BD LITERATUR UND LITERATURWISSENSCHAFT BDA Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft Kanon Aufklärung AUFSATZSAMMLUNG 09-1/2 Der Kanon im Zeitalter der Aufklärung : Beiträge zur historischen Kanonforschung / hrsg. von Anett Lütteken ... - Göttingen : Wallstein-Verlag, 2009. - 247 S. : Ill. ; 23 cm. - ISBN 978-38353-0446-8 : EUR 29.00 [#0199] Die Kanonforschung hat in den letzten Jahren einigen Auftrieb erhalten, was nicht zuletzt damit im Zusammenhang stehen dürfte, daß es in den letzten Jahren oft auch mit großer öffentlicher Anteilnahme diskutierte Vorschläge für aktuelle Kanones z.B. der literarischen Werke gegeben hat, die im schulischen oder universitären Unterricht zu lesen seien.1 Dabei ist das Prinzip eines Kanons, abgeleitet aus dem religiösen Kontext einer Erstellung kanonischer Schriften etwa der Bibel, nicht unproblematisch, legt er doch nahe, daß irgendeine Gruppe oder Person autoritativ einige zu lesende Texte festlegt. Der so verstandene Kanon wäre dann immer Ausdruck von Macht, was die Frage nach sogenannten Gegenkanons unmittelbar auf den Plan ruft. Kanonfragen sind so, als Gegenwartsdiskussionen, unausweichlich mit normativen Debatten verbunden und im engeren Sinne literaturdidaktische. Man kann aber auch auf Aspekte der sogenannten "cultural literacy" im Sinne E. D. Hirschs verweisen, also eines kulturellen Mindestwissens, das es dem einzelnen Menschen erlaubt, an kulturellen Debatten teilzunehmen, die sich auf das kulturelle Gedächtnis eines Volkes beziehen. Daraus ließe sich etwa für Deutschland ableiten, daß biblische Texte und Goethes Faust oder Dramen Schillers gelesen werden sollten, weil sie in die Textur unserer Kultur (noch) eingewoben sind. Angestoßen von derlei Fragen hat sich inzwischen die Kanonforschung diversifiziert und Kanones nach diversen Kriterien wie Raum, Zeit, Ge1 Vgl. Die Leseliste : kommentierte Empfehlungen / zsgest. von Sabine Griese, Hubert Kerscher, Albert Meier, Claudia Stockinger. - Stuttgart : Reclam, 1994. 199 S. ; 15 cm. - (Universal-Bibliothek ; 8900). - ISBN 3-15-008900-X : DM 8.00 [2344]. - Rez.: IFB 95-1-064 http://www.bsz-bw.de/depot/media/3400000/3421000/3421308/95_0064.html Was sollen Germanisten lesen? : ein Vorschlag / von Wulf Segebrecht. - 3., neu bearb. und erw. Aufl. - Berlin : Erich Schmidt, 2006. - 83 S. : Ill. ; 20 cm. - ISBN 978-3-503-09806-4 - ISBN 3-503-09806-2 : EUR 8.90 [9074]. - Rez.: IFB 07-1-067 http://swbplus.bsz-bw.de/bsz258857226rez.pdf schlecht, soziale Gruppe etc. aufgefächert. Auch hat sich dabei ergeben, daß sich das Datum maßgeblicher Kanonisierungsprozesse vom 19. Jahrhundert bereits in das Zeitalter der Aufklärung verschoben hat, was in der in vorliegendem Band dokumentierten Forschung thematisiert wird. Die Beiträge des Bandes gehen zurück auf das 1. Trogener Bibliotheksgespräch, das im Juni 2005 in der Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden stattfand und schon durch den Tagungsort symbolisieren wollte, daß es einen kulturellen Austausch im Raum zwischen Österreich, Deutschland, Frankreich und der Schweiz gab. Das 18. Jahrhundert bietet reichhaltiges Material, um die Etablierung von Kanones zu untersuchen, so daß die Tagung den Versuch unternahm, "ein Zeitalter anhand seiner literarischen Abneigungen und Vorlieben zu besichtigen, seine