64. JAHRGANG /HEFT 2–4/FEBRUAR–APRIL 2014 Totentanz Der Erste Weltkrieg im Osten Europas Editorial Der Krieg von gestern und die Krise von heute 5 Jörg Baberowski Der Anfang vom Ende Das Zarenreich im Ersten Weltkrieg 7 Dietrich Beyrau Marie-Janine Calic Andreas Kossert Kriegsszenen Erfahrungen an der russischen Westfront 21 Kriegstreiber Serbien? Die Südslawen und der Erste Weltkrieg: eine Richtigstellung 43 „Und drescht ihr nur die Reußen“ Der Erste Weltkrieg in Ostpreußen 59 Imperium und Nation Egbert Jahn W. Borodziej Maciej Górny Sprengkraft Selbstbestimmungsrecht Der Erste Weltkrieg als Katalysator für die Nationalstaatsbildung 73 „In der Feuerlinie sind alle gleichberechtigt“ Zur Loyalität der Nationen 91 Herfried Münkler Spiel mit dem Feuer Die „Politik der revolutionären Infektion“ 109 Guido Hausmann Die Kultur der Niederlage Der Erste Weltkrieg und die Ukraine Jochen Böhler Europas „Wilder Osten“ Gewalterfahrungen in Mitteleuropa 1917–1923 141 Ljudmila Novikova Kontinuum der Gewalt Der Norden Russlands 1914–1920 Oleg Budnickij 127 Dienst in der Höhle des Löwen Juden in der russischen Armee im Weltkrieg 157 171 Peter Gatrell Der Krieg, die Flucht und die Nation Das Flüchtlingsdrama im Zarenreich, 1914–1920 185 Tomas Balkelis Demobilisierung, Remobilisierung Paramilitärische Verbände in Litauen 1918–1920 197 Stephan Lehnstaedt Imperiale Ordnungen statt Germanisierung Die Mittelmächte in Kongresspolen, 1915–1918 221 Jan Kusber Wegscheide Krieg Defekte Imperien, defekte Nationalstaaten 233 Integration durch Religion und Kunst Martin Schulze Wessel Religion, Dynastie und Erster Weltkrieg Zarenreich und Habsburger Monarchie Alfons Brüning Katastrophe und Epochenwende Die Russische Orthodoxe Kirche im Weltkrieg 263 Thomas Bremer Das Jahrhundert der Kriege Die Orthodoxie, der Krieg und der Friede 279 Lidia Głuchowska Der „fremde Krieg“ und der „neue Staat“ Polnische Kunst 1914–1918 291 Ada Raev Fragmentierte Wahrnehmung Kunst in Russland aus dem Geist des Kriegs 247 317 Alexandre Sumpf In Szene gesetzt Der Erste Weltkrieg im sowjetischen Kino 339 100 Jahre Erster Weltkrieg Jost Dülffer Boris Kolonickij Aleksandr Golubev Die geplante Erinnerung Der Historikerboom um den Ersten Weltkrieg 351 100 Jahre und kein Ende Sowjetische Historiker und der Erste Weltkrieg 369 Kanonisch ohne Kanon Der Erste Weltkrieg im russischen Schulbuch 389 Bücher und Zeitschriften Dietrich Beyrau Eine „schmutzig-verstörende Berührung“ Eine Studie über den Ersten Weltkrieg im Osten 405 Alfred Eisfeld, Guido Hausmann, Dietmar Neutatz, Hg.: Besetzt, interniert, deportiert. Der Erste Weltkrieg und die deutsche, jüdische, polnische und ukrainische Zivilbevölkerung im östlichen Europa Stephan Lehnstaedt 413 Oksana C. Nagornaja: Drugoj voennyj opyt. Rossijskie voennoplennye Pervoj mirovoj vojny v Germanii (1914–1922) Reinhard Nachtigal 414 Roland Borchers 416 Christian Westerhoff: Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg. Deutsche Arbeitskräftepolitik im besetzten Polen und Litauen 1914–1918 Abstracts 418 Abstracts Jörg Baberowski Der Anfang vom Ende Das Zarenreich im Ersten Weltkrieg Russland war auf einen großen Krieg nicht vorbereitet. Das Vielvölkerreich wurde durch den Krieg nationalisiert. Er beendete die pragmatische Nationalitätenpolitik der Autokratie und entfachte eine Gewaltorgie gigantischen Ausmaßes. Der Krieg stürzte das Zarenreich in Chaos und Anarchie, entwurzelte Millionen Menschen und war die Geburtsstunde der ethnischen Säuberung. Der Flüchtling wurde zum Repräsentanten der neuen Zeit. 1914 hatte der große Krieg begonnen. Erst 1924 ging