Abteilung: Sendereihe: Sendedatum: Produktion: Kirche und Religion Gott und die Welt 30.10.2016 24.10.2016 Redaktion: Autor/-in: Sendezeit: Anne Winter Kirsten Dietrich 9.04-9.30 Uhr/kulturradio 9.15-17.00 Uhr/T9 _____________________________________________________________________________ Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt; eine Verwertung ohne Genehmigung des Autors ist nicht gestattet. Insbesondere darf das Manuskript weder ganz noch teilweise abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Eine Verbreitung im Rundfunk oder Fernsehen bedarf der Zustimmung des RBB (Rundfunk Berlin-Brandenburg). _____________________________________________________________________________ GOTT UND DIE WELT Umsturz, Pest, verliebte Nonnen - Luther im Roman Sprecherin: die Autorin Zitator: Romanus Fuhrmann Zitatorin: Ulrike Bieritz Regie: Roman Neumann 2 MUSIK: mittelalterliche Anmutung, darauf ZITATOR (Jasmund) „Doktor Luther hat nicht nur Freunde.“- „Du willst doch nicht etwa sagen, dass der Papst oder der Erzbischof Mordbuben ausschicken?“ Tamme spürte das Herz gegen seine Rippen hämmern. O-TON 1 Leibrock Luther als Romanfigur finde ich schon tauglich, weil er ja ein Mensch war, der emotional war, der auch ein bisschen cholerisch war, der furchtlos war, der alle Eigenschaften hat eines guten Romanhelden. ZITATORIN (Scheib) Künftig wollte Martin noch besser auf seinen Baum hören, wollte erkunden, wie er mit den Widrigkeiten seines Lebens fertig wurde. Er war davon überzeugt, dass nichts auf dieser Welt schöner und klüger war als sein Baum. Martin nahm sich vor, so stark und einsam zu werden wie er. O-TON 2 Jasmund Ich wollte immer Luther dem Menschen nahekommen und nicht nur Luther dem Theologen. ZITATOR (Jasmund) „Ich weiß, was ich gehört habe. Es wird ein finsterer Plan gegen Euch geschmiedet.“ O-TON 3 Jasmund Nur Luther jetzt als Mann, wie er eine Vorlesung hält, wie er seinen Aufgaben als Mönch, als Beichtvater, als Prediger in der Stadtkirche wahrnimmt, das ist vielleicht nicht so eine spannenende Geschichte und füllt natürlich auch keine 400 Seiten. ZITATOR (Jasmund) „Was soll das schon sein? Eine gegen mich gerichtete Streitschrift. (…) Auf vage Vermutungen hin werde ich mich nicht von meinen Pflichten abhalten lassen. Gott hält seine Hände über mich, und dahinein werde ich mich demütig begeben.“ Der Augustinereremit setzte seinen Weg fort. Seine Schritte klapperten auf dem Dielenboden. TITELSPRECHERIN Umsturz, Pest, verliebte Nonnen - Luther im Roman Eine Sendung von Kirsten Dietrich 3 Sprecherin: Martin Luther war ein Vielschreiber - 127 Bände umfasst die Gesamtausgabe seiner Schriften: von der Bibelübersetzung und theologischen Abhandlungen bis hin zu Fabeln und Liedtexten. Auch über Martin Luther wurde und wird viel geschrieben. Schon seine Zeitgenossen haben sich mit ihm befasst und jedes Jubiläum bringt eine neue Welle von Biographien. Sie versprechen, in der Fülle der Überlieferung eine ganz neue Perspektive zu finden auf den Mann, über den schon alles gesagt scheint. Gibt es noch irgendetwas über Luther zu entdecken? Aber ja: man braucht nur – ein bisschen Fantasie. Und die Geduld für die durchschnittlich 400 Seiten eines historischen Romans. O-TON 4 Jasmund Ich habe ja Biographien gelesen über ihn, und da geht es im Wesentlichen