geistigen Horizonte anhand seiner Lektüren abzustecken und die damals zeitüblichen und zeitgemäßen Kriterien literarischer Wertung zu rekonstruieren" (S. 11). Dies sei nötig, so die Herausgeber, weil es im Bereich der Germanistik und angrenzender Philologien immer an Ansätzen fehle, "die Kanones der Literatur des Zeitalters der Aufklärung, auf wissenschaftlicher Basis zu bestimmen" (S. 11). Die Herausgeber gestehen eine gewisse Scheu gegenüber synthetisierenden Ansätzen zu, meinen aber doch, daß der Versuch gewagt werden sollte. Für das 18. Jahrhundert muß dabei ein weiter Literaturbegriff vorausgesetzt werden, so daß mit der Annahme operiert werden muß, daß es Unterkanons gab, sogenannten Subkanones, die sich nur schwer eingrenzen lassen (vgl. S. 12) und zum Beispiel auch die Lektüren einzelner Kritiker wie Samuel Johnson oder Johann Jacob Bodmer umfassen können. Die zehn Aufsätze des Bandes stellen Beiträge zur historischen Kanonforschung dar, die sich vor allem am Beispiel der Literatur in Deutschland orientieren. Klaus Manger thematisiert Bestseller des 18. Jahrhunderts, Rainer Baasner wirft einen Blick auf die Formation eines englischen Kanons für die Deutschen im 18. Jahrhundert, Anett Lütteken befaßt sich mit dem Kanon der Blumenlesen (Florilegien), Carsten Zelle geht auf Eschenburgs „Beispielsammlung“ ein, Anne Hegemann spürt den Leseempfehlungen für das weibliche Geschlecht bei Sophie von La Roche nach. Weitere Beiträge befassen sich mit Seume (Urs Meyer), dem späten Goethe (Benedikt Jessing), der Musik (Gernot Gruber), der historischen Literatur (Matthias Weishaupt) sowie dem Schweizer Johannes Müller (Edgar Bierende). Am Schluß des Bandes werden die Ergebnisse der Tagung in provisorischer Form von Carsten Zelle in sechs Thesen zusammengefaßt (S. 229 231). Hier sei nur auf die Unterschiede zwischen Bestseller im und Bestsellern des 18. Jahrhunderts hingewiesen, wie er schon von Walter Benjamin in seinem Hörspiel Was die Deutschen lasen, als ihre Klassiker schrieben auf eine prägnante Formel gebracht worden war. Wichtig ist auch festzuhalten, daß sich De- und Rekanonisierungsprozesse in den Randbereichen abspielen, währen man ansonsten von einem recht stabilen Kernkanon sprechen muß. Doch kommt es ab 1700 zu einem ersten Kanonisierungsumbruch im Bereich der Naturwissenschaften. Kein Konsens konnte in bezug auf die Methodik der Erforschung von Kanones erzielt werden. So- wohl die exemplarische Lektüre à la Harold Bloom, für die man den Lesesessel nicht verlassen müsse, wird verteidigt, als auch die empirische Kanonforschung mit der sogenannten "Zahlengrab"-Methode, die zu quantifizierbaren Ergebnissen führen würde. Auch die unterschiedlichen Methoden folgenden Forscher waren sich einig in der Frage nach den Funktionen von Kanones und ihrem Wandel. Auch die Frage, ob verallgemeinernde Aussagen über einen literarischen Kanon mit vielleicht sogar europäischer Dimension möglich sind, wurde aufgeworfen, doch könne man sagen, daß zu diesem Kanon folgende Autoren gerechnet werden müßten: Shakespeare, Milton, Lillo, Pope, Voltaire, Fielding, Swift, Richardson, Sterne, sodann Young, Geßner, Rousseau und auch die Werke "Ossians" (S. 230). Till Kinzel QUELLE Informationsmittel (IFB) : digitales Rezensionsorgan für Bibliothek und Wissenschaft http://ifb.bsz-bw.de/