vermeintlich vorhandenen Einsparpotenzialen (ESP) und angeblich erzielten Einsparvolumina (ESV) weitgehend unkritisch aufgenommen und zur Begründung für
die dringende Notwendigkeit immer neuer Marktinterventionen seitens der Politik und
Selbstverwaltung herangezogen wird.
Es muss deshalb im genuinen Interesse der gesundheitspolitischen Akteure liegen, die von
ihnen geforderten Entscheidungen auf eine tragfähige Informationsbasis zu stellen. Um nicht
einem irrationalen Aktivismus zu verfallen, sollten sie ziemlich genau wissen, wo Unwirtschaftlichkeiten prävalent sind, welchen Umfang sie wirklich haben, wer sie verursacht und
mit welchen Mitteln sie gegebenenfalls beseitigt werden können. Dazu gehört auch, den
Ausweis von ESP und ESV zu einem wirksamen Instrument der gesundheitspolitischen
Erfolgskontrolle zu verzahnen. Von daher kann es nicht angehen, dass zwar regelmäßig aufwendige Berechnungen von ESP angestellt und ihre Ergebnisse handlungsleitend kommuniziert werden, aber über die anschließend erfolgten Einsparungen und die dabei entstandenen pharmaökonomischen und -therapeutischen Neben- und Folgewirkungen so gut
wie keine systematisch gewonnenen Erkenntnisse vorhanden sind. Denn es genügt ja nicht
zu wissen, ob und inwieweit Preise, Mengen oder Umsätze einzelner Medikamente, ganzer
Wirkstoffgruppen oder des Arzneimittelverbrauchs insgesamt ex post gesehen gesunken
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sind; vielmehr ist nachzuweisen, ob dies wirtschaftliche oder medizinisch-therapeutische
Gründe hat, ob und wieweit damit tatsächlich ESP ausgeschöpft wurden, mit welchen
Mitteln und von welchen Akteuren dies gegebenenfalls bewirkt wurde und welche ESP im
Anschluss daran noch vorhanden sind. Mit Recht wird deshalb von den Akteuren im
Gesundheitswesen gefordert, sich diesbezüglich auch einmal selbst dem immer wieder erhobenen Anspruch auf „Evidenzbasierung“ zu stellen. 37
Dieses Unterfangen macht jedoch nur Sinn, wenn es jenseits aller methodischen Finessen
grundsätzlich möglich wäre, ESP zu ermitteln, die der Wirklichkeit nach Inzidenz und Umfang
entsprechen. Hieran bestehen jedoch berechtigte Zweifel. Diese resultieren aus Einsichten in
die Funktionsweise des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs- und Allokationsmechanismus
und den daraus ableitbaren Argumenten gegen simple Berechnungen unter Ceteris-paribusBedingungen: So käme beispielsweise niemand auf die Idee zu ermitteln, welcher Geldbetrag genau bei den Transportausgaben eingespart werden könnte, wenn man die jährlich
in Deutschland zurückgelegten Entfernungen statt mit einem teuren deutschen Wagen der
S-Klasse mit einem weit billigeren britischen Gefährt überwinden würde. Abgesehen von
Sicherheit, Komfort und Zeitbedarf käme man zwar mit beiden Fahrzeugen jeweils von A
nach B, was hinsichtlich der „Wirksamkeit“ beider Optionen auch harten pharmakotherapeutischen „Endpunkten“ entsprechen würde; aber erstens widerspräche eine solche
„Substitution“ nachfrageseitig den subjektiven Präferenzen der Autofahrer und zweitens ist
nicht ersichtlich, wie die automobile Wende angebotsseitig unter Wahrung der freiheitlichen
Wirtschaftsverfassung Deutschlands erreicht werden könnte. Hinzu kommt, dass die Umstellung viel Zeit braucht und mit erheblichen produktionstechnischen, marktstrukturellen
und nicht zuletzt preislichen Anpassungen einhergehen würde. Alle diese Veränderungen
sind aber in einem ergebnisoffenen Wettbewerbsprozess auch nicht annähernd konkret
vorhersehbar, machen aber die Annahmen, unter denen die ESP-Berechnung vorgenommen
wurde, völlig unrealistisch.