um seine Theologie. Welchen Richtungen er anhing – / also, das sind jetzt so Sachen, die in natürlich in einem Roman, der unterhalten will, nichts zu suchen hat. Sprecherin: Birgit Jasmund schreibt historische Romane. Ihr neuester spielt in Wittenberg, 1517. O-TON 5 Jasmund Da geht es wirklich mehr darum, wie hat Luther in Wittenberg gelebt, wie sah es in seinem Kloster aus, wie sah es in seiner Zelle aus, was hat er in seinen Vorlesungen gemacht, wann waren die überhaupt, wie hat er gebetet? Sprecherin Im Gegensatz zur Predigt in der Kirche kann der Roman vor allem eines, sagt Felix Leibrock, Pfarrer, Krimiautor – und Verfasser zweier Romane über Martin Luther. O-TON 6 Leibrock Andere Leser- und Hörerschichten gewinnen, denn der Roman ist ja eine Gattung, die nach wie vor viel gekauft und viel gelesen wird. Gehen Sie mal auf die Frankfurter Buchmesse: die Halle mit den belletristischen Romanen ist überfüllt, gehen Sie eine Etage höher, da sind die religiösen und christlichen Verlage: da können Sie schön ausspannen, weil dort alles leer ist. Sprecherin Romane öffnen einen neuen Zugang zu Luther – dafür müssen sie nicht einmal das Leben des Reformators direkt zum Thema haben. Auch in Liebesromanen oder Krimis 4 taucht Luther auf, als Teil des historischen Lokalkolorits: Die Liebe in den Zeiten der Reformation sozusagen. Auch wenn er nicht im Zentrum steht, zeichnen die Autorinnen und Autoren immer ein sehr eigenes Lutherbild. Eines, über das es sich nachzudenken lohnt, gerade weil es sich um Abstand vom Bild der Kirche bemüht. ZITATOR (Jasmund) Im Hof lag Schnee, von vielen Schuhen festgetrampelt und verschmutzt. Der Schnee hatte seine Reinheit verloren, wie auch die Christenheit ihre verloren hatte. (…) Von der Bank vor dem Schuppen fegte er mit einem Ärmel seiner Kutte den Schnee und setzte sich trotz der winterlichen Kälte hin. (…) „Ich werde mich nicht in ihre Niederungen begeben, aber ich werde mich auch nicht von meiner Meinung abbringen lassen.“ MUSIKAKZENT Sprecherin Martin Luther ist berühmt, auch über gläubig protestantische Kreise hinaus: als der Reformator, der Bibelübersetzer. Doch das Bild ist bei genauerem Hinsehen eher ein Denkmal. Und deswegen zitieren auch die Romane, die nicht direkt Luthers Leben nacherzählen, meist einen der ikonischen Momente im Leben des Reformators. O-TON 7 Jasmund Was muss man unbedingt haben, um über Luther zu schreiben? Das ist natürlich der Thesenanschlag, das hat mich gepackt, und diese Szene, hab ich gedacht, die musst du in einem Roman verarbeiten, und die ganze andere Geschichte kam später. Sprecherin Denn auch wenn Birgit Jasmund von Haus aus Juristin ist und keine Theologin oder Historikerin: dass die Geschichte mit den Thesen an der Kirchentür zumindest dubios ist, wusste sie. Wirkmächtig aber ist dieses Bild trotzdem - der Mann, der zum Hammer greift, um die Wut über seine verrottete Kirche aller Welt mitzuteilen. O-TON 8 Jasmund Die erste Szene, die ich für das ganze Buch im Kopf hatte, war auch tatsächlich die: Wie kommen die Thesen an die Kirchentür? 