Rezension zu Jürgen Kocka, Geschichte des Kapitalismus, München 2013 (C.H.Beck, 144 Seiten, broschiert) Kapitalismus - zunächst verstanden als Geld-Fetischismus - ist hierzulande allgegenwärtig. Kaum ein Lebensbereich ist vor Monetisierung sicher, auch nicht ganz wichtige Bereiche wie Gesundheit, Nahrung, Partnerschaft und Nachwuchs. Woher rührt dieses starke Interesse, wo doch in manchen Gesellschaftsbereichen das liebe Geld seine ursprüngliche Funktion als Waren-Tauschmittel lange verändert hat? Fragen wir die Geschichte, genauer: Jürgen Kocka. Der Sozialhistoriker aus Berlin legte letztes Jahr ein beeindruckendes Büchlein zur Geschichte des Kapitalismus vor. 1 Anstatt mit einer Einleitung beginnt Kocka damit, sich einer Arbeitsdefinition von Kapitalismus begriffs- und theoriegeschichtlich zu näheren. Nach einer kurzen Vorbemerkung geht er auf drei Klassiker der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus ein und benennt deren Begriffsmerkmale: Karl Marx, Max Weber und Joseph A. Schumpeter. Andere kommen auch zu Wort, damit liefert Kocka elegant eine Historiographiegeschichte mit, ehe er sich auf diese Definition einlässt: 1) Individuelle Eigentumsrechte und dezentrale Entscheidungen, 2) Akteurekoordinierung über Märkte, Preise, Wettbewerb, Zusammenarbeit, Nachfrage und Angebot, Verkauf und Kauf von Waren, 3) Investition und Reinvestition von Kapital »in der Gegenwart im Streben nach Vorteilen in der Zukunft«.2 Sodann gliedert Kocka seine Geschichte in drei Phasen in chronologischer Abfolge: Zunächst die Zeit des Kaufmannskapitalismus in den Jahren 500-1500, dann die Expansionsphase des Kapitalismus von 1500-1800 und schließlich der Kapitalismus in ›seiner‹ Epoche von 1800-2000. Innerhalb dieser Kapitel behandelt Kocka verschiedene Themen in unterschiedlichen Regionen der Welt. Zunächst werden frühe Ansätze (Fernhandel, Entwicklung von Märkten, Monetarisierung) allgemein geschildert, wobei die Subsistenzwirtschaft insgesamt überwogen habe und Profitstreben noch nicht verbreitet gewesen sei. Dann wird der Kaufmannskapitalismus in China und Arabien behandelt, bevor Kocka nach Europa blickt und dort einen verspäteten und andersartigen frühen Kapitalismus ausmacht: Praktiken des Kapitalismus haben sich vor allem im Fernhandel durchgesetzt, aber auch genossenschaftliche Lösungen (Karawanen, Hanse) seien angewandt worden. Weiter werden behandelt: die oberitalienischen Städte mit deren Bankenwesen, die doppelte Buchführung, das Römische Recht, der Unterschied zu China und Arabien mit der frühzeitig sich andeutenden Marschrichtung ›Finanzkapitalismus‹, schließlich Zinsvergabe und Umgehung von Zinsverboten. Auf wenigen Seiten hält Kocka ein Zwischenergebnis für die Zeit um 1500 fest: Im globalen Vergleich habe Europa bei der Ausprägung und Etablierung des Kapitalismus anderen Weltregionen hinterhergehinkt. Gleichzeitig habe sich in Europa eine entscheidende Dynamik gegenüber anderen Kontinenten entwickelt. Kocka deutet den Hauptgrund für diese Dynamik nur an: »das Verhältnis von Wirtschaft und Staat, von Marktprozessen und politischer Macht«. 3 Die Staatsbildung in Europa habe die Dynamik der Kaufleute und die kapitalistische Akkumulation stark gefördert. Insgesamt spricht er den Vorgängen um 1500 kapitalistische Verhältnisse im Sinne seiner Arbeitsdefinition zu, die freilich »Inseln […] in einer vorwiegend nicht-kapitalistischen Umgebung«4 blieben. 