Das Eigene in der Fremde Grenzüberschreitende Beziehungen in der deutsch-französischen Kontaktzone des Saar-Mosel- Raumes (1850-1914) INAUGURALDISSERTATI0N zur Erlangung des Grades einer Doktorin der Philosophie in der FAKULTÄT FÜR GESCHICHTSWISSENSCHAFT der RUHR UNIVERSITÄT BOCHUM vorgelegt von Katrin Martin April 2008 Referent: Prof. Dr. Klaus Tenfelde Korreferent: Prof. Dr. Regina Schulte Tag der mündlichen Prüfung: 29.4.2008 Veröffentlicht mit Genehmigung der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Ruhr Universität Bochum Inhaltsverzeichnis Danksagung 8 1. Einleitung 9 1.1. Motivation und Zielsetzung 9 1.2. Erläuterung des Gegenstandes 11 1.2.1. Der Saar-Mosel- Raum 11 1.2.2. Untersuchungsgegenstand: Grenzüberschreitende Beziehungen 15 1.2.3. Der Untersuchungszeitraum 17 1.3. Forschungsfrage 19 1.4. Methode 21 1.5. Quellen 25 1.6. Aufbau 29 1.7. Forschungsrückblick 30 2. Menschen und Grenzen 38 2.1. Mensch und Territorium 38 2.2. Ökonomische, sprachlich-kulturelle Grenzen und die Staatsgrenze 39 2.3. Die Grenze zwischen Lothringen und der Saarregion vor 1871 42 2.3.1. Festlegung des endgültigen Grenzverlaufs von 1815-1829. Die Verträge und deren praktische Umsetzung 42 2.3.2. Die sichtbare Grenze 45 2.3.3. Der Grenzübertritt. Die Vorschriften und die Realität 47 2.4. 2.5. Die Verwaltung und die politische Grenze. Behördliche Zusammenarbeit im Grenzraum 53 Die Grenze zwischen Lothringen und der Saarregion nach 1871 55 3. Familie an der Grenze 58 3.1. Die Familienformen und die Grenze 58 3.2. Familiäre Verflechtungen im Grenzraum 60 3.2.1. Rechtliche Grundlage binationaler Eheschlieβungen 61 3.2.2. Überblick über die Intensität und den Anteil grenzüberschreitender familiärer Verflechtungen 63 3.2.3. Die Grenzentfernung und der Anteil binationaler Ehen 66 3.2.4. Einfluss der Religionszugehörigkeit und der religiösen Praxis auf das Heiratsverhalten 68 3.2.5. Binationale Ehen: Land- und Industrieregion im Vergleich 74 3.2.6. Einfluss des Beitritts Luxemburgs in den Deutschen Zollverein auf das Heiratsverhalten 79 3.2.7. Einfluss des Deutsch-Französischen Krieges auf den Anteil binationaler Ehen 84 3.2.8. Die binationalen Paare vor und nach dem Deutsch-Französischen Krieg 90 3.3. Zusammenfassung 94 4. Arbeit im Grenzraum 96 4.1. Die verschiedenen Arbeitsbereiche und die Staatsgrenze 96 4.1.1. Ackerbau 96 4.1.2. Legaler und illegaler Handel 98 4.1.3. Dienstleistung 102 4.1.4. Arbeiter und Arbeiterbauern 104 4.2. Grenzen der Arbeiterbewegungen im saarländisch-lothringischen Steinkohlenrevier 4.2.1. Arbeiterorganisationen vor 1889 107 107 4.2.2. Die Rechtsschutzvereine in Lothringen und an der Saar. Anfänge der grenzüberschreitenden Organisation der Bergarbeiter 109 4.2.3. Das Ende der Rechtsschutzbewegung und Beginn der Konfrontation zwischen sozialdemokratisch und christlich orientierten Arbeitern 117 4.2.4. Die sozialdemokratische Arbeiterbewegung. Gescheiterte Organisation, aber erfolgreiche Einflussnahme im lothringischen Steinkohlenrevier 119 4.2.5. Die christlichen Arbeiterorganisationen. Ausdruck eines grenzüberschreitenden katholischen Milieus 122 4.2.6. Scheitern der grenzüberschreitenden gewerkschaftlichen Organisation der Arbeiter 130 4.2.7. Die Arbeiterorganisationen und die nationale Grenze 131 4.3. Solidarität, Sprachgrenzen und soziale Konflikte 135 4.4. Zusammenfassung 137 5. Freizeit im Grenzraum 140 5.1. Vereinswesen vor 1871. Grenzüberschreitende Begegnungen der bürgerlichen Schichten 140 Vereinswesen nach 1871 143 5.2. 5.2.1. Bürgerliche und katholische Vereinsverflechtungen. Eine Zäsur zwischen Vor- und Nachkriegszeit 143 5.2.2. Die Kriegervereine ein Element der Integration im Kohlenrevier 147 5.3. 5.4 5.5. Zwei nationale Konflikte – doppeltes Konfliktpotential. Der Einfluss der Nähe Luxemburgs auf das Freizeitverhalten 151 Einfluss der Eliten auf die grenzüberschreitenden Verflechtungen am Beispiel des Musikvereins Cäcilia Sierck 154 Auswirkung der politischen Ereignisse auf das Freizeitverhalten 156 5.5.1. Freizeit ohne Grenzen? Freizeit an der Grenze vor 1871 156 5.5.2. Zäsur oder alte Gewohnheiten? Das erste Jahrzehnt nach dem Krieg 162 5.5.3. Der Weg der Normalisierung. 1880 bis 1904 165 5.5.4. Miteinander oder Konfrontation? Die letzten zehn Jahre vor Beginn des Ersten Weltkrieges 166 5.6. 168 Zusammenfassung 6. Kirche 171 6.1. Transnationalität der Volksfrömmigkeit und religiösen Praxis im Grenzraum 172 6.1.1. Die Trierer Wallfahrten von 1844 und 1891 173 6.1.2. Lokale Wallfahrten und Schutzpatrone 175 6.1.3. Grenzüberschreitende Pfarrbezirke 176 6.1.4. Grenzüberschreitende Verbindungen der Geistlichen vor 1871 179 6.1.5. Laizismus gegen Katholizismus. Konflikte in Lothringen und die deutschen Nachbarn 181 6.2. Die Katholiken im Grenzraum nach 1871. Zwischen Nationalisierung und Transnationalität 184 6.2.1. Kulturkampf. Ein Konfessionskonflikt als nationaler und sozialer Konflikt 184 6.2.2. Konfessionelle Konflikte in Lothringen. Von einem nationalen Konflikt zu einem Konflikt zwischen Laizisten und Katholiken 193 6.2.3. Organisationsbestrebungen der Katholiken im Grenzraum. Gemeinsam für die Wahrung der katholischen Interessen und gemeinsam gegen die Sozialdemokratie (1890-1914) 198 6.2.4. Nationalisierung des Katholizismus. Eine bedingte Konstante in Lothringen nach 1871 201 6.3. 205 Zusammenfassung 7. Fazit und Ausblick 208 7.1. Das Eigene in der Fremde. Ausmaβ und Mechanismen der grenzüberschreitenden Identifikation 208 7.2. Die Nation. Ein imaginäres Identitätskonstrukt im Grenzraum 213 7.3. Die inszenierte Grenze. Der saarländisch-lothringische Grenzraum heute 217 8. Quellen und Literaturverzeichnis 221 8.1. Ungedruckte Quellen 221 8.2. Periodische Publizistik 226 8.3. Gedruckte Quellen und Literatur 229 9. Abbildungsverzeichnis 260 10. Abkürzungsverzeichnis 263 Danksagung Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Klaus Tenfelde, dessen Anmerkungen den Entstehungsprozess dieser Arbeit konstruktiv begleitet haben und manchmal den entscheidenden Wink lieferten, die Zielsetzung der Untersuchung in die richtige Richtung zu lenken. Ebenso bin ich Thomas Mergel zu Dank verpflichtet, dessen kritische Bemerkungen an den ersten Manuskriptfassungen den Anlass dazu gaben, die Forschungsergebnisse zu überdenken und das Manuskript gründlich zu überarbeiten. Die Finanzierungen der langen Archivaufenthalte in Frankreich waren nur durch die Stipendien des Deutschen Historischen Institutes in Paris und des Deutschen Akademischen Austauschdienstes möglich. Besonders dem Leiter des Historischen Institutes, Werner Paravicini, sei an dieser Stelle für die mehrfache Verlängerung des Stipendiums und die Möglichkeit, meine Thesen im Forschungskolloquium in Paris vorzutragen, gedankt. Antje Ohms, Alice Schröder und Christoph Sacken sowie die zahlreichen Freunde und Bekannten in Straßburg, Forbach und Sarreguemines haben durch ihre Anregungen, Korrekturarbeiten und Beherbergungen einen wichtigen Beitrag zur Entstehung dieser Arbeit geleistet. Für das „auf-andereGedanken-bringen“ danke ich Chris und Yannick Mathieu, die die Fertigstellung des Manuskriptes intensiv begleitet haben. Widmen möchte ich diese Arbeit meinen Eltern, die meine Forschungsarbeiten lange Jahre unterstützt haben. 8 1. Einleitung 1.1. Motivation und Zielsetzung „In Vielfalt geeint“. Dieser offizielle Leitspruch der Europäischen Union fasst in wenigen Worten die Komplexität des Projektes „Vereintes Europa“ zusammen: Die souveränen Mitgliedsstaaten geben zur Verwirklichung gemeinsamer Ziele Zuständigkeiten an die Institutionen der Europäischen Union ab.1 Der Leitgedanke „In Vielfalt geeint“ berührt jedoch nicht nur diese Makroebene, sondern auch die Mikroebene des europäischen Einigungsprozesses: Die vorherrschende Frage ist dabei, wie der EU-Bürger „in Vielfalt geeint“ lebt, beziehungsweise, inwieweit der leitende Gedanke der EU auf dieser Ebene bisher realisiert werden konnte. Die Grenzräume sind im Hinblick auf diese Fragen ein geeignetes Untersuchungsobjekt, da für die Menschen an der Grenze das Leben „in Vielfalt geeint“ eine alltägliche Erfahrung ist oder zumindest sein sollte. Zahlreiche Forschungsarbeiten versuchen daher, die Fortschritte, aber auch die Rückschritte der gegenwärtigen Integrationsprozesse in verschiedenen Grenzregionen aufzuzeigen.2 Ein großer Teil der Untersuchungen betrachtet diese Problematik 1 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (Hrsg.): Vertrag über eine Verfassung für Europa, Luxemburg 2005, 19 (Teil I, Titel I „Definition und Ziele der Union“, Artikel I-8 „Die Symbole der Union“). 2 Siehe unter anderem zur Grenzregion Saar-Lor-Lux: Gaunard, Marie-France: Le Développement des Eurorégions en Europe occidentale et médiane, in: Frontières (?) en Europe occidentale et médiane de l'Antiquité à 'an 2000. Actes du collque de L'association Interuniversitaire de l'Est tenu à l'Université de Metz 9-10 décembre 1999, (Textes réunis et présententés par) Jeanne-Marie Demarolle, Metz 2001, 477-488; Brücher, Wolfgang; Dörrenbächer, H. Peter: Grenzüberschreitende Beziehungen zwischen dem Saarland und Lothringen - Ausdruck einer Mischkultur?, in: Grenzkultur - Mischkultur?, (Hrsg.) Roland Marti, Saarbrücken 2000, 17-34; Leinen, Jo (Hrsg.): Saar-Lor-Lux eine Euroregion mit Zukunft?, St. Ingbert 2001; Feite, Jean-Claude: Du Texas lorrain à l´Eldorado luxembourgeois: entreprises multinationale et institutions européennes dans la reconversion du bassin transfrontalier lorrain, Longwy 2000. Groß, Bernd: SaarLorLux von A bis Z : Handbuch für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in der Großregion, Baden-Baden 2006. Siehe allgemein zum europäischen Integrationsprozess: Weidenfeld, Werner; Wessels, Wolfgang (Hrsg.): Europa von A bis Z: Taschenbuch der europäischen Integration, BadenBaden 2007. Werner Weidenfeld und Wolfgang Wessels geben ebenfalls das Jahrbuch zur Europäischen Integration heraus. 9 auch aus historischer Perspektive, um eine Erklärung für Integrationstendenzen oder ein Ausbleiben derselben liefern zu können: So wurden beispielsweise von einigen Wissenschaftlern die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges als mögliche Ursache für fehlende Integration betrachtet,3 wohingegen andere Untersuchungen die Bedeutung der gemeinsam erlebten Vergangenheit als integratives Element im Grenzraum herausheben.4 Ebenso bedienen sich die politischen Entscheidungsträger historischer Zusammenhänge, zumeist um die Homogenität einer Grenzregion durch vermeintlich historisch gewachsene Verknüpfungen zu begründen.5 Verweise auf historische Forschungsarbeiten, die diese Thesen verifizieren, fehlen jedoch, da Untersuchungen, die sich umfassend mit vergangenen Integrations- und Segregationsprozessen in Grenzräumen beschäftigen, bisher noch nicht existieren. Absicht dieser Arbeit ist es daher, der aktuellen Debatte über die europäische Integration durch eine Analyse vergangener Integrations- und Segregationsmechanismen die fehlende historische Grundlage zu liefern.6 Die Zielsetzung dieser Untersuchung wird von einer essentiellen Überlegung bestimmt, die Georg Simmel treffend formuliert hat: „Die Grenze ist nicht eine 3 4 Ramm, Michel: Saarländer im grenznahen Lothringen. Invasion oder Integration?, in: Geographische Rundschau, 51 (1999) 110-115; Ahrberg, Simone: Französisch-deutsche Grenzregion: Grenzwahrnehmung von Jugendlichen, in: Nationale Grenzen in Europa, (Hrsg.) Christian Banse, Holk Stobbe, Frankfurt a. M. 2004, 97-115. Quasten, Heinz; Soyez, Dietrich: Zur Pflege des industriekulturellen Erbes im Saar-Lor-LuxRaum. Problematik und Perspektiven, in: Probleme von Grenzregionen: Das Beispiel SAARLOR-LUX-Raum. Beiträge zum Forschungsschwerpunkt der Philosophischen Fakultät der Universität des Saarlandes, (Hrsg.) Wolfgang Brücher, Peter Robert Franke, Saarbrücken 1987, 123-144; Kilp, Andreas: Regionale Identität in einem grenzüberschreitenden Raum. Die Wahrnehmung des Saar-Lor-Lux-Raumes durch lothringische Industriearbeiter in saarländischen Betrieben, Saarbrücken 1998. 5 So lautet ein Teil der Grundsatzerklärung des 1. Gipfels der Großregion Saar-Lor-Lux in Bad Mondorf am 20. September 1995: „Über ein Jahrtausend - bis in das einstige Zwischenreich Lotharingia - reichen die gemeinsamen kulturellen Wurzeln zurück. Während der Hochindustrialisierung formte sich der betreffende Raum zu einem zusammenhängenden Wirtschaftsgebiet. An diese Tradition knüpft seit einigen Jahrzehnten die Zusammenarbeit in der „Saar-Lor-Lux“-Region im Zeichen der Europa-Idee an.“ (http://www.grossregion.net/de/files/1er_sommet-de.doc). 6 Kritisch setzt sich Jean-Paul Lehners mit der historischen Legitimation aktueller Raumkonstruktionen auseinander. Lehners, Jean-Paul: Zur historischen Legitimation einer Raumkonstruktion: Die europäische Großregion Saar-Lor-Lux, in: Westfälische Forschungen, 46 (1996) 259-274. 10 räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt.“7 Diese Forschungsarbeit ist auf diese „soziologischen Tatsachen“ ausgerichtet, das heißt auf die Mechanismen, welche für die Segregations- und Integrationsprozesse verantwortlich sind.8 Eine Staatsgrenze wird somit als ein erdachtes trennendes Konzept verstanden, als eine Idee, die erst als konkrete Trennungslinie realisiert werden muss. Umgekehrt kann eine „Grenze“ also auch dort manifest werden, wo keine Staatsgrenze existiert. Das Bestreben dieser Untersuchung ist es, den Vorgang der Manifestation beziehungsweise Nichtmanifestation von Grenzen als Trennungslinien offen zu legen und die Gründe für derartige Entwicklungen zu benennen. Diese Forschungsarbeit wird von der Idee geleitet, dass hinter dem Vorgang der Grenzziehung oder des Grenzenabbauens Menschen stehen, durch deren Verhalten eine Staatsgrenze erst gelebte oder überholte Realität wird. Sicherlich ist es der Staat, der formell seine Begrenzung definiert, jedoch sind es die Menschen, durch die diese Definition alltäglich gelebt wird und die sie so erst zur „Tat-Sache“ machen. In der vorliegenden Arbeit rücken somit die Menschen, ihr Leben und ihr Alltag in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses. 1.2. Erläuterung des Gegenstandes 1.2.1. Der Saar-Mosel- Raum Als Untersuchungsraum wurde der Saar-Mosel-Raum ausgewählt.9 Zum einen lenkt die Zielsetzung dieser Arbeit den Blick auf den jetzigen saarländischlothringischen Grenzraum. Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 hatte eine 7 Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1983, 467 (6. Aufl.) (1. Aufl. 1908). 8 Im Gegensatz zum Geodeterminismus, der annimmt, dass die Raumstrukturen des menschlichen Lebens durch die Naturkräfte des Erdraumes bestimmt sind, stellt dieser Ansatz somit die gestaltende Kraft der Menschen auf Räume in den Vordergrund. 9 Siehe: Abbildung 1. 11 Verschiebung der deutsch-französischen Grenze nach Süden zur Folge: Ein Teil Lothringens, fast deckungsgleich mit dem heutigen Departement Moselle, bildete von 1871 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges zusammen mit dem Elsass das Reichsland Elsass-Lothringen und war als Solches Teil des Deutschen Reiches. Grenzbildende Prozesse können so vor und nach dem Wegfall der Staatsgrenze untersucht werden. Zum anderen rückt mit den aktuellen Diskussionen um ein ’Europa der Regionen’ die saarländisch-lothringische Grenzzone in den Mittelpunkt des Interesses. Als Bestandteil der Region Saar-Lor-Lux wird diese als Modellregion grenzüberschreitender Zusammenarbeit und Integration betrachtet, sodass diese Arbeit Vergleichsmöglichkeiten zu aktuellen Ergebnissen eröffnet.10 Es existiert keine einheitliche Definition von ‚Grenzzonen’ oder ‚Grenzräumen’. Innerhalb der Europäischen Union werden die Grenzzonen in den einzelnen Steuerabkommen für Grenzgänger definiert. So legt das bilaterale Doppelbesteuerungsabkommen zwischen Frankreich und Deutschland eine Grenzzone von 30 km beiderseits der Grenze fest.11 Da im Mittelpunkt dieser Arbeit die Grenzraumbewohner stehen, ist die Festlegung eines starren Untersuchungsgebietes nicht sinnvoll.12 Der hier berücksichtigte geographische Raum wird deswegen vom Aktionsradius der Grenzraumbewohner abhängig gemacht, also flexibel gehalten. Mit dem Großraum um die Städte Saarbrücken (D) und Forbach (F) und dem Gebiet um Sierck (F) und Perl (D) werden lediglich zwei Ausgangspunkte der Untersuchung festgelegt. Die Flexibilität des untersuchten Gebietes bedingt, dass auch der luxemburgische Raum in die Analyse mit einbezogen wird. Einige Entwicklungstendenzen innerhalb der 10 Siehe unter anderem: Groß, Bernd; Schmitt-Egner, Peter: Europas kooperierende Regionen. Rahmenbedingungen und Praxis transnationaler Zusammenarbeit deutscher Grenzregionen in Europa, Baden-Baden 1994, 109ff; Raich, Silvia: Grenzüberschreitende und interregionale Zusammenarbeit, Baden-Baden 1995, 135ff. Hudemann, Rainer: Saar-Lor-Lux : Vernetzung in einer europäischen Kernzone, in: Magazin Forschung/ Universität des Saarlandes, 1 (2003) 10-17. Schneider, Karl: Saar-Lor-Lux-Kooperation, in: Statistik-Journal. Statistische Quartalshefte Saarland, 1 (2006) 35-38. 11 Nach dem bilateralen Doppelbesteuerungsabkommen vom: 21.7.1959. Bundesgesetzblatt 1961 II, 397. Der Begriff „Grenzraumbewohner“ bezieht sich auf Grenzraumbewohner beider Geschlechter. 12 12 grenzüberschreitenden Beziehungen sind durch die Nähe zur luxemburgischen Grenze erklärbar. Luxemburg Perl Sierck Thionville Saarbrücken Forbach Metz Sarreguemines Abbildung 1: Der saarländisch-lothringische Grenzraum Neben der differenten Wirtschafts- und Einwohnerstruktur und der direkten Nachbarschaft zu Luxemburg, unterscheidet sich das Gebiet Sierck/Perl vom Großraum Saarbrücken/Forbach durch die späte Festlegung seines endgültigen Grenzverlaufes im Jahr 1829.13 Eine Gegenüberstellung der Untersuchungsergebnisse beider Raumeinheiten ermöglicht es, die Zielsetzung der 13 Zweisprachiger Abdruck der definitiven Übereinkunft zwischen Preuβen und Frankreich vom 23.10.1829. Gesetzsammlung für die Königlich-Preuβischen Staaten, 1830, Nr. 6, 26-45. 13 Arbeit, grenzbildende und integrative Mechanismen offen zu legen effizient zu erfüllen. Das Gebiet um Sierck und Perl befindet sich im Dreiländereck Frankreich, Deutschland und Luxemburg. Vor der Annexion Lothringens war der Stadtbezirk (Canton) Sierck Teil des Arrondissements Thionville, beziehungsweise des Département de la Moselle. Seit 1871 gehörte Sierck zum Kreis Thionville und war Teil des Bezirkes Lothringen.14 Die Grenzen des Stadtbezirkes Sierck waren vor und nach der Annexion identisch. Perl gehörte zum Regierungsbezirk Trier und war Teil der preußischen Rheinprovinz. Östlich vom Siercker Raum, in Nachbarschaft zur bayerischen Pfalz, liegt der Großraum Saarbrücken/Forbach. Wie der Perler Raum war das Gebiet um Saarbrücken Teil des Regierungsbezirkes Trier, beziehungsweise der preußischen Rheinprovinz. Forbach gehörte vor 1871 zum Arrondissement Sarreguemines im Departement Moselle. Nach der Annexion 1871 wurde das ehemalige Arrondissement Sarreguemines in die Kreise Forbach und Sarreguemines aufgeteilt und dem Bezirk Lothringen untergeordnet. Die Grenzen des Stadtbezirkes Forbach blieben hingegen vor und nach 1871 unverändert. Der Raum um Perl/Sierck war von der Landwirtschaft, dem Weinanbau und der Keramikindustrie geprägt und grenzte an das große eisenindustrielle Zentrum westlich von Thionville. Dörfer und kleine Städte bestimmten somit das Landschaftsbild dieses Gebietes. In der Gegend um Forbach/Saarbrücken dominierten der Bergbau und die Eisenverarbeitung die Wirtschaftsstruktur. Der Bergbau hatte auf preußischem Gebiet des Grenzraumes bereits eine längere Tradition, als auf lothringischem Gebiet 1856 der Schacht Saint Charles in PetiteRosselle regulär in Betrieb genommen wurde. Die Inbetriebnahme der Zeche Saint Charles und die fast zeitgleiche Gründung der Stiringer Hüttenwerke - beide im Besitz der Familie de Wendel - führten zu einem raschen Anstieg der Bevölkerung 14 Der deutsche Name ist Diedenhofen. In der vorliegenden Arbeit werden durchgehend die landesüblichen Ortsnamen verwendet. Lediglich bei Quellenzitaten werden die dort verwendeten Ortsbezeichnungen übernommen und in den Anmerkungen auf deren landesüblichen Bezeichnung hingewiesen. 