5 Sprecherin Das wird ein Job für Hinke-Cuno, der sich in Jasmunds Roman elternlos mit Gelegenheitsjobs in Wittenberg durchschlägt. ZITATOR (Jasmund) Von hinten näherten sich ihm eilige Schritte. Cuno kannte den Mann, der Name fiel ihm zwar nicht ein, aber er gehörte zu den Mönchen im Schwarzen Kloster und lehrte an der Universität. Mehr als einmal hatte Cuno für ihn Botengänge erledigt und war immer anständig entlohnt worden. Der Mönch trug eine Ledermappe unter dem Arm, wie viele der gelehrten Herren eine besaßen. Mehrere Bögen fielen heraus und landeten im Schmutz der Gasse. Mit einigen hinkenden Hüpfern war Cuno heran und hob die Papiere auf. Sprecherin Die Papiere, man ahnt es, sind die 95 Thesen. Cuno will sie zurückgeben, aber im Kloster weist man ihn als Bettler an der Pforte zurück. Prompt kommt ihm eine Idee: ZITATOR (Jasmund) Cuno wusste nämlich, dass diese Tür der Schlosskirche von den Mitgliedern der Universität für Aushänge genutzt wurde. (…) Entschlossen klemmte Cuno die drei Papiere in den Spalt zwischen rechtem und linkem Türflügel, vergewisserte sich noch einmal, dass sie nicht herunterfallen konnten und nicht nass wurden, und hinkte die Treppe hinunter. Sprecherin Diese ikonischen Momente, die den Beginn der Reformation markieren, tauchen in vielen Romanen auf. Luther verbrennt die Bannbulle des Papstes, Luther steht vor dem Reichstag in Worms und kann nicht anders - wenn das Leben des Reformators nicht direkt nacherzählt wird, dann wird einer der Protagonisten zufällig zum Zeugen und wirft einen Blick aus der letzten Reihe aufs Geschehen. Oder die Leute erzählen es sich auf den Straßen und ihr Getuschel wird zur Hintergrundmusik eines Romans, der eigentlich von Liebe in Zeiten von Pest und Umbruch erzählt. Das wird manchmal voll Ehrfurcht nachempfunden, manchmal aber wird auch ein Mythos entlarvt. Wie in Alfred Brekkers Buch „Der geheimnisvolle Mönch“: In seinem Asyl auf der Wartburg, 6 wo er incognito lebt, bittet Luther eine Magd um ein neues Tintenfass – sein altes sei kaputtgegangen. ZITATOR (Bekker) „Und wenn du wirklich wissen willst, wie das Tintenfass an die Wand gelangte: Ich habe es geworfen, als mir dort der Teufel erschienen ist. Aber es hat gewirkt, er ist verschwunden. Aber erzähl das ja nicht weiter!“ Die Magd blickte entsetzt und wich einen Schritt zurück. Dorthin, wo der Teufel erschienen war, wollte sie dann doch nicht. Sprecherin Und nur deshalb hat Luther ja die Geschichte erzählt: die Magd soll draußen bleiben, im Zimmer versteckt Luther nämlich den Gauklerjungen Wolfgang – aus dessen Perspektive erzählt Brekker seinen Roman. Der Gaukler hatte Wind von der geplanten Entführung auf die Wartburg bekommen, sie gründlich missverstanden als Anschlag auf Luthers Leben und ihn warnen wollen. ZITATOR (Bekker) Wolfgang streckte die Hand aus und deutete zu dem Tintenfleck an der Wand. „Ihr hättet der Magd etwas anderes erzählen sollen, Herr Luther.“ „Weshalb?“ „Weil man sich die Geschichte von dem Teufel, der Euch an der Wand erschienen ist, wahrscheinlich noch sehr lange erzählen wird. Auch dann noch, wenn Ihr eines Tages nicht mehr Junker Jörg seid und wieder als Martin Luther auftretet.“ MUSIKAKZENT Sprecherin Die Schlüsselszenen, die nicht nur in Luther- Biographien zitiert werden, stammen aus den Anfangszeiten der Reformation. 1517 bis 1525, vom Thesenanschlag bis zur Hochzeit mit Katharina von Bora, das sind die heißen Jahre, in denen ein Großteil der Romane spielt. Und ihre Autoren lieben den Kontrast: Luther, der Mönch, der so ganz anders ist als der Rest seiner Kirche. 