er zu Ende. Was in drei Jahrhunderten mühsam errichtet worden war, fiel in wenigen Jahren zusammen. Russland war die Geburtsstätte der totalitären Versuchung, die ordnen wollte, was sich nicht unterwerfen ließ. Insofern war die Ostfront kein Nebenschauplatz im großen europäischen Krieg. Dietrich Beyrau Kriegsszenen Erfahrungen an der russischen Westfront In der Geschichtsschreibung und im kollektiven Gedächtnis der Nationen Ostmittelund Osteuropas stand der Erste Weltkrieg im Schatten der Staatsgründungen und der bolschewistischen Revolution. Aus der Fronterfahrung entstand kein transnationaler Erinnerungsraum. Erst langsam lassen sich die erinnerungspolitischen Leerstellen in Russland und Osteuropa schließen. Eine wichtige Rolle spielen Kriegserlebnisse von Soldaten und Offizieren. Sie machen das Leben und Überleben an der Front und in der Etappe sowie die gewaltsamen Verhältnisse in der Armee erfahrbar. Sichtbar wird, was passiert, wenn Tradition auf Moderne stößt – Bajonett und Säbel gegen Maschinengewehre und Gasgranaten. Marie-Janine Calic Kriegstreiber Serbien? Die Südslawen und der Erste Weltkrieg: eine Richtigstellung Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert griff unter den Südslawen der Habsburgermonarchie der Nationalismus um sich. Die Forderung, das Reich durch Schaffung einer dritten slawischen Entität weiter zu föderalisieren, hatte am Vorabend des Ersten Weltkrieges kaum Aussichten auf Erfolg. Österreichische Militärkreise drängten seit Jahren darauf, Serbien gewaltsam auszuschalten, um südslawische oder großserbische Vereinigungspläne zu vereiteln. Das Attentat auf den Thronfolger Franz Ferdinand diente ihnen hierfür als willkommener Anlass. Neuere Darstellungen geben Serbien eine Mitverantwortung für den Kriegsausbruch. Eine Beteiligung der serbischen Regierung an dem politischen Mord ist jedoch bis heute nicht belegt. Andreas Kossert „Und drescht ihr nur die Reußen“ Der Erste Weltkrieg in Ostpreußen Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg ist in Deutschland stark vom westlichen Schauplatz geprägt; von den blutigen Materialschlachten von Verdun und an der Somme. Selbst der Mythos von Langemarck wirkt nach. Vergessen ist hingegen, dass auch im östlichsten Teil Deutschlands 1914/15 Krieg, Besatzung, Flucht, Deportation und flächenmäßige Zerstörung zur kollektiven Erfahrung einer ganzen Provinz gehörten. Der Erste Weltkrieg war für Ostpreußen eine Zäsur. Im Osten des Reiches verhalf er endgültig einer gesamtdeutschen Identität zum Durchbruch. Imperium und Nation Egbert Jahn Sprengkraft Selbstbestimmungsrecht Der Erste Weltkrieg als Katalysator der Nationalstaatsbildung Im Ersten Weltkrieg brach die imperiale Weltordnung des Wiener Friedenskongresses zusammen. Zwar bestimmten das Britische und das Französische Imperium als Siegermächte maßgeblich die in den Pariser Friedensverträgen neu geschaffene Völkerbundsordnung. Doch die bald zu Weltmächten aufstrebenden USA und Sowjetrussland legten mit der Proklamation des Selbstbestimmungsrechts der Völker die entscheidende Grundlage für die weltweite Ablösung der Imperien durch Nationalstaaten. Betroffen waren zunächst nur die vier besiegten Imperien Ost-, Mittel- und Südosteuropas. Aber mit den Völkerbundsmandaten wurde bereits der Keim für die Auflösung der westeuropäischen Kolonialimperien gelegt, die dann erst im und nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte. Włodzimierz Borodziej, Maciej Górny „In der Feuerlinie sind alle gleichberechtigt“ Zur Loyalität der Nationen im Ersten Weltkrieg Lange Zeit hieß es, dass im Sommer 1914 die Völker