14 auf lothringischer Seite. Die industrielle Entwicklung und der damit verbundene Bevölkerungsanstieg sprengten die dörflichen und kleinstädtischen Strukturen und ließen den Groβraum um Saarbrücken/Forbach zu einem industriellen Ballungszentrum zusammenwachsen. Das Gebiet um Sierck wie auch jenes um Forbach gehörte zum deutschsprachigen Teil Lothringens. 1.2.2. Untersuchungsgegenstand: Grenzüberschreitende Beziehungen Grundsätzlich sind alle über Staatsgrenzen verlaufenden Verknüpfungen grenzüberschreitende Beziehungen.15 Diese Verflechtungen lassen sich auf zwei Ebenen nachweisen: Auf struktureller Ebene, beispielsweise in der Form wirtschaftsstruktureller grenzüberschreitender Verflechtungen Beziehungen der und auf der ortsansässigen Ebene individueller Bevölkerung. Die strukturellen Verflechtungen sind in gewissem Maße Voraussetzung für die zweite Ebene der grenzüberschreitenden Beziehungen, zumindest stehen diese in einem Zusammenhang – ohne eine grenzüberschreitende Infrastruktur gäbe es vermutlich weniger grenzüberschreitende Kontakte der Bewohner. Im Hinblick auf diese Wechselwirkung sind die Strukturzusammenhänge zu beachten. Mit der Zielsetzung der Untersuchung rücken jedoch die Menschen in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses, sodass die individuellen Kontakte über die Grenze im Zentrum der Analyse stehen. 15 Siehe u. a.: Becker-Marx, Kurt; Brücher, Wolfgang: Räumliche Verflechtungen über die Grenzen der Bundesrepublik, in: Verhandlungen des deutschen Geographentages, 43 (1981) 321-322; Brücher, Wolfgang; Quasten, Heinz: Grenzüberschreitende Verflechtungen in Europa. Einführung, in: Verhandlungen des deutschen Geographentages, 45 (1985) 312; Brücher, Wolfgang; Dörrenbächer, H. Peter: Grenzüberschreitende Beziehungen zwischen dem Saarland und Lothringen - Ausdruck einer Mischkultur?, in: Grenzkultur - Mischkultur?, (Hrsg.) Roland Marti, Saarbrücken 2000, 17-34; Brücher, Wolfgang: Einführung in die Fachsitzung. "Räumliche Verflechtungen über die Grenzen der Bundesrepublik", in: Verhandlungen des deutschen Geographentages, 43 (1981) 321-322; Gehring, Jean Marie: Développement industriel en espace transfrontalier: L´example de Saar-Lor-Lux, in: Mosella, 17 (1987) 43-56; Gräf, Peter: Funktionale Verflechtungen im deutsch-österreichischen Grenzraum - Grundlagen und mögliche Auswirkungen -, in: Verhandlungen des deutschen Geographentages, 43 (1981) 330-334. 15 Die individuellen grenzüberschreitenden Verflechtungen lassen sich in passive und aktive Beziehungen unterteilen. Passive grenzüberschreitende Beziehungen sind alle Verknüpfungen, die ohne aktive Grenzüberschreitung existent sind. Dies können im Nachbarland lebende Verwandte, Bekannte und Freunde, aber auch der Nachrichtenaustausch, beispielsweise über das Medium Zeitung, sein. Die aktiven Beziehungen beschreiben die real vollzogenen Grenzübertritte.16 In dieser Arbeit werden beide Formen individueller grenzüberschreitender Verflechtungen berücksichtigt. Luxemburg Preuβen Saarbrücken Bayern Metz Lothringen Grenze Deutsche Staaten / Frankreich 1815 Grenze Deutsches Reich / Frankreich 1871 Abbildung 2: Die Staatsgrenze 1815 und 1871 16 Zu dieser Einteilung siehe: Gramm, Michael: Das belgisch-niederländisch-deutsche Dreiländereck. Wechselseitige grenzüberschreitende Beziehungen und regionalgeographische Kenntnisse bei Schulkindern, München 1978; Maier, Jörg; Kolb, Hans; Lein, Jürgen; u. a.: Raumstrukturen, aktionsräumliche Verhaltensmuster und Bewertungen an einer partiell offenen Grenze - Das nordostbayerische Beispiel -, in: Verhandlungen des deutschen Geographentages, 43 (1981) 334-338. 16 Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht die, nach dem 2. Pariser Frieden und im Oktober 1829 endgültig festgelegte Grenze zwischen Preußen, Bayern und Frankreich, welche mit der heutigen Staatsgrenze zwischen Frankreich und Deutschland identisch ist. Dem preuβischen Königreich wurde durch die staatliche Neuordnung mit Saarbrücken, Saarlouis und Ottweiler der Hauptteil des heutigen Saarlandes zugewiesen. 1834 erweiterte Preuβen durch den Ankauf des sachsen-coburgischen Fürstentums Lichtenberg nochmals sein Herrschaftsgebiet. Der östliche Teil des Saarlandes wurde dem Königreich Bayern zugesprochen; das Groβherzogtum Oldenburg und das Herzogtum Sachsen-Coburg teilten sich ein kleines Gebiet im Nordosten des Saarlandes.17 Trotz der Verschiebung der Staatsgrenze im Jahr 1871, wird im Folgenden durchgängig von „grenzüberschreitenden Beziehungen“ und von „der Grenze“ oder „nationaler Grenze“ gesprochen. 1.2.3. Der Untersuchungszeitraum Die revolutionären Ereignisse in Deutschland und Frankreich in den Jahren 1848/49, das zweite Kaiserreich in Frankreich und der Beginn des Ersten Weltkrieges sind die weltpolitischen Ereignisse, welche den Untersuchungszeitraum bestimmen. Da der ausgewählte Untersuchungszeitraum die Schlussphase des Entstehungsprozesses der (europäischen) Nationalstaaten repräsentiert, bietet sich die zeitliche Begrenzung auch mit Blick auf die Zielsetzung dieser Arbeit an. Neben den bisher genannten Rahmendaten prägten noch andere politische Ereignisse den Untersuchungszeitraum. In den 1850er Jahren waren der Krimkrieg und der sardinisch-französische Krieg gegen Österreich für die Grenzraumbewohner bedeutende Ereignisse - die Siege von Sewastropol und Solferino wurden in Lothringen ausgelassen gefeiert. Eine wirkliche Zäsur im 17 Herrmann, Hans-Walter: Saarland – Grenzland, in: Grenzenlos. Lebenswelten in der deutschfranzösischen Region an Saar und Mosel seit 1840, (Hrsg.) Historisches Museum Saar, Saarbrücken 1998, 47ff. 17 Leben der Menschen an der Grenze stellte jedoch erst der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 dar, während dem der Grenzraum selbst zum Kriegsschauplatz wurde. Schlachten wie die um die Spicherer Höhen blieben den Bewohnern noch lange in Erinnerung. Frankreich verlor den Krieg gegen die deutschen Staaten und musste das Departement Moselle und das Elsass an das Deutsche Reich abtreten. Die ersten Jahre der Annexion waren geprägt vom offenen Protest der lothringischen Bevölkerung gegen die Angliederung an das Deutsche Reich. Erst ab 1890 war eine Verbesserung des Verhältnisses zwischen den Einheimischen und den neuen Machthabern festzustellen. In den letzten zehn Jahren vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges äuβerte sich, gefördert durch das Reichsvereinsgesetz, wieder ein „neuer“ pro-französischer Patriotismus in Elsass-Lothringen.18 Die Analyse strebt eine Gegenüberstellung von Vor- und Nachkriegszeit an, ohne jedoch die anderen genannten Ereignisse unberücksichtigt zu lassen. Mit der Gegenüberstellung der Phase vor und nach 1870 wird herausgearbeitet, welche Wirkung der Krieg und der Wegfall der Staatsgrenze auf die grenzüberschreitenden Beziehungen hatten. In einigen Kapiteln wird auch der Zeitraum vor 1850 mit einbezogen, um mögliche Mechanismen der Integration und Segregation deutlicher herausarbeiten zu können. Im Kapitel Familie wird so beispielsweise der Effekt der Industrialisierung auf die grenzüberschreitenden Beziehungen und der Einfluss des Beitritts Luxemburgs in den Deutschen Zollverein 1842 auf die Dichte der grenzüberschreitenden Familienverflechtungen in den 1850er Jahren nachgewiesen. 18 Zur Phaseneinteilung siehe: Roth, François: La Lorraine annexée. Étude sur la Présidence de Lorraine dans l'Empire allemand (1870-1918), Nancy 1976. 18 1.3. Forschungsfrage Die Nationalismusforschung hat herausgearbeitet, dass das Andere in der Form einer feindlichen Nation ein konstitutives Element des Nationsbildungsprozesses ist.19 Auch die Kulturanthropologie kommt zu ähnlichen Ergebnissen, indem sie die Formierung der Nationen als einen territorialen Abgrenzungsprozess betrachtet, bei dem der Abgrenzung „zum Anderen“ eine entscheidende Rolle zukommt.20 Jeder Mensch steckt zur Befriedigung seiner Basisbedürfnisse nach Sicherheit und Identität einen bestimmten Raum, ein bestimmtes Territorium, ab. Grenzziehungsprozesse sind so gesehen etwas grundsätzlich „Natürliches“.21 Jede Erweiterung des Identifikationsraumes hat dabei auch eine Erweiterung des „Fremd-Territoriums“ zur Folge, so kann das Verhältnis zwischen Dörfern, wie auch Nationen unter diesem Freund-Feind beziehungsweise Eigene-FremdeSchema betrachtet werden.22 Wenn eine Wechselwirkung zwischen der Formung des Eigenen und dem Bild vom Anderen im Nationsbildungsprozess besteht, inwiefern äußert sich dieser Differenzierungsprozess in Grenzregionen wie dem Saar-Mosel- Raum? Oder hat die nationale Definition des Eigenen und Fremden neben einem regionalen 19 20 Linda Colley und Michael Jeismann betonen, dass die Abgrenzung gegenüber einer feindlichen Nation ein konstitutiver Bestandteil des Nationsbildungsprozesses war. Diese These wird in der Untersuchung Robert Neisens modifiziert und differenziert, in dem er nachweist, dass die Wechselwirkung zwischen nationaler Identität und externer Alterität auch in umgekehrter Richtung erfolgen kann, indem die nationale Identität das Bild des Anderen formt. Colley, Linda: Britons: forging the Nation. 1707-1837, New Haven, Connecticut, U.S.A 1992. Jeismann, Michael: Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918, Stuttgart 1992. Neisen, Robert: Feindbild, Vorbild, Wunschbild. Eine Untersuchung zum Verhältnis von britischer Identität und französischer Alterität 1814-1860, Würzburg 2004. Zur Wechselwirkung zwischen Alteritäten und Identitäten siehe auch die Aufsatzsammlung: Einfalt, Michael; Jurt, Joseph; Pelzer, Erich; Mollenhauer, Daniel (Hrsg.): Konstrukte nationaler Identität: Deutschland, Frankreich, Großbritannien (19. und 20. Jahrhundert), Würzburg 2002. Greverus, Ina-Maria: Grenzen und Kontakte. Zur Territorialität des Menschen, in: Kontakte und Grenzen. Probleme der Volks-, Kultur- und Sozialforschung. FS für Gerhard Heilfurth zum 60. Geburtstag, Göttingen 1964, 22. 21 Ardrey, Robert: The Territorial Imperative. A Personal Inquiry intro the Animal Origins of Property and Nations, New York 1966. 22 Greverus, Grenzen, 22. 19 territorialen Abgrenzungsprozess - einer transnationalen Definition des Eigenen und Fremden - keine Bedeutung? Die Ergebnisse sozialanthropologischer, sozialwissenschaftlicher wie auch historischer Forschung zeigen, dass eine Beziehung zwischen dem menschlichen Handlungsraum und dem Identifikationsraum besteht.23 So hat Fernand Braudel nachgewiesen, dass der Identifikationsraum von der Interaktion der Bewohner im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereich bestimmt wird.24 In Anlehnung an die Überlegungen Braudels wird in dieser Arbeit das Eigene und Fremde durch die Handlungsräume der Grenzraumbewohner definiert. Die grenzüberschreitenden Beziehungen geben an, in welchem Umfang die Grenzraumbewohner ihren Identifikationsraum über die Staatsgrenze hinaus ausdehnten. Mit dem Blick auf eine Grenzregion wird die Frage nach dem Einfluss der nationalen Grenze auf den Identifikationsraum in einem regional begrenzten Gebiet untersucht. Vorteil ist, dass diese Frage anhand einer Analyse der Handlungsräume beziehungsweise Aktionsräume der Grenzraumbewohner beantwortet werden kann und so die schwer zu beantwortende Frage nach einer Wahrnehmung des Eigenen und Fremden umgeht. Nachteil ist, dass es in einigen Fällen unmöglich ist zu unterscheiden, ob ein bestimmtes Phänomen die Grenze zwischen dem Eigenen und Fremden auf dörflicher oder nationaler Ebene beschreibt. Hatten die regelmäβigen Schlägereien zwischen Habkirchener Jugendlichen und lothringischen Sarregueminern beim Annafest in Habkirchen einen „nationalen“ Hintergrund, oder waren diese lediglich „normale“ Dorfschlägerein, wie sie auch 23 24 Die Sozialanthropologie hat sich mit dem Heimatphänomen beschäftigt. „Heimat“ wird hier als Satisfaktionsraum bezeichnet, der sich aus dem Schutzraum, Aktionsraum und Identifikationsraum eines Menschen zusammensetzt. Greverus, Ina-Maria: Der territoriale Mensch. Ein literaturanthropologischer Versuch zum Heimatphänomen, Frankfurt a. M. 1972. Die Sozialwissenschaften beschäftigen sich mit der Untersuchung von transnationalen sozialen Räumen. Die Überlegungen dieser Forschungsrichtung, die auf die Ergebnisse der Netzwerkforschung aufbaut, können auf die Untersuchung von grenzüberschreitenden Identifikationsräumen übertragen werden. Pries, Ludger: The approach of transnational social spaces. Responding to new configuration of the social and the spatial, in: New Transnational Social Spaces. International migration and transnational companies in the early twenty-first century, (Hrsg.) ders., London, New York, 3-33. Braudel, Fernand: Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts, Bd. 3: Die Weltwirtschaft, München 1985, 308-313; Braudel, Fernand: Frankreich Bd.1: Raum und Geschichte, Stuttgart 1989, 63-95. 20 unter lothringischen und preuβischen Jugendlichen stattfanden?25 Die Anzahl der Fälle unklarer Zuordnung sind jedoch gering, sodass die Vorteile einer Handlungsraumanalyse überwiegen. Die Untersuchung wird aufzeigen, dass im Grenzraum ein imaginäres, durch die nationale Grenze definiertes Identitätskonstrukt neben einem gelebten transnationalen Identifikationsraum existierte. These ist, dass eine externe Alterität ein konstitutives Element in der Formierung eines transnationalen Eigenen darstellt, sich der Prozess der Formung eines transnationalen und nationalen Eigenen demnach ähnelt. 1.4. Methode Netzwerke als „eine durch Beziehungen […] bestimmten Typs verbundene Menge von sozialen Einheiten wie Personen, Positionen, Organisationen“26, sind soziale Strukturbildungen, die sich nationalstaatlichen Einteilungen entziehen.27 Die Netzwerkanalyse ist daher das ideale Instrumentarium zur Untersuchung grenzüberschreitender Identifikationsräume. Quantität und Qualität der, die sozialen Einheiten verbindenden Beziehungen bestimmen die Dichte eines Netzwerkes.28 Aufbauend auf diese Definition der Netzwerkforschung wird die Intensität des grenzüberschreitenden Identifikationsraumes anhand einer Analyse qualitativ unterschiedlicher grenzüberschreitender Beziehungen bestimmt. Entscheidend für die Validität der 25 Zum Annafest: Saarbrücker Zeitung 30.7.1901; Schlägerei unter lothringischen Jugendlichen: Forbacher Zeitung, 7.4.1881. 26 Pappi, Franz Urban: Die Netzwerkanalyse aus soziologischer Sicht, in: Techniken der empirischen Sozialforschung (Bd. 1: Methoden der Netzwerkanalyse), (Hrsg.) Franz Urban Pappi, München 1987, 13; Esser, Hartmut: Soziologie. Spezielle Grundlagen (Bd. 4: Opportunitäten und Restriktionen), Frankfurt a. M. 2000, 173. 27 Bommes, Michael: Migration, Raum und Netzwerke. Über den Bedarf einer gesellschaftstheoretischen Einbettung der transnationalen Migrationsforschung, Migrationsforschung und interkulturelle Studien, in: Zehn Jahre IMIS, (Hrsg.) Jochen Oltmer, Osnabrück 2002, 92, 91-105. 28 Esser, Soziologie, 174f. 21 Ergebnisse ist die qualitative Vielfalt der untersuchten Beziehungsgeflechte. Ein alleiniges Messen der Quantität der Verknüpfungen ist zur Bestimmung der Intensität der Verflechtungen zweier sozialer Gebilde nicht ausreichend. Schließlich würde man auch nicht behaupten, dass der tägliche Kontakt mit den Arbeitskollegen eine intensivere Verbindung darstellt als der sporadische Kontakt zu den Eltern, die man vielleicht nur zweimal im Jahr zu Weihnachten und zum Geburtstag sieht. Der Soziologe Mark S. Granovetter klassifiziert die grenzüberschreitenden Beziehungen als starke oder schwache Beziehungen, die sich hinsichtlich Zeitaufwand, emotionaler Intensität, Intimität und dem Ausmaß gegenseitiger Dienste voneinander Arbeitskontakte und unterscheiden.29 Nach Konsumbeziehungen dieser schwache Definition sind Beziehungen. reine Starke Beziehungen sind demgegenüber Verflechtungen im Bereich Familie und Freizeit sowie Verbindungen auf kirchlicher Ebene. Durch Arbeits- und Einkaufsbeziehungen entstandene, räumliche grenzüberschreitende Verflechtungen stellen keine affektive Verbindung dar. Eine emotionale Bindung zu einem Raum entsteht lediglich durch starke Beziehungen.30 Starke und Schwache Beziehungen beschreiben ausschließlich positive Verbindungen. Um jedoch die Forschungsfrage adäquat zu beantworten, werden auch negative grenzüberschreitende Kontakte als Zeichen der Segregation untersucht, wie beispielsweise Konflikte zwischen den Grenzraumbewohnern. Die Analyse der grenzüberschreitenden Beziehungen in den einzelnen Lebensbereichen, basierend auf der Aktionsraumtheorie, garantiert eine systematische Analyse der Alltagsbeziehungen.31 Nach dieser Theorie der Sozialgeographie steckt jedes Individuum im geographischen Raum einen 29 30 31 Granovetter, Mark S.: The Strength of Weak Ties, in: American Journal of Sociology, 78 (1972/73) 1360-1380. Fichtner, Uwe: Aktionsraum und Regionalbewusstsein, untersucht im Grenzgebiet zwischen Deutschland, Frankreich und der Schweiz, in: Verhandlungen des deutschen Geographentages, 46 (1987) 201-206. Die Begriffe „Lebensraum“ und „Aktionsraum“ werden in der Literatur deckungsgleich angewandt. Da der Terminus „Lebensraum“ durch dessen Verwendung zur Zeit des Nationalsozialismus inhaltlich vorbelastet ist, wird hier der Begriff „Aktionsraum“ bevorzugt. 22 Aktionsraum ab, einen gegenwärtigen Handlungsraum zur Erfüllung seiner Daseinsgrundfunktionen. Fünf Lebensbereiche definieren den Aktionsradius eines Menschen: Der Konsumbereich, der Bereich der Freizeitgestaltung, der Bildungssektor sowie die Lebensbereiche Arbeit und Wohnen.32 Da die Religiosität im 19. und 20. Jahrhundert ein wichtiger Bestandteil des täglichen Lebens war, wird das Schema für diese Untersuchung um den Lebensbereich Kirche ergänzt.33 Kirche Bildung Versorgung Wohnen Verkehr Arbeit Erholung Kommunikation Abbildung 3: Aktionsraumtheorie34 Die Untersuchung beschäftigt sich zunächst mit der Frage, in welchen Bereichen des täglichen Lebens und in welchem Ausmaβ Menschen Kontakte über 32 33 34 Partzsch, Dieter: Artikel: Daseinsgrundfunktionen, in: Handwörterbuch der Raumforschung und Raumordnung (2.Aufl.), (Hrsg.) Akademie der Raumforschung und Raumplanung, 1 (1970) 424-430. Siehe: Abbildung 3. Schema in Anlehnung an: Partzsch, Daseinsgrundfunktionen. 