7 ZITATOR (Wander) Ekkehard hatte sich gewundert, dass dieser durchschnittlich wirkende Mann imstande war, eine solche Wirkung zu entfalten. Er hätte zumindest lodernde Augen und wallendes Haar erwartet, jedenfalls abseits der Tonsur. Aber nein, Luther war mittelgroß, schmal, verfügte über eine lebhafte Mimik und ein lautes Lachen. ZITATORIN (Riebe) Susanna wurde jedes Mal klamm zumute, sobald sie Luther begegnete, obwohl der Reformator sie kaum zu bemerken schien. Stets in Eile, als riefe ihn bereits die nächste dringliche Angelegenheit, lief er durch die Räume, ohne nach links und rechts zu schauen, bevor er für viele Stunden täglich in seiner Schreibstube im obersten Stockwerk verschwand. Sprecherin Arbeitssüchtig, schmal, Asket – einer, der für seine Sache brennt. Es ist sicher kein Zufall, dass die historischen Romane den jungen Luther lieben. Also den, der mitten im beginnenden Sturm der Reformation mit sich und der Welt ringt. Wobei der echte Luther da auch schon über 30 und Professor war, nach den Maßstäben seiner Zeit also ein gesetzter Herr. Aber im Roman ist sein Habitus der des jugendlichen Helden. O-TON 9 Leibrock Seine Emotionen. Find ich ganz entscheidend. Dass er kein Büromensch war, der seine Theorien im einsamen Stüblein ausgetragen hat, da hat er nur die Bibel übersetzt, aber ansonsten war er immer unter den Menschen und hat gekämpft für seine Lehre und hat Leidenschaft gezeigt. Sprecherin Ganz anders als die Kirche heute, sagt der Pfarrer und Krimiautor Felix Leibrock. Kaum zu glauben, dass der Hitzkopf Luther für diese Kirche gekämpft hat. In den historischen Romanen sind die Rollen da klar verteilt: Luther ist der jugendliche Kämpfer gegen Aberglauben und irrationalen Ablasshandel. Er mag öfter von Teufel und Sünde reden, auch das gehört zum historischen Lokalkolorit. Aber sein unbedingter Halt in Gott bleibt fremd und Luther ein sperriger Held. 8 MUSIKAKZENT Sprecherin Wenn Radikalität in Gedanken mit Jugend gleichgesetzt wird, dann verwundert es wohl nicht, dass die allermeisten Romane mit dem alten Luther nichts anfangen können. Dem also, der unter Nierensteinen leidet und schreckliche Schriften gegen Juden, Türken und den Papst verfasst. Es ist sicher kein Zufall, dass die wenigen Romane, in denen der alte Luther auftritt, einen Trick verwenden: Sie versetzen Luther in die Gegenwart. ZITATOR (Leibrock) Luther hatte mittlerweile Erfahrung mit Personen, die die Ordnung zu vertreten hatten. Zugbegleiterinnen, Hotelrezeptionisten, Marktmeister, sie alle standen ihm zunächst einmal feindlich gegenüber. Das lag an seinem manchmal ungepflegten Äußeren, an der gelegentlichen Duftwolke, an seiner scheinbar übermächtigen Gestalt, immer häufiger auch an der ihn umgebenden Menschenmenge mitsamt den Pressevertretern. Mit ihm, Luther, kam auf die Ordnungshüter etwas Unordentliches, Aufsprengendes, Chaotisches, in jedem Fall Bedrohliches zu. Sprecherin Dieser Luther ist anders. Felix Leibrock macht in seinem „Reformations-Roman“ mit dem Titel „Lutherleben“ ein Gedankenspiel: Was wäre, wenn Luther heute leben würde? Wenn zum Beispiel beim Inlineskaten jemand gegen einen Baum fahren würde, ins Koma fiele und dann als wiedererstandener Reformator aufwachte? Der dann die Stätten der Reformation abklappert, seinen Lebensunterhalt mit Akkordeonspielen