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64. JAHRGANG /HEFT 2–4/FEBRUAR–APRIL 2014
Totentanz
Der Erste Weltkrieg im Osten Europas
Editorial
Der Krieg von gestern und die Krise von heute
5
Jörg Baberowski
Der Anfang vom Ende
Das Zarenreich im Ersten Weltkrieg
7
Dietrich Beyrau
Marie-Janine
Calic
Andreas Kossert
Kriegsszenen
Erfahrungen an der russischen Westfront
21
Kriegstreiber Serbien?
Die Südslawen und der Erste Weltkrieg: eine
Richtigstellung
43
„Und drescht ihr nur die Reußen“
Der Erste Weltkrieg in Ostpreußen
59
Imperium und Nation
Egbert Jahn
W. Borodziej
Maciej Górny
Sprengkraft Selbstbestimmungsrecht
Der Erste Weltkrieg als Katalysator für die
Nationalstaatsbildung
73
„In der Feuerlinie sind alle gleichberechtigt“
Zur Loyalität der Nationen
91
Herfried Münkler Spiel mit dem Feuer
Die „Politik der revolutionären Infektion“
109
Guido Hausmann Die Kultur der Niederlage
Der Erste Weltkrieg und die Ukraine
Jochen Böhler
Europas „Wilder Osten“
Gewalterfahrungen in Mitteleuropa 1917–1923 141
Ljudmila Novikova Kontinuum der Gewalt
Der Norden Russlands 1914–1920
Oleg Budnickij
127
Dienst in der Höhle des Löwen
Juden in der russischen Armee im Weltkrieg
157
171
Peter Gatrell
Der Krieg, die Flucht und die Nation
Das Flüchtlingsdrama im Zarenreich, 1914–1920 185
Tomas Balkelis
Demobilisierung, Remobilisierung
Paramilitärische Verbände in Litauen 1918–1920 197
Stephan
Lehnstaedt
Imperiale Ordnungen statt Germanisierung
Die Mittelmächte in Kongresspolen, 1915–1918
221
Jan Kusber
Wegscheide Krieg
Defekte Imperien, defekte Nationalstaaten
233
Integration durch Religion und Kunst
Martin
Schulze Wessel
Religion, Dynastie und Erster Weltkrieg
Zarenreich und Habsburger Monarchie
Alfons Brüning
Katastrophe und Epochenwende
Die Russische Orthodoxe Kirche im Weltkrieg 263
Thomas Bremer
Das Jahrhundert der Kriege
Die Orthodoxie, der Krieg und der Friede
279
Lidia Głuchowska Der „fremde Krieg“ und der „neue Staat“
Polnische Kunst 1914–1918
291
Ada Raev
Fragmentierte Wahrnehmung
Kunst in Russland aus dem Geist des Kriegs
247
317
Alexandre Sumpf
In Szene gesetzt
Der Erste Weltkrieg im sowjetischen Kino
339
100 Jahre Erster Weltkrieg
Jost Dülffer
Boris Kolonickij
Aleksandr
Golubev
Die geplante Erinnerung
Der Historikerboom um den Ersten Weltkrieg
351
100 Jahre und kein Ende
Sowjetische Historiker und der Erste Weltkrieg
369
Kanonisch ohne Kanon
Der Erste Weltkrieg im russischen Schulbuch
389
Bücher und Zeitschriften
Dietrich Beyrau
Eine „schmutzig-verstörende Berührung“
Eine Studie über den Ersten Weltkrieg im Osten 405
Alfred Eisfeld, Guido Hausmann, Dietmar Neutatz, Hg.:
Besetzt, interniert, deportiert. Der Erste Weltkrieg und
die deutsche, jüdische, polnische und ukrainische
Zivilbevölkerung im östlichen Europa
Stephan Lehnstaedt
413
Oksana C. Nagornaja: Drugoj voennyj opyt. Rossijskie
voennoplennye Pervoj mirovoj vojny v Germanii
(1914–1922)
Reinhard Nachtigal
414
Roland Borchers
416
Christian Westerhoff: Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg.