1 2 3 4 Jürgen Kocka, Geschichte des Kapitalismus, München 2013. Ebd., S. 20 f. Ebd., S. 43. Ebd., S. 46. Unter dem Schlagwort »Expansion« schreibt Kocka im dritten Kapitel über die räumliche Ausdehnung des Kapitalismus, dessen Eindringen in Sphären der Produktion und schließlich dessen gesamtgesellschaftliche Bedeutung. Europa sei in der Frühen Neuzeit zum Zentrum der Kapitalismusgeschichte geworden: »Der Aufstieg des Kapitalismus, die Machtentfaltung der Territorialstaaten und die in den Kolonialismus mündende europäische Expansion bedingten sich gegenseitig.«5 Vor allem ökonomische Interessen haben zur europäischen Weltexpansion geführt, wobei Abenteurer, Machtpolitiker und Finanziers eine »dynamische Symbiose« 6 eingegangen seien. Als Paradebeispiel dient hierbei der sog. Dreieckshandel. Weiter behandelt Kocka die Erfindung der Aktiengesellschaften (East India Company, Vereinigte Ostindische Kompanie) und die rasch zunehmende Bedeutung des Finanzkapitalismus, der schon im 17. Jh. in England für große Vermögen sorgte - nicht mehr der Warenhandel. Anbei werden erste Krisen des Kapitalismus und öffentliche Finanzen geschildert. Am Beispiel der Plantagenwirtschaft will Kocka die Anpassungsfähigkeit des Kapitalimus an unterschiedliche Arbeitsverfassungen und dessen Fähigkeit zur tiefgreifenden Umgestaltung von Produktionsverhältnissen illustrieren. Gleichzeitig seien Sklaverei und Plantagenwirtschaft Belege dafür, dass sich der Kapitalismus zur Erreichung seiner Ziele inhumaner Vorgehnsweisen bedienen kann. Besonders spannend ist das folgende Unterkapitel, welches das Eindringen des Kapitalismus in die alteuropäische Landwirtschaft untersucht. Denn diese Gemeinschaftlichkeit und persönlichen Austausch stets der kapitalismustypischen Individualisierung und den anonymen Marktbeziehungen vorgezogen, ja, der Feudalismus habe kapitalistischen Ansätzen im Weg gestanden. Und trotzdem habe sich ein Agrarkapitalismus entwickelt, »schrittweise über lange Zeiträume hin«. 7 Vor allem in Ostmittelund Osteuropa habe sich der Kapitalismus - ähnlich wie bei der Plantagenwirtschaft - an andere Verfassungen angepasst, sich diese nützlich gemacht, freilich noch mit nicht-kapitalistischer Arbeitsorganisation. Als Faktoren dieses Kapitalismus nennt Kocka: starke Feudaltradition, geringer Verstädterungsgrad, wenig entwickelte Marktbeziehungen. Ganz ähnlich habe der Kapitalismus auch das Gewerbe erreicht, mit Zurückdrängung der Zünfte und dem »Einfallstor […] im Bereich der protoindustriellen Hausindustrie und Heimarbeit«.8 Das dritte Kapitel schließt mit Bemerkungen zum Zusammenhang zwischen Kapitalismus, Kultur und Aufklärung, wobei Kocka am Ende drei Beobachtungen betont: die wehlerschen »Zusammenhänge zwischen Ökonomie, Gesellschaft, Staat und Kultur«, die Veränderung des Kapitalismus in »langfristigen Prozessen« und die »aktive Rolle staatlicher Regierungen, der Kolonialisierung und der Protoindustialisierung«.9 In »seiner Epoche« habe sich der Kapitalismus in den Jahren 1800-2000 befunden, die das letzte Kapitel behandelt und bis zu Erscheinungen und Problemen unsrer heutigen Zeit führen. Für die Industrialisierung hält Kocka vier Veränderungen des Kapitalismus fest: Erstens habe sie »die Lohnarbeit auf vertraglicher Grundlage zum Massenphänomen gemacht«, zweitens habe »die Akkumulation des fixen Kapitals ein Ausmaß wie nie zuvor« erreicht, drittens seien »technologische und organisatorische Neuerungen […] ungleich wichtiger« geworden, viertens sei der Kapitalismus zum »dominierenden wirtschaftlichen Regelungsmechanismus geworden [...]und gleichzeitig Gesellschaft, Kultur und Politik intensiv« beeinflusst habe.10 5 6 7 8 9 10 Ebd., S. 46. Ebd., S. 48. Ebd., S. 61. Ebd., S. 66. Ebd., S. 77. Ebd., S. 82 f. Mit den Themen »Manager-Kapitalismus« und »Finanzialisierung« schildert Kocka vergleichweise junge