in der Fußgängerzone verdient und nichts sehnlicher wünscht, als dass die getrennten Kirchen wieder vereint ihre Botschaft der Liebe leben? O-TON 11 Leibrock Man kann das schon tun, wenn man nicht seine Schriften so heranzieht, sondern sein Denken. Was hinter diesen Schriften steht. Dass man dann so eine Art Transformation macht. Weil Luther lebt heute in einer anderen Welt als vor 500 Jahren und man tut ihm sogar grob unrecht, wenn man ihn einfach von damals mit seinem Denken und Verhalten so in unsere Zeit rüberzieht, dann wird er ja manchmal absurd. 9 Sprecherin Wenn also der alte Luther im Roman reinkarniert, bringt gerade sein Fremdsein die Handlung ins Rollen. Es geht nicht um Identifikation mit dem jugendlichen Helden, sondern um den Anstoß: was würde Luther uns heute sagen? Und was hätte er gutzumachen? In Leibrocks „Lutherleben“ wird Wolle Trödler als wiedergeborener Reformator vom Krankenhausseelsorger direkt mit seiner antisemitischen Hetze konfrontiert – ein Thema, das sonst nicht nur von Schriftstellern gern als nicht so wirklich relevant für Luther in seiner entscheidenden Lebensphase betrachtet wird. ZITATOR (Leibrock) „Sag Er mir“, wandte er sich an Trödler-Luther und sah ihm fest in die Augen, „wie Er sich damals gegen die Juden geäußert hat, würde Er das heute wieder tun?“ Stille trat ein, um Trödler-Luthers Mund spielte ein Zucken und seine Augen schienen noch weiter in die Höhlen zurückzutreten. Erst langsam, dann immer heftiger begann der ganze Körper zu beben. Mit seinem Hemdsärmel wischte er sich Schweißtropfen von der Stirn. Mit einem dumpfen Geräusch sank er vom Stuhl auf den Boden. Sprecherin Anderer Autor, ähnliches Konzept: „Als Luther vom Kirschbaum fiel und in der Gegenwart landete“ von Albrecht Gralle. Der Zeitsprung von 500 Jahren gibt Martin Luther Gelegenheit zu komischen Begegnungen mit Frauen, die nicht mehr Weib genannt werden wollen, mit dem Papst und mit Jüdinnen, die gar nicht so schlimm sind, wie Luther sich das gedacht hatte. Und der wortgewaltige Alte findet neue Predigtthemen: gegen die Freudlosigkeit in der Kirche und gegen die politische Korrektheit – und das in einer an moderne Ohren angepassten Form von Lutherdeutsch. ZITATOR (Gralle) „Überall han sich neue Gesetz und Gebot eing’schlichen bei euch: Man darf kein Fleisch essen, und man darf kein Kleid nit anziehn, dass arme Menschen genäht und muss mich mit meiner Meinung richten, was die anderen sagen und schrein. (…) Vor lauter neue Gesetz und Ratschläg verbaut ihr euer Leben wie mit eim Bretterzaun. Sind doch nur Menschensatzung! Tut das, was ihr für richtig haltet, und scheißt auf alles andre! 10 Sprecherin Wer sich im Roman auf den späten, den anstößigen Luther einlässt, muss sich auch unangenehmen Wahrheiten stellen, sagt Felix Leibrock. O-TON 12 Leibrock Er wollte sich nicht verabschieden aus dem Mittelalter, der große Reformator ist im Grunde doch ein sehr konservativer Mensch gewesen, der eigentlich nur die Kirche reformieren, wiederherstellen, wie sie einmal war, und deswegen finde ich den alten Luther mindestens genauso spannend wie den jungen, wo ein Mensch sich fragt, war mein Leben eigentlich gut, so, wie ich es geführt habe. Sprecherin Das ist sicher ein reizvolles Konzept für Schriftsteller, die evangelische Theologen sind – so wie Felix