auf den Ausbruch des Krieges mit patriotischem Eifer und Euphorie reagiert hätten. Das ist ein Mythos. Das vorherrschende Gefühl im mobilmachenden Europa war nicht Kriegsbegeisterung, sondern Unsicherheit und Angst. In den Vielvölkerreichen löste der Kriegsausbruch vor allem bei Angehörigen jener Nationalitäten Unruhe aus, die nicht zur Titularnation gehörten. Der Krieg förderte die Ethnisierung der Nationen. Obwohl die Loyalität der Zivilbevölkerung zur imperialen Ordnung höher war als erwartet, behandelten die imperialen Armeen die eigenen Untertanen mit Brutalität und Gewalt. In Ukrainern, Juden, Deutschen oder Polen sahen sie potentielle Verräter. Ganze gesellschaftliche Gruppen wurden kriminalisiert, schikaniert, deportiert. Erst diese Repressalien erschütterten deren Loyalität, förderten die zentrifugalen Tendenzen und beschleunigten die Auflösung der Vielvölkerreiche. Herfried Münkler Spiel mit dem Feuer Die „Politik der revolutionären Infektion“ im Ersten Weltkrieg Die Mittelmächte waren der Entente im Ersten Weltkrieg militärisch unterlegen. Da dies bereits mit dem Kriegseintritt Großbritanniens Anfang August 1914 feststand, versuchte das Deutsche Reich, seine Gegner durch eine Politik der revolutionären Infektion zu schwächen. Ziel waren sowohl das multinationale Zarenreich als auch das britische Empire. Dies war allerdings ein gefährliches Spiel, bestand doch bei Berlins wichtigstem Verbündetem, dem österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaat, ebenfalls die Gefahr einer Schwächung durch nationale Befreiungskämpfe. Trotz unterschiedlicher Verwundbarkeit versuchten alle Kriegsparteien, durch gezielte Förderung nationalistischer, islamistischer oder sozialistischer Unruhen ihre Gegner zu schwächen. Auch wenn diese Versuche nicht kriegsentscheidend waren, hatten sie großen Einfluss auf die Nachkriegsordnung. Guido Hausmann Die Kultur der Niederlage Der Erste Weltkrieg in der ukrainischen Erinnerung Am Vorabend des Krieges gab es weder die Ukraine als politisches Subjekt noch eine ukrainische nationale Bewegung. Ethnische Ukrainer kämpften in zwei Armeen. Ukrainische Siedlungsgebiete waren zentrale Kriegsschauplätze der Großmächte. Die Erfahrungen von Krieg und Besatzung förderten die Entstehung eines ukrainischen nationalen Bewusstseins. Der Erste Weltkrieg wirkte als ein Katalysator der ukrainischen Nationsbildung. Doch der Versuch, auf den Trümmern der Imperien einen eigenen ukrainischen Nationalstaat zu errichten, scheiterte. Diese politische Niederlage führte dazu, dass das ukrainische nationale Denken an Resistenzkraft und Militanz gewann und zunächst keine Verbindung mit einer demokratischen politischen Kultur einging. Jochen Böhler Europas „Wilder Osten“ Gewalterfahrungen in Ostmitteleuropa 1917–1923 In der westlichen Historiographie und der Erinnerung bleiben die Nachfolgekämpfe des Ersten Weltkriegs in Ostmitteleuropa oft ausgeblendet. In der kollektiven Erinnerung der ostmitteleuropäischen Gesellschaften sind sie isolierte Heldensagas im Kampf um die staatliche Unabhängigkeit. Die regionale und internationale Verflechtung dieser Waffengänge und die vergleichbaren Gewalterfahrungen der Bewohner von Europas „Wildem Osten“ zwischen 1917 und 1923 geraten so aus dem Blick. Ljudmila Novikova Kontinuum der Gewalt Der Norden Russlands 1914–1920 Das Gouvernement Archangel’sk war im Ersten Weltkrieg nur ein Splitter der europäischen Front. Doch die vermeintlich marginale Region ist repräsentativ für Russland. Weder das Jahr 1917 noch das Jahr 1918 stellten Zäsuren dar. Der Erste Weltkrieg, die Revolution und der