Deutsche Arbeitskräftepolitik im besetzten Polen
und Litauen 1914–1918
Abstracts
418
Abstracts
Jörg Baberowski
Der Anfang vom Ende
Das Zarenreich im Ersten Weltkrieg
Russland war auf einen großen Krieg nicht vorbereitet. Das Vielvölkerreich wurde
durch den Krieg nationalisiert. Er beendete die pragmatische Nationalitätenpolitik der
Autokratie und entfachte eine Gewaltorgie gigantischen Ausmaßes. Der Krieg stürzte
das Zarenreich in Chaos und Anarchie, entwurzelte Millionen Menschen und war die
Geburtsstunde der ethnischen Säuberung. Der Flüchtling wurde zum Repräsentanten
der neuen Zeit. 1914 hatte der große Krieg begonnen. Erst 1924 ging er zu Ende. Was
in drei Jahrhunderten mühsam errichtet worden war, fiel in wenigen Jahren zusammen. Russland war die Geburtsstätte der totalitären Versuchung, die ordnen wollte,
was sich nicht unterwerfen ließ. Insofern war die Ostfront kein Nebenschauplatz im
großen europäischen Krieg.
Dietrich Beyrau
Kriegsszenen
Erfahrungen an der russischen Westfront
In der Geschichtsschreibung und im kollektiven Gedächtnis der Nationen Ostmittelund Osteuropas stand der Erste Weltkrieg im Schatten der Staatsgründungen und der
bolschewistischen Revolution. Aus der Fronterfahrung entstand kein transnationaler
Erinnerungsraum. Erst langsam lassen sich die erinnerungspolitischen Leerstellen in
Russland und Osteuropa schließen. Eine wichtige Rolle spielen Kriegserlebnisse von
Soldaten und Offizieren. Sie machen das Leben und Überleben an der Front und in
der Etappe sowie die gewaltsamen Verhältnisse in der Armee erfahrbar. Sichtbar wird,
was passiert, wenn Tradition auf Moderne stößt – Bajonett und Säbel gegen Maschinengewehre und Gasgranaten.
Marie-Janine Calic
Kriegstreiber Serbien?
Die Südslawen und der Erste Weltkrieg: eine Richtigstellung
Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert griff unter den Südslawen der Habsburgermonarchie der Nationalismus um sich. Die Forderung, das Reich durch Schaffung
einer dritten slawischen Entität weiter zu föderalisieren, hatte am Vorabend des Ersten
Weltkrieges kaum Aussichten auf Erfolg. Österreichische Militärkreise drängten seit
Jahren darauf, Serbien gewaltsam auszuschalten, um südslawische oder großserbische Vereinigungspläne zu vereiteln. Das Attentat auf den Thronfolger Franz Ferdinand diente ihnen hierfür als willkommener Anlass. Neuere Darstellungen geben Serbien eine Mitverantwortung für den Kriegsausbruch. Eine Beteiligung der serbischen
Regierung an dem politischen Mord ist jedoch bis heute nicht belegt.
Andreas Kossert
„Und drescht ihr nur die Reußen“
Der Erste Weltkrieg in Ostpreußen
Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg ist in Deutschland stark vom westlichen
Schauplatz geprägt; von den blutigen Materialschlachten von Verdun und an der
Somme. Selbst der Mythos von Langemarck wirkt nach. Vergessen ist hingegen, dass
auch im östlichsten Teil Deutschlands 1914/15 Krieg, Besatzung, Flucht, Deportation
und flächenmäßige Zerstörung zur kollektiven Erfahrung einer ganzen Provinz gehörten. Der Erste Weltkrieg war für Ostpreußen eine Zäsur. Im Osten des Reiches verhalf
er endgültig einer gesamtdeutschen Identität zum Durchbruch.
Imperium und Nation
Egbert Jahn
Sprengkraft Selbstbestimmungsrecht
Der Erste Weltkrieg als Katalysator der Nationalstaatsbildung
Im Ersten Weltkrieg brach die imperiale Weltordnung des Wiener Friedenskongresses
zusammen. Zwar bestimmten das Britische und das Französische Imperium als Siegermächte maßgeblich die in den Pariser Friedensverträgen neu geschaffene Völkerbundsordnung. Doch die bald zu Weltmächten aufstrebenden USA und Sowjetrussland legten mit der Proklamation des Selbstbestimmungsrechts der Völker die entscheidende Grundlage für die weltweite Ablösung der Imperien durch Nationalstaaten. Betroffen waren zunächst nur die vier besiegten Imperien Ost-, Mittel- und Südosteuropas.