Erscheinungen der kapitalistischen Welt, bevor er auf einigen Seiten eines seiner Steckenpferd-Themen behandelt: die »Lohnarbeit im Wandel«, ehe er in Ausführungen zu »Markt und Staat« die aktuellsten Themen behandelt: Kriege, Deregulierung, Finanzmarktkrisen wie zuletzt 2008, kurz: das Zusammenwirken und Austarieren von Kontrolle und Macht zwischen Staat und Kapitalismus. Kocka bietet einen klaren, flüssig geschriebenen und anregenden Überblick zur Geschichte des Kapitalismus. Sein Urteil fällt vielschichtig, insgesamt überraschend positiv aus: Der Kapitalismus habe nicht nur der sozioökonomischen Elite, sondern auch vielen anderen Menschen Verbesserungen betreffs der materiellen Verhältnisse, Lebenszeit, Gesundheit und Freiheit beschert, freilich nicht überall in der Welt. Alternativen zum Kapitalismus haben sich als unterlegen erwiesen. Kocka mokiert jedoch, dass alte Themen der Kapitalismuskritik aus den Augen verloren seien, etwa die ›Arbeiterfrage‹ in globaler Perspektive. Ebenso vielschichtig beurteilt er die Verstrickungen des Kapitalismus in Kriegstreiberei und Faschismus. Für die Zukunft betont der Sozialhistoriker Fragen, die eine Allgemeinheit beschäftigen: die zunehmende Ungleichheit innerhalb der Gesellschaften einerseits, die »konstitutionelle Abhängigkeit des Kapitalismus von permanentem Wachstum und dauernder Expansion« 11 andrerseits. Endlich kommt Kocka zu dem Schluss, dass sich der Kapitalismus durch eine enorme Wandelbarkeit auszeichne und unterschiedlichsten gesellschaftlichen und politischen Zielen dienstbar gemacht werden könne, was Hoffnung mache, diese Form des Wirtschaftens mit ihren Vorzügen ließe sich auch für Nachhaltigkeit und Erneuerbarkeit nützlich machen – so eine gesellschaftliche Mehrheit das wollte. Nicht immer hält man ein derart gelungenes Beispiel der Reihe ›Beck-Wissen‹ in den Händen: knapp, anschaulich, einführend, gleichzeitig weder anspruchslos, noch unvollständig, noch thesenscheu. Im Gegensatz zu den meisten Büchern der Reihe verzichtet es nicht auf Anmerkungen (womit auch mancheinem Kritiker, der die Bücher der Reihe für unwissenschaftlich hält, der Wind aus den Segeln genommen wird), freilich haben die es in sich und bedürften, ganz ähnlich denen Kockas akademischem Lehrer Hans-Ulrich Wehler, im Grunde einer eigenen Besprechung. Dies befriedigt den Wissenschaftler und verwundert womöglich den Laien, denn manches Argument, manche Ausführung und die einzige Tabelle des Büchleins findet sich in den Anmerkungen am Ende. Kocka verwendet hauptsächlich englisch- und deutschsprachige Literatur, das Verzeichnis erweckt den Eindruck, als habe er ausschließlich Literatur verwendet und auf Quellenarbeit verzichtet - wobei die Abgrenzung stets schwerfällt und am Ende wohl dem Urteil des Lesers überlassen bleibt. Wenn man überhaupt etwas mokieren möchte, dann allenfalls, dass Kocka nicht der Frage nachgeht, warum Menschen diesen Geld-Fetischismus eigentlich betreiben. Das kann zwar ein geschichtliches Thema sein, gleichviel gibt es dafür zwei Erklärungen: Entweder sieht sich Kocka für diese Frage nicht qualifiziert, weil sie in andere Disziplinen fällt, oder die Antwort ist so banal, dass sie keiner Erörterung bedarf. Beides kann man als ›Entschuldigung‹ stehen lassen. Ein ungemein anregendes und überraschendes Büchlein, sicher ideal geeignet zur Vorbereitung auf die Auseinandersetzungen mit Thomas Pikettys Buch zum Kapital im 21. Jh., welches im Herbst auf Deutsch erscheinen soll und im angloamerikanischen Raum bereits hohe Wellen schlägt - Kocka wird sicher zu denjenigen gehören, die zwischen allen Stühlen sitzen werden. 11 Ebd., S. 127.