23 die Grenze unterhielten. Welche Freizeitaktivitäten wurden auf der anderen Seite der Grenze wahrgenommen? Ging man in die grenznahe Kneipe oder wurde die Kirmes des Nachbarortes besucht? Bestanden Kontakte der Vereine über die Grenze hinweg? Nur durch eine Beschreibung der Art und des Volumens der Beziehungsgeflechte über die Grenze ist es möglich, die Bedeutung der (Staats)Grenze für den Alltag der Menschen adäquat zu erfassen. Für die Bestimmung der Art und des Volumens der Netzwerke, ist eine parallele Arbeit mit einem qualitativen und quantitativen Zugriff unabdingbar. Anhand von Arbeitshypothesen wird die Bedeutung möglicher Elemente grenzüberschreitender Integration und Segregation untersucht. Zu diesen Faktoren zählen die gesetzlichen Regelungen des Grenzübertritts und der binationalen Heiraten oder der Umgang mit den verschiedenen Währungen. Ebenso ist zu untersuchen, welche Wirkung auβenpolitische Auseinandersetzungen, wie der sardinisch-französische Krieg gegen Österreich, der Krimkrieg und der DeutschFranzösische Krieg, auf die grenzüberschreitenden Verflechtungen hatten. Neben der Wirkung Verflechtungen, dieser trennenden werden wirtschaftsstrukturelle Aspekte mögliche auf integrative Ähnlichkeiten sowie die grenzüberschreitenden Elemente untersucht, wie Sprache, Schicht- und Milieuzugehörigkeit.35 Die Untersuchung konzentriert sich auf die beiden groβen historischen Milieus, das katholische und das sozialdemokratische Milieu, da diese auch transnationale Ausprägungen annahmen.36 Milieus werden hier nach Lepsius 35 36 Der Milieubegriff wird ausgehend vom Aufsatz Rainer M. Lepsius seit langem in der Geschichtswissenschaft diskutiert. Siehe: Lepsius, Rainer M.: Parteiensysteme und Sozialstrukturen. Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: Demokratie in Deutschland. Soziologisch-historische Konstellationsanalysen. Ausgewählte Aufsätze, (Hrsg.) ders., Göttingen 1993, 25-50. (Ersterscheinung des Aufsatzes 1966). War Lepsius von vier Sozialmilieus ausgegangen (ostelbisch- konservativ, katholisch, liberalbürgerlich und sozialistisch), untersucht die neuere Milieuforschung auf Ergebnisse der Lebenswelt- und Lebensstilforschung aufbauend regionale Gesellschaftsbildungen als Mikrobzw. Mesomilieus. Siehe z.B.: Blaschke, Olaf; Kuhlemann, Frank-Michael: Religion in Geschichte und Gesellschaft. Sozialhistorische Perspektiven für die vergleichende Erforschung religiöser Mentalitäten und Milieus, in: Religion im Kaiserreich. Milieus – Mentalitäten – Krisen, (Hrsg.) Olaf Blaschke, Frank-Michael Kuhlemann, Gütersloh 1996, 756. Trotz aller Diversität herrscht in der historischen Forschung Einigkeit darüber, dass das sozialistische und katholische Milieu hervorzuheben sind. Tenfelde, Klaus: Historische 24 verstanden als soziokulturelle Gebilde, die durch das Zusammenwirken mehrerer strukturbildender Elemente, wie beispielsweise Religion, Wirtschaftsstruktur und Klasse zusammengefügt werden. Die Inklusivität der Milieus wurde durch einen gemeinschaftsbildenden Code bestimmt, der in besonderem Maβe durch ein milieuspezifisches Vereinswesen vermittelt wurde - dessen grenzüberschreitende Vernetzungen bilden einen Schwerpunkt der Untersuchung.37 Ebenso wird hinterfragt, ob- und inwieweit transnationale Konfliktlinien ein konstitutives Element eines transnationalen Eigenen darstellten. Im Zentrum des Interesses stehen die Konfliktlinien grenzüberschreitenden deutschsprachigen zwischen Kohlenrevier, Arbeitern zwischen Bevölkerungsgruppen, und Unternehmern französischsprachigen Katholiken und im und Protestanten (Kulturkampf), sowie zwischen Laizisten und Katholiken.38 1.5. Quellen Quellengrundlage der Untersuchung sind Heiratsregister, Tageszeitungen und Aktenbeständen Quellenspektrum der Verwaltungs- ermöglicht eine und Kirchenbehörden. quantitative wie Dieses auch breite qualitative Herangehensweise an die Forschungsfrage. Basis für die Bewertung der Ausmaße des grenzüberschreitenden Identifikationsraumes ist die Analyse des Heiratsverhaltens der Grenzraumbewohner. Die Auswertung von Genealogen erstellter Heiratsregister Milieus – Erblichkeit und Konkurrenz, in: Nation und Gesellschaft in Deutschland. Historische Essays, (Hrsg.) Manfred Hettling, Paul Nolte, München 1996, 247-268. Mergel, Thomas: Milieu und Region. Überlegungen zur Ver- Ortung kollektiver Identitäten, in: Sachsen in Deutschland. Politik, Kultur und Gesellschaft 1830-1918, (Hrsg.) James Retallack, Dresden 2000, 265-279. Eine Zusammenfassung der Debatte um die Milieutherorie liefert: Mergel, Thomas: Grenzgänger. Das katholische Bürgertum im Rheinland zwischen bürgerlichem und katholischem Milieu 1870-1914, in: Religion im Kaiserreich. Milieus – Mentalitäten – Krisen, (Hrsg.) Olaf Blaschke, Frank-Michael Kuhlemann, Gütersloh 1996, 166-192. 37 38 Tenfelde, Klaus: Milieus, politische Sozialisation und Generationenkonflikte im 20. Jahrhundert, Bonn 1998 (Gesprächskreis Geschichte, H. 19, Friedrich-Ebert Stiftung), 18. Die Begriffe „Protestant“ und „protestantisch“ schlieβen in der folgenden Arbeit alle reformierten Glaubensrichtungen ein. 25 18 grenznaher Orte, geben den Grad der grenzüberschreitenden familiären Verflechtung an.39 Neben der Berücksichtigung der strukturellen Unterschiede und konfessionellen Zusammensetzung, wurde bei der Auswahl der Orte darauf geachtet, dass deren Distanz zur Grenze variiert. Jeder Ort wird in einer Exceldatei erfasst, die jede binationale Eheschlieβung (deutsch-französisch, deutschluxemburgisch, luxemburgisch-französisch) mit Informationen über Nationalität, Geburtsort, Geburtsjahr der Eheleute, Beruf des Mannes und Jahr der Eheschlieβung dokumentiert. Einen Eindruck vom Spektrum der grenzüberschreitenden Verflechtungen geben die Tageszeitungen. Zeitungsannoncen und Artikel zeugen von einem grenzüberschreitenden Arbeitsmarkt, Vereinskontakten und Freizeitaktivitäten, aber auch von Konflikten zwischen den Grenzraumbewohnern. Die Diversität der politischen Ausrichtung der Tageszeitungen garantiert eine Sicht auf die Verflechtungen im Grenzraum aus unterschiedlichen Perspektiven. So werden Zeitungen mit reichstreuer Ausrichtung berücksichtigt, wie die Saarbrücker Zeitung und Forbacher Zeitung. Aber auch katholische Tageszeitungen mit reichskritischer Tendenz finden Beachtung, wie Saar-Zeitung, Forbacher Bürgerzeitung und St. 39 Groβ, Matthias; Rettgen, Alfons: Die Einwohner der Pfarrei Borg vor 1900, Büschdorf 1998; Klein, Adolphe: Les Familles de Creutzwald (Tome II) 1815-1895, Filstroff 1995; Groβ, Matthias; Rettgen, Alfons: Die Einwohner der Pfarrei St. Philippus und Jakobus Eft vor 1900 (mit Hellendorf, Struppshof, Retschmühle), Büschdorf, Nohn 1998; Wagner, Jean-Marie; Mansion, Emile: Les Habitants de Grindorff et de ses annexes: Bizing-Halstroff 1792-1894, Filstroff 1995; Heimatkundlichen Verein Warndt e.V.: Die Einwohner von Großrosseln von 1696-1896 und die Einwohner von Kleinrosseln von 1696-1796, Ludweiler 1986; Wagner, Jean-Marie: Les habitans de Kirsch-lès-Sierck 1694-1894, Filstroff 1995; Schwarz, Josef: Die Einwohner von Lauterbach 1707-1907, Saarbrücken 1981; Treiner, Otto: Die Einwohner von Ludweiler-Warndt von 1604-1880 mit Stammlisten (Bd. 1), Völklingen 1989; Treiner, Otto; Weiter, Werner: Die Einwohner von Ludweiler-Warndt (Bd. 2) Ergänzungen, Gelegenheitsfunde mit Berichtigungen zu Bd. 1, Heiraten von 1880-1920, Völklingen 1992; Maas, Gérard: Les Habitants de Merten. Marriages 1693-1919, Filstroff 1990; Cercle Généalogique du Pays de la Nied: Les Habitants de Montenach et de ses annexes Sulzen & Kaltweiler avant 1905, Filstroff 2005; Maas, Gérard; Tridemy, Emile: Les Habitants de Oberdorff, Odenhoven, Tromborn, 1689-1892, Filstroff 1993; Engelbreit, Raymond: Schoeneck et ses habitants de 1716 à 1900, Stiring-Wendel 1886; Engelbreit, Raymond: Les Ouvriers des Forges de Stiring-Wendel de 1848 à 1900, Schoeneck 1990; Groβ, Matthias; Rettgen, Alfons: Die Einwohner der Pfarrei Tettingen vor 1900, Büschdorf, Nohn 1998. Becker, Karl: Familien- und Hauschronik Faha, Merzig 1975. 26 Johanner-Saarbrücker Volkszeitung. Der Aspekt der pro-französischen Berichterstattung wird abgedeckt durch die Zeitung „Courrier de la Moselle“. Systematisch werden alle Artikel und Annoncen jeden vierten Jahrgangs von 1850 bis 1914, die die grenzüberschreitenden Beziehungen thematisieren, in einer Datenbank auf Basis der oben beschriebenen methodischen Überlegungen als grenzüberschreitender Kontakt im Lebensbereich Versorgung, Freizeit, Arbeit, usw. erfasst.40 Dieses Vorgehen ermöglicht sowohl eine quantitative als auch qualitative Auswertung der Tageszeitungen. Die Bewertung der Ergebnisse berücksichtigt, dass der Umfang der lokalen Berichterstattung im Laufe der Zeit zunahm und aus diesem Grund die Anzahl der Meldungen über die grenzüberschreitenden Kontakte anstieg. Deutlich spiegelt sich vor allem ein Rückgang der Verbindungen wie auch die Wiederaufnahme von grenzüberschreitenden Kontakten in den Annoncen und Artikeln der Zeitungen wider. Grundsätzlich lassen sich anhand der Zeitungsanalyse nur Aussagen über Entwicklungstendenzen der grenzüberschreitenden Verflechtungen treffen. Die Tageszeitungen bilden vor allem die Quellenbasis des Kapitels « Freizeit ». Neben dem Ausmaβ der grenzüberschreitenden Freizeitaktivitäten, geben die Artikel und Annoncen der Zeitungen auch Aufschluss über die Dichte der grenzüberschreitenden Vereinsnetzwerke. In einer Datenbank werden die in den Zeitungen überlieferten Informationen über die grenzüberschreitenden Vereinskontakte gesammelt und durch die Auswertung der Vereinsgenehmigungsverfahren ergänzt, die Informationen über Schicht- und Milieuzugehörigkeit der Vereinsmitglieder enthalten. Dieses Vorgehen ermöglicht den Nachweis schicht- und milieugeprägter Vereinsnetzwerke im Grenzraum. Die Genehmigungsverfahren liefern auch Informationen über die Nationalität der Mitglieder. Für die Bewertung der Vereinsnetzwerke sind diese Informationen von Bedeutung, da zahlreiche lothringische Vereine, die Kontakte zu Nachbarvereinen von der Saar unterhielten, nur „altdeutsche“ Mitglieder hatten, sodass die 40 Berücksichtigt wurde jeder zweite Monat. 27 Verbindungen zwischen diesen lothringischen Vereinen und Vereinen aus der Saarregion zwar grenzüberschreitend, aber nicht transnational waren.41 Für das Kapitel „Arbeit“ werden zusätzlich zu den oben aufgeführten Zeitungen ausgewählte Jahrgänge anderer Zeitungen ausgewertet. Dazu gehören „Der Arbeiter. Organ des Verbandes der katholischen Arbeiter Vereine (Sitz Berlin)“, die katholischen „Westdeutschen Arbeiter-Zeitung. Organ des Verbandes des Arbeitervereins Westdeutschland“ sowie die „Saargemünder Zeitung“. In das Kapitel „Kirche“ flieβt die Analyse der „Gazette de Metz et de Lorraine“, der „Gazette de Lorraine“ und der Zeitung „Le Vœu National. Écho du Pays Messin“ mit ein. Neben den Zeitungen werden Verwaltungsebenen berücksichtigt. Auf Bestände des Statthalters des die Aktenbestände verschiedener lothringischer Seite sind dies die Reichslandes Elsass-Lothringen, die des Departements Moselle beziehungsweise die der Bezirksregierung Lothringens, sowie die Akten der Stadtbezirke Sierck und Forbach. Für die „Saarseite“ sind die Aktenbestände des Oberpräsidiums der Rheinprovinz, des Regierungsbezirkes Trier und des Landkreises Saarbrücken von zentraler Bedeutung. Wichtige Informationsquelle sind die Akten der Zollbehörde, der Polizeibehörden, insbesondere der Grenzpolizei sowie die Akten über die Überwachung der Vereine und der Arbeiterbewegungen. Die Korrespondenz zwischen Minister und Regionalverwaltung bezüglich der Grenzsicherung gibt Aufschluss über die Durchlässigkeit der Grenze vor 1871. Die Protokolle des Conseil Général du Département de la Moselle und die des Conseil d’arrondissement de Sarreguemines boten nur spärliche Informationen zur Grenzsituation des Departements beziehungsweise des Arrondissements. 41 Die Bezeichnungen „neudeutsch“ und „altdeutsch“ sind zeitgenössische Ausdrücke, die den Unterschied zwischen den elsass-lothringischen Landesangehörigen und den übrigen Reichsangehörigen beschreiben. An einigen Stellen dieser Arbeit werden diese Ausdrücke als Synonyme für Deutsche und Lothringer verwendet. In Bezug auf die Ergebnisse der Vereinsanalyse differenzieren die Begriffe „transnational“ und „grenzüberschreitend“ die rein „altdeutschen“ grenzüberschreitenden Vereinstreffen und die Vereinstreffen zwischen Lothringern und Deutschen, sonst werden beide Begriffe in der vorliegenden Arbeit als Synonyme verwendet. 28 Zum Thema „Verflechtungen auf kirchlicher Ebene“ werden die Aktenbestände des Bistums Metz und Trier ausgewertet. Neben den grenzüberschreitenden Verbindungen der Geistlichen, stand die Kulturkampfzeit und die grenzüberschreitende Wallfahrtsbewegung im Zentrum des Interesses. Schwerpunkte der Untersuchung sind die Wallfahrten zum „Heiligen-Rock“ nach Trier und die zahlreichen Wallfahrten, welche sich an die Marienerscheinungen der 1870er Jahre anschlossen. 1.6. Aufbau Der Aufbau dieser Arbeit folgt der Einteilung in verschiedene Lebensbereiche. Zunächst wird jedoch im einführenden Kapitel „Menschen und Grenzen“ mit Blick auf die menschliche Territorialität der grenzüberschreitende Handlungsraum der 1850er Jahre als Ausgangspunkt für die folgende Untersuchung skizziert. Bevor die Festlegung der Staatsgrenze, die sichtbaren Grenzzeichen und die Vorschriften für den Grenzübertritt vor 1871 thematisiert werden, wird der Verlauf der ökonomischen und sprachlich-kulturellen Grenze in Bezug zum Verlauf der Staatsgrenze beschrieben. Der Abschnitt „Die Grenze vor 1871“ schließt mit einem Kapitel über die behördliche Zusammenarbeit, das sich besonders mit der grenzüberschreitenden Verbrechensbekämpfung beschäftigt. Zuletzt befasst sich das Kapitel „Menschen und Grenzen“ mit der Grenzsituation nach 1871. Thema sind hier die Grenzbefestigung nach dem Deutsch-Französischen Krieg, das Staatsangehörigkeitsverhältnis der Lothringer und der Status des Reichslandes innerhalb des Deutschen Reiches. Die folgenden vier Kapitel beinhalten die Ergebnisse der Analyse der grenzüberschreitenden Beziehungen in den Lebensbereichen Familie, Arbeit, Freizeit und Kirche. Da die Analyse des binationalen Heiratsverhaltens, als Gradmesser der Integration im Grenzraum, die Ausmaβe des transnationalen Identifikationsraumes beschreibt, wird der Lebensbereich Familie als erstes 29 behandelt.42 Die Lebensbereiche lassen sich nicht strikt voneinander trennen, sodass bestimmte Themenbereiche in mehreren Kapiteln angesprochenen werden. So beschäftigen sich die Kapitel Arbeit, Freizeit und Kirche mit dem katholischen Vereinswesen aus unterschiedlichen Perspektiven. Die Aufteilung der Kapitel nach Lebensbereichen ist trotz der Überschneidungen sinnvoll, da so der Einfluss der hypothetisch angenommenen Integrations- und Segregationsmechanismen auf die grenzüberschreitenden Beziehungen in den einzelnen Lebensbereichen untersucht werden kann. Die Überschneidungen des Lebensbereiches „Bildung“ mit den Bereichen „Kirche“ und „Familie“ sowie die groβe Schnittmenge des Bereiches „Versorgung“ mit den Lebensbereichen Arbeit und Freizeit, machen ein gesondertes Kapitel für diese beiden Bereiche überflüssig. 1.7. Forschungsrückblick Historische Arbeiten, die sich mit der Thematik grenzüberschreitender Identitäten, Identifikation oder kollektiver Identitäten beschäftigen, reflektieren über die methodischen Schwierigkeiten, die mit der Beantwortung ihrer Forschungsfragen verbunden sind, ohne jedoch grundlegend neue Untersuchungsinstrumentarien zu entwickeln.43 42 43 So beanstandet Lutz Niethammer mit Blick auf den Besonders die Migrationsforschung hat sich mit Integrationsprozessen auseinandergesetzt. Hartmut Esser hat in seinem Standardwerk verschiedene Integrationsstufen entwickelt. In Essers Modell schlieβen die soziale Assimilation und die identifikative Assimilation den Assimilationsprozess ab. Wichtiger Indikator für den Grad der sozialen Assimilation ist die binationale Heirat. Esser, Hartmut: Aspekte der Wanderungssoziologie. Assimilation und Integration von Wanderern, ethnischen Gruppen und Minderheiten. Eine handlungstheoretische Analyse, Darmstadt, Neuwied 1980, 221 (2. völlig neubearb. und erweiterte Aufl.). Überlegungen zu den Schwierigkeiten der Untersuchung kollektiver Identitäten u. a. bei: Rauh-Kühne, Cornelia: „Schmerzende Wunde" oder Zone des Kulturaustauschs? Grenzkonstruktionen und Grenzkontakte im "Reichsland Elsass-Lothringen“, in: Raum und Geschichte. Regionale Traditionen und föderative Ordnungen vom Mittelalter bis in die Gegenwart, (Hrsg.) Thomas Kühne, Cornelia Rauh-Kühne, Stuttgart 2001, 159-171. Auch Günter Riederer thematisiert in seiner Dissertation die methodischen Schwierigkeiten zur Untersuchung von Identitäten. Eine Erläuterung darüber, auf welchen methodischen Grundlagen er eine Bewertung der nachgewiesenen kollektiven Zugehörigkeiten vorgenommen hat fehlt der Arbeit jedoch. Riederer, Günter: Feiern im Reichsland. Politische 30 Untersuchungsgegenstand „kollektive Identität“, dass deren Analyse die methodische Grundlage fehle. Die Beschäftigung mit dem Thema „kollektive Identität“ sei, so Niethammer, „eher etwas für Detektive als für Theoretiker“ und führe zu keinem Ergebnis, das wissenschaftlichen Ansprüchen genüge.44 Historische Forschungsarbeiten tendieren bisher dazu, ein facettenreiches Bild vom Leben im Grenzraum zu entwickeln und liefern nur bedingt Erkenntnisse über grenzüberschreitende Untersuchungen ohne Forschungsgegenstand Identifikationsräume methodische und gleicher Grundlagen und Integrationsprozesse. kommen Ausgangsfrage zu bei gleichem widersprüchlichen Ergebnissen. So präsentieren Michael Sander und François Roth in ihren Ausführungen über die „regionale Osmose“ im saarländisch-lothringischen Grenzraum völlig unterschiedliche Resultate.45 Betont François Roth die Intensität der regionalen Osmose, so hebt Sander, Bezug nehmend auf die Arbeit Roths, den geringen Grad der regionalen Osmose hervor.46 Da den Untersuchungen eine Definition darüber fehlt, was als „regionale Osmose“ verstanden wird, bleiben die unterschiedlichen Ebenen beider Analysen unberücksichtigt. François Roth beschreibt die Kontakte und Beziehungen auf individueller Ebene, während Michael Sander sich auf die strukturellen Unterschiede konzentriert. 44 Symbolik, öffentliche Festkultur und die Erfindung kollektiver Zugehörigkeiten in ElsaβLothringen (1871-1918), Trier 2004, 40ff. Przemyslaw Hauser spricht das Problem der historischen Forschung direkt an und meint, dass die Frage nach kollektiven Identitäten im Grenzraum aufgrund fehlender Untersuchungsinstrumentarien bisher nicht eindeutig beantwortet werden kann. Hauser, Przemyslaw: Zur Frage der nationalen Identität der oberschlesischen Bevölkerung in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, in: Grenzen und Grenzräume in der deutschen und polnischen Geschichte. Scheidelinie oder Begegnungsraum?, (Hrsg.) Georg Stöber, Robert Maier, Hannover 2000, 205-215. Niethammer, Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Hamburg 2001, 177. 