Leibrock und Albrecht Gralle – und die deshalb auch im Roman ihrer Kirche etwas sagen wollen. Die anderen bleiben lieber beim jungen Luther. MUSIKAKZENT Sprecherin Wenn es im historischen Roman nicht um Luthers Biographie geht, steht meist eine junge Frau im Mittelpunkt des Geschehens, der das Schicksal manchen Stein in den Weg legt auf der Suche nach dem Lebensglück – also der Liebe. Für diese Geschichten bietet die Reformationszeit reichlich Stoff: Hier wollen die jungen Frauen einem aufgezwungenen Klosterleben entkommen oder der Pest – oder beidem. Und wie nebenbei wird dabei auch das Thema „Kirche und Frauen“ behandelt. Dabei macht Martin Luther eine erstaunlich gute Figur. Andere Männer, darunter auch Geistliche, sind wenig mehr als wüste Tiere, stets auf der Suche nach Lusterfüllung. ZITATOR und ZITATORIN (Das Lied vom Schwarzen Tod) „Lasst euch versichern, wir Menschen sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes, den wir bei Gott haben sollten. So schreibt es der Apostel Paulus in seiner Epistel an die Römer.“ „Ich verstehe nicht.“ „Legt Eure Hand auf meinen Schoß, dann werdet Ihr verstehen.“ 11 „Aber Hochwürden!“ (…) Im Beichtstuhl wurde es still. Kurz darauf stöhnte der Priester auf. Sprecherin Luther aber nimmt Frauen ernst. In Geschichten, in denen er bereits verheiratet ist, führt er eine gleichberechtigte Ehe mit Katharina von Bora und bietet in seinem Haushalt einen sicheren Hafen für junge Frauen auf der Flucht vor dem Kloster oder auch vor psychopathischen Serienmördern. Der junge Luther dagegen liebt bedingungslos und stellt sich für die Frau seines Herzens sogar gegen seinen fordernden Vater – so imaginiert es Asta Scheib in ihrem Roman „Sturm in den Himmel“. ZITATORIN (Scheib) Was hätte Jesus an seiner Stelle getan? Er war auch ein geschlechtliches Wesen, hatte Freundinnen gehabt, sogar unter den Huren. Sprecherin Doch sie will nicht auf ihn warten, während er studiert: die Beziehung zerbricht, und Martin gerät ins Gewitter: ZITATORIN (Scheib) Das Gewitter tobte direkt um ihn herum. Er konnte es nur geschehen lassen. Und beten. Laut anbeten gegen den Sturm. (…) „Herr, Jesus Christus, was soll ich tun, damit Gott mir gnädig ist – ich… ich will ein Mönch werden.“ Sprecherin Noch so ein ikonischer Moment – und Tragik. Besser ergeht es dem Reformator in „Luther und der Pesttote“: Da tritt er als freundlicher Bildungsbürger auf, der Almuth, die tatkräftigte Hauptfigur, gerade in ihrem zeituntypischen Selbstbewusstsein zu schätzen weiß. 12 ZITATOR (Jasmund) „Dein Verlobter kann sich glücklich schätzen mit einer Frau wie dir. Bleib fest im Glauben, und zögere nicht, zu mir zu kommen, wenn ich etwas für dich tun kann. Dein Mut imponiert mir, ich will dir gern helfen.“ O-TON 13 Jasmund Die Frauenfigur war mir wichtig, einerseits weil ich gerne wollte, dass Luther auch mit einer Frau zu tun hat, da er auch nachher geheiratet hat, also dass er nicht so „Frauen nähern wir uns gar nicht“ dasteht, und dass wir auch eine spannende Geschichte um eine Frau haben. Sprecherin Und, das ist Autorin Birgit Jasmund wichtig: einen Reformator, der zwar als mittelalterlicher Mensch gezeichnet wird, aber eben auch Sympathieträger für Leserinnen von heute sein soll. In ihrem Roman klärt Martin Luther mit Hauptfigur Almuth auch noch das Komplott um einen angeblichen Pesttod auf: ZITATOR (Jasmund) „Das ist die erste richtige Spur, die ich habe. Ich danke Euch, mein guter Herr.