Großbritannien: Die EU braucht den liberalen Einfluss

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Europa
Großbritannien: Die E U braucht den liberalen Einfluss
Gastbeitrag von D R . Wolfgang Schäuble in der Welt am Sonntag vom 6. März 2016
Quelle: Bundesministerium der Finanzen
Datum 06.03.2016
Eines vorweg: Es ist natürlich allein Sache der Briten, wie sie sich am 23. Juni entscheiden - ob sie die Europäische
Union verlassen wollen oder nicht. Aber wir, die Bundesregierung, die europäischen Partnerländer, hoffen, dass die
Briten zu dem Schluss gelangen, dass es für sie und ihr Land das Beste ist, in der Europäischen Union zu bleiben.
Für mich liegt es auf der Hand, dass Großbritannien, um in der Welt weiter eine führende Rolle spielen zu können,
Europa braucht. Und Europa braucht Großbritannien. Nicht nur wegen seiner Fähigkeit, Reformen anzustoßen, wie es
David Cameron auf dem E U-Gipfel vor zwei Wochen vorgeführt hat. Europa braucht Großbritannien auch deswegen,
damit die Europäische Union sich immer wieder auf ihre liberalen Wurzeln besinnt und die Europäische Kommission
ihre Rolle konsequent als die einer Problemlöserin versteht.
Großbritannien hatte in den letzten Jahrzehnten einen guten Einfluss auf die Europäische Union. Das europäische
Projekt, dem das Vereinigte Königreich 1973 beigetreten war, hatte offensichtliche Defizite: etwa eine kostspielige
Agrar- und Fischereipolitik und keinen Binnenmarkt.
Es ist zu einem guten Teil auch dem politischen Einfluss Großbritanniens zu verdanken, dass die Europäische Union
inzwischen eine zumindest etwas weniger kostspielige Agrar- und Fischereipolitik verfolgt, sich zu einem freieren
Handel bekennt, einen liberalen Binnenmarkt und 28 Mitglieder hat.
Ein unverzichtbares Land
Großbritanniens große globale diplomatische und sicherheitspolitische Erfahrung ist für Europa gerade in den außenund sicherheitspolitischen Krisen unserer Zeit unverzichtbar. Ohne Großbritannien würde es deutlich schwieriger, der
destruktiven Kräfte Herr zu werden, die Europa spalten und destabilisieren wollen - von der gegenwärtigen russischen
Regierung bis zum sogenannten "Islamischen Staat".
Angesichts dieser Herausforderungen besteht in der Europäischen Union erneut dringender Reformbedarf. In der
Diskussion um den Verbleib Großbritanniens in der EU spiegelt sich die notwendige Debatte, was besser werden muss
in der Europäischen Union. Wo können wir einen Mehrwert für Europa auf europäischer Ebene erreichen? Wo sollten
die Mitgliedstaaten in der Verantwortung sein?
Premierminister David Cameron beim EU-Gipfel in Brüssel.
Wir brauchen ein stärkeres Europa vor allem für die großen und übergreifenden Fragen, die kein Staat allein lösen kann.
Die Europäische Union sollte sich im Wesentlichen auf die Sicherstellung eines fairen und offenen Binnenmarktes, auf
Handel, Finanzmarkt und Währung, Klima, Umwelt und Energie sowie Außen- und Sicherheitspolitik konzentrieren auf die Bereiche also, in denen nur die europäische Ebene nachhaltig erfolgreich handeln kann.
Gleichzeitig brauchen wir aber eine größere Bereitschaft, das Subsidiaritätsprinzip konsequent anzuwenden. Wir
müssen die Zuständigkeiten zwischen den Ebenen in Europa klarer verteilen: So viele Zuständigkeiten wie möglich
sollten dezentral bei Kommunen, Regionen, auch bei den Mitgliedstaaten, verbleiben oder wieder zu ihnen
zurückkehren.
Solides Wirtschaften und Finanzaufsicht
In diesen Fragen kommen wir langsam, aber stetig voran: Zum einen haben wir auf der jüngsten Sitzung des
Europäischen Rates mit Großbritannien eine Einigung erzielt, die zeigt, dass wir die Möglichkeit einer Europäischen
Union mit einem vollwertigen Mitgliedstaat anerkennen, der gleichwohl nicht den Euro als Zahlungsmittel verwendet
und der nicht bereit ist, sich politisch immer stärker zu integrieren.
Zum anderen haben wir die Krise im Euroraum in den letzten Jahren genutzt, um Europa in einer Weise zu reformieren,
die Großbritanniens Vorstellungen einer wirtschaftlich starken Union entgegenkommt.
Reformen für mehr Wettbewerbsfähigkeit und stärkere Haushaltsdisziplin haben dazu beigetragen, dass das
Wirtschaftswachstum zurückkehrt, Arbeitslosigkeit und öffentliche Defizite sinken. Bessere Regulierung und die
Bankenunion haben die Finanzmärkte stabilisiert. Diesen erfolgreichen Weg müssen wir weitergehen.