45 Sander, Michael: Die gesellschaftliche und politische Struktur im Steinkohlenrevier an der Saar und die Rolle der Landesgrenze im Deutschen Kaiserreich, in: La Lorraine et la Sarre depuis 1871. Perspectives transfrontalières, (sous la direction de) Rainer Hudemann; Alfred Wahl, Metz 2001, 47-65. Roth, François: Espace sarrois et Lorraine: relations et convergences (1815-1925), in: Probleme von Grenzregionen: Das Beispiel SAAR-LOR-LUX-Raum. Beiträge zum Forschungsschwerpunkt der Philosophischen Fakultät der Universität des Saarlandes, (Hrsg.) Wolfgang Brücher, Peter Robert Franke, Saarbrücken 1987, 67-84. 46 Roth, Espace, 83 und Sander, Struktur, 48. 31 Mit Blick auf die fehlenden Untersuchungsinstrumentarien entwickelt diese Forschungsarbeit ein Konzept, das auf methodische Überlegungen der Sozialwissenschaften, der Sozialgeographie und historischer Forschung aufbaut.47 Eine Verknüpfung der Überlegungen Fernand Braudels, der Handlungsräume mit Identifikationsräumen gleichgesetzt, mit Methoden der Netzwerkforschung und der Aktionsraumtheorie, ermöglicht eine umfassende systematische Analyse grenzüberschreitender Beziehungen, wie sie bisher noch nicht möglich war. Lediglich Andrea Komlosy geht in einem Teilabschnitt ihrer Habilitationsschrift methodisch ähnlich vor. Am Beispiel des Wald- und Weinviertels im südböhmischen und südmährischen Grenzraum, weist sie überzeugend die Handlungshorizonte der Bewohner auf verschiedenen soziokulturellen Kommunikationsebenen nach48. Komlosy setzt, aufbauend auf das Modell der vielfältigen Staffelungen von Räumen von Fernand Braudel,49 in einem nächsten Argumentationsschritt den so aufgezeigten Handlungsraum mit einem Identifikationsraum gleich. Eine Berücksichtigung der qualitativen Unterschiede der Beziehungstypen, wie in dieser Arbeit erfolgt, gibt es jedoch nicht. So werden beispielsweise familiäre Netzwerke nicht untersucht. Neben dem innovativen methodischen Zugriff liefert diese Forschungsarbeit neue Erkenntnisse über den Alltag und die Ausmaβe der individuellen grenzüberschreitenden Kontakte im saarländisch-lothringischen Grenzraum vor dem Ersten Weltkrieg.50 Liegen für den Zeitraum nach dem Zweiten Weltkrieg zahlreiche Ergebnisse vor, sind diese für den hier berücksichtigten 47 So fordert Hans-Jürgen Karp die Einbeziehung methodischer Konzepte anderer Disziplinen in die historische Grenzraumforschung: Karp, Hans-Jürgen: Grenzen - ein wissenschaftlicher Gegenstand, in: Grenzen in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Aktuelle Forschungsprobleme, (Hrsg.) Hans Lemberg, Marburg 2000, 9-17. 48 Komlosy, Andrea: Grenze und ungleiche regionale Entwicklung. Binnenmarkt und Migration in der Habsburgermonarchie, Wien 2003, 210-222. 49 Braudel, Sozialgeschichte, 308-313; Braudel, Frankreich, 63-95. 50 Die neuere Arbeit Günter Riederers über die kollektiven Zugehörigkeiten während der Reichslandzeit konzentriert sich auf die Nationalisierung der regionalen Zugehörigkeit und lässt den transnationalen Aspekt der regionalen Identifikation unberücksichtigt. Riederer, Feiern. 32 Untersuchungszeitraum spärlich.51 Lediglich die strukturellen grenzüberschreitenden Verflechtungen – insbesondere die wirtschaftsstrukturellen Verflechtungen vor 1914 sind bereits gut erforscht. Der Grund für dieses Forschungsinteresse ist vermutlich, dass der Saar-Lor-Lux-Raum mit Blick auf die Montanunion als „Keimzelle“ der Europäischen Union betrachtet wird.52 Individuelle grenzüberschreitende Beziehungen wurden bisher lediglich umfassend am Gegenstand dauerhafter oder temporärer Migrationsbewegungen untersucht.53 Nur verstreut finden sich Informationen über andere Formen individueller grenzüberschreitender Verflechtungen in den Forschungsarbeiten über die Geschichte Lothringens oder der Saarregion. So werden in den zahlreichen von François Roth verfassten Artikeln über Lothringen, und in seinem Standardwerk über die Zeit der Annexion Lothringens auch die grenzüberschreitenden 51 Besonders die Forschungsarbeiten Rainer Hudemanns sind hier hervorzuheben. Eine Zusammenfassung der Forschungsergebnisse: Hudemann, Rainer; Jellonnek, Burkhard: SaarGeschichte: neue Methoden, Fragestellungen, Ergebnisse, in: Grenz-Fall, (Hrsg.) Rainer Hudemann, St. Ingbert 1997, 11-29; Die neuesten Forschungsergebnisse fassen die folgenden zwei Aufsatzsammlungen zusammen: Miard-Delacroix, Hélène; Hudemann, Rainer (Hrsg.): Wandel und Integration deutsch-französischer Annäherungen der fünfziger Jahre. Mutations et intégration, , München 2005. Hudemann, Rainer; Heinen, Armin: Das Saarland zwischen Frankreich Deutschland und Europa 1945-1957; ein Quellen und Arbeitsbuch, Saarbrücken 2007. 52 Hellwig, Fritz: Wirtschaftsentwicklung und Grenzen im Raum Saarland- LothringenLuxemburg, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte, 111 (1975) 159-171; Thomes, Paul: Wirtschaftliche Verflechtungen einer Grenzregion. Die Industrielandschaft Saar- Lor- Lux im 19. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Westdeutsche Landesgeschichte, 14 (1988) 181-198; Nievelstein, Markus: Der Zug nach der Minette. Deutsche Unternehmen in Lothringen 18711918, Bochum 1993; Banken, Ralf: Die Industrialisierung der Saarregion 1815-1914. Band 1.: Die Frühindustrialisierung 1815-1850, Stuttgart 2000; Banken, Ralf: Die Industrialisierung der Saarregion 1815-1914. Band 2.: Die Take-Off-Phase und Hochindustrialisierung 18501914, Stuttgart 2003. Hudemann, Rainer; Wittenbrock, Rolf (Hrsg.): Stadtentwicklung im deutsch-französisch-luxemburgischen Grenzraum (19. und 20. Jahrhundert). Développement urbain dans la région frontalière France-Allemagne-Luxembourg (XIXe et XXe siècles), Saarbrücken 1991. Leiner, Stefan: Migration und Urbanisierung. Binnenwanderungsbewegungen, räumlicher und sozialer Wandel in den Industriestädten des Saar- Lor- Lux- Raumes 1856-1910. MalstattBurbach, Diedenhofen und Esch- an- der- Alzette im Vergleich, Saarbrücken 1993; Galloro, Piero- D.: La frontière à l'épreuve de la mobilité ouvrière en Lorraine (1880-1914), in: Frontières (?) en Europe occidentale et médiane de l'Antiquité à 'an 2000. Actes du collque de L'association Interuniversitaire de l'Est tenu à l'Université de Metz 9-10 décembre 1999, (Textes réunis et présententés par) Jeanne-Marie Demarolle, Metz 2001, 409-430. Buchheit, Chip: Immigration et movements de la main-d’œuvre dans le bassin houiller au XIXe siècle, in: Mineurs immigrés. Histoire - Témoignages. XIXe, XXe siècles, (Hrsg.) Institut d´histoire sociale minière, Montreuil 2000, 35-49. 53 33 Beziehungen der Bevölkerung erwähnt.54 Darüber hinaus existieren nur noch einige Aufsätze, die sich mit den grenzüberschreitenden Verflechtungen der Bevölkerung beschäftigen.55 Eine Untersuchung, die einen Überblick über die Ausmaβe einzelner Formen individueller grenzüberschreitender Verflechtungen gibt, existiert bisher noch nicht. Diese Arbeit liefert einen Beitrag zur historischen Grenzraumforschung und folgt mit ihrer Fragestellung den neueren Ausrichtungen der historischen Forschung, die sich immer intensiver mit Räumen als erfahrungsvermittelte, temporäre, geschichtlich wandelbare Konstruktion von Raumeinheiten nach Maßgabe von 54 Roth, Lorraine; Roth, François: Les Lorrains entre la France et l´Allemagne, Nancy 1981; Roth, François: Das Reichsland Elsass-Lothringen. Formation, histoire et perception, in: Le Problème de l´Alsace-Lorraine vu par les périodiques (1871-1914). Die Elsass- Lothringische Frage im Spiegel der Zeitschriften (1871-1914), (Hrsg.) Michel Grunewald, Bern, Berlin, Frankfurt a. M. u. a. 1998, 13-36; Roth, François: Cent ans d´activités industrielles en Moselle (1888-1988), in: Les archives du Monde du travail. Outil de gestion et patrimoine culturel. Actes de la journée d´information organisée à Saint-Avold le 16 mars 1988, (Hrsg.) Archives départementales, Metz 1989, 17-50; Roth, François: La Lorraine dans la vie nationale (17891870), in: Histoire de la Lorraine, (Hrsg.) Michel Parisse, Toulouse 1987, 357-379 (4. Auflage); Roth, François: La Lorraine Divisée (1871-1914), in: Histoire de la Lorraine, (Hrsg.) Michel Parisse, Toulouse 1987, 389-404 (4.Auflage). 55 Roth, François: Soziale Konflikte als Nationalitätenproblem 1871-1935, in: Grenzenlos. Lebenswelten in der deutsch-französischen Region an Saar und Mosel seit 1840, (Hrsg.) Historisches Museum Saar, Saarbrücken 1998, 256-274; Gehlen, Rita: "Wäre kein Kampf, so wäre keine Wehr"? Saarländische und lothringische Katholiken im protestantischen Kaiserreich, in: Grenzenlos. Lebenswelten in der deutsch-französischen Region an Saar und Mosel seit 1840, (Hrsg.) Historisches Museum Saar, Saarbrücken 1998, 232-255. Maas, Annette: Kriegerdenkmäler und Erinnerungsfeiern in Elsass und in Lothringen (1870-1918): Von nationaler Konfrontation zu regionaler Versöhnung in einer Grenzregion, in: Historische Denkmäler. Vergangenheit im Dienste der Gegenwart?, Bergisch-Gladbach 1994, 54-68; Kugler, Lieselotte: Saarländer, Deutsche und Franzosen, oder: Politische Geschichtsdarstellung als Identifikationsanker in einer Grenzregion, in: Grenz-Fall, (Hrsg.) Rainer Hudemann, St. Ingbert 1997, 121-132. Ebenso beschäftigen sich einige kurzgehaltene Artikel einer Internetpublikation der Universität des Saarlandes mit dieser Thematik: Hudemann, Rainer (Hrsg.): Stätten grenzüberschreitender Erinnerung. Spuren der Vernetzung des Saar- Lor- Lux- Raumes im 19. und 20. Jahrhundert - Lieux de la mémoire transfrontalière. Traces et réseaux dans l'espace Saar Lor-Lux aux XIXe et XXe siècles, Saarbrücken 2004 (2. Auflage) (http://www.uni-saarland.de/%7Em.hahn/lnng/). Muller, Gilberte: Les relations entre la Lorraine et l´Allemagne. Relations entre populations voisines (1851-1866), in: Aspects des relations franco-allemandes à l'époque du Second Empire 18511866 - Deutsch-französische Beziehungen im Zeitalter des Second Empire 1851-1866. Actes du Colloque d'Otzenhausen, 5-8 Octobre 1981, (sous la direction de) Raymond Poidevin, Heinz-Otto Sieburg, Metz 1982, 161-174. 34 Erfahrung, Wahrnehmung und Vision beschäftigt.56 Eine Thematik, mit der sich bereits die beiden ersten Generationen der Annales-Schule befassten. So arbeitet Lucien Febvre in seinem „Rhein-Buch“ die verschiedenen Deutungsmuster und Besitzansprüche heraus, welche die Geschichte des Rheines als Grenze bestimmten.57 In seinem Aufsatz über den Bedeutungswandel des Begriffes „frontière“ zeigt Febvre, dass der Begriff „frontière“ im Sinne einer zu verteidigenden Staatsgrenze erst allmählich gegenüber dem Begriff „limite“ an Bedeutung gewann, der ohne militärische Konnotation die Grenze eines Herrschaftsgebietes beschreibt.58 Fernand Braudel beschäftigte sich in seinen Forschungsarbeiten mit der Abgrenzung von Raumeinheiten. Er entwickelte dabei ein System der Raumstaffelung, das den Raum von der Einheit „Dorf“ über „Kleinstadt“ und „Pays“ bis hin zu „Provinz“, „nationalem Wirtschaftsraum“ und „Weltwirtschaft“ unterteilt..59 Dennoch, war die historische Grenzraumforschung bis 1998, abgesehen von einigen Pionierstudien, die sich mit Grenzbildungsprozessen und den Funktionen von Grenzen beschäftigen,60 ein wenig beachtetes Untersuchungsgebiet.61 56 57 So die Erläuterung des Mottos des Deutschen Historikertages 2004 in Kiel. Fouquet, Gerhard; Reitemeier, Arnd: Vorwort, in: Kommunikation und Raum. 45. Deutscher Historikertag in Kiel vom 14. bis 17. September 2004, (Hrsg.) Arnd Reitemeier, Gerhard Fouquet, Neumünster 2005, X. Febvre, Lucien: Der Rhein und seine Geschichte, (hrsg. und übersetzt von) Peter Schöttler, Frankfurt a. M., New York 1994. 58 Febvre, Lucien: „Frontière“ – Wort und Bedeutung, in: Das Gewissen des Historiker, (Hrsg.) ders., Berlin 1988, 27-38. 59 Braudel, Sozialgeschichte, 308-313; Braudel, Frankreich, 63-95. Hervorzuheben ist hier die bahnbrechende Arbeit von Peter Sahlins. Überzeugend zeigt dieser in seiner Studie über den französisch-spanischen Grenzraum, wie die lokalen Gesellschaften die Hilfe der staatlichen Herrschaftsträger in Anspruch nahmen, um ihre lokalen Interessen durchzusetzen. Lokale Konflikte wurden von den Beteiligten mit einer nationalen Komponente beladen, damit die staatlichen Autoritäten vor Ort diese Auseinandersetzungen in einer für sie positiven Weise entschieden. Sahlins, Peter: Boundaries. The Making of France and Spain in the Pyrenees, Berkeley, Los Angeles, Oxford 1989. Ebenfalls eine längere Forschungstradition hat die Beschäftigung mit den Funktionen von Grenzen. So fragen die Pionierstudien von Frederick Jackson Turner und Dietrich Gerhard nach der Wirkung von Grenzen auf die Entwicklung von Gesellschaften. These ist hier, dass durch offene Grenzen offene Gesellschaften entstehen und geschlossene Grenzen für geschlossene Gesellschaften verantwortlich sind. Turner, Frederick Jackson: The Significance of the frontier in American History, in: The frontier in American History, (Hrsg.) ders., New York 1920, 1-38; Gerhard, Dietrich: Neusiedlungen und institutionelles Erbe. Zum Problem von 60 35 Neuere Forschungsarbeiten thematisieren die Wichtigkeit von räumlichen Grenzen für das Zusammenleben der Menschen, beispielsweise wird deren Bedeutung für die Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit untersucht.62 Ebenso werden Funktionsmodelle von Grenzen reflektiert, welche die verschiedenen Charakteristika von Grenzen beschreiben.63 Besonders für die Forschungsrichtung, die sich mit der Realisierung von (Staats-) Grenzen beschäftigt sind die Ergebnisse dieser Arbeit ein Erkenntnisgewinn. Hatte Lucien Febvres diese Thematik anhand der Rheingrenze untersucht, analysieren andere Arbeiten Kartenwerke, Lehrbücher, Zeitungen und Selbstzeugnisse, um so die Divergenz zwischen einer politischen Grenzlinie und deren Wahrnehmung beziehungsweise deren Darstellung herauszustellen. Thematisiert wird hier beispielsweise die sogenannte Grenze in den Köpfen.64 61 62 63 64 Turners "Frontier", in: Alte und Neue Welt in vergleichender Geschichtsbetrachtung, (Hrsg.) ders., Göttingen 1962, 108-140 [zuerst u. d. T.: "The Frontier in Comparative View", in: Comparative Studies in Society and History, 1 (1959) 205-229]. Zum Forschungsstand bis 1990: Medick, Hans: Zur politischen Sozialgeschichte der Grenzen in der Neuzeit Europas, in: SOWI. Sozialwissenschaftliche Informationen, 20/3 (1991) (Themenheft: Grenze), 157-163; Medick, Hans: Grenzziehung und die Herstellung des politisch-sozialen Raumes. Zur Begriffsgeschichte und politischen Sozialgeschichte der Grenzen in der Frühen Neuzeit, in: Grenzland: Beiträge zur Geschichte der deutsch-deutschen Grenze, (Hrsg.) Bernd Weisbrod, Berlin 1998, 195-211. Karp, Grenzen; Krüger, Peter: Der Wandel der Funktion von Grenzen im internationalen System Ostmitteleuropas im 20. Jahrhundert, in: Grenzen in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Aktuelle Forschungsprobleme, (Hrsg.) Hans Lemberg, Marburg 2000, 39-56. Delhaes, Karl von: Wirtschaftliche Großräume oder nationalstaatliche Parzellierung? Die ökonomischen Funktionen von Grenzen in Ostmitteleuropa in den Jahrzehnten um die Mitte des 20. Jahrhunderts, in: Grenzen in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Aktuelle Forschungsprobleme, (Hrsg.) Hans Lemberg, Marburg 2000, 67-75; Haslinger, Peter: Funktionsprinzip Staatsgrenze: Aspekte seiner Anwendbarkeit im Bereich der Osteuropaforschung, in: Grenzen in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Aktuelle Forschungsprobleme, (Hrsg.) Hans Lemberg, Marburg 2000, 57-66. Auf die Bedeutung der Grenzen als Scharnier, also auf deren vermittelnde Funktion, konzentrieren sich: Ulbrich, Claudia: Die Bedeutung der Grenzen für die Rezeption der französischen Revolution an der Saar, in: Aufklärung, Politisierung und Revolution, (Hrsg.) Winfried Schulze, Pfaffenweiler 1991, 147-174; Ulbrich, Claudia: Grenze als Chance? Bemerkungen zur Bedeutung der Reichsgrenze im Saar- Lor- Lux- Raum am Vorabend der Französischen Revolution, in: Grenzöffnung, Migration, Kriminalität, (Hrsg.) Arno Pilgram, Baden Baden 1993, 139-146. Reichert, Folker: Grenzen in der Kartographie des Mittelalters, in: Migration und Grenze, (Hrsg.) Andreas Gestrich, Marita Krauss, Stuttgart 1998, 15-39; Fenske, Hans: Eine westliche Grenzfrage? Das Rheinland, Elsass und Lothringen in der deutschen öffentlichen Meinung, in: Aspects des relations franco-allemandes à l'époque du Second Empire 1851-1866 - Deutschfranzösische Beziehungen im Zeitalter des Second Empire 1851-1866. Actes du Colloque 36 Diese Untersuchung liefert auch einen Beitrag zur Nationalismusforschung. Die in den letzten Jahren intensiv diskutierte Frage nach der Wechselwirkung zwischen nationalen Identitäten und Alteritäten, wird in dieser Arbeit dort gestellt, wo der Differenzierungsprozess besonders deutlich sichtbar werden müsste – an der nationalen Grenze.65 65 d'Otzenhausen, 5-8 Octobre 1981, (sous la direction de) Raymond Poidevin, Heinz-Otto Sieburg, Metz 1982, 137-160; Turetti, Laurence: La frontière dans les manuels de la IIIe République, in: Frontières (?) en Europe occidentale et médiane de l'Antiquité à 'an 2000. Actes du collque de L'association Interuniversitaire de l'Est tenu à l'Université de Metz 9-10 décembre 1999, (Textes réunis et présententés par) Jeanne-Marie Demarolle, Metz 2001, 297305; Lüsebrink, Hans-Jürgen: Grenzziehung in den Köpfen. Nationalismus in Druckschriften des saarländisch-lothringischen Raumes (1815-1919), in: Grenzenlos. Lebenswelten in der deutsch-französischen Region an Saar und Mosel seit 1840, (Hrsg.) Historisches Museum Saar, Saarbrücken 1998, 300-321; Markiewicz, Wladyslaw: Sozialpsychologische Aspekte der Grenze, in: Grenzen und Grenzräume in der deutschen und polnischen Geschichte. Scheidelinie oder Begegnungsraum? (Hrsg.) Georg Stöber, Robert Maier, Hannover 2000, 121-126. Siehe insbesondere die bereits erwähnte Forschungsdebatte zwischen Linda Colley, Michael Jeismann und Robert Neisen. Die Nationalismusforschung hat in den letzten Jahren unzählige Arbeiten hervorgebracht. Siehe eine Zusammenfassung der bisherigen Forschungsergebnisse in: Langewiesche, Dieter: Nation, Nationalismus, Nationalstaat: Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: Neuere Politische Literatur (1995) 40, 190-236; Langewiesche, Dieter: Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000; Wehler, Hans-Ulrich: Nationalismus. Geschichte, Formen, Folgen, München 2001. 