Bürgerkrieg waren so eng verflochten, dass die Zeitgenossen diese Periode als ein Kontinuum wahrnahmen. Praktiken des Weltkriegs wurden auf den Bürgerkrieg übertragen, militärische Gewalt schlug in paramilitärische um, Partisanen und ortsansässige Frontheimkehrer trugen Konflikte aus, die sich teilweise überlagerten. Oleg Budnickij Dienst in der Höhle des Löwen Juden in der russischen Armee Seit 1827 unterlagen Juden in Russland der allgemeinen Wehrpflicht. Bei der Armee waren sie aber nicht gern gesehen. Juden galten als unzuverlässig und nur eingeschränkt wehrtüchtig. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs traten diese Vorurteile noch schärfer hervor. Zahlreiche jüdische Soldaten wurden wegen des Verdachts auf Sabotage oder Spionage hingerichtet. Dennoch verknüpfte sich für viele Juden mit dem Einsatz im Krieg zunächst die Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer sozialen Stellung. Die patriotische Begeisterung, die zu Kriegsbeginn auch jüdische Kreise erfasst hatte, fiel jedoch bald wieder in sich zusammen. Die Offizierslaufbahn und bestimmte Auszeichnungen blieben Juden weiterhin verwehrt, wie heldenhaft sie auch kämpfen mochten. Dies änderte sich erst nach der Oktoberrevolution. In der Roten Bürgerkriegsarmee waren viele leitende Positionen von jüdischen ehemaligen Soldaten der zaristischen Armee besetzt. Peter Gatrell Der Krieg, die Flucht und die Nation Das Flüchtlingsdrama im Zarenreich und die Folgen, 1914–20 In Osteuropa war der Krieg von 1914–1918 kein Stellungskrieg. Die ständig wechselnden Frontlinien führten zu Flucht und Vertreibung von Millionen Menschen. Flüchtlingsströme waren Brutstätte der Nation. Bauern, Handwerker, Priester und Adelige mussten ihre Heimat verlassen, zurück kamen sie als Letten, Polen oder Armenier. Tomas Balkelis Demobilisierung, Remobilisierung Paramilitärische Verbände in Litauen 1918–1920 Nach dem Zusammenbruch der Kaiserreiche und den bolschewistischen und nationalistischen Revolutionen lag Litauen mitten in einer „Unruhezone“, in der verschiedene Ideologien miteinander konkurrierten. Das Land war Schauplatz einer Serie von bewaffneten Konflikten, die einen einzigen langen Gewaltzyklus bildeten. Beteiligt waren neben litauischen Verbänden auch russische Truppen der Roten wie der Weißen Bürgerkriegsarmeen, deutsche Freikorps und diverse polnische Einheiten. Die Grenzen zwischen regulären Truppen und paramilitärischen Einheiten waren oft fließend; letztere spielten eine prägende Rolle. Sie waren ein Produkt des Ersten Weltkriegs, das entscheidenden Einfluss auf die Zukunft der neuen und alten Nationalstaaten hatte. Stephan Lehnstaedt Imperiale Ordnungen statt Germanisierung Die Mittelmächte in Kongresspolen, 1915–1918 Die Mittelmächte waren im besetzten Polen primär daran interessiert, ethnopolitische Konflikte zu vermeiden und hatten keine Pläne für eine „Germanisierung“ des Landes. Ihre Politik folgte nicht kolonialen Vorstellungen, sondern war von indirektem, hegemonialem Agieren und provisorischen Lösungen geprägt. Jan Kusber Wegscheide Krieg Defekte Imperien, defekte Nationalstaaten Imperium und Nationalstaat sind zwei Modelle politischer Ordnung. Ihnen liegen verschiedene Konzepte der Zugehörigkeit und der Legitimation zugrunde. Das Habsburgerreich und die Romanov-Dynastie traten als multinationale Imperien in den Krieg. Doch angesichts ihrer Strukturdefizite waren sie nicht in der Lage, die militärischen und sozioökonomischen Herausforderungen zu bewältigen, die mit dem Krieg einhergingen. Die nationalen Bewegungen gewannen an Stärke. Während die Vielvölkerreiche