Aber mit den Völkerbundsmandaten wurde bereits der Keim für die Auflösung der
westeuropäischen Kolonialimperien gelegt, die dann erst im und nach dem Zweiten
Weltkrieg erfolgte.
Włodzimierz Borodziej, Maciej Górny
„In der Feuerlinie sind alle gleichberechtigt“
Zur Loyalität der Nationen im Ersten Weltkrieg
Lange Zeit hieß es, dass im Sommer 1914 die Völker auf den Ausbruch des Krieges
mit patriotischem Eifer und Euphorie reagiert hätten. Das ist ein Mythos. Das vorherrschende Gefühl im mobilmachenden Europa war nicht Kriegsbegeisterung, sondern
Unsicherheit und Angst. In den Vielvölkerreichen löste der Kriegsausbruch vor allem
bei Angehörigen jener Nationalitäten Unruhe aus, die nicht zur Titularnation gehörten.
Der Krieg förderte die Ethnisierung der Nationen. Obwohl die Loyalität der Zivilbevölkerung zur imperialen Ordnung höher war als erwartet, behandelten die imperialen
Armeen die eigenen Untertanen mit Brutalität und Gewalt. In Ukrainern, Juden, Deutschen oder Polen sahen sie potentielle Verräter. Ganze gesellschaftliche Gruppen
wurden kriminalisiert, schikaniert, deportiert. Erst diese Repressalien erschütterten
deren Loyalität, förderten die zentrifugalen Tendenzen und beschleunigten die Auflösung der Vielvölkerreiche.
Herfried Münkler
Spiel mit dem Feuer
Die „Politik der revolutionären Infektion“ im Ersten Weltkrieg
Die Mittelmächte waren der Entente im Ersten Weltkrieg militärisch unterlegen. Da dies
bereits mit dem Kriegseintritt Großbritanniens Anfang August 1914 feststand, versuchte
das Deutsche Reich, seine Gegner durch eine Politik der revolutionären Infektion zu
schwächen. Ziel waren sowohl das multinationale Zarenreich als auch das britische Empire. Dies war allerdings ein gefährliches Spiel, bestand doch bei Berlins wichtigstem
Verbündetem, dem österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaat, ebenfalls die Gefahr einer Schwächung durch nationale Befreiungskämpfe. Trotz unterschiedlicher Verwundbarkeit versuchten alle Kriegsparteien, durch gezielte Förderung nationalistischer, islamistischer oder sozialistischer Unruhen ihre Gegner zu schwächen. Auch wenn diese
Versuche nicht kriegsentscheidend waren, hatten sie großen Einfluss auf die Nachkriegsordnung.
Guido Hausmann
Die Kultur der Niederlage
Der Erste Weltkrieg in der ukrainischen Erinnerung
Am Vorabend des Krieges gab es weder die Ukraine als politisches Subjekt noch eine
ukrainische nationale Bewegung. Ethnische Ukrainer kämpften in zwei Armeen. Ukrainische Siedlungsgebiete waren zentrale Kriegsschauplätze der Großmächte. Die Erfahrungen von Krieg und Besatzung förderten die Entstehung eines ukrainischen nationalen Bewusstseins. Der Erste Weltkrieg wirkte als ein Katalysator der ukrainischen
Nationsbildung. Doch der Versuch, auf den Trümmern der Imperien einen eigenen
ukrainischen Nationalstaat zu errichten, scheiterte. Diese politische Niederlage führte
dazu, dass das ukrainische nationale Denken an Resistenzkraft und Militanz gewann
und zunächst keine Verbindung mit einer demokratischen politischen Kultur einging.
Jochen Böhler
Europas „Wilder Osten“
Gewalterfahrungen in Ostmitteleuropa 1917–1923
In der westlichen Historiographie und der Erinnerung bleiben die Nachfolgekämpfe des
Ersten Weltkriegs in Ostmitteleuropa oft ausgeblendet. In der kollektiven Erinnerung
der ostmitteleuropäischen Gesellschaften sind sie isolierte Heldensagas im Kampf um
die staatliche Unabhängigkeit. Die regionale und internationale Verflechtung dieser
Waffengänge und die vergleichbaren Gewalterfahrungen der Bewohner von Europas
„Wildem Osten“ zwischen 1917 und 1923 geraten so aus dem Blick.
Ljudmila Novikova
Kontinuum der Gewalt
Der Norden Russlands 1914–1920
Das Gouvernement Archangel’sk war im Ersten Weltkrieg nur ein Splitter der europäischen Front. Doch die vermeintlich marginale Region ist repräsentativ für Russland.