37 2. Menschen und Grenzen 2.1. Mensch und Territorium Der Handlungsraum eines Menschen verändert sich permanent, und auch die Grenzen des Aktionsraumes der Bewohner dieses Untersuchungsgebietes waren einem ständigen Wandlungsprozess unterworfen. Grenzformalitäten konnten möglicherweise den grenzüberschreitenden Handlungsraum beeinflussen, ebenso der Ausbau einer grenzüberschreitenden Infrastruktur oder das familiäre und berufliche Umfeld. Denkbar ist auch, dass politische Ereignisse oder Veränderungen im Strukturgefälle, wie beispielsweise im Preisgefälle, auf den Aktionsraum der Grenzraumbewohner einwirkten. Der Blick auf die 1850er Jahre im Saar-Mosel- Raum ergibt folgendes Bild grenzüberschreitender Verflechtungen. Auf dem Land und in der sich entwickelnden Industriezone war der Anteil der binationalen Eheschlieβungen mit 15,3 beziehungsweise 16,3 Prozent ähnlich hoch.66 Etwa jede siebte Ehe wurde demnach zwischen Franzosen und Preuβen, beziehungsweise Luxemburgern und Preuβen geschlossen. Mit der Aufnahme des regulären Kohlenabbaus in Lothringen im Jahr 1856, und der damit verbundenen Anwerbung von Bergarbeitern aus der Saarregion, nahm auch der grenzüberschreitende Arbeitsmarkt an Bedeutung zu. Bisher bestand ein Arbeitskräfteaustausch vor allem im Bereich der Landwirtschaft und im Dienstleistungssektor, da sich der Rekrutierungsbezirk der preuβischen Bergwerksdirektion auf die Saarregion beschränkte.67 Grenznahe Ausflugslokale, Volksfeste und Vereinstreffen wurden von beiden Nationalitäten besucht. Jedoch waren die Möglichkeiten der Freizeitgestaltung der unteren Erwerbsgruppen eingeschränkt. Freizeit konnten sich in den 1850er Jahren vor allem die Besserverdienenden leisten.68 Grenzüberschreitende Verflechtungen entstanden 66 Siehe Kapitel: 3.2.5. „Binationale Ehen: Land- und Industrieregion im Vergleich“. 67 Siehe Kapitel: 4.1.4. „Arbeiter und Arbeiterbauern“. 68 Siehe Kapitel: 5.5.1. „Freizeit ohne Grenzen? Freizeit an der Grenze vor 1871“. 38 auch auf religiöser Ebene, beispielsweise während des Kirchganges oder der Wallfahrten. Einen bleibenden Eindruck hinterließ bei den Grenzraumbewohnern die Ausstellung des Heiligen Rockes in Trier 1844.69 2.2. Ökonomische, sprachlich-kulturelle Grenzen und die Staatsgrenze Die Frage nach dem Einfluss der nationalen Grenze auf die Ausprägung des Identifikationsraumes, schlieβt die Frage nach der Bedeutung anderer Grenzformen mit ein. Politische Grenzen kamen meist ohne die Berücksichtigung bestehender ökonomischer Verflechtungen, ähnlicher kultureller Praktiken oder sprachlicher, konfessioneller Gemeinsamkeiten zustande. Auch im Saar-Mosel- Raum erstreckten sich oft die Einzugsgebiete der Märkte, der Städte und der Ortschaften des Grenzraumes über die Staatsgrenze hinweg. Ebenso dehnte sich das Kohlenrevier vom südlichen Teil der preuβischen Rheinprovinz in das Gebiet der bayerischen Pfalz und auf das lothringische Territorium aus.70 Nicht nur die Verflechtung der Wirtschaftsräume oder die Anziehungskraft der Märkte überschritten die politische Grenze, auch die Sprachgrenze stimmte im Saar-Mosel- Raum nicht mit der nationalen Grenze überein. Etwa die Hälfte des Departements Moselle gehörte zum germanophonen Teil Lothringens.71 Die Bemühungen der Regierung, Französisch als alleinige Nationalsprache zu 69 Siehe Kapitel: 6.1. „Transnationalität der Volksfrömmigkeit und religiösen Praxis im Grenzraum“. 70 Eingehend hat sich Ralf Banken in seiner auseinandergesetzt: Banken, Industrialisierung. 71 Haubrichs, Wolfgang: Über die allmähliche Verfertigung von Sprachgrenzen. Das Beispiel der Kontaktzonen von Germania und Romania, in: Grenzen und Grenzregionen - Frontières et régions frontalières - Borders and Boder Regions, (Hrsg.) Wolfgang Haubrichs, Reinhard Schneider, Saarbrücken 1994, 99-130; Haubrichs, Wolfgang: Germanophone Dialekte in Lothringen, in: Probleme von Grenzregionen: Das Beispiel Saar-Lor-Lux-Raum, Saarbrücken 1987, (Hrsg.) Wolfgang Brücher, Peter Robert Franke, 99-121. Siehe Abbildung 4. 39 Dissertation mit dieser Thematik etablieren, schlugen fehl.72 Unterrichtssprache der, von den Kindern der unteren Erwerbsgruppen besuchten Dorfschulen war Deutsch. Frankophone Grundschulen existierten im deutschsprachigen Teil Lothringens lediglich in Boulay, Bouzonville, Saint-Avold, Forbach, Sarreguemines, in Hombourg-Haut und Stiring-Wendel. Eine schulische Aneignung der französischen Sprache erfolgte daher weitestgehend nicht.73 Jedoch lebte auch im germanophonen Teil Lothringens eine beachtliche Anzahl frankophoner Einwohner. Vor allem die bürgerlichen Schichten, die Beamten, Kaufleute und Zechenbeamten der gröβeren Ortschaften sprachen Französisch.74 In „la lorraine allemande“ war Französisch daher weitestgehend die Sprache der Wohlhabenden.75 Luxemburg Perl Sierck Thionville Saarbrücken Forbach Metz Sarreguemines heutige Staatsgrenze Sprachgrenze Abbildung 4: Deutsch-französische Sprachgrenze Anfang des 20. Jhd.76 72 73 Zur französischen Sprachpolitik: Schmitt, Christian: Artikel: Sprache und Gesetzgebung, Frankreich, in: Lexikon der Romanistischen Linguistik (LRL), 5 (1990) 354-379, bes. 355f. Über die Bemühungen der lothringischen Geistlichen Deutsch als Unterrichtssprache beizubehalten: Courrier de la Moselle, 24.6.1869. Roth, Lorraine, 45f. 74 Roth, Lorraine, 46. Chip Buchheit beschreibt in ihrem Aufsatz über die Immigration in das lothringische Kohlebecken die linguistische Grenze zwischen den frankophonen Angestellten der Zechen und den Bergarbeitern. Buchheit, Immigration, 38. 75 Die Bezeichung „Deutschlothringen“ beziehungsweise „Lorraine allemande“ war vor und nach 1871 sowohl auf französischer Seite als auch auf deutscher Seite gebräuchlich. 76 Karte nach: Haubrichs, Dialekte, Karte 9. 40 Die Grenzen kultureller Praktiken, Sitten und Gebräuche sind weitaus schwieriger zu bestimmen als der Verlauf der Sprachgrenze, da unter diese Begriffe traditionelle Dorfkinderstreiche, aber auch die regionalspezifische Verehrung eines Heiligen gefasst werden können.77 Fest steht jedoch, dass Verhaltensnormen und kulturelle Praktiken stark konfessionell geprägt waren, sodass die Frage nach dem Verlauf der Brauchtumsgrenze an die Frage einer konfessionellen Grenze geknüpft werden kann.78 Auf lothringischer Seite lebten vor der Annexion nahezu ausschlieβlich Katholiken und infolge der Zuwanderung katholischer Arbeitskräfte in das Saarrevier verschob sich auch hier das konfessionelle Verhältnis zu einer deutlichen, von den unteren Erwerbsgruppen dominierten, katholischen Bevölkerungsmehrheit, die etwa Zweidrittel der Gesamtbevölkerung ausmachte.79 Die katholischen Bevölkerungsteile im Saar-Mosel- Raum einte eine auf gemeinsamen Deutungsmustern basierende, ähnliche Lebensweise. Patronatsfeste, Wallfahrten oder Fronleichnamsprozessionen, vorausgesetzt sie wurden von den Autoritäten gestattet, waren für die Menschen beiderseits der Grenze Bestandteil des Brauchtums. Zu den wichtigen Ereignissen im Festkalender zählte auch die Kirmes, die sogenannte Kirb, die in zahlreichen Ortschaften des Grenzraumes in den Monaten August, September und Oktober veranstaltet wurde und beliebtes Ausflugsziel der Grenzraumbewohner war. Diesen, von der katholischen Konfession geprägten Bräuchen, standen die Deutungsmuster und kulturellen Praktiken der protestantischen Bevölkerungsteile gegenüber. In der Saarregion lebte eine nicht nur zahlenmäβig beachtenswerte, sondern auch einflussreiche protestantische Minderheit, der auch die preuβischen Verwaltungs- und 77 78 79 Siehe beispielsweise die populärwissenschaftlichen Arbeit von Josef Ollinger. Ollinger, Josef: Geschichten und Sagen von Saar und Mosel. Traditionen und Bräuche des moselfränkischen Sprachraumes, Saarbrücken 2005. Zur mentalitäts- und gesellschaftsbildenden Kraft der beiden Konfessionen: Altermatt, Urs: Katholizismus und Moderne. Zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte der Schweizer Katholiken im 19. und 20. Jahrhundert, Zürich 1991; Hölscher, Lucian: Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland, München 2005. Bettinger, Dieter Robert: Die Verschiebung der Konfessionsverhältnisse im Saarland, in: Die Evangelische Kirche an der Saar - gestern und heute, (Hrsg.) Kirchenkreise Ottweiler, Saarbrücken, Völklingen, Saarbrücken 1975, 215ff. 41 Zechenbeamten angehörten. Vereinfacht gesagt, stand in der Saarregion der katholischen Unterschicht eine protestantische Oberschicht gegenüber.80 Als mit der Gründung des Reichslandes Elsass-Lothringen die französischen Beamten durch preuβische ersetzt wurden, verschob sich auch in Lothringen das Machtverhältnis zugunsten einer protestantischen Minderheit.81 2.3. Die Grenze zwischen Lothringen und der Saarregion vor 1871 2.3.1. Festlegung des endgültigen Grenzverlaufs von 1815-1829. Die Verträge und deren praktische Umsetzung Die Festlegung des Grenzverlaufes war ein langwieriger und für die Grenzraumbewohner schwer nachvollziehbarer Prozess. 1817 wurden die Vermessungsingenieure beauftragt, den Verlauf der, mit dem Ersten und Zweiten Pariser Frieden vom Mai 1814 und November 1815 definierten, Grenze zwischen den deutschen Staaten und Frankreich genau zu verzeichnen.82 Dennoch wandten sich noch 1818 einige Verantwortliche der Kommunen in direkter Grenznähe mit der Frage an die höheren Behörden, wo genau sich die Staatsgrenze befand.83 Definitiv konnte den Beamten jedoch erst am 23. Oktober 1829 über den Grenzverlauf Auskunft gegeben werden, als dieser zuzüglich der letzten Grenzänderungen in einer, zwischen Preuβen und Frankreich abgeschlossenen, 80 81 Auf saarpreuβischer Seite hatte der Staat nahezu eine Monopolstellung im Bereich des Bergbaus. Lediglich die Zeche Hostenbach befand sich in privatem Besitz. Mallmann, KlausMichael: Volksfrömmigkeit, Proletarisierung und preußischer Obrigkeitsstaat, in: Soziale Frage und Kirche im Saarrevier. Beiträge zu Sozialpolitik und Katholizismus im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, (Hrsg.) Peter Neumann, Saarbrücken 1984, 183-232. Zu den protestantischen Einwanderern siehe Kapitel: 6.2.1. „Kulturkampf. Ein Konfessionskonflikt als nationaler und sozialer Konflikt“. 82 ADM, 185 M 1: Anordnung der Behörden an die Vermessungsingenieure. 83 ADM,185 M 1: Anfragen der Bürgermeister aus dem Jahr 1818 an die Behörden des Departements Moselle. 42 Konvention endgültig festgelegt wurde.84 Obwohl gleichzeitig mit der Unterzeichnung des Traktates die Errichtung von Grenzmarkierungen angeordnet wurde, vergingen bis zur Aufstellung der Grenzzeichen noch einige Jahre.85 Erst 1833 wurde von der Präfektur an die Bürgermeister ein Rundschreiben, den Vorgang der Grenzmarkierung betreffend, gesandt,86 das vorschrieb, die Grenzbegehung und Grenzmarkierung unter Nennung der Anwesenden, der Örtlichkeiten und der Art sowie der exakten Stelle der Grenzsteinsetzung genauestens protokollarisch festzuhalten.87 Die Einwohner der von der Grenzberichtigung betroffenen Orte, wurden von den Behörden in recht nüchterner Weise über das neue Untertanenverhältnis informiert. Der Landrat von Merzig unterrichtete den Regierungspräsidenten von Trier darüber, dass er aufgrund „des Uebergabe Protokolls vom 3ten d. M. den Bürgermeister von Hilbringen [angewiesen habe] in Bezug auf den an Frankreich abgegebenen Meilen Scheuerwald, keine Verwaltungsakten mehr vorzunehmen und […] den Bewohnern anzukündigen, daß sie aufhören Preußische Unterthanen zu seyn und ihren Unterthanenpflichten gegen Preußen entbunden sind, dagegen nunmehr zu Frankreich gehörten und wegen ihrer künftigen Verwaltung, die weiteren Anordnungen des Herrn Unterpräfekten von Thionville zu gewärtigen hätten.“88 Die neuen sichtbaren Grenzzeichen oder das neue Untertanenverhältnis waren für das Leben der Bewohner in direkter Grenznähe weniger bedeutend als die Regelung der Nutzungsrechte, wie Schul- oder Kirchennutzung der nunmehr 84 Zweisprachiger Abdruck der definitiven Übereinkunft zwischen Preuβen und Frankreich vom 23.10.1829. Gesetzsammlung für die Königlich-Preuβischen Staaten, 1830, Nr. 6, 26-45. Vorgenommene Grenzberichtigungen: Preuβen gab an Frankreich das Dorf und das Gebiet von Manderen ab sowie die Dörfer Scheuerwald, Remelsdorff, Heining, Schreckling, Villing und einen Teil des Bannes Leidingen. Frankreich trat Preuβen eine kleine Parzelle in der Nähe der Orte Heining und Launstroff und die Gersweiler Mühle ab. Preußen behielt darüber hinaus den Besitz des Dorfes und das Gebiet von Diersdorf, welches zuvor zu Schwerdorff gehört hatte, auβerdem den Warndtwald. Zuvor war bereits eine Grenzberichtigung in dem Abkommen vom 11. Juni 1827 zwischen Frankreich und Preuβen festgelegt worden. 85 Gesetzsammlung für die Königlich-Preuβischen Staaten, 1830, Nr. 6, 26-45. ADM, 186 M: Rundschreiben des Präfekten an die Bürgermeister, 1.1.1833. 86 87 ADM, 186 M: Alle Protokolle aus dem Jahr 1833. 88 LHAK, Best. 442, Nr. 6: Landrat von Merzig an die königl. Regierung in Trier, 12.3.1830. 43 durch eine Staatsgrenze getrennten Nachbargemeinden. 1833 befragten die Behörden die Bürgermeister der Grenzorte, inwieweit sie Nutzungsrechte auf dem anderen Staatsgebiet anzumelden hätten. Jeder Ort listete daraufhin minutiös auf, ob und welches Recht er beim Nachbarn einforderte.89 Teilweise hatten die Grenzorte keine gegenseitigen Ansprüche anzumelden. In den meisten Fällen klärten die Vereinbarungen die Art der Weideflächenmitbenutzung. Einigen konnten sich die betroffenen Dörfer in keinem der dokumentierten Fälle und teilweise wurden diese Nachbarschaftsstreitigkeiten erst vor Gericht beigelegt.90 Problematisch war, dass den Parteien zwar die Möglichkeit eingeräumt wurde, „ihr gutes altes Recht“ festschreiben zu lassen, dass jedoch die Voraussetzung das gegenseitige Einverständnis der betroffenen Orte, beziehungsweise der gegenseitige Nutzen für beide Orte war. Hatte also eine Gemeinde seit jeher die Weideflächen des Nachbarortes mitbenutzt, ohne dafür eine Entschädigung zu zahlen, fiel es schwer, sich hier auf eine entsprechende Gegenleistung zu einigen. Neben der Nutzung der Weideflächen wurde innerhalb dieser Abkommen auch die Mitbenutzung der Kirchen und Schulen geregelt. Problemlos konnten sich die meisten Orte über die Nutzung der Kirchen- und Schulgebäude einigen, da sich die Gemeinden gemeinsam an den Baukosten beteiligt hatten und daher keine Gegenleistung eingefordert werden konnte.91 Neben der Nutzung der Weideflächen, Kirchen und Schulen, regelten diese Abkommen auch die Menge der Holzausfuhr, das Recht auf Sandabbau und den Holzschlag in den Wäldern.92 89 LHAK, Best. 442, Nr. 7. 90 LHAK, Best. 442, Nr. 7: Die Streitigkeiten über die Nutzungsrechte der Orte Differten und Creutzwald wurden später vor einem Gericht in Trier verhandelt. 91 Ohne Schwierigkeiten hatten die Bewohner der Gemeinde Oberesch die Mitbenutzung der Kirche, der Schule und des Friedhofes des lothringischen Ortes Schwerdorff, deren Mitbesitzer sie waren, festschreiben lassen. Die Gemeinde Waldwisse hingegen forderte von den Einwohnern des Ortes Biringen für die Mitbenutzung der Pfarrkirche, des Friedhofes und des Schulhauses eine finanzielle Entschädigung, obwohl Biringen angab, Mitbesitzer dieser Gebäude zu sein. Demgegenüber stimmten die Bewohner Leidingens einer Mitbenutzung der Kirche und der Schule durch die Bewohner Schrecklings und Heinings zu, da diese sich auch an den Kosten der Konstruktion beteiligt hatten. LHAK, Best. 442, Nr. 7: Protokolle über die Nutzungsrechte aus dem Jahr 1833. 92 LHAK, Best. 442, Nr. 7: Protokolle über die Nutzungsrechte aus dem Jahr 1833. 44 2.3.2. Die sichtbare Grenze Was auf einer Landkarte leicht als Staatsgrenze zu erkennen ist, lässt sich im Landschaftsbild nur schwer orten. Um die Saar oder Rossel als Grenzflüsse zu identifizieren, muss zunächst bekannt sein, dass diese zwei Staaten trennen. Für die Grenzraumbewohner waren diese durchgehend sichtbaren Zeichen im Vergleich zu den künstlich errichteten Markierungen sicher die prägnanteren Grenzzeichen.93 Durch die zahlreichen Herrschaftswechsel vergangener Epochen befanden sich in der Grenzzone nicht nur die Markierungen der Grenze von 1815. Noch bis in die Gegenwart stehen beispielsweise im Warndtwald etwa 90 Steine, welche die Grenzen zwischen den Besitzungen des Klosters Wadgassen und NassauSaarbrücken sowie zwischen Frankreich und Nassau-Saarbrücken markierten. Die Grenzzeichen des Jahres 1815 stellten daher für die Grenzraumbewohner einige von vielen Grenzmarkierungen dar.94 Nur bei auβenpolitischen Konflikten gewannen die Grenzsteine für die Bewohner als Symbol für das andere Herrschaftsgebiet an Bedeutung. Im Anschluss an eine Feier zum Sieg von Solferino zogen einige Einwohner Siercks an die Grenze, zerbrachen dort einen preuβischen Zollstock und setzten so den Siegeszug der französischen Truppen bis zur preuβisch-französischen Grenze fort.95 Im Alltag waren die Grenzmarkierungen oftmals eher störend. Behinderten Grenzsteine die Beackerung eines Feldes, wurden diese kurzerhand von den Grenzraumbewohnern versetzt.96 Waren die Grenzzeichen für den Alltag der Menschen von geringer Wichtigkeit, hatten diese für die deutschen und französischen Behörden als Markierung des Herrschaftsgebietes eine groβe Bedeutung. Ganze Akten füllen die 93 94 95 96 Talkenberg-Bodenstein, Renate: Grenze – Impressionen und Dimensionen, in: Grenzenlos. Lebenswelten in der deutsch-französischen Region an Saar und Mosel seit 1840, (Hrsg.) Historisches Museum Saar, Saarbrücken 1998, 462ff. Renate Talkenberg-Bodenstein wertet in ihrem Aufsatz verschiedene Landschaftsfotografien und Postkarten zu dieser Thematik aus. Rösnick, Werner: Alte Grenzsteine im Warndt, o.O. ca. 1980. Siehe auch: Götz, Nikolaus: Das Grenzsteinarchiv der Landesforstverwaltung, Saarbrücken 1990. LHAK, Best. 403 Nr. 6575: Regierungspräsident an den Oberpräsidenten, 2.8.1859, Minister der Auswärtigen Angelegenheiten an den Innenminister, 9.11.1859. Einer der, in den Berichten über den Zustand der Grenzeichen genannten Gründe für das „Verschwinden“ der Grenzsteine. ADM, 182 M; ADM, 183 M. 45 Protokolle über die Errichtung sowie Instandhaltung der Grenzsteine.97 Die Erneuerung der Grenzmarkierungen beziehungsweise deren Ausbesserung erfolgte unter Anwesenheit höherer Beamter, Sachverständiger sowie Bürgermeister und unter strenger Einhaltung eines Protokolls, welches die Prozedur genau vorschrieb.98 Weitaus deutlicher wahrnehmbar, und für den Alltag im Saar-Mosel- Raum bedeutender als die Grenzsteine, waren die Grenzgebäude und Zollämter. Die Grenze war zwar eine offene Grenze, die durch das Übersetzen von einem zum anderen Saarufer, durch das Überschreiten einer Brücke, während eines Spazierganges im Wald oder der Fahrt auf einer Straβe überquert werden konnte, ohne dass zwangsläufig der Grenzübertritt wahrgenommen wurde. Wollten die Grenzraumbewohner jedoch Waren ein- und ausführen, mussten sie wissen, an welchen Zollstationen das betreffende Produkt importiert beziehungsweise exportiert werden durfte, da die einzelnen Zollämter für unterschiedliche Produktgruppen freigegeben waren.99 Die Grenzbeamten waren eher unauffällige Zeichen der Grenzsituation. In den 1850er Jahren hatten die Grenzbeamten in der preuβischen Beamtenschaft eine so niedrige Priorität, dass deren Uniformierung im Gegensatz zu der der Postbeamten als nicht notwendig angesehen wurde.100 Darüber hinaus wurden Grenzübergänge nur unregelmäβig kontrolliert.101 Lediglich bei Kriegsgefahr ordneten die Regierungen eine verstärkte Grenzbewachung an.102 Zwar fielen die 97 ADM, 182 M; ADM, 183 M. 98 ADM, 183 M: Ausbesserung der Grenzsteine bei Spicheren, Petite-Rosselle, Forbach, Ludweiler, Schoeneck, Saarbrücken 1848-1855. 99 ADM, 6 P 8: Direktor des Zolls in Metz, 6.10.1853. Auflistung der Zollämter des Departements Moselle, die für den Import und Export von Korn, Mehl und Früchten geöffnet waren. Die Listen wurden in regelmäβigen Abständen aktualisiert. 100 So wurde im Wochenbericht der Polizeidirektion Saarbrücken vom 19.6.1852 negativ hervorgehoben, dass die mit dem Pass- und Fremden- und Meldewesen betrauten Polizisten, obwohl sie ebenso häufig wie die Postbeamten mit dem Publikum in Kontakt kommen würden, immer noch keine Uniform tragen würden. LHAK, Best. 403, Nr. 17986. 