KO S M O S Nicht in der Schule gelernt Der Virialsatz regelt, in welcher Weise sich die Gesamtenergie eines gebundenen Systems auf die verschiedenen Energieformen Bindungsenergie und Bewegungsenergie seiner einzelnen Komponenten verteilt. W ahrscheinlich kann er sich nicht mehr an mich erinnern, aber ich habe seine Laufbahn seit Sommer 1954 verfolgt. Als frisch promovierter Mathematiker hatte ich an der Sternwarte in Bamberg gerade begonnen, meinen Platz in der Astronomie zu suchen, aber kein Astronom kannte mich. Als ich damals zum ersten Mal als Tourist nach Paris kam, fuhr ich sogleich zum berühmten Observatoire de Paris. Obwohl ich unangemeldet aufkreuzte, nahm sich ein junger Mitarbeiter meiner an und führte mich durch die Sternwarte. Er gab sich große Mühe, aber ich muss gestehen, dass ich mich heute hauptsächlich an ein kleines Fernrohr erinnere, durch das wahrscheinlich schon Napoleon geschaut hatte. Der Name meines Begleiters war Michel Hénon. Suchen Sie heute im Internet, da finden Sie eine Hénon-Gleichung, einen Hénon-Attraktor und eine Hénon-Map. Da lernen Sie, was er zur Chaostheorie und zur Mathematik der Fraktale Beiträge geleistet hat. Wenn Ihr PC über einen Lautsprecher verfügt, dann können Sie Musik hören, die mit Hénons fraktalen Formeln komponiert wurde. (siehe unter: www.geocities.com/SiliconValley/ Haven/4386/Subway.mid) Bindungs- und Bewegungsenergie An ihn musste ich kürzlich denken, als mich ein Leser fragte, warum Kugelsternhaufen nicht einfach in sich zusammenstürzen, schließlich zieht die gemeinsame Schwerkraft der Sterne jeden von ihnen zur Mitte. Die Frage stellt sich schon bei einem sehr viel einfacheren Problem: Die Erde wird von der Sonne angezogen, warum fällt sie nicht in sie hinein? Die Antwort ist bekannt: Die Fliehkraft der Kreisbewegung der Erde um die Sonne hält der Anziehungskraft das Gleichgewicht. Das lässt sich auch an44 STERNE UND WELTRAUM Januar 2005 ders ausdrücken: Die kreisende Erde besitzt Bindungsenergie. Das ist die Energie, die nötig ist, um die Erde der Schwerkraft der Sonne zu entreißen und in den Raum hinaus zu heben. Die Erde bewegt sich aber gleichzeitig um die Sonne und besitzt deshalb auch Bewegungsenergie. Das Gleichgewicht zwischen Flieh- und Anziehungskraft verlangt, dass die Bewegungsenergie genau die Hälfte der Bindungsenergie ist. Diese Tatsache, von der die Bewegung eines Planeten um seine Sonne nur ein Spezialfall ist, hat in der Mitte des 19. Jahrhunderts der deutsche Physiker Rudolf Clausius (1822–1888) im Zusammenhang mit der Begründung der Wärmelehre entdeckt. Er nannte sie den Virialsatz. Das Wort hat er dem lateinischen Wort vis (Plural vires) für »Kraft« nachgebildet. Zum Unterschied vom Satz von der Erhaltung der Energie, dem Energiesatz, haben wir den Virialsatz nicht in der Schule gelernt. Er besagt, dass in einem System von Körpern, die bei ihrer Bewegung in einem endlichen Volumen bleiben, im Zeitmittel die Bewegungsenergie halb so groß ist wie die Bindungsenergie. Das gilt auch für jeden Planeten, der seine Bahn um die Sonne zieht. Stets ist seine Bewegungsenergie halb so groß wie seine Bindungsenergie. Lassen wir in Gedanken die Erde durch eine Wolke ziehen, an deren Gasen sie sich reibt und dabei Bewegungsenergie verliert. Dann wird die Fliehkraft etwas geringer, die Sonnenanziehung überwiegt und zieht die Erde auf eine etwas weiter innen liegende Bahn. Damit ist aber die Bindungsenergie gestiegen, denn ich muss mehr Energie aufbringen, um die Erde von der neuen Bahn nach außen zu heben. Nach dem Virialsatz muss dann mit dem Anstieg der Bindungsenergie auch die Bewegungsenergie größer werden, das heißt, die Erde wird schneller. Wir haben gebremst, und damit beschleunigt – das verlangt der Viri- KI PPE NHA HNS Didaktisches Material zu diesem Beitrag: www.wissenschaft-schulen.de und www.suw-online.de Das Innere des Kugelsternhaufens M 15 ist in der Vergangenheit wegen der »Verdampfung« seiner Sterne geschrumpft und hat einen kompakten Kern gebildet. (Bild: Haldan Cohn) alsatz. Glücklicherweise gilt er nicht auf der Autobahn. Während der Energiesatz besagt, dass die Energie, die beim Bremsen verloren geht, aus der Gesamtenergie des Planeten stammt, sagt der Virialsatz genauer, wieviel der beiden Energieformen des Planeten dazu beiträgt. Das lässt sich auch mit Geld veranschaulichen, das ja auch einem Erhaltungssatz genügt, solange keine Banknoten verbrannt werden. Der Erhaltungssatz besagt, dass die Geldmenge, die der Arbeitgeber auszahlt, danach auf den Konten des Finanzamtes und des Arbeitnehmers wieder auftaucht. Der Virialsatz regelt, wieviel auf das eine und wieviel auf das andere Konto geht. Zurück zur Bewegung der von einer Wolke