zusammenbrachen, entstanden auf ihren Trümmern neue Nationalstaaten. Aber auch sie waren von Beginn an von Defekten gekennzeichnet. Integration durch Religion und Kunst Martin Schulze Wessel Religion, Dynastie und Erster Weltkrieg Russländisches Reich und Habsburgermonarchie Im Russländischen Reich und im Habsburgerreich waren Religion und Politik besonders eng verbunden. Die Russische Orthodoxe Kirche und die Katholische Kirche waren Staatskirchen. Sie spendeten den weltlichen Herrschern sakrale Weihen. Im Ersten Weltkrieg wirkten sie durch Kriegspredigten und Militärseelsorge. Konfessionelle Kriegsrhetorik wandte sich jedoch gegen Teile der eigenen Reichsbevölkerung und förderte so den Autoritätsverlust der Kirchen. Im Habsburgerreich wurden Militärgeistliche nicht als Kämpfer heroisiert. Auch formulierte die Katholische Kirche keine politischreligiösen Kriegsziele. Die Gleichsetzung von politischem Verband und Sakralverband war für die Katholische Kirche im Ersten Weltkrieg keine plausible Option mehr, während die Russische Orthodoxe Kirche genau diesem Verständnis folgte. Alfons Brüning Katastrophe und Epochenwende Der Erste Weltkrieg und die Russische Orthodoxe Kirche Jahrhundertelang galten im Russischen Reich Thron und Altar als untrennbar. Doch nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs sucht man vergeblich nach offensiver kirchlicher Unterstützung für die Monarchie. Die Symphonia von Kirche und Staat war erodiert. Analoges zur protestantischen Kriegstheologie oder zu den katholischen Kriegspredigten gibt es nicht. Das hat auch theologische Ursachen. Die Kirche legitimierte zwar den Krieg, weil er dazu diente, die „russische Erde“ zu verteidigen. Theologen und Religionsphilosophen nahmen den Kampf gegen die Mittelmächte zum Anlass, die slavophile Idee neu zu bestimmen. Einzelne sahen den Krieg als Fanal, um die Spaltung der orthodoxen Welt zu überwinden. Aber die Kirche beschränkte sich weitgehend darauf, die Not infolge des Krieges zu lindern: seelsorgerisch an der Front und karitativ in der Heimat. Thomas Bremer Das Jahrhundert der Kriege Die Russische Orthodoxie, der Krieg und der Friede Bereits vor dem Ersten Weltkrieg rechtfertigten russische Theologen die Kriege des Russischen Reiches. Sie verwendeten dazu nicht die Kategorien der westlichen Lehre vom Gerechten Krieg. Stattdessen argumentierten sie geschichtsphilosophisch. Kriege seien unausweichlich. Vor allem habe Russland eine besondere Sendung. Nicht selten wird diese durch die Zugehörigkeit zum wahren Glauben, zur Orthodoxie, bestimmt. Die Haltung der Russischen Orthodoxen Kirche zu Krieg und Frieden bleibt von konkreten politischen Verhältnissen abhängig. Lidia Głuchowska Der „fremde Krieg“ und der „neue Staat“ Polnische Kunst 1914–1918 Der Erste Weltkrieg war für die polnische Kunst eine Zeit des Umbruchs, aber auch des Rückgriffs auf die Tradition. Künstler und Literaten verarbeiteten ihre Erfahrungen als Soldaten nicht nur dokumentarisch, sondern pflegten auch die romantische, retrospektive Utopie einer Wiederbelebung der alten Adelsrepublik. Gleichzeitig halfen sie der Politik, den neuen Staat gedanklich vorwegzunehmen. Auch in Polen gab es Debatten um die „neue Form“ in der Kunst. Doch die verzwickte geopolitische Lage Polens, der weiter um seine Grenzen kämpfte, führte in der Kunst und Literatur zu einer Nationalisierung der modernen Form. Die internationalistische Avantgarde wurde in Polen nie Mode; zur Visitenkarte des neuen Staates wurde ein an der Volkskunst orientierter „nationaler Stil“. Ada Raev Bilder vergessener Kämpfe Kunst aus dem Geist des