101 Beispielsweise in Cocheren und Sierck. ADM, 106 M 2: Unterpräfekt an Präfekt, 16.3.1858. 102 Die preuβische Regierung versetzte im Mai 1859 zunächst zwei, dann fünf berittene Gendarmen an die preuβisch-französische Grenze. LHAK, Best. 403, Nr. 6575: Regierungspräsident Trier an den Oberpräsidenten der Rheinprovinz, 28.4.1859; 46 Grenzbeamten in auβenpolitisch ruhigen Zeiten kaum auf, dennoch war der persönliche Kontakt der Grenzraumbewohner zu den Beamten wichtig, da die Bewohner die Grenze auch ohne Ausweispapiere passsieren durften, wenn sie dem Grenzbeamten bekannt waren.103 2.3.3. Wer Der Grenzübertritt. Die Vorschriften und die Realität an Staatsgrenzen denkt, denkt gleichzeitg an Pässe, Visa und Staatsangehörigkeitsausweise. Auch die Grenzraumbewohner mussten sich zu ihrem Leidwesen phasenweise intensiv mit dem Thema „Grenzformalitäten“ beschäftigen. Folgender Leserbrief aus dem Jahr 1855 fand daher im Grenzraum ein breites Echo: „Die Pässe und die Visa sind unserer Ansicht nach nur ein demütigender Steuermechanismus der früher oder später abgeschafft werden wird, wie die letzten materiellen Barrieren, welche die Völker trennen. Heute, gewiss, werden die Menschen in allen Ländern von den Verwaltungsgesetzen nicht, wie es die Lehre Rousseaus besagt, als von Geburt an grundsätzlich gut angesehen. Alle Reisenden sind verdächtig und werden von vorneherein als gefährlich angesehen. Wenn die Freiheit, nur aus dem Recht besteht zu kommen und zu gehen wann und wie man will, wollen wir wenigstens, dass dies Recht vollständig verwirklicht ist und man tatsächlich kommen und gehen kann wie es einem passt.“104 Hintergrund des Leserbriefes waren die in den 1850er Jahren verschärften Grenzkontrollen und Passvorschriften auf französischer Seite, die im Kontrast zu den im Ersten und Zweiten Pariser Frieden, beziehungsweise den in einem Abkommen zwischen Regierungspräsident Koblenz an den Oberpräsidenten, 21.5.1859. LHAK, Best. 403, Nr. 6575: Regierungspräsident an den königl. Oberpräsidenten, 20.5.1859. LHAK, Best. 403, Nr. 6575: Königl. Regierung Abteilung des Inneren an den Oberpräsidenten, 16.9.1859. 103 Siehe Kapitel: 2.3.3. „Der Grenzübertritt. Die Vorschriften und die Realität“. 104 Courrier de la Moselle, 8.11.1855 „Le passeport et le visa engendré du passeport ne sont guère, à notre sens, que des fiscalités vexatoires qui seront supprimées tôt ou tard, comme les dernières barrières matérielles qui séparent les peuples. Aujourd’hui encore, par tout pays, la législation administrative ne traite certes pas l’homme comme, s’il naissait bon, suivant la doctrine de Rousseau […]. Tous les voyageurs sont suspects, et considérés au préalable comme des gens dangereux. Si la liberté n’est que le droit d’aller et de venir, nous voudrions du moins que ce droit fût entier, et qu’on pût en effet aller et venir à son aise.“ 47 Preuβen und Frankreich vom 11. Juni 1827 festgelegten, unbürokratischen Einreise- und Ausreisebestimmungen standen. Der Artikel 13 des Abkommens vom 11. Juni 1827 bestimmte, dass von den Grenzraumbewohnern, die beabsichtigten, die Grenze zu überschreiten, „keine Deklaration eingefordert werden dürfe, und dass ihnen keinerlei Widerstand entgegengebracht werden solle, die gewährten Möglichkeiten, die Grenze zu überschreiten zu nutzen.“105 Eine Anweisung der französischen Regierung vom August 1816 legte fest, dass ein Grenzraumbewohner ohne Ausweispapiere die Grenze überqueren durfte, unter der Bedingung, dass er dem Grenzbeamten bekannt war.106 Im gegenteiligen Fall musste der Grenzraumbewohner eine Legitimation vorlegen, aus der die Personalien ersichtlich waren.107 Neben den preuβisch-französischen Abkommen und der französischen Verfügung aus dem Jahr 1816, bestimmte das allgemeine preuβische Passedikt vom 22. Juni 1817 die Formalitäten des Grenzübertrittes der Grenzraumbewohner. Im Gegensatz zu den anderen In- und Ausländern, die für jeden Grenzübertritt in das preußische Staatsgebiet und aus dem preuβischen Staatsgebiet heraus einen Eingangsbeziehungsweise Ausgangspass beantragen mussten, erhielten die Grenzraumbewohner bei den Landräten und den städtischen Polizeiverwaltungen Ein- und Ausgangspässe für den betreffenden Grenzraum, die ein Jahr gültig waren. Die Jahrespässe der Grenzraumbewohner waren, im Gegensatz zu denen der anderen Antragssteller, für die Grenzraumbewohner kostenlos. Die Bestimmungen räumten den Grenzbeamten bezüglich der Kontrolle der Grenzraumbewohner einen bestimmten Ermessensspielraum ein, da Personen, die ohne Pass kontrolliert wurden, aber „durch Nachweisung eines rechtmäβigen Gewerbes, Bekanntschaft 105 ADM, 185 M 1: Abdruck des bilateralen Abkommens. „Dans le cas de simple passage, aucune déclaration ne pourra être exigée, et il ne sera fait aucune opposition pour user de la faculté accordée pour passer. Il est bien entendu que la liberté de passage dont il est ici question, ne s’étendra en aucune manière aux militaires armés ni aux équipages de guerre d’aucune espèce.“ 106 ADM, 106 M 2: Schriftwechsel zwischen dem Innenminister und dem Präfekten, 29.7.1858. Betreff: Anwendung der Generalanweisung, die Pässe betreffend, vom 20.8.1816: „les Communes limitrophes (…) sont dispensés de toute formalité pour passer et repasser d’un territoire à l’autre.“ 107 ADM, 106 M 2: Schriftwechsel zwischen dem Innenminister und dem Präfekten, 29.7.1858. 48 mit zuverlässigen Inländern, oder sonst als unverdächtig sich ausgewiesen“ hatten, ohne Jahrespass die Grenze passieren durften.108 Passvorschriften hinderten den Grenzverkehr zu diesem Zeitpunkt nicht. Erst als im September 1851 eine Anordnung der französischen Regierung vorschrieb, dass ausländische Reiselegitimationen mit einem Visum der französischen Botschaft versehen sein mussten, wurde der Grenzübertritt für die Bewohner des Saar-Mosel- Raumes phasenweise komplizierter.109 Die Bestimmung wurde bis 1854 in der Regel auf die Arbeiter angewandt, die massenweise nach Paris strömten. Nur der Amtsantritt eines Polizeikommissars konnte den Grenzraumbewohnern Unannehmlichkeiten bereiten,110 da einige Beamte zu Beginn ihrer Dienstzeit die Vorschriften zu streng auslegten und so entgegen der gängigen Praxis handelten.111 Mit der Landung französischer Truppen auf der Krim im September 1854, wurden die Grenzkontrollen deutlich verschärft. Auch die Bewohner der Rheinprovinz waren nun von den strengen Einhaltungsvorschriften der Visumspflicht betroffen und die Klagen über den erschwerten Grenzübertritt häuften sich.112 Die Vorschriften wurden für die Grenzraumbewohner, die in direkter Grenznähe wohnten, immer noch tolerant ausgelegt. Zu einer merklichen Behinderung des kleinen Grenzverkehrs kam es nicht. 108 Allgemeines Pass-Edikt für die preuβische Monarchie vom 22. 06. 1817, in: Gesetzsammlung für die Königlich-Preuβischen Staaten, 152-160, besonders: Erster Titel, § 4 (Sonderbestimmung Grenzraumbewohner, Eingangspaβ), Zweiter Titel, § 10 (Sonderbestimmung Grenzraumbewohner Ausgangspaβ), Vierter Titel § 16 (Visierung der Pässe), § 23 (Zu den Stempel- und Ausstellungsgebühren), § 6 (Maβnahmen bei der Nichtbeachtung des Passediktes). 109 LHAK, Best. 403, Nr. 6780: Königl. Regierungsabteilung des Inneren an den Minister des Inneren, 12.4.1854. 110 LHAK, Best. 442, Nr. 10212: Auskunft zur Anforderung eines Visums eines preuβischen Gesandten für französische Reisende, Königl. Polizeikommissar an das königl. Landratsamt, 27.9.1854. 111 LHAK, Best. 442, Nr. 10212: Landrat von Saarbrücken an die königl. Regierung in Trier, 15.5.1854. Bericht vom 10.5.1854; LHAK, Best. 442, Nr. 10212: Landrat von Saarbrücken an die königl. Regierung in Trier, 14.6.1854. LHAK, Best. 442, Nr. 10212: Staatsministerium für auswärtige Angelegenheiten an den königl. Staatsminister und Minister des Inneren, 9.6.1855. 112 49 Deutlich erschwert wurde hingegen der kleine Grenzverkehr infolge der verschärften Passvorschriften nach dem Attentat Orsinis am 14. Januar 1858 auf Napoleon III. Die Präfekten beziehungsweise Unterpräfekten der Grenzdepartements und Grenzarrondissements erhielten im Anschluss an das Attentat die Anweisung, die Grenzkontrollen zu verstärken und strengstens darauf zu achten, nur Ausländern den Grenzübertritt zu erlauben, deren Pässe mit dem Visum eines französischen Konsuls oder Botschafters versehen waren.113 Nach der neuen Vorschrift musste der Antrag persönlich eingereicht und laut einem Erlass vom 1. März 1858 für jede Reise nach Frankreich neu gestellt werden.114 Hatte die französische Regierung die Grenzraumbewohner zunächst von den Bestimmungen ausgenommen, galt ab dem 10. März 1858 die Visumpflicht für alle Ausländer, die nach Frankreich einreisen wollten.115 Die Folgen für die Grenzraumbewohner waren dramatisch. Der Handel wurde behindert, die ausländische Kundschaft blieb vermehrt aus, der Fremdenverkehr lieβ nach, und die zahlreichen Eltern, die ihre Kinder in lothringischen Internaten untergebracht hatten, konnten diesen keinen Besuch abstatten.116 Von dem weitestgehend barrierefreien Alltag der Grenzraumbewohner war nicht mehr viel zu spüren. Die lokalen Behörden versuchten bei den Ministerien eine Lockerung der Passvorschriften für die 113 114 115 116 ADM, 106 M 2: Unterpräfektur Sarreguemines an den Präfekten, 12.2.1858. Der Unterpräfekt versichert der Regierung, dass die Maβnahmen, die Kontrolle der Visa betreffend, strengstens ausgeführt werden. LHAK, Best. 403, Nr. 6780: Minister des Inneren an die königl. Regierungen zu Köln, Koblenz, Aachen und Düsseldorf, 27.4.1858. LHAK, Best. 403, Nr. 6780: Minister des Inneren an den königl. Polizeipräsidenten, 15.4.1858. Zuvor war das Visum ein Jahr gültig. ADM, 106 M 2: Innenminister an Präfekt, 4.10.1853. Erlass vom 1. März 1858: Die Visumspflicht gelte nicht für die Grenzbewohner. Hier würde immer noch der Artikel 25 der Generalanweisungen über das Passwesen vom August 1816 gelten, da die Grenzraumbewohner täglich pendeln würden und traditionell gute Kontakte zwischen den Bewohnern bestehen würden. ADM, 106 M 2: Innenminister an den Präfekten, 1.3.1858. Aufhebung der Ausnahmeregelung. ADM, 106 M 2: Innenminister an den Präfekten, 10.3.1858. Berichte der Handelskammer und des Generalrates Moselle. ADM, 106 M 2: Handelskammer von Metz an den Innenminister, 28.3.1858. ADM, 3 N 5: Conseil Général de la Moselle. Sitzung vom 28. 8. 1858. 50 Grenzraumbewohner zu erbitten – zunächst ohne Erfolg.117 Nicht nur die Grenzraumbewohner hatten Schwierigkeiten, sich mit den neuen, strengen Passvorschriften zu arrangieren, auch die Grenzbeamten und die Behörden waren mit den neuen strengen Grenzkontrollen und den sich teilweise widersprechenden Vorgaben aus Paris merklich überfordert.118 Auf den Eisenbahnstrecken war nur eine unzureichende Kontrolle der Reisenden möglich. Arbeiter, die ins Innere Frankreichs reisen wollten, um dort Arbeit zu suchen, fuhren anstatt von Saarbrücken nach Forbach, einfach von Saarbrücken nach Cocheren und Sierck, da dort die Überwachung nicht so intensiv war.119 Die strengen Passvorschriften waren mit dem Alltag an der Grenze nicht kompatibel. Bereits im Juli 1858 hatte die französische Regierung für die Bürger von Saarlouis die Visumspflicht aufgehoben.120 Schlieβlich gab der Innenminister am 5. November 1858 – acht Monate nach Verschärfung der Vorschriften- bekannt, dass allen Grenzraumbewohnern gestattet sei, bis Metz ohne Visum nach Frankreich einzureisen. Die Einreise war nur an den Besitz eines gültigen Passes gebunden.121 Phasenweise versuchte die französische Regierung die 117 ADM, 106 M 2: Schriftwechsel zwischen dem Innenminister und dem Präfekten, 23.10.1858. ADM, 106 M 2: Handelskammer von Metz an den Innenminister, 28.3.1858. ADM, 3 N 5: Conseil Général de la Moselle. Sitzung vom 28. 8. 1858. Absprache über mögliche Einflussnahmen auf die französische Regierung zu den Passvorschriften: LHAK, Best. 403, Nr. 6780: Minister des Inneren an die königl. Regierungen zu Köln, Koblenz, Aachen und Düsseldorf, 27.4.1858. 118 Im Februar 1858 erkundigte sich der Forbacher Grenzkommissar beim Minister des Inneren danach, ob die Personen aus der bayerischen Pfalz immer noch von der Visumspflicht befreit seien. ADM, 106 M 2: Forbacher Grenzkommissar an den Innenminister, 27.2.1858. Obwohl der Innenminister bereits im März 1858 in einer entsprechenden Anordnung an die Präfekten die Ausnahmeregelung aufgehoben hatte, fragte auch der Präfekt des Departements Moselle im Mai 1858 beim Innenminister nach, ob die Ausnahmeregelung noch gelte. ADM, 106 M 2: Präfekt an den Minister des Inneren, 2.5.1858. ADM, 106 M 2: Unterpräfekt an Präfekt, 16.3.1858. Im Forbacher Bahnhof war ebenfalls keine ausreichende Kontrolle der Reisenden möglich, da die Passkontrolle in einem Gepäckraum stattfand, der auch zur Stadt hin geöffnet war. Man konnte sich also leicht einer Passkontrolle entziehen. ADM, 106 M 2: Unterpräfekt an den Präfekten, 16.3.1858. ADM, 106 M 2: Schriftwechsel zwischen dem Innenminister und dem Präfekten, 29.7.1858. 119 120 121 ADM, 106 M 2: Schriftwechsel des Innenministers mit dem Präfekten, 5.11.1858. 51 Grenzbestimmungen wieder zu verschärfen, aber ohne nennenswerte Folgen für die Grenzraumbewohner.122 Hatte die französische Regierung Versuche unternommen, den Grenzübertritt zu erschweren, war die preuβische Regierung darauf bedacht, diesen an möglichst wenige Bedingungen zu knüpfen. Vorschläge einiger Behörden, die Passvorschriften in den Phasen intensivierter Grenzabsicherung auf französischer Seite ebenfalls zu verschärfen, wurden von den Regierungsstellen abgelehnt.123 Ebenso legte das Gesetz über das Passwesen des Norddeutschen Bundes, welches das Allgemeine Passedikt am 1. Januar 1868 ersetzte, unkomplizierte Ein- und Ausreisebestimmungen fest.124 Laut Gesetz benötigten weder Bundesangehörige noch Ausländer Reisepapiere. Ebenso sollte „von Ausländern weder beim Eintritt, noch beim Austritt über die Grenze des Bundesgebietes, noch während ihres Aufenthalts oder ihrer Reisen innerhalb desselben, ein Reisepapier gefordert werden.“ Bundesangehörige und Ausländer waren jedoch dazu verpflichtet, sich auf amtliche Aufforderung hin, bezüglich ihrer Person genügend ausweisen zu können.125 Eine Ausnahmeregelung für die Grenzraumbewohner war aufgrund dieser liberalen Ein- und Ausreisebestimmungen nicht mehr notwendig. Die im einleitend zitierten Leserbrief geäuβerte Wunschvorstellung eines barrierelosen Alltags war für die Grenzraumbewohner in der hier untersuchten Periode 122 123 124 125 LHAK, Best. 442, Nr. 10212: Königl. Polizeidirektor von Trier an die königl. Regierung in Trier, 18.5.1861. Informationsaustausch über die verschärften Einreisebestimmungen nach Frankreich. Die preuβische Regierung lehnte den Vorschlag des Aachener Regierungspräsidenten ab, der anregte als Repressalie auch von den französischen Reisenden ein Visum der preußischen Gesandtschaft einzufordern. „Auf die Entscheidung der französischen Regierung würde eine solche Maßregel ohne Einfluß bleiben, die Letztere würde nur zur Belästigung der Reisenden dienen und jedenfalls eines Vortheils für den Preußischen Staat oder dessen Unterthanen entbehren.“ Es sei ganz im Gegenteil für spätere Verhandlungen von Vorteil, wenn man der französischen Regierung gegenüber anführen könnte, dass man auf eine Belästigung der französischen Reisenden verzichtet habe. LHAK, Best. 442, Nr. 10212: Staatsministerium für auswärtige Angelegenheiten an den königl. Staats- und Minister des Inneren, 9.6.1855. Beratung über die Änderungen des Allgemeinen Passediktes: LHAK, Best. 442, Nr. 10212: Minister des Inneren an sämtliche königl. Regierungen, 18.7.1861. Befragung der Landräte. LHAK, Best. 442, Nr. 10212: Landrat von St. Wendel an die königl. Regierung in Trier, 3.9.1861. Landrat von Wittlich an die königl. Regierung in Trier, 16.9.1861. LHAK, Best. 442, Nr. 10212: Landrat von Saarbrücken an die königl. Regierung in Trier, 22.9.1861. Bundesgesetzblatt des Norddeutschen Bundes, Nr. 5, 33-35. 52 weitestgehend Realität. Trotz der zeitweise verschärften Einreisebedingungen nach Frankreich behinderten die Grenz- und Passformalitäten die Entwicklung der grenzüberschreitenden Beziehungen nicht.126 2.4. Die Verwaltung und die politische Grenze. Behördliche Zusammenarbeit im Grenzraum Im August 1851 schrieb der Landrat von Saarbrücken an den Regierungspräsidenten von Trier, dass er vor einigen Tagen nach Sarreguemines gereist sei, um den, in eine andere Stadt versetzten Unterpräfekten zu verabschieden. Der Landrat traf den ehemaligen Unterpräfekten schon nicht mehr an. Jedoch konnte er den neuen Amtsinhaber begrüβen, der sich im selben Gasthof befand. Bei einer Unterredung sprach der Landrat den Wunsch aus, die bisherigen freundschaftlichen Beziehungen fortzusetzen, woraufhin sich der neue Unterpräfekt dazu bereit erklärt habe, den „diesseitigen Anträgen möglichst zu entsprechen.“127 Der Kontakt zwischen den Sarregueminer Unterpräfekten und den Landräten war so intensiv, dass die Unterpräfektur von Sarreguemines eine Kompetenzerweiterung beim Generalrat des Departements Moselle beantragte und diese 1854 aufgrund des engen Kontaktes des Unterpräfekten zu ausländischen Behörden und Industriellen auch erhielt.128 Jahrelang hatte sich der Unterpräfekt 126 127 128 Dieser Kontrast zwischen dem Anspruch der staatlichen Grenzkontrolle und deren Umsetzung in der Praxis wurde auch in anderen Grenzräumen nachgewiesen: Sauer, Edith: Zwischen dichter und grüner Grenze. Grenzkontrollen in der vormärzlichen Habsburgermonarchie, in: Grenzöffnung, Migration, Kriminalität, (Hrsg.) Arno Pilgram, Baden-Baden 1993, 169-177; Heindl, Waltraud; Sauer, Edith (Hrsg.): Grenze und Staat. Paßwesen, Staatsbürgerschaft, Heimatrecht und Fremdengesetzgebung in der österreichischen Monarchie (1750-1867), Wien, Köln, Weimar 2000; Sauer, Edith: Straße, Schmuggel, Lottospiel. Materielle Kultur und Staat in Niederösterreich, Böhmen und Lombardo-Venetien im frühen 19. Jahrhundert, Göttingen 1989; Stauber, Reinhard: Der Zentralstaat an seinen Grenzen. Administrative Integration, Herrschaftswechsel und politische Kultur im südlichen Alpenraum. 1750-1820, Göttingen 2001. LHAK, Best. 442, Nr. 3422. Courrier de la Moselle, 15.9.1859 53 von Sarreguemines für diese Kompetenzerweiterung eingesetzt.129 Erleichtert wurde die Kommunikation der Unterpräfektur und der Landräte von Saarbrücken und Zweibrücken zunächst durch eine telegraphische Verbindung, die jedoch im Laufe der 1860er Jahre unterbrochen worden war.130 Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Behörden funktionierte jedoch auch auf herkömmlichem Weg über Korrespondenz und persönliche Treffen.131 Besonders in der Verbrechensbekämpfung arbeiteten die Behörden zusammen. Viele Delinquenten hofften, durch die Flucht auf die andere Seite der Grenze, einer Verfolgung durch das Gesetz zu entgehen oder verlegten ihren „Wirkungskreis“ auf das andere Staatsgebiet, um länger unerkannt zu bleiben.132 Sich dieser Problematik bewusst, versuchten die Behörden des Grenzraumes, gemeinsam gegen die Straftäter vorzugehen. So sprachen die preuβischen Landratsämter und französischen Unterpräfekturen nicht nur allgemein über das Thema „Verbrechensbekämpfung“, grenzüberschreitende sondern Hilfeleistungen, gaben beispielsweise sich auch tauschten konkrete Behörden Informationen über verdächtige Personen aus.133 Ebenso kooperierten die 129 So wurde bereits 1856 dem Conseil Général de la Moselle der Antrag zur Prüfung vorgelegt: ADM, 3 N 5: Conseil Général de la Moselle. Session de 1850. Procés-Verbaux des Délibérations 1854-1858. Antrag des Unterpräfekten von Thionville und Sarreguemines des Jahres 1856. Erneute Anträge zur Anhebung der Klasse: ADM, 3 N 10: Collection des procèsverbaux imprimés des délibérations du Conseil général 1863, 28.8.1863: Unterpräfektur von Sarreguemines – Anhebung der Klasse. ADM, 3 N 11: Collection des procès-verbaux imprimés des délibérations du Conseil général 1864, August 1864. 