gebremsten Erde. Für jede in Reibungswärme gehende Kilowattstunde werden der Bindungsenergie zwei Kilowattstunden entnommen, die eine geht in Wärme, die andere in Bewegungsenergie des Planeten. Kugelsternhaufen und Atome Der Virialsatz gilt auch für Kugelsternhaufen. In ihnen werden die Sterne durch die gemeinsame Schwerkraft zur Mitte gezogen. Ihre Bewegung, wenn sie auch nicht auf Kreisbahnen erfolgt, sorgt dafür, dass die Fliehkraft den Kollaps des Haufens verhindert. Die Bewegungsenergie aller Sterne zusammen genommen ist halb so groß wie die Bindungsenergie, die nötig wäre, um alle Sterne gegen die gemeinsame Schwerkraft aus dem Haufen heraus zu heben. Aber ganz so einfach ist das nicht. Wenn sich Sterne nahe aneinander vorbei bewegen, tauschen sie Bewegungsenergie aus. Dabei können Sterne so schnell werden, dass sie die Schwerkraft des Sternhaufens überwinden und aus dem Haufen heraus fliegen, sie »verdampfen«. Bindungs- und Bewegungsenergie ändern sich dabei. Für jede Energiemenge, die mit dem entfliehenden Stern dem Haufen verloren geht, wird aus der Bindungsenergie das doppelte frei. Nach dem Verlust des Sterns rücken die anderen enger aneinander. Die restliche Energie geht in die Bewegungsenergie. Die Sterne werden also schneller, und noch mehr von ihnen erreichen die Entweichgeschwindigkeit. Der Verdampfungsprozess beschleunigt sich. Auf den ersten Blick scheint das kein Ende zu nehmen. Es war Michel Hénon, der diese dramatische Entwicklung eines Kugelsternhaufens vorausgesagt hat. Der Virialsatz gilt auch für die Atome in den Sternen. Wenn eine Gaswolke durch ihre eigene Schwerkraft getrieben in sich zusammenfällt, entsteht zuerst eine Gaskugel, in der sich Druckkraft und Schwerkraft das Gleichgewicht halten. Da die Kugel eine endliche Temperatur hat, strahlt sie von ihrer Oberfläche Energie ab – und wieder sagt der Virialsatz, woher diese Energie stammt: Für jede abgestrahlte Kilowattstunde schrumpft der zukünftige Stern und zwei Kilowattstunden werden aus seiner Bindungsenergie frei. Eine davon geht in den Raum, die andere in Bewe- Das Zentralgebiet des Galaxienhaufens im Perseus, bei dem sich etwa 500 Galaxien (diffuse Flecken) am Himmel auf ein Gebiet von acht Vollmondbreiten verteilen. Die scharfen Punkte sind Vordergrundsterne. (Digitized Sky Survey) Der Schweizer Astronom Fritz Zwicky (1898 bis 1974). gungsenergie der Atome, also in Wärme – der Stern wird heißer. Das geht so lange, bis im Zentrum Temperaturen von einigen Millionen Grad erreicht werden. Dann beginnt die Fusion des Wasserstoffs zu Helium, der neu entstandene Stern deckt von nun an seine Abstrahlung durch Kernenergie und schrumpft nicht mehr. Was wirkt dem Kollaps entgegen? Was aber bietet dem sich ständig beschleunigenden Schrumpfen bei Kugelsternhaufen Einhalt? Auch darauf hat Hénon hingewiesen, aber es dauerte lange, bis seine Kollegen es zur Kenntnis nahmen. Da waren auch andere unabhängig von ihm auf den gleichen Gedanken gekommen. Wenn der Kern des Haufens hinreichend dicht geworden ist, dann können sich Doppelsternsysteme und Einzelsterne für kurze Zeit zu Drei- und Mehrfachsystemen vereinigen und Energie miteinander austauschen. Dabei kann Energie der Einzelsterne in die Bewegungsenergie der Doppelsterne übertragen werden und umgekehrt. Vor allem geht Energie der Doppelsterne an Einzelsterne über. Der Stern, der aus dem Mehrfachsystem wieder ausgestoßen wird, besitzt danach mehr Bewegungsenergie als zuvor. Dafür umkreisen die restlichen Komponenten des Mehrfachsystems einander in einer etwas engeren Bahn. Die Wechselwirkungen mit Doppelsternen stellen eine Quelle von Bewegungsenergie dar, die den weiteren Kollaps des Kugelsternhaufens verzögert, wie die Kernenergie das Schrumpfen einer eben entstandenen Gaskugel. Der Virialsatz hilft aber nicht nur, das Schrumpfen von Sternhaufen und Gaswolken zu verstehen. Der seinerzeit in den USA arbeitende Schweizer Astronom Fritz Zwicky untersuchte im Jahre 1937 den Galaxienhaufen im Sternbild Coma und berechnete mit Hilfe des Virialsatzes aus der Verteilung und den Geschwindigkeiten seiner Galaxien, dass seine Bindungsenergie durch die Schwerkraft von etwa 4.5 1013 Sonnenmassen bestimmt ist. Die Masse, die wir in Form von Galaxien sehen, ist aber weniger als ein Hundertstel davon. Es muss also dort noch zusätzliche unsichtbare Materie geben, deren Anziehungskraft zur Bindungsenergie beiträgt. Andere Galaxienhaufen zeigen das Gleiche. Das war die Geburt der Dunklen Materie, deren Natur wir bis heute noch nicht verstanden haben. (Vgl. Seite 32 ff. in diesem Heft!) ... und der Virialsatz hat dabei Pate gestanden. □ Rudolf Kippenhahn, Astronom und Schriftsteller. STERNE UND WELTRAUM Januar 2005 45