Wie jedes Beispiel, hinkt auch dieses. Doch sind die Parallelen zum ESP-Kalkül unverkennbar,
wenn man die dabei unterstellte „Substitution“ in den verschiedenen Arzneimittelkategorien
in Betracht zieht: bei Generika im Rahmen der oben diskutierten vier Methodiken, im Falle
von Original- und Analogpräparaten unter dem Aspekt der therapeutisch nur begrenzten
Austauschmöglichkeit von nicht identischen, sondern nur vergleichbaren Wirkstoffen und
bei den im Ländervergleich unterschiedlich teuren Patentpräparaten und Generika im
Kontext mit internationalen Informations- und Handelsbarrieren. Denn auch hierbei geht es
im Kern darum, dass man nicht einfach ESP berechnen und verkünden kann, ohne einerseits
in Betracht zu ziehen, wie sie unter den hierzulande gegebenen Bedingungen der sozialen
Marktwirtschaft wie des solidarischen GKV-Systems realisiert werden könnten, und andererseits in Rechnung zu stellen, wie sich durch die Begleiterscheinungen der Realisierungsbemühungen die Prämissen ändern, unter denen die Berechnung erfolgte. Alle Fragen, die
sich in diesem Zusammenhang stellen, müssten ex ante beantwortet werden, wenn man,
37
So etwa – wenn auch in einem etwas anderen Zusammenhang – die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE 2012, S. 10). Auch hat diese Gewerkschaft erst kürzlich eine entsprechende Revision des AVR gefordert: „Durch seine eingeschränkte Analyse-Methodik wird regelmäßig ein verzerrtes und zu wenig differenziertes Bild des Arzneimittelmarkts vermittelt. Die IG BCE
fordert die gesetzlichen Krankenkassen in ihrer Rolle als Datenlieferant auf, eine kritische Revision
dieses Berichtskonzepts einzuleiten“ (IG BCE 2012, S. 14).
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statt wie bisher unter Ceteris-paribus-Bedingungen unrealistische ESP zu berechnen, mutatis
mutandis der Wirklichkeit näherkommen will.
Schließlich bildet auch die Datenbasis der ESP-Berechnung eine Hürde, die nur schwer zu
überwinden ist und belastbaren Ergebnissen entgegensteht. Dies gilt sowohl für den
nationalen als auch für den internationalen Preisvergleich. So sind zwar die im nPV verwendeten GKV-Routinedaten auf AVP-Ebene weitgehend lückenlos und verlässlich, dafür
fehlen aber originäre Daten auf der ApU-Ebene mit der Folge, dass die tatsächlichen Abgabepreise und Umsätze der pharmazeutischen Unternehmer synthetisch ermittelt werden
müssen. Haupthindernis sind dabei die nicht öffentlichen produktspezifischen Rabatte aus
selektiven Rabattverträgen, die nur pauschal auf Kassenebene erhoben und auch nur
pauschal vom Arzneimittelumsatz abgesetzt werden können. Dadurch ist es im generikafähigen Markt wie auch in Teilen des Patentmarktes unmöglich, die unter Berücksichtigung
der Selektivrabatte faktisch preiswertesten Substituenten zu identifizieren. Deshalb sind die
nach Listenpreisen ermittelten Preisdifferenzen auch als Basis der ESP-Ermittlung nicht geeignet. Kommen dann noch bei einer anspruchsvolleren Vorgehensweise – wie etwa der
mehrfach geforderten Methodik 4 – weitere Entscheidungsparameter wie wechselnde Preisstände, Wirkstärken, Packungsgrößen und Darreichungsformen hinzu, dürfte die Komplexität des Algorithmus so stark zunehmen, dass sich zwangsläufig Fehlerquellen und
Manipulationsmöglichkeiten ergeben.
Weit dramatischer spitzt sich die Situation jedoch im internationalen Preisvergleich zu. Hier
sind ebenfalls die AVP noch relativ unproblematisch. Dafür liegen jedoch Vertriebswege,
Großhandels- und Apothekenspannen wie auch Abschläge und Rabatte weitgehend im
Dunkeln und erschließen sich wie gezeigt erst aufgrund intimer Kenntnis der länder-, marktund produktspezifischen Gegebenheiten. Auch hier gilt, dass sich die Komplexität der Datenbeschaffung und -verarbeitung exponentiell erhöht, je mehr Referenzländer in das IRP einbezogen werden, was wiederum zur Wahrung der Repräsentativität der Vergleichspreise
wünschenswert, wenn nicht unbedingt notwendig ist. Hinzu kommt schließlich noch die bei
unterschiedlichen Währungsräumen notwendige Preisumrechnung sowie bei divergierenden
Preisniveaus und Inflationsraten innerhalb der Eurozone die dann gebotene Kaufkraftgewichtung der Preise. Gerade die Handhabung der Preisumrechnung und -gewichtung
durch Wechselkurse bzw. Kaufkraftparitäten, die sich auf recht unterschiedliche Weise bestimmen bzw. berechnen lassen, eröffnet der Willkür und Manipulation ein weites Feld.
Bedenkt man dann noch, dass anders als bei der Substitution von Präparaten im nationalen
Kontext die internationale Arbitrage vom billigeren Ausland zum teureren Inland aufgrund
fehlender Liefermengen, bestehender Handelshemmnisse und hoher Transaktionskosten
rasch an ihre Grenzen stößt, liegen dem ESP-Kalkül in aller Regel keinerlei Substitutionsvorgänge zugrunde. Dadurch wird es jedoch zum bloßen Artefakt. Seine Nützlichkeit kann es
dann nur noch dadurch erweisen, dass es bei der allenthalben geforderten Erhöhung von
Herstellerabschlägen und -rabatten oder Absenkung von Listenpreisen und Festbeträgen
oder neuerdings post AMNOG bei der Verhandlung von Erstattungsbeträgen zwischen
Hersteller und GKV-Spitzenverband Pate steht.
Von daher sind Einsparpotenziale bislang eher ein Irrlicht als ein richtungweisender Leuchtturm für rationales Handeln im Gesundheitswesen. Angesichts dessen wäre es ein Gebot der
Vernunft und Redlichkeit, auf derartige Versuche zumindest im internationalen Preisvergleich zu verzichten und es bei qualitativen Analysen von Erscheinungsformen, Ursachen und
Verbreitung von Unwirtschaftlichkeiten in der GKV-Arzneimittelversorgung zu belassen.
Cassel/Ulrich
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Ludwig Wittgenstein, prominenter Vertreter der analytischen Philosophie der 1920er Jahre,
hat seine methodenkritische Abhandlung „Tractatus Logico-Philosophicus“ mit dem berühmten Satz beendet: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“
(Wittgenstein 1921, S. 262). In Anlehnung daran lautet unser Fazit: „Was man nicht berechnen kann, muss man sein lassen“!
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Anhang
Tabelle A-1: Einsparpotenzial bei patentgeschützten Arzneimitteln
aus dem Preisvergleich mit Großbritannien, 2010
66
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Fortsetzung Tabelle A-1
Quelle: AVR 2011, Tabelle 1.4, S. 14-16.
67
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Tabelle A-2: Einsparpotenzial bei Generika und generikafähigen Wirkstoffen
aus dem Preisvergleich mit Großbritannien, 2010
68
Cassel/Ulrich
Fortsetzung Tabelle A-2:
Quelle: AVR 2011, Tabelle 1.6, S. 22-24.
69
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70
Verzeichnisse
Abkürzungsverzeichnis
AM
AMA
AM-Atlas
AMI
AMNOG
AMR
AMU
AOK
AOK-BV
ApU
ATC
AV
AVP
AVR
BARMER
BE
DDD
DE
ED
ES
ESP
ESV
EU
Eurostat
EWU
F&E
FI
Fn
FTD
GB
G-BA
GBE
GBP
GEK
GH-Spanne
GKV
GKV-SV
GKV-WSG
GMG
(Fertig-)Arzneimittel
Arzneimittelausgaben
Arzneimittel-Atlas (IGES)
Arzneimittel-Innovation
Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz
Arzneimittel-Richtlinien
(Fertig-)Arzneimittelumsatz
Allgemeine Ortskrankenkasse
AOK-Bundesverband
Abgabepreis pharmazeutischer Unternehmer
Anatomisch-therapeutisch-chemisch
Außer Vertrieb
Apothekenverkaufspreis
Arzneiverordnungs-Report (WIdO)
Barmer Ersatzkasse
Belgien
Defined Daily Dose
Deutschland
Einzeldosen
Spanien
Einspar-(Effizienz-, Rationalisierungs-, Wirtschaftlichkeits-)Potenzial
Erzieltes bzw. tatsächliches Einsparvolumen
Europäische Union
Statistisches Amt der Europäischen Union
Europäische Währungsunion
Forschung & Entwicklung
Finnland
Fußnote
Financial Times Deutschland
Großbritannien (hier: England und Wales)
Gemeinsamer Bundesausschuss
Gesundheitsberichterstattung des Bundes
Pound Sterling / Britisches Pfund
Gmünder Ersatzkasse
Großhandelsspanne
Gesetzliche Krankenversicherung
GKV-Spitzenverband
GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz
GKV-Modernisierungsgesetz
Cassel/Ulrich
GR
HVPI
IGES
iPV
IM
IMS
IRP
IVP
KBV
KKP
KV
KVWL
MWSt
NHS
nPV
OTC
OTX
PDD
PM
PT
PZN
QALY
RW
Rx
RX
SE
SEK
SGB V
SPC
SVR G
SVR KAiG
TK
TK-AMR
TK-VIA
Tz
UAW
USA
VAT
vfa
WIdO
WK
71
Griechenland
Harmonisierter Verbraucherpreisindex
Institut für Gesundheits- und Sozialforschung
Internationaler Preisvergleich
Intermediate Metabolizer
Institut für Medizinische Statistik
International Reference Pricing
Internationaler Vergleichspreis
Kassenärztliche Bundesvereinigung
Kaufkraftparität
Kassenärztliche Vereinigung
Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe
Mehrwertsteuer
National Health Service (GB)
nationaler Preisvergleich
Over the Counter / freiverkäufliche bzw. rezeptfreie Arzneimittel
Ärztlich verordnete OTC
Prescribed Daily Dose
Poor Metabolizer
Portugal
Pharmazentralnummer
Quality-Adjusted Life Year
Rückruf
Rezept
Verschreibungs- bzw. rezeptpflichtige Arzneimittel
Schweden
Schwedische Krone
Sozialgesetzbuch. Fünftes Buch (Gesetzliche Krankenversicherung)
Supplementary Protection Certificate (GB)
Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen
Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen
Techniker Krankenkasse
TK-Arzneimittelreport
TK-Versicherteninformation Arzneimittel
Textziffer
Unerwünschte Arzneimittelwirkung
Vereinigte Staaten von Amerika
Value-Added Tax
Verband Forschender Arzneimittelhersteller e.V.
Wissenschaftliches Institut der AOK
Wechselkurs
Cassel/Ulrich
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Autoren
Prof. Dr. Dieter Cassel
Emeritus für Wirtschaftspolitik, Gesundheitsökonom und Beauftragter
für Internationale Beziehungen an der Mercator School of Management
der Universität Duisburg-Essen, Campus Duisburg.
Nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre in Marburg
und München war er von 1971-1977 Ordinarius für Wirtschaftspolitik
an der Universität Wuppertal und bis zu seiner Emeritierung 2007
in Duisburg.
Von 2001-2005 war er Vorsitzender des Ausschusses für Gesundheitsökonomie der Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften
– Verein für Socialpolitik – und ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats
des WIdO, Berlin, und Vorsitzender des Kuratoriums der APOLLON Hochschule
der Gesundheitswirtschaft, Bremen.
In seinen gesundheitsökonomischen Veröffentlichungen und Gutachten
befasst er sich insbesondere mit Fragen des Kassen- und Vertragswettbewerbs,
der Reform des Risikostrukturausgleichs, der Deregulierung des Arzneimittelmarktes und der nachhaltigen Finanzierung der GKV.
Prof. Dr. Volker Ulrich
Universität Bayreuth
Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät
Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre III, insbesondere Finanzwissenschaft
Von 2011-2012 war er Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für
Gesundheitsökonomie (dggö)
Arbeitsgebiete:
Finanzwissenschaft, Gesundheitsökonomie, Umbau der sozialen
Sicherungssysteme.
Mitgliedschaften:
Verein für Socialpolitik, Ausschuss für Gesundheitsökonomie im Verein
für Socialpolitik, Deutsche Gesellschaft für Gesundheitsökonomie,
American Economic Association, Assiociation D`Econometrie Appliqueé,
International Institute of Public Finance, Editorial Board der Zeitschrift
Health Care Management Science, Editorial Board der Zeitschrift Health Care,
Financing and Economics.
Veröffentlichungen zur Gesundheitsökonomie (Auswahl):
Journal of Human Resources, Journal of Economics and Statistics,
Health Economics, PharmacoEconomics, International Journal of Health Care
Finance and Economics, Journal for Institutional Comparisons, Finanzarchiv,
Gesundheitsökonomie und Qualitätsmanagement.
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