“ Almuth umarmte den Mönch. Die raue Wolle seiner Kutte kratzte an ihrer Wange. Als sie wieder voreinander standen, schaute sie verlegen zu Boden. Sie hatte einen Mann Gottes umarmt, einen Mann, der den Frauen abgeschworen hatte. Ausgerechnet Martin Luther, der es mit den Vorschriften besonders genau nahm. Doch sollte ihn Almuths überschwängliche Reaktion gestört haben, ließ er sich nichts anmerken. MUSIKAKZENT Sprecherin Jung, asketisch, blitzgescheit – Bruder Martinus klärt auf: Wenn das Leben Luthers für Kinder beschrieben wird, dann geschieht das gerne im Gewand des Krimis: „Im Netz der Falschmünzer – ein Ratekrimi um Martin Luther“ etwa oder „Der geheimnisvolle Mönch“ aus der Serie „History & Crime“. Aber auch im Historienroman für Erwachsene wird Martin Luther erstaunlich oft mit Verbrechen konfrontiert. Da geschehen etwa Morde im Umkreis der Nonnen, die mit Katharina von Bora, Luthers künftiger Frau, aus dem Kloster fliehen. Oder ein erzürnter Vater bringt seine Tochter nicht nur 13 um, sondern tarnt das Ganze auch noch als Selbstmord – weil sie sich für die Ideen der Reformation begeisterte. In „Die geheime Braut“ von Brigitte Riebe suchen Augenzeuginnen eines Serienmörders Schutz bei Luther zuhause – pikant, denn ihr Geld verdienen sie als Prostituierte. ZITATORIN (Riebe) „Ich bin die schwarze Griet“, sagte sie, „und führe das Frauenhaus am Elstertor. Ganz oben gibt es eine geheime Dachkammer, in die hat der Patron, dem das Haus gehört, dieses Mädchen gesperrt, an Händen und Beinen gefesselt und mit einem Knebel im Mund stumm gemacht. (…) Bitte helft uns!“ „Was faselst du da? Und was scheren mich eure verderbten Händel?“ belferte Luther. „wer in die Hölle hinabsteigt, der wird auch dem Teufel begegnen. (…) Verschwindet!“ „Und wenn in jener Dachkammer riesige Buchstaben an die Wände gemalt wären“, sagte Griet. „Mit Blut geschrieben?“ „Mit Blut?“ Luther zögerte, zog einen Schemel heran und ließ sich darauf nieder. „Wie kommst du darauf? Kannst du denn überhaupt lesen?“ Sprecherin Natürlich lässt sich der moralisch skeptische Reformator zur Hilfe überreden, gemeinsam mit seinem guten Freund Lucas Cranach. Es ist bemerkenswert, wie gut das zusammenpasst: Luther und der Krimi. O-TON 14 Leibrock Das liegt aber nicht an Luther, das liegt am Krimi. Weil der Krimi eben eine Gattung ist, die das Leben noch viel spannender macht. Sprecherin Mit Genrefragen kennt sich Felix Leibrock aus – schließlich ist er Pfarrer und Krimiautor. Es gibt für ihn aber auch Gründe, warum gerade Luther im Fokus der historischen Krimis steht und nicht ein anderer Reformator wie zum Beispiel Melanchthon. O-TON 15 Leibrock Bei Luther kann man sich ja vieles ausdenken, was da kriminell in seinem Umfeld war, und diese Entführung, als er auf die Wartburg ist – offiziell ist das ja Menschenraub, er hat das ja wohl selbst toleriert, es ist aber auch ein bisschen Betrug, weil er ja offenbar weg war und dann ist er doch wieder da, dann sitzt er 1530 auf der Coburg, weil 14 er nicht nach Augsburg darf, und dort verhandeln sie über seine Perspektive und über seine Religionserneuerungen, und er sitzt von schwarzen Raben umgeben auf der Feste Coburg und sieht dort