Weder das Jahr 1917 noch das Jahr 1918 stellten Zäsuren dar. Der Erste Weltkrieg,
die Revolution und der Bürgerkrieg waren so eng verflochten, dass die Zeitgenossen
diese Periode als ein Kontinuum wahrnahmen. Praktiken des Weltkriegs wurden auf den
Bürgerkrieg übertragen, militärische Gewalt schlug in paramilitärische um, Partisanen
und ortsansässige Frontheimkehrer trugen Konflikte aus, die sich teilweise überlagerten.
Oleg Budnickij
Dienst in der Höhle des Löwen
Juden in der russischen Armee
Seit 1827 unterlagen Juden in Russland der allgemeinen Wehrpflicht. Bei der Armee
waren sie aber nicht gern gesehen. Juden galten als unzuverlässig und nur eingeschränkt wehrtüchtig. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs traten diese Vorurteile noch
schärfer hervor. Zahlreiche jüdische Soldaten wurden wegen des Verdachts auf Sabotage oder Spionage hingerichtet. Dennoch verknüpfte sich für viele Juden mit dem
Einsatz im Krieg zunächst die Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer sozialen Stellung.
Die patriotische Begeisterung, die zu Kriegsbeginn auch jüdische Kreise erfasst hatte,
fiel jedoch bald wieder in sich zusammen. Die Offizierslaufbahn und bestimmte Auszeichnungen blieben Juden weiterhin verwehrt, wie heldenhaft sie auch kämpfen
mochten. Dies änderte sich erst nach der Oktoberrevolution. In der Roten Bürgerkriegsarmee waren viele leitende Positionen von jüdischen ehemaligen Soldaten der
zaristischen Armee besetzt.
Peter Gatrell
Der Krieg, die Flucht und die Nation
Das Flüchtlingsdrama im Zarenreich und die Folgen, 1914–20
In Osteuropa war der Krieg von 1914–1918 kein Stellungskrieg. Die ständig wechselnden Frontlinien führten zu Flucht und Vertreibung von Millionen Menschen. Flüchtlingsströme waren Brutstätte der Nation. Bauern, Handwerker, Priester und Adelige
mussten ihre Heimat verlassen, zurück kamen sie als Letten, Polen oder Armenier.
Tomas Balkelis
Demobilisierung, Remobilisierung
Paramilitärische Verbände in Litauen 1918–1920
Nach dem Zusammenbruch der Kaiserreiche und den bolschewistischen und nationalistischen Revolutionen lag Litauen mitten in einer „Unruhezone“, in der verschiedene
Ideologien miteinander konkurrierten. Das Land war Schauplatz einer Serie von bewaffneten Konflikten, die einen einzigen langen Gewaltzyklus bildeten. Beteiligt waren
neben litauischen Verbänden auch russische Truppen der Roten wie der Weißen Bürgerkriegsarmeen, deutsche Freikorps und diverse polnische Einheiten. Die Grenzen
zwischen regulären Truppen und paramilitärischen Einheiten waren oft fließend; letztere spielten eine prägende Rolle. Sie waren ein Produkt des Ersten Weltkriegs, das
entscheidenden Einfluss auf die Zukunft der neuen und alten Nationalstaaten hatte.
Stephan Lehnstaedt
Imperiale Ordnungen statt Germanisierung
Die Mittelmächte in Kongresspolen, 1915–1918
Die Mittelmächte waren im besetzten Polen primär daran interessiert, ethnopolitische
Konflikte zu vermeiden und hatten keine Pläne für eine „Germanisierung“ des Landes.
Ihre Politik folgte nicht kolonialen Vorstellungen, sondern war von indirektem, hegemonialem Agieren und provisorischen Lösungen geprägt.
Jan Kusber
Wegscheide Krieg
Defekte Imperien, defekte Nationalstaaten
Imperium und Nationalstaat sind zwei Modelle politischer Ordnung. Ihnen liegen verschiedene Konzepte der Zugehörigkeit und der Legitimation zugrunde. Das Habsburgerreich und die Romanov-Dynastie traten als multinationale Imperien in den Krieg.