130 So forderte der Conseil d’arrondissement von Sarreguemines 1866 die Wiedereinrichtung einer telegraphischen Verbindung. ADM, 8 N 11: Extrait du Registre des délibérations du Conseil d’arrondissement, Session de 1866. Trotz der Notwendigkeit eines grenzüberschreitenden telegraphischen Kontaktes, war die Verbindung 1869 immer noch unterbrochen. ADM, 8 N 11: Extrait du Registre des délibérations du Conseil d’arrondissement, Session de 1869. Dieses Problem wurde auch in der Tagespresse diskutiert. Courrier de la Moselle, 15.3.1855. Courrier de la Moselle, 14.12.1869. Besuch des Unterpräfekten von Thionville beim Landrat von Merzig, um mit diesem unter anderem über die Bekämpfung des Schmugglerproblems zu sprechen: LHAK, Best. 442, Nr. 3422: Landrat von Merzig an den Regierungspräsidenten von Trier, 3.10.1851. Andere Fälle behördlicher Zusammenarbeit: LAS, Best. Landratsamt Saarbrücken, Nr. 1: Brief des Unterpräfekten an den Landrat von Saarbrücken, 23.6.1865; Brief des Unterpräfekten an den Landrat von Saarbrücken, 19.2.1866. ADM, 2 OP 361: Brief des Bürgermeisters von Forbach an den Unterpräfekten von Sarreguemines, in dem er Informationen über eine Person 131 132 133 54 Staatsanwaltschaften, wenn eine Flucht der Straftäter auf das andere Staatsgebiet befürchtet wurde.134. Notwendig war die Zusammenarbeit der Polizeibehörden bei der Verhaftung von Straftätern auf fremdem Hoheitsgebiet, da die Festnahme oder Verfolgung eines Straftäters nur auf eigenem Territorium gestattet war. Die Grenzsituation erforderte es, zur erfolgreichen Verbrechensbekämpfung in manchen Fällen diese geltenden Bestimmungen zu missachten. Sich dieser Tatsache bewusst, räumten die Regierungsbehörden der erfolgreichen Festnahme eines Gesetzesbrechers eine höhere Priorität ein als der Verhinderung von Verletzungen des Hoheitsgebietes. In keinem der überlieferten Fälle einer unrechtmäβigen Festnahme wurden gegen die Beteiligten Disziplinarstrafen verhängt.135 134 135 weiterleitet, welche er vom Landrat in Saarbrücken erhalten hatte, Januar 1852. Kooperation der Polizeibehörden: Saarbrücker Zeitung, 26.10.1866. Siehe ebenso: LAS, Best. Landratsamt Saarbrücken, Nr. 1: Polizeikommissar St. Johann an den Landrat von Saarbrücken, Anfang 1855; Polizeikommissar an den Landrat von Saarbrücken, 16.2.1855. Saarbrücker Zeitung, 25.6.1869, LAS, Best. Landratsamt Saarbrücken, Nr. 1: Bürgermeister von Forbach an den Landrat von Saarbrücken, Anfang Januar 1855. Saarzeitung 16.12.1851: Bekanntmachung des Oberstaatsanwaltes. Fahndungsaufruf nach einem Franzosen, der in Lothringen einen Raub begangen hatte. Andere Fälle der Kooperation: Saarzeitung, 7.1.1851, 30.10.1851. Das Verfahren gegen einen Feldhüter, der einen Franzosen auf französischem Hoheitsgebiet verfolgt und festgenommen hatte, wurde eingestellt. LHAK, Best. 442, Nr. 1175: Königl. Regierung an den Oberprokurator in Saarbücken, 10.9.1857. Der Minister für Auswärtige Angelegenheiten an die königl. Regierung, 10.9.1857. Ebenso ohne Strafverfolgung kamen zwei Feldhüter aus Rehlingen davon, die den französischen Gendarmen bei der Festnahme eines aus Frankreich geflüchteten Straftäters auf preuβischem Boden geholfen hatten. LHAK, Best. 442, Nr. 1175: Landrat von Saarlouis an die königl. Regierung Trier, 22.8.1855; Oberprokurator von Saarbrücken an die königl. Regierung in Trier, 1.9.1855. Informationsaustausch über die Verhaftung eines französischen Deserteurs im preuβischen Kleinblittersdorf durch einen französischen Offizier: LHAK, Best. 442, Nr. 1175: Landrat von Saarbrücken an die königl. Regierung Trier, 3.5.1856. 55 2.5. Die Grenze zwischen Lothringen und der Saarregion nach 1871 Im Februar 1871 wurde in Paris die Abtretung des Elsass und des Departements Moselle an das Deutsche Reich beschlossen.136 Zusammengeschlossen im Reichsland Elsass-Lothringen, wurden beide Gebiete am 9. Juni 1871 juristisch an das Deutsche Reich angegliedert. Ein Zusatzparagraph des Friedensvertrages vom Februar 1971 gewährte den Bewohnern Elsass-Lothringens das Optionsrecht, das ihnen einräumte, die französische Staatsbürgerschaft behalten zu dürfen, wenn sie bis zum 1. Oktober 1872 ihren Wohnsitz nach Frankreich verlegten. In Teilen Lothringens, besonders in Metz setzte eine Auswanderungswelle ein, der sich auch die ehemaligen französischen Beamten anschlossen.137 Innerhalb des Deutschen Reiches nahm das Reichsland eine Sonderstellung ein. Es war kein eigenständiger Bundesstaat, sondern als „Reichsland“ direkt dem Kaiser unterstellt. Die Annäherung an den Status eines Bundesstaates schritt zwar durch die späteren Verfassungsreformen weiter voran, wurde jedoch nie vollständig erreicht.138 Nicht nur das Gebilde Elsass-Lothringen nahm innerhalb des Deutschen Reiches eine Sonderstellung ein, auch die Staats- beziehungsweise Landesangehörigkeit ihrer Einwohner unterschied sich von der der übrigen Reichsangehörigen. Die Reichsangehörigkeit setzte die Staatsangehörigkeit in einem Bundesstaat voraus. Da Elsass-Lothringen kein Staat war, existierte keine elsass-lothringische Staatsangehörigkeit, sodass die Elsass-Lothringer unmittelbare Reichsangehörige waren und die Elsass-Lothringische Landesangehörigkeit besaßen.139 Obwohl die Partikularität Lothringens im Deutschen-Reich deutlich präsent war und auch der Aufwand, mit dem die Grenzmarkierung zwischen Elsass- 136 Dieses Kapitel folgt weitestgehend dem Standardwerk von François Roth: Roth, Lorraine. 137 Roth, Lorraine, 415ff. 138 Eingehend mit der Sonderstellung Elsass-Lothringens beschäftigt sich: Preibusch, Sophie Ch.: Verfassungsentwicklung im Reichsland Elsaβ-Lothringen 1871-1918. Integration durch Verfassungsrecht?, Berlin 2006. Fischbach, Oscar: Das öffentliche Recht des Reichslandes Elsaβ-Lothringen, Tübingen 1914, 20ff. 139 56 Lothringen und Preuβen vorgenommen wurde, mit dem Aufwand der Grenzsteinsetzung zwischen Preuβen und Frankreich vergleichbar war, trennte die Grenzraumbewohner zwischen 1871 und 1918 keine Staatsgrenze mehr.140 Die Grenzübergänge verloren ihre vorherige Bedeutung und wurden zu Symbolen einer anderen Epoche.141 140 141 Nachdem die Landräte befragt wurden, ob sie Vorschläge zur Grenzkorrektur zwischen Lothringen und Preuβen hätten, begann die Grenzbesichtigung mit dem genau protokollierten Vorgang der Aufstellung der Grenzsteine. Auch die Instandhaltung der Grenzmarkierung wurde hier mit ebensoviel Sorgfalt bedacht wie zu Zeiten der Staatsgrenze. LHAK, Best. 442, Nr. 3809: Landrat Saarburg an die königl. Regierung zu Trier, 14.1.1871. Landrat Saarlouis an die königl. Regierung zu Trier, 1.2.1871. Zur Aufrichtung und Instandhaltung der: ADBR, 71 AL 8 (Elsass-Lothringen/Preuβen), ADBR, 71 AL 9 (Elsass-Lothringen/Bayern). Wegen seiner Lage an der „alten“ Grenze zwischen Lothringen und Preuβen blieb das Gasthaus zur „Historischen Goldenen Bremm“ auch zur Reichslandzeit ein beliebtes Ausflugsziel. Talkenberg-Bodenstein, Grenze, 476. 57 3. Familie an der Grenze 3.1. Die Familienformen und die Grenze Jede Familienform verfügt über einen unterschiedlich groβen Aktionsradius. Wie häufig ein Grenzraumbewohner mit der Grenzsituation konfrontiert wurde und wie wahrscheinlich ein grenzüberschreitender Kontakt war, hing demnach auch von seinem familiären Umfeld beziehungsweise sozialen Kontext ab. Das bäuerliche Familienleben war von einer Einheit zwischen Arbeitsplatz und Wohnstätte geprägt. Produktion, Konsumption und Familienleben spielten sich auf dem Hof ab.142 Grenzüberschreitend war der Aktionsradius zwischen Wohn- und Arbeitsbereich der bäuerlichen Familie nur dann, wenn diese Ackerflächen auf der anderen Seite der Grenze besaβen, oder Felderzeugnisse auf den Märkten des Nachbarn zum Verkauf anboten. In den Handwerkerfamilien waren Arbeitsbereich und Wohnstätte in ähnlicher Weise eng miteinander verbunden. Demgegenüber bestimmte das Leben der bürgerlichen Familien und der Familien industrieller Lohnarbeiter eine Trennung von Wohnstätte und Arbeitsplatz. Händler, Lehrer, Berg- und Fabrikarbeiter mussten gleichermaβen zur Ausübung ihrer Arbeit ihren Wohnbereich verlassen. In der Industrieregion Forbach/Saarbrücken kamen die Menschen daher durchschnittlich häufiger mit den Nachbarn von der anderen Seite der Grenze in Kontakt als im ländlichen Raum um Sierck und Perl. Auch ohne Grenzübertritt entstanden im familiären Umfeld durch nicht blutsverwandte Personen, die in den Haushalten lebten, transnationale Verflechtungen. In den Familienverband der bäuerlichen Familie war das Gesinde eingebunden, Lehrlinge und Gesellen waren ebenso eng mit den Haushalten der Handwerkermeister Hausangestellte, verbunden, und wenn es die bürgerlichen die Wohnsituation Familien zulieβ, beschäftigten nahmen die Arbeiterhaushalte Kostgänger auf. Die Stellenanzeigen in den Zeitungen belegen, 142 Das folgende Kapitel bezieht sich auf: Siedler, Reinhard: Sozialgeschichte der Familie, Frankfurt a. M. 1987. 58 dass im Saar-Mosel- Raum diese zugezogenen neuen Haushaltsmitglieder auch von der anderen Seite der Grenze stammten. Vor und nach dem Deutsch-Französischen Krieg wurden Mägde, Dienstmädchen, Lehrlinge und Gesellen grenzüberschreitend per Zeitungsannonce gesucht.143 Transnationale Verbindungen entstanden ebenfalls durch die Grenzpendler, die als Kostgänger innerhalb der Woche in der Nähe ihrer Arbeitsstätten wohnten. Eine weitere Form grenzüberschreitender familiärer Verflechtungen entwickelte sich durch die wechselseitige mehrmonatige Aufnahme von Kindern in den Familienverband. Dieser Kinderaustausch wurde von zahlreichen bürgerlichen Familien des Grenzraumes als Möglichkeit in Anspruch genommen, die Fremdsprachenkenntnisse ihres Nachwuchses zu perfektionieren. Die Suche nach einer entsprechenden Familie erfolgte über Zeitungsannoncen.144 143 144 In den untersuchten sechs Monaten des Jahrganges 1863 des Courrier de la Moselle wurden grenzüberschreitend sieben Lehrlinge gesucht. Siehe auch u. a.: Stellenanzeigen deutschfranzösische Kindermädchen: Courrier de la Moselle, 20.1.1859, 2.10.1869, 4.1.1870, 25.7.1872; Saarbrücker Zeitung: 15.4.1869; Stellenanzeigen Gesellen: Saarbrücker Zeitung 14.8.1869, 19.8.1869, 13.9.1869, 22.1.1870, 16.2.1870. Courrier de la Moselle, 11.2.1869: Austausch von Heranwachsenden aus „gutem Hause“ in Saarbrücken und Metz. Courrier de la Moselle, 7.5.1863: Kapitain des preußischen Zolls in Saarbrücken möchte seinen Sohn (12) nach Frankreich in eine Familie geben, damit er Französisch lernt. Zum Austausch würde die Familie einen gleichaltrigen Jungen oder ein Mädchen aufnehmen. Saarbrücker Zeitung, 14.7.1871: 15-jähriger Lehrerssohn aus ArsLaquenxy soll während eines mehrmonatigen Aufenthalts Deutsch lernen. Die Lehrerfamilie will im Gegenzug einen deutschen Jungen oder Mädchen aufnehmen. Saarzeitung, 10.7.1851: Familie aus Amiens sucht achtbare Familie mit etwa 12-jährigem Sohn, um ihren 12-jährigen Sohn tauschweise für ein bis zwei Jahre aufzunehmen. Saarbrücker Zeitung, 18.11.1871: Familie in Courcelles-Chaussy will ihre zwei Jungen (11/15) in eine deutsche Familie geben. Gegenleistung ist die Aufnahme von deren Kindern zur Erlernung der französischen Sprache. Saarbrücker Zeitung, 13.7.1872: Ein französischer Junge wird gesucht, der in einer deutschen Familie wohnen und Deutsch lernen will. Gegenleistung wäre die Aufnahme eines Mädchens, das ebenfalls zwölf Jahre alt sein sollte. 59 3.2. Familiäre Verflechtungen im Grenzraum Am 10. Oktober 1872 fand im lothringischen Forbach die Hochzeit zwischen dem Lehrer Dr. Atorf aus Brilon bei Krefeld und Fräulein Emilie Rimsgern aus Forbach statt. Wie der Redakteur der Forbacher Zeitung meinte, hatte hier „Hymens Band […] zwei Herzen verschiedener Nationalitäten umschlungen.“ Jedoch hatte der Journalist nicht nur Positives zu berichten, denn, “diesem feierlichen Acte [hatten] eine größere Anzahl hiesiger Bewohner aus offen liegenden Gründen nicht bei[ge]wohnt.“ Dennoch resümiert er: „Wiederum ein Schritt - wenn auch nur ein kleiner - weiter in der Germanisierung des Reichslandes!“145 Der Artikel beschreibt nicht nur die angespannte Stimmung nach der Annexion, sondern weist auch auf die Bedeutung binationaler Heiraten als Integrationsfaktor hin. Das Heiratsverhalten gilt in den Sozialwissenschaften als der wichtigste Indikator für den Integrationsgrad von Personengruppen.146 Nicht nur der Integrationsgrad kann durch eine Analyse des Heiratsverhaltens bestimmt werden, sie gibt ebenso Aufschluss über die Mechanismen der Integration beziehungsweise Segregation. Das folgende Kapitel baut auf eine Analyse des Heiratsverhaltens der Bewohner 18 grenznaher Orte des Saar-Mosel- Raumes auf und deckt den Zeitraum 1810 bis 1890 ab.147 Regionaler Schwerpunkt der Untersuchung ist die von der Landwirtschaft geprägte Gegend in der Nähe des Dreiländerecks Deutschland, Frankreich, Luxemburg sowie die Industrieregion um die Orte Forbach und Saarbrücken. 145 Saarbrücker Zeitung, 18.8.1872; Forbacher Zeitung, 13.10.1872. 146 Esser, Aspekte, 221. 147 Siehe: Abbildung 5. 60 Luxemburg Tettingen Faha Borg Perl Kirsch-lès-Sierck Eft Montenach Ludweiler Groβrosseln Grindorff Lauterbach Oberdorff Merten/Bibling Saarbrücken Schoeneck Creutzwald Metz Carling/ L’Hôpital Stiring Wendel Forbach Morsbach Abbildung 5: Untersuchte Orte: Heiratsverhalten 3.2.1. Rechtliche Grundlage binationaler Eheschlieβungen Stehen in der Gegenwart Heiraten zwischen deutschen und französischen Staatsbürgern keine rechtlichen Hindernisse im Weg, war eine Eheschlieβung zwischen Preußen und Franzosen in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit gesetzlichen Auflagen verbunden. Auf preuβischer Seite galt zunächst die „Verordnung wegen der in den königlich Preuβischen Staaten erfolgten Trauungen von Ausländern mit Innländerinnen“ vom 28. April 1841. Laut dieser Verordnung musste jeder Ausländer, der eine Preuβin heiraten wollte, ein von den Heimatbehörden beglaubigtes Attest besitzen, welches dem Heiratswilligen bescheinigte, dass ihm nach den Gesetzen seines Landes erlaubt sei, eine Ehe zu schlieβen und einer 61 späteren Mitnahme der Ehefrau sowie der Kinder in seine Heimat nichts im Weg stehe.148 Am 13. März 1854 wurde diese Verordnung mit dem „Gesetz betreffend die Zulassung von Ausländern zur Eingehung einer Ehe in den königlich Preuβischen Staaten“ dahingehend erweitert, dass die in dem Gesetz des Jahres 1841 beschriebenen Bestimmungen nun auch für die in Preuβen geschlossenen Ehen zwischen Ausländern galten.149 Schwierigkeiten bereitete die Erbringung eines Attestes der französischen Heimatbehörde. Franzosen bedurften grundsätzlich zur Eheschlieβung keiner besonderen Zustimmung der Behörden, sodass die französischen Ämter auch keine Atteste für Heiraten im Ausland ausstellten. Im Grenzraum nahmen die preuβischen Geistlichen daher auch ohne die erforderlichen Bescheinigungen Trauungen vor.150 Zumal sich notfalls die Heiratswilligen auch ohne Attest von einem französischen Priester trauen lassen konnten. Die Heiratspraxis nahm die folgenden gesetzlichen Veränderungen voraus. So verfügte die preuβische Regierung am 2. April 1858, mit dem Verweis auf die Schwierigkeiten, eine derartige Bescheinigung zu erhalten, dass französische Untertanen von der Erbringung des Attestes der Heimatbehörde befreit seien. Der heiratswillige Franzose sollte nun lediglich mit einem, von den französischen Behörden ausgestellten, Pass bezeugen, dass er französischer Staatsbürger sei.151 Der Eheschlieβung zwischen preuβischen und französischen Grenzraumbewohnern standen demnach zunächst in der Praxis, dann auch gesetzlich keine Hindernisse im Weg. 148 Gesetzsammlung für die Königlich-Preuβischen Staaten, 1841, Nr. 10, 121. 149 Gesetzsammlung für die Königlich-Preuβischen Staaten, 1854, Nr. 13, 123. 150 LHAK, Best. 403, Nr. 8774: Minister der Geistlichen und Unterrichtsangelegenheiten an den Oberpräsidenten, 19.4.1844. Sammlung der für die königlich preuβische Rhein-Provinz seit dem Jahre 1813 hinsichtlich der Rechts- und Gerichtsverfassung ergangenen Gesetze, Verordnungen Ministerial-Rescripte, Bd. 12 (1858-1864), 13-14. Verfügung vom 2.4.1858 betreffend die „Dispensation der französischen Unterthanen von der Beibringung des Attestes ihrer Heimatbehörde behufs ihrer Verehelichung in Preuβen“. 151 62 3.2.2. Überblick über die Intensität und den Anteil grenzüberschreitender familiärer Verflechtungen Ein Leser, der am 14. Juli 1863 den Anzeigenteil der Saarbrücker Zeitung aufschlug, konnte sich über Sprechzeiten eines Zahnarztes in Lothringen und über die Angebote der Geschäfte im Grenzraum informieren, darüber hinaus wurde er über die Verlobung einer Saarbrückerin mit einem Einwohner Straβburgs in Kenntnis gesetzt. Was diese Anzeige einer angesehenen Saarbrücker Familie andeutet, bestätigt die Untersuchung der Anteile binationaler Ehen von 1850 bis 1890 - binationale Eheschlieβungen waren im Saar-Mosel- Raum nichts Auβergewöhnliches. Auf dem Land und in der Industrieregion schlossen zwölf bis 16 Prozent der Paare eine Ehe mit einem Partner von der anderen Seite der Grenze. Zum Vergleich: 2003 hatten im Saarland insgesamt 40 deutsch-französische Paare geheiratet, was 0,8 Prozent der Gesamtheiraten entspricht,152 2004 waren es 45, also 0,9 Prozent der Eheschlieβungen.153 Im Jahr 2005 wurde bei einer Anzahl von 56 Heiraten eine Quote von 1,1 Prozent deutsch-französischer Eheschlieβungen erreicht.154 Obwohl ein direkter Vergleich zwischen den historischen und aktuellen Werten nicht möglich ist, da in der Gegenwart zahlreiche Paare in nichtehelichen Gemeinschaften zusammenleben und darüber hinaus die aktuellen Zahlen für das gesamte Saarland gelten und in dieser Untersuchung lediglich grenznahe Orte berücksichtigt wurden, unterstreicht die Gegenüberstellung die groβe Bedeutung der familiären Verflechtungen für den hier untersuchten Zeitraum. Neben der Höhe der binationalen Heiratsquote ist die schwankende Intensität der familiären Verflechtungen zwischen 1810 und 1890 auffallend.155 Im 152 Statistische Berichte, Natürliche Bevölkerungsbewegung 2003 (A II 1 – j 2003), Statistisches Landesamt Saarland, 2ff. Auskunft des Statistischen Amtes Saarland, A33 Bevölkerung, Erwerbstätigkeit. 153 Statistische Berichte, Natürliche Bevölkerungsbewegung 2004 (A II 1 – j 2004), Statistisches Landesamt Saarland, 2ff. Auskunft des Statistischen Amtes Saarland, A33 Bevölkerung, Erwerbstätigkeit. 154 Statistische Berichte, Natürliche Bevölkerungsbewegung 2005 (A II 1 – j 2005), Statistisches Landesamt Saarland, 2ff. Auskunft des Statistischen Amtes Saarland, A33 Bevölkerung, Erwerbstätigkeit. 155 Siehe: Abbildung 6 und 7. 63 ländlichen Raum erfolgte eine beständige Abnahme der Anzahl grenzüberschreitender Eheschließungen in drei Phasen, in der Industrieregion ist hingegen keine kontinuierliche Entwicklung festzustellen. Auf dem Land variiert die Anzahl der grenzüberschreitenden Eheschließungen zwischen 1810 und 1840 nur marginal zwischen 103 und 117. In den 1850er und 1860er Jahren heiraten nur noch etwa 70 Paare grenzüberschreitend. Schlieβlich sank die Anzahl der Eheschlieβungen in den Folgejahrzehnten weiter auf 42 beziehungsweise 28. Die Gegenüberstellung der 117 binationalen Eheschlieβungen der Jahrzehnte 1810 und 1820 mit den 28 grenzüberschreitenden Eheverbindungen in den 1880er Jahren macht die Höhe der Abnahme der familiären Verflechtungen im ländlichen Raum besonders offensichtlich. 117 120 117 103 107 100 73 80 Anzahl 70 60 42 40 28 20 0 1810 1820 1830 1840 1850 1860 1870 1880 Jahrzehnt Abbildung 6: Anzahl der binationalen Eheschlieβungen im ländlichen Raum 116 120 100 80 Anzahl 81 94 70 70 77 88 69 60 40 20 0 1810 1820 1830 1840 1850 1860 1870 1880 Jahrzehnt Abbildung 7: Anzahl der binationalen Eheschlieβungen in der Industrieregion 64 Von 1810 bis 1840 waren die familiären Verflechtungen auf dem Land intensiver als in der späteren Industrieregion. In den 1850er und 1860er Jahren heirateten in beiden Untersuchungsräumen ähnlich viele Paare grenzüberschreitend. Auffallend ist die konträre Entwicklung der Familienverflechtungen in der Land- und Industrieregion zwischen den 1860er und 1880er Jahren. Stieg in der Industrieregion die Anzahl der grenzüberschreitenden Eheschließungen von 69 auf 88 und schließlich auf 116, sank die Anzahl der auf dem Land geschlossenen binationalen Ehen im selben Zeitraum von 70 auf 42 und schlieβlich auf 28 in den 1880er Jahren. Die Bevölkerungsentwicklung ist nur für die Zunahme der binationalen Eheschlieβungen im Industrierevier eine mögliche Erklärung – hier stieg die Einwohnerzahl ab den 1870er Jahren deutlich an. In den Landgemeinden ist ein Zusammenhang zwischen der Abnahme der Eheschließungen und der Bevölkerungsentwicklung hingegen ausgeschlossen, da die Einwohnerzahlen nicht rückläufig waren.156 Denkbar ist, dass die Kontaktmöglichkeiten in den einzelnen Lebensbereichen abnahmen und deswegen weniger grenzüberschreitend geheiratet wurde. Vielleicht dehnten die Bewohner einen oder mehrere der Lebensbereiche Wohnen, Arbeit, Freizeit, Versorgung, Bildung und Kirche nicht mehr auf die andere Seite der Grenze aus. Der Rückgang der grenzüberschreitenden Heiraten stand eventuell auch mit nationalen Ressentiments im Zusammenhang. Die folgenden Kapitel werden sich unter anderem mit diesen Mechanismen der Integration beziehungsweise Segregation im Grenzraum beschäftigen. 156 Hein, Gerhard: Perl im Wandel der Zeit, Perl o.J., 51. Hier Einwohnerzahlen ab 1855. Schwarz: Die Einwohner von Lauterbach 1707-1907, Saarbrücken 1981, L-LI. Hier die Einwohnerzahl des Jahres 1849. Bei den restlichen, in der Untersuchung berücksichtigten Gemeinden schwankte die Einwohnerzahl vor der Industrialisierung zwischen 400 und 700. Neumanns Orts-Lexikon des Deutschen Reichs. Ein geographisch-statistisches Nachschlagebuch für deutsche Landeskunde, Leipzig 1894. Engelbreit, Raymond: Schoeneck et ses habitants de 1716 à 1900, Stiring-Wendel 1986, 317. Hier Einwohnerzahlen von 1860. Einwohnerzahlen Lauterbachs und Großrosselns: Josef, Schwarz: Die Einwohner von Lauterbach 1707-1907, Saarbrücken 1981, L-LI. 65 3.2.3. Die Grenzentfernung und der Anteil binationaler Ehen Ob auβenpolitische Ereignisse, die Konfessionszugehörigkeit der Einwohner oder andere Faktoren das Heiratsverhalten beeinflusst haben, kann nur anhand relativer Werte untersucht werden. Die folgenden Kapitel basieren daher auf einer Auswertung der Anteile binationaler Heiraten eines Jahrzehntes im Verhältnis zur Gesamtzahl der Eheschlieβungen desselben Zeitraumes.157 Es ist anzunehmen, dass in Orten, deren Entfernung zur Grenze so groβ war, dass die Bewohner nur selten oder niemals ihren Aktionsraum auf die andere Seite der Grenze ausdehnten, weniger Menschen grenzüberschreitend heirateten als in grenznahen Orten. Bestand jedoch ein Zusammenhang zwischen der Grenzentfernung und dem Heiratsverhalten in den Gemeinden, deren Grenzabstand variierte, die sich jedoch alle in Grenznähe befanden? Die Entfernung der untersuchten Orte zur preuβisch-lothringischen beziehungsweise preuβischluxemburgischen Grenze betrug zwischen einigen hundert Metern und siebeneinhalb Kilometern beziehungsweise 15 Kilometern. In einem Zeitraum zwischen einigen Minuten und dreieinhalb Stunden Fuβweg konnten die Bewohner aller hier untersuchten Orte die Grenze erreichen, sodass sie ihren Aktionsraum mehr oder weniger regelmäβig auf die andere Seite der Grenze ausdehnen konnten.158 Wie nah sich ein Ort an der Grenze befand, beziehungsweise wie häufig die Bevölkerung theoretisch der anderen Seite der Grenze einen Besuch abstattete, stand in keinem Zusammenhang zur Höhe des Anteils grenzüberschreitender Ehen.159 Die binationale Heiratsquote der sechs Orte, die direkt an der preuβischlothringischen Grenze liegen, variiert zwischen annähernd 30 Prozent in Schoeneck und zehn Prozent in Creutzwald. Noch deutlicher unterscheidet sich die 157 Für die Berechnung der Quote binationaler Ehen wurden die Heiraten zwischen Luxemburgern und Franzosen nicht berücksichtigt. 158 Stoffert gibt die durchschnittliche Gehgeschwindigkeit ohne Last und in der Ebene mit 4,5 bis 4,83 km/h an. Stoffert, Gerhard: Leistungen beim Gehen und Laufen, in: Zeitschrift für Arbeitswissenschaft, 40 (1986) 228-229. Dieser Untersuchung wird eine durchschnittliche Gehgeschwindigkeit von 4km/h zugrunde gelegt. 159 Siehe: Abbildungen 8 und 9. 66 Heiratsquote der zweieinhalb Kilometer von der preuβisch-lothringischen Grenze entfernten Orte. Die Skala reicht hier von 24,4 Prozent binationaler Ehen in Kirschlès-Sierck bis zu 3,2 Prozent in Ludweiler. Montenachs binationale Heiratsquote war mit 15,7 Prozent mehr als doppelt so hoch wie die Quote in Oberdorff, obwohl beide Orte fünf Kilometer von der Grenze entfernt sind. Allerdings hat der, mit siebeneinhalb Kilometern am weitesten von der französisch-deutschen Grenze entfernte Ort Faha auch den niedrigsten Anteil grenzüberschreitender Eheverbindungen. Dennoch waren andere Faktoren als die Grenzentfernung für die Ausprägung binationaler Ehen in den einzelnen Orten entscheidender. 1,6 Faha 7,7 Oberdorff Montenach Stiring-Wendel Ludweiler Lauterbach Kirsch 15,7 20 3,2 14,2 24,4 5,8 Borg Tettingen 8,3 16,75 Grindorff Morsbach 13 18,3 Merten-Bibling Grossrosseln Creutzwald Carling Perl Eft Schoeneck 21 10 11,4 10,2 13 29,4 0 5 10 15 20 25 Grenzentfernung in Kilometer 30 Anteil binationaler Ehen (1850-1890) Entfernung zur Grenze Abbildung 8: Entfernung der untersuchten Orte zur preuβisch-französischen Grenze und der Anteil binationaler Ehen 67 16,8 Grindorff 1,6 Faha 15,7 Montenach 5,8 Borg 13 Eft 8,3 Tettingen 24,4 Kirsch 10,2 Perl 0 5 10 15 20 25 Grenzentfernung der Orte in Kilometer 30 Anteil binationaler Ehen (1850-1890) Enfernung zur Grenze: Luxemburg Abbildung 9: Entfernung der untersuchten Orte zur luxemburgischen Grenze und der Anteil binationaler Ehen 3.2.4. Einfluss der Religionszugehörigkeit und der religiösen Praxis auf das Heiratsverhalten Im Gegensatz zur Grenzentfernung beeinflussten die Religionszugehörigkeit und die religiöse Praxis der Einwohner deutlich das Heiratsverhalten. Die Orte Ludweiler, Creutzwald und Lauterbach unterscheiden sich durch Entwicklung beziehungsweise Umfang der Anteile grenzüberschreitender Eheschlieβungen klar von den anderen untersuchten Orten im Industrierevier.160 Im Gegensatz zu den anderen Industriegemeinden, deren Heiratsquoten nur leicht sanken oder sogar anstiegen, fiel in Lauterbach und Creutzwald die Quote binationaler Paare zwischen 1830 und dem Zeitraum 1850-1890 um 12,1 Prozentpunkte beziehungsweise 37,2 Prozentpunkte.161 Ludweiler unterschied sich durch seine sehr niedrige binationale Heiratsquote von durchschnittlich 3 Prozent von den anderen Orten im Industrierevier.162 160 Siehe: Abbildung 10-18. 161 Siehe: Abbildung 20. 162 Siehe: Abbildung 12. 68 60 40 22,1 Prozent 15,5 20 4,3 13,4 6,5 0 1830 1850 1860 1870 1880 Jahrzehnt Abbildung 10: Binationale Ehen in Creutzwald 60 51,4 40 26,8 Prozent 20 6,9 9,5 13,6 0 1830 1850 1860 1870 1880 Jahrzehnt Abbildung 11: Binationale Ehen in Lauterbach 60 40 Prozent 20 2,4 3,1 2,4 5 2,4 0 1830 1850 1860 Jahrzehnt Abbildung 12: Binationale Ehen in Ludweiler 69 1870 1880 60 40 Prozent 20 10,5 10,3 9,4 11,7 14,3 0 1830 1850 1860 1870 1880 Jahrzehnt Abbildung 13: Binationale Ehen in L'Hôpital/Carling 60 40 22,2 21,3 Prozent 20 22,8 17,9 10,9 0 1830 1850 1860 1870 1880 Jahrzehnt Abbildung 14: Binationale Ehen in Groβrosseln 60 40 23,4 Prozent 20,9 16,7 16,3 13,5 20 0 1820 1850 1860 Jahrzehnt Abbildung 15: Binationale Ehen in Merten-Bibling 70 1870 1880 60 40 23 Prozent 13,2 20 16,1 9,4 7,5 0 1830 1850 1860 1870 1880 Jahrzehnt Abbildung 16: Binationale Ehen in Morsbach 60 40 33,3 34 31,3 29,6 22,5 Prozent 20 0 1830 1850 1860 1870 1880 Jahrzehnt Abbildung 17: Binationale Ehen in Schoeneck 60 40 27,8 22,1 Prozent 20 20,1 8,6 0 1850 1860 1870 Jahrzehnt Abbildung 18: Binationale Ehen in Stiring-Wendel 71 1880 Die Ausnahmestellung Ludweilers ist auf seine überwiegend protestantische Einwohnerschaft zurückzuführen. In Ludweiler - einem von Hugenotten gegründeten Ort Industriearbeiter, - lebten lediglich 1890 etwa trotz zehn der Prozent Zuwanderung katholischer katholische Einwohner. Seelsorgerisch wurden die Katholiken Ludweilers von der Pfarrei Großrosseln betreut.163 Die konfessionelle Grenze zwischen den nahezu ausschließlich katholischen Lothringern und den protestantischen Einwohnern Ludweilers war eine Barriere, die den Ausbau der grenzüberschreitenden Familienverflechtungen erheblich behinderte.164 Ein Zusammenhang zwischen der Ausprägung der binationalen Ehen und der konfessionellen Zugehörigkeit der Grenzraumbewohner ist auch in Creutzwald und Lauterbach feststellbar. Eindeutig ist der dortige Einbruch der binationalen Quote zwischen den 1830er und den 1860er Jahren auf die Neuumschreibung der Pfarrbezirke zurückzuführen.165 Obwohl Lauterbach seit 1803 eine Filiale der Pfarrei Emmersweiler war, gingen die Katholiken Lauterbachs, da Emmersweiler zwei Stunden Fuβweg von Lauterbach entfernt lag, weiterhin in die Kirche der lothringischen Gemeinde Creutzwald. Erst mit der Errichtung einer Kirche in Lauterbach im Jahr 1856 erfolgte eine endgültige Trennung des Pastoralbezirkes Creutzwald/Lauterbach.166 Preußen und Franzosen gingen bis in die 1850er Jahre in dieselbe Kirche und auch im Religionsunterricht kamen die Kinder beider Nationalitäten zusammen. Nachdem diese Kontaktmöglichkeiten zwischen preußischen und französischen Katholiken wegfielen, sank auch die zuvor sehr 163 Stegentritt, Ulf: Von der napoleonischen zur preuβischen Zeit und zum Ersten Weltkrieg, in: 400 Jahre Ludweiler, (Hrsg.) Heimatkundlicher Verein Warndt e.V., Völklingen 2004, 126. Prozentzahl wurde errechnet auf Basis der Einwohnerzahlen in: Schwarz, Josef: Die Einwohner von Lauterbach 1707-1907, Saarbrücken 1989, L-LI. 164 Wie stark der konfessionelle Gegensatz politische, kulturelle und lebensweltliche Bereiche durchschnitt zeigen die Sammelbände: Blaschke, Olaf; Kuhlemann, Frank-Michael (Hrsg.): Religion im Kaiserreich. Milieus - Mentalitäten - Krisen. Gütersloh 1996. Blaschke, Olaf (Hrsg.): Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1917 : ein weites konfessionelles Zeitalter, Göttingen 2002. 165 Siehe: Abbildung 10 und 11. 166 Lorenzi, Philipp de: Beiträge zur Geschichte sämtlicher Pfarreien der Diocese Trier, Bd. 1, Trier 1887, 523. 72 hohe Quote binationaler Ehen. Der zeitweilige grenzüberschreitende Kirchgang der Katholiken von Creutzwald und Lauterbach war kein Einzelfall. Im Saar-MoselRaum existierten weit über den Deutsch-Französischen Krieg hinaus zahlreiche grenzüberschreitende Pfarrbezirke, die erheblich zur grenzüberschreitenden Integration beitrugen.167 Anders als in Ludweiler, Creutzwald und Lauterbach, spiegelt sich in den binationalen Familienverflechtungen Montenachs nicht die Bedeutung der katholischen Konfession als integratives Element im Grenzraum, sondern die Besonderheiten des Heiratsverhaltens der Montenacher jüdischen Gemeinde wider.168 43 64 57 36 Prozent 1850 1860 Jahrzehnt jüd. christ. Abbildung 19: Religionszugehörigkeit der binationalen Paare: Montenach Einen bedeutenden Anteil binationaler Ehen in den 1850er und 1860er Jahren machten die Verbindungen der Einwohner jüdischen Glaubens aus.169 Im vorangegangenen Kapitel war bereits Montenachs hoher Grad grenzüberschreitender Familienverflechtungen aufgefallen, ebenso unterscheidet sich Montenach von den anderen Landgemeinden durch die Ausdehnung der grenzüberschreitenden Familienverflechtungen. Offenbar ergaben die weiträumigen Bekanntschafts- und Verwandtschaftsnetzwerke der jüdischen 167 Die grenzüberschreitenden Pfarrbezirke werden häufig in lokalhistorischen Abhandlungen erwähnt, deren integrative Bedeutung wurde jedoch bisher noch nicht thematisiert. Siehe auch Kapitel: 6. „Kirche“. 168 Cercle Généalogique du Pays de la Nied: La communauté israélite à Montenach, in: Les Habitants de Montenach et de ses annexes Sulzen & Kaltweiller avant 1905, (Hrsg.) Cercle Généalogique du Pays de la Nied, Filstroff 2005, 15. 169 Siehe: Abbildung 19. 73 Einwohner auch ausgedehnte grenzüberschreitende familiäre Netzwerke, die sich weit ins preußische Inland erstreckten.170 3.2.5. Binationale Ehen: Land- und Industrieregion im Vergleich Die Anzahl grenzüberschreitender Ehen in der Industrieregion und auf dem Land veränderte sich in entgegengesetzte Richtungen.171 Sank die Anzahl binationaler Ehen auf dem Land von 1810 bis in die 1880er Jahre von 117 auf 28, stieg diese in der Industrieregion von 70 auf 116 an. Ebenso gegenläufig war die Entwicklung der Anteile binationaler Ehen auf dem Land und in der Industrieregion. Zwischen 1830 und 1890 sank auf dem Land die Quote grenzüberschreitender Heiraten, im Gegensatz zur Industrieregion, wo sich der Anteil binationaler Paare in vier von acht untersuchten Orten erhöhte.172 Der Anstieg der Bevölkerung im Industrierevier konnte daher nicht der alleinige Grund für die Zunahme der binationalen Eheschließungen gewesen sein. Wäre die Anzahl der binationalen Heiraten nur von der Bevölkerungsentwicklung abhängig, würde die Heiratsquote unverändert bleiben. Ein Element, das die grenzüberschreitenden familiären Verflechtungen positiv beeinflusste, waren die strukturellen Veränderungen während der Industrialisierung. Neben dem Anstieg der Anteile grenzüberschreitender Ehen in vier von acht Industriegemeinden in der Industrialisierungsphase, im Unterschied zum Rückgang der Heiratsquote auf dem Land, zeigt die Gegenüberstellung der Anteile binationaler Paare, dass die Quote im Industrierevier deutlich höher war als 170 Vgl.: Ulbrich, Claudia: Eheschließung und Netzwerkbildung am Beispiel der jüdischen Gesellschaft im deutsch-französischen Grenzgebiet (18. Jahrhundert), in: Eheschließungen im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts. Muster und Strategien, (Hrsg.) Christophe Duhamelle, Jürgen Schlumbohn, Göttingen 2003, 315-340, bes. 320. Claudia Ulbrichs Analyse des Heiratsverhaltens in einer Elsässer Grafschaft ergab, dass nur ein sehr geringer Prozentsatz der jüdischen Eheschließungen binational waren. 171 Siehe: Abbildung 6 und 7. 172 Siehe: Abbildung 20 und 21. In Schoeneck und Morsbach sank die Heiratsquote nur marginal und der deutliche Rückgang des Anteils binationaler Paare in Creutzwald und Lauterbach wurde bereits in Kapitel 3.2.4. auf die Trennung der Pastoralbezirke zurückgeführt. 74 auf dem Land. In allen Industriegemeinden - Ludweiler ausgenommen – betrug die binationale Heiratsquote über zehn Prozent.173 Im ländlichen Raum betrug der Anteil hingegen in drei Orten unter zehn Prozent. Lag der Anteil binationaler Ehen in drei Industriegemeinden über 20 Prozent, überschritt die Quote auf dem Land nur in einem Ort diese Marke. Die Divergenz zwischen Industrieregion und ländlichem Raum ist das Resultat des intensiveren Arbeitskräfteaustausches im Industrierevier um Forbach und Saarbrücken. Die Handwerker und Bauern überschritten die Grenze seltener als die industriellen Lohnarbeiter, welche in groβem Umfang Grenzpendler waren, sodass die Wahrscheinlichkeit, einen Ehepartner auf der anderen Seite der Grenze kennen zu lernen, in der Industrieregion gröβer war als auf dem Land.174 Die deutliche Abnahme der Heiratsquote in den Orten Lauterbach und Creutzwald wiederlegt diese Annahme nicht, da der Rückgang der grenzüberschreitenden Familienverflechtungen auf die Veränderungen der religiösen Praxis der Bewohner zurückzuführen ist.175 Die bessere Infrastruktur in der Industrieregion war ebenfalls ein möglicher Grund für die Unterschiede zwischen ländlichem Raum und Industrieregion. So wurde bereits 1852 die Eisenbahnlinie Saarbrücken-ForbachMetz mit großem Pomp eingeweiht.176 173 174 175 176 Der niedrige Anteil binationaler Ehen ist auf die konfessionelle Grenze zwischen den protestantischen Einwohnern Ludweilers und katholischen Lothringern zurückzuführen. Siehe Kapitel: 3.2.4. „Einfluss der Religionszugehörigkeit und der religiösen Praxis auf das Heiratsverhalten“. Siehe Kapitel: 4.1.4. „Arbeiter und Arbeiterbauern“. Siehe Kapitel: 3.2.4. „Einfluss der Religionszugehörigkeit und der religiösen Praxis auf das Heiratsverhalten“. Sander, Michael: Die Saarbrücker Eisenbahn zwischen Paris und Berlin. Eisenbahn und internationale Politik seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Ankunft Saarbrücken Hbf (…) 150 Jahre Eisenbahn an der Saar, (Hrsg.) Chef der Staatskanzlei, Saarbrücken 2002, 42f. 75 60 51,4 40 Prozent 33,3 29,4 22,1 20 16,7 13,2 13 21 20 18,3 14,2 10,9 10 8,6 2,4 3,2 Schoeneck G-rosseln S-Wendel M-Bibling Lauterb. Morsb. Creutzw. Ludw. 0 1830 1850-1890 Abbildung 20: Binationale Ehen in der Industrieregion. 1830 und 1850-1890 60 Prozent 40 29,3 29,1 26,7 24,4 20 19,6 20 17,7 16,8 15,7 13 10 8,3 10,2 8,3 7,7 5,8 Kirsch Grind. Monten. Eft Perl Tettin. Oberd. Borg 0 Abbildung 21: Binationale Ehen im ländlichen Raum. 1830 und 1850-1890 76 1830 1850-1890 Neben der höheren Quantität der grenzüberschreitenden Kontakte in der Industrieregion, waren auch Unterschiede in der Art des Kennenlernens der Ehepartner auf dem Land und im Industrierevier für die divergente Entwicklung der Heiratsquoten verantwortlich. Eine Untersuchung der Entfernung zwischen Geburts- und Wohnort der Ehepartner ergab, dass die Geburtsorte der binationalen Paare im ländlichen Raum deutlich näher am Wohnort lagen als im Industrierevier.177 Immer mehr Menschen zogen dauerhaft oder zeitweise, dem wöchentlichen Arbeitsrhythmus angepasst, auf die andere Seite der Grenze in die Nähe der