Ersten Weltkriegs in Russland Der Erste Weltkrieg ist im kollektiven Gedächtnis Russlands wenig präsent. Auch in der Kunst scheint er kaum bleibende Spuren hinterlassen zu haben. Erst seit dem Ende der Sowjetunion wird die Erinnerung an ihn wiederbelebt. Der Rückblick zeigt, dass zahlreiche Künstler – manche von ihnen selbst Kriegsteilnehmer – sich durchaus mit dem Geschehen beschäftigt haben. Die Palette reicht von Lubki über eine von „embedded artists“ ausgeführte traditionalistische Schlachtenmalerei bis zur radikal reduzierten, dynamischen Formensprache der Avantgardekunst. Alexandre Sumpf In Szene gesetzt Der Erste Weltkrieg im russischen und sowjetischen Kino Filme über den Ersten Weltkrieg in der frühen Sowjetunion markieren den Anfang des Jahrhunderts der Bilder. Die Fülle von Dokumentar- und Spielfilme in der Zwischenkriegszeit widerlegt die These vom ignorierten Krieg. Neben der Literatur war der Film die populärste Kunstform, die dem durchlittenen Trauma Kontur verlieh und für Ablenkung sorgte. Doch auch der Film wurde instrumentalisiert, er transportierte Propaganda und Kapitalismuskritik. Mit Beginn des „Großen Vaterländischen Krieges“ verschob sich der Fokus der Aufmerksamkeit. 100 Jahre Erster Weltkrieg Jost Dülffer Die geplante Erinnerung Der Historikerboom um den Ersten Weltkrieg Der 100. Jahrestag des Beginns des „Großen Krieges“ hat eine Flut von Neuerscheinungen gebracht. Gesamtdarstellungen wie Christopher Clarks „Schlafwandler“ oder Herfried Münklers „Der Große Krieg“ erreichen enorme Auflagen. Oliver Janz‘ „14“ besticht durch konzise Analyse, Jörn Leonhards „Büchse der Pandora“ überrascht durch Innovation und synthetische Kraft. Qualitativ und quantitativ ist die Cambridge History of the First World War bahnbrechend. Der Geschichts- und Erinnerungsboom um den Ersten Weltkrieg ist mehr als ein Medienhype. Darin spiegelt sich auch das Krisenempfinden der Gegenwart in Europa. Boris Kolonickij 100 Jahre und kein Ende Sowjetische Historiker und der Erste Weltkrieg In der Sowjetunion war historische Forschung ein Mittel der Propaganda. Dies galt auch für den recht wenig beachteten Ersten Weltkrieg. In den 1920er Jahren sollten die imperialistischen Kriegstreiber entlarvt werden, unter Stalin musste die heroische russische Armee gepriesen werden. In den 1960er Jahren gab es Spielraum für eine weniger ideologisierte Forschung, der allerdings unter Brežnev wieder verschwand. Nach einer Phase der Freiheit seit der Perestrojka soll heute die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg dem Aufbau einer nationalen Identität dienen. Der Kampf aufrichtiger Historiker um die Wahrheit ist nicht beendet. Aleksandr Golubev Kanonisch ohne Kanon Der Erste Weltkrieg im russischen Lehrbuch Ein „offizieller Diskurs“ der russländischen Geschichte findet zur Zeit nur in Schulbüchern statt, deren Inhalt vom Staat kontrolliert wird. Die Darstellung des Ersten Weltkriegs stand und steht in der Vermittlung auch in den Schulbüchern weit hinter der des Großen Vaterländischen Krieges zurück. Das Ergebnis ist eine erschreckende Unwissenheit der Schulabgänger von dieser Phase der vaterländischen Geschichte. Dietrich Beyrau Eine „schmutzig-verstörende Berührung“ Eine Studie über den Ersten Weltkrieg im Osten Die Ostfront des Ersten Weltkriegs steht bis heute im Schatten der Forschung zur Westfront. Der Sammelband Jenseits des Schützengrabens erweitert das Wissen über Erfahrungen und Erinnerungen von Soldaten der Mittelmächte, die an der Ostfront eingesetzt waren. Er macht einen Anfang, systematische und synthetische Studien stehen noch aus.