Doch angesichts ihrer Strukturdefizite waren sie nicht in der Lage, die militärischen und
sozioökonomischen Herausforderungen zu bewältigen, die mit dem Krieg einhergingen. Die nationalen Bewegungen gewannen an Stärke. Während die Vielvölkerreiche
zusammenbrachen, entstanden auf ihren Trümmern neue Nationalstaaten. Aber auch
sie waren von Beginn an von Defekten gekennzeichnet.
Integration durch Religion und Kunst
Martin Schulze Wessel
Religion, Dynastie und Erster Weltkrieg
Russländisches Reich und Habsburgermonarchie
Im Russländischen Reich und im Habsburgerreich waren Religion und Politik besonders
eng verbunden. Die Russische Orthodoxe Kirche und die Katholische Kirche waren
Staatskirchen. Sie spendeten den weltlichen Herrschern sakrale Weihen. Im Ersten
Weltkrieg wirkten sie durch Kriegspredigten und Militärseelsorge. Konfessionelle Kriegsrhetorik wandte sich jedoch gegen Teile der eigenen Reichsbevölkerung und förderte
so den Autoritätsverlust der Kirchen. Im Habsburgerreich wurden Militärgeistliche nicht
als Kämpfer heroisiert. Auch formulierte die Katholische Kirche keine politischreligiösen Kriegsziele. Die Gleichsetzung von politischem Verband und Sakralverband
war für die Katholische Kirche im Ersten Weltkrieg keine plausible Option mehr, während die Russische Orthodoxe Kirche genau diesem Verständnis folgte.
Alfons Brüning
Katastrophe und Epochenwende
Der Erste Weltkrieg und die Russische Orthodoxe Kirche
Jahrhundertelang galten im Russischen Reich Thron und Altar als untrennbar. Doch
nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs sucht man vergeblich nach offensiver kirchlicher Unterstützung für die Monarchie. Die Symphonia von Kirche und Staat war erodiert.
Analoges zur protestantischen Kriegstheologie oder zu den katholischen Kriegspredigten
gibt es nicht. Das hat auch theologische Ursachen. Die Kirche legitimierte zwar den
Krieg, weil er dazu diente, die „russische Erde“ zu verteidigen. Theologen und Religionsphilosophen nahmen den Kampf gegen die Mittelmächte zum Anlass, die slavophile Idee
neu zu bestimmen. Einzelne sahen den Krieg als Fanal, um die Spaltung der orthodoxen
Welt zu überwinden. Aber die Kirche beschränkte sich weitgehend darauf, die Not infolge des Krieges zu lindern: seelsorgerisch an der Front und karitativ in der Heimat.
Thomas Bremer
Das Jahrhundert der Kriege
Die Russische Orthodoxie, der Krieg und der Friede
Bereits vor dem Ersten Weltkrieg rechtfertigten russische Theologen die Kriege des
Russischen Reiches. Sie verwendeten dazu nicht die Kategorien der westlichen Lehre
vom Gerechten Krieg. Stattdessen argumentierten sie geschichtsphilosophisch. Kriege
seien unausweichlich. Vor allem habe Russland eine besondere Sendung. Nicht selten
wird diese durch die Zugehörigkeit zum wahren Glauben, zur Orthodoxie, bestimmt.
Die Haltung der Russischen Orthodoxen Kirche zu Krieg und Frieden bleibt von konkreten politischen Verhältnissen abhängig.
Lidia Głuchowska
Der „fremde Krieg“ und der „neue Staat“
Polnische Kunst 1914–1918
Der Erste Weltkrieg war für die polnische Kunst eine Zeit des Umbruchs, aber auch
des Rückgriffs auf die Tradition. Künstler und Literaten verarbeiteten ihre Erfahrungen
als Soldaten nicht nur dokumentarisch, sondern pflegten auch die romantische, retrospektive Utopie einer Wiederbelebung der alten Adelsrepublik. Gleichzeitig halfen sie
der Politik, den neuen Staat gedanklich vorwegzunehmen. Auch in Polen gab es Debatten um die „neue Form“ in der Kunst. Doch die verzwickte geopolitische Lage Polens, der weiter um seine Grenzen kämpfte, führte in der Kunst und Literatur zu einer
Nationalisierung der modernen Form. Die internationalistische Avantgarde wurde in
Polen nie Mode; zur Visitenkarte des neuen Staates wurde ein an der Volkskunst orientierter „nationaler Stil“.
Ada Raev
Bilder vergessener Kämpfe
Kunst aus dem Geist des Ersten Weltkriegs in Russland
Der Erste Weltkrieg ist im kollektiven Gedächtnis Russlands wenig präsent. Auch in
der Kunst scheint er kaum bleibende Spuren hinterlassen zu haben. Erst seit dem
Ende der Sowjetunion wird die Erinnerung an ihn wiederbelebt. Der Rückblick zeigt,
dass zahlreiche Künstler – manche von ihnen selbst Kriegsteilnehmer – sich durchaus
mit dem Geschehen beschäftigt haben. Die Palette reicht von Lubki über eine von
„embedded artists“ ausgeführte traditionalistische Schlachtenmalerei bis zur radikal
reduzierten, dynamischen Formensprache der Avantgardekunst.
Alexandre Sumpf
In Szene gesetzt
Der Erste Weltkrieg im russischen und sowjetischen Kino
Filme über den Ersten Weltkrieg in der frühen Sowjetunion markieren den Anfang des
Jahrhunderts der Bilder. Die Fülle von Dokumentar- und Spielfilme in der Zwischenkriegszeit widerlegt die These vom ignorierten Krieg. Neben der Literatur war der Film
die populärste Kunstform, die dem durchlittenen Trauma Kontur verlieh und für Ablenkung sorgte. Doch auch der Film wurde instrumentalisiert, er transportierte Propaganda
und Kapitalismuskritik. Mit Beginn des „Großen Vaterländischen Krieges“ verschob
sich der Fokus der Aufmerksamkeit.
100 Jahre Erster Weltkrieg
Jost Dülffer
Die geplante Erinnerung
Der Historikerboom um den Ersten Weltkrieg
Der 100. Jahrestag des Beginns des „Großen Krieges“ hat eine Flut von Neuerscheinungen gebracht. Gesamtdarstellungen wie Christopher Clarks „Schlafwandler“ oder
Herfried Münklers „Der Große Krieg“ erreichen enorme Auflagen. Oliver Janz‘ „14“
besticht durch konzise Analyse, Jörn Leonhards „Büchse der Pandora“ überrascht
durch Innovation und synthetische Kraft. Qualitativ und quantitativ ist die Cambridge
History of the First World War bahnbrechend. Der Geschichts- und Erinnerungsboom
um den Ersten Weltkrieg ist mehr als ein Medienhype. Darin spiegelt sich auch das
Krisenempfinden der Gegenwart in Europa.
Boris Kolonickij
100 Jahre und kein Ende
Sowjetische Historiker und der Erste Weltkrieg
In der Sowjetunion war historische Forschung ein Mittel der Propaganda. Dies galt
auch für den recht wenig beachteten Ersten Weltkrieg. In den 1920er Jahren sollten
die imperialistischen Kriegstreiber entlarvt werden, unter Stalin musste die heroische
russische Armee gepriesen werden. In den 1960er Jahren gab es Spielraum für eine
weniger ideologisierte Forschung, der allerdings unter Brežnev wieder verschwand.
Nach einer Phase der Freiheit seit der Perestrojka soll heute die Erinnerung an den
Ersten Weltkrieg dem Aufbau einer nationalen Identität dienen. Der Kampf aufrichtiger
Historiker um die Wahrheit ist nicht beendet.
Aleksandr Golubev
Kanonisch ohne Kanon
Der Erste Weltkrieg im russischen Lehrbuch
Ein „offizieller Diskurs“ der russländischen Geschichte findet zur Zeit nur in Schulbüchern statt, deren Inhalt vom Staat kontrolliert wird. Die Darstellung des Ersten Weltkriegs stand und steht in der Vermittlung auch in den Schulbüchern weit hinter der des
Großen Vaterländischen Krieges zurück. Das Ergebnis ist eine erschreckende Unwissenheit der Schulabgänger von dieser Phase der vaterländischen Geschichte.
Dietrich Beyrau
Eine „schmutzig-verstörende Berührung“
Eine Studie über den Ersten Weltkrieg im Osten
Die Ostfront des Ersten Weltkriegs steht bis heute im Schatten der Forschung zur
Westfront. Der Sammelband Jenseits des Schützengrabens erweitert das Wissen über
Erfahrungen und Erinnerungen von Soldaten der Mittelmächte, die an der Ostfront eingesetzt waren. Er macht einen Anfang, systematische und synthetische Studien stehen
noch aus.
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