überall den Teufel – das ist alles in diesem Thrillermilieu, in dem er sich schon bewegt hat, und deswegen taugt er glaub ich gut auch als Krimifigur. Sprecherin Luthers bewegtes Leben bietet Ansatzpunkte für Krimihandlungen, das ist die eine Deutung. Doch die Lutherkrimis verweisen noch auf mehr. Glaube erscheint heute offensichtlich als unerklärliches Geheimnis – wenn das Leben eines so gläubigen Menschen wie Martin Luther zum Krimi wird, dann lässt sich so auch das Mysterium Glauben knacken wie ein Rätsel. Das Unverständliche wird zugänglich. O-TON 16 Jasmund Das war nicht so einfach. Dass man sich überhaupt aneignet, eine wie große Rolle hat der Glaube im Alltag gespielt, jetzt nicht nur für Luther, sondern ja auch für die anderen Menschen, die einfachen Menschen, die beten ja vielleicht auch, die denken viel mehr an ihren Glauben, als wir das wahrscheinlich heute tun. Das war schon schwierig für mich selbst, dass ich auch ein Stück weit diese Art des Denkens übernehme beim Schreiben. Sprecherin Wenn in Birgit Jasmunds Roman über das Verbrechen geredet wird, geht es deshalb um weit mehr. ZITATOR (Jasmund) „Doktor Luther hat seine Unterstützung angeboten“, erwiderte sie schnell. „Er will keine Ungerechtigkeit auf Erden zulassen. “ Sprecherin Wenn der Kriminalfall im Roman aufgeklärt wird, ist das nicht im Prinzip nur eine Umschreibung dessen, was Luther mit dem Geschehen der Rechtfertigung vor Gott gemeint hat? Direkt gleichsetzen will Felix Leibrock das nicht. O-TON Leibrock Es ist ja diese Ebene zwischen Gott und Mensch. Und wenn die gestört ist, wenn der Mensch sich entfernt hat von Gott, dann muss er gerechtfertigt werden, und vor Gott ist er gerechtfertigt, das war Luthers große Erkenntnis. Im Grunde geht es ja da um 15 Schuld und Vergebung, und das ist ja das Grundelement auch des Krimis überhaupt: am Anfang ist die schwere Schuld, am Ende wird die aufgelöst, am Schluss siegt in der Regel doch das Gute, ist die Welt wieder in Ordnung. So ist es im Grunde auch im Gottesdienst.(( Deswegen ist es zwar eine gewagte, aber nicht ganz abwegige Theorie: der Tatort ist der Gottesdienst von heute. )) Sprecherin Und der Lutherroman wäre dann, um im Bild zu bleiben, der Kleine Katechismus? Auch wenn die dicken und unterhaltsamen Bücher keinen dogmatischen Anspruch erheben: sie versuchen ihr Bestes, das Denkmal Martin Luther mit Leben zu füllen. Sie muten den Leserinnen und Lesern ganz selbstverständlich Gebete, Rituale und religiöse Sprache zu. Doch bei aller historischen Genauigkeit sind die Romane an einer entscheidenden Stelle ganz der Moderne verpflichtet: Ihren Luther zeichnen sie als den ersten modernen Gläubigen – frei von kirchlicher Institution, aufgeklärt im Taumel des Umbruchs, nur Gott und seinem Herzen verpflichtet. Ein Traum von einem Geistlichen eben. MUSIK TITELSPRECHERIN Umsturz, Pest, verliebte Nonnen - Luther im Roman Sie hörten eine Sendung von Kirsten Dietrich Es sprachen: Romanus Fuhrmann, Ulrike Bieritz und die Autorin Ton: Bodo Pasternak Redaktion: Anne Winter Regie: Roman Neumann Das Manuskript der Sendung können Sie telefonisch bei unserer Service-Redaktion bestellen. Aus Berlin oder Potsdam unter 97993-2171 Oder per email: [email protected]. Und zum Nachhören oder Lesen finden Sie die Sendung auch im Internet unter kulturradio.de.