Mittelfristig sollten wir im Rahmen der Bankenunion die Entscheidungsstrukturen der Finanzaufsicht vollständig von
der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank trennen. Und wir sollten weiter über geordnete Staatsinsolvenzen
nachdenken. Dies würde die Anreize für solides Wirtschaften und Haushalten stärken und die Ansteckungsgefahren
zwischen Bankensektor und Staaten verringern.
Das Geld richtig ausgeben
Im EU-Haushalt versuchen wir eine Neuausrichtung der Ausgaben auf einen europäischen Mehrwert zu erreichen. Das
Geld, das wir jetzt vor allem für Struktur- und Agrarpolitik ausgeben, sollten wir eher für die Unterstützung der
länderspezifischen Reformempfehlungen der Europäischen Kommission nutzen, damit sich die Wettbewerbsfähigkeit
der Mitgliedstaaten verbessert.
Und wir müssen den Binnenmarkt weiter vertiefen, vor allem in den Bereichen Digitales und Energie, auch den Markt
für Waren und Dienstleistungen.
Für eine Reform der Europäischen Union brauchen wir Großbritannien als Mitglied. Ohne das Vereinigte Königreich
wäre die Europäische Union weniger effizient und weniger liberal. Ohne die Europäische Union wiederum wäre
allerdings auch Großbritannien wirtschaftlich und politisch schwächer.
Dies zeigt schon ein nüchterner Blick auf die Optionen, die das Vereinigte Königreich hätte, falls es die Europäische
Union tatsächlich verlassen sollte. Der britische "Economist" hat es bereits durchdekliniert: Großbritannien könnte
erstens dem Europäischen Wirtschaftsraum beitreten. Der EWR besteht heute jedoch nur noch aus einem relativ kleinen
Land, Norwegen, und zwei noch kleineren, Island und Liechtenstein.
Die Zukunft liegt nur in Europa
Zweitens könnte Großbritannien die Schweiz nachahmen, die nicht zum E W R gehört, aber mehr als 20 große und 100
kleinere bilaterale Abkommen mit der EU geschlossen hat. Eine weitere Möglichkeit wäre der Abschluss einer
Zollunion mit der Europäischen Union, nach türkischem Beispiel \u2013 oder zumindest der Abschluss eines
weitreichenden und umfassenden Freihandelsabkommens.
Viertens könnte Großbritannien sich auf die Regeln der Welthandelsorganisation für den Zugang zum EU-Binnenmarkt
verlassen. Das fünfte Szenario schließlich wäre der Abschluss einer britischen Sondervereinbarung, die den freien
Handel mit der EU weiterhin ermöglicht, aber ohne die Nachteile anderer Modelle. Zusammenfassend hat der
"Economist" treffend festgestellt: "Die meisten der Alternativen zur Vollmitgliedschaft sind unerreichbar, unattraktiv,
oder beides."
Trotz seiner globalen Erfahrung und Expertise gilt auch für das Vereinigte Königreich: Bereits seit Anfang des 20.
Jahrhunderts sind einzelne Länder, und seien sie noch so mächtig, immer weniger in der Lage, für die weltweiten
Ordnungsfragen wirksame Lösungen zu entwickeln.
Dies wird von erfolgreichen Nationalstaaten zwar äußerst ungern eingeräumt. Aber ein britisches Sprichwort lautet:
"The past is another country", "die Vergangenheit ist ein anderes Land". Dies trifft auch auf das Vereinigte Königreich
selbst zu. Seine Zukunft liegt in Europa.
Die Außengrenzen besser kontrollieren
Gerade in der Frage der Migration, die den britischen Wählern die größte Sorge macht, ist Europa nicht das Problem,
sondern die Lösung - wenn wir an einem Strang ziehen.
Jeder kann seine Grenzen schließen, aber am Ende kann eine dauerhaft tragfähige Antwort nur lauten, dass wir
gemeinsam die europäischen Außengrenzen besser kontrollieren und schützen. Wir sollten diese Krise also nutzen für
Fortschritte in Richtung einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik Europas. Ohne Großbritannien ist eine
solche kaum vorstellbar.
Der Historiker Leopold von Ranke hat 1836 geschrieben: "Das Maß der Unabhängigkeit gibt einem Staate seine
Stellung in der Welt." Vor 200 Jahren traf dieser Satz vielleicht zu. Heute stimmt er mit Sicherheit nicht mehr. Die Welt
hat sich gewaltig verändert.
Heute würde Ranke daher wahrscheinlich schreiben: "Das Maß der Integration gibt einem Staate seine Stellung in der
Welt." Entsprechend sollte das klassische Wort des späten 19. Jahrhunderts für Großbritanniens Beziehung zu Europa,
die "splendid isolation", im 21. Jahrhundert lauten: "splendid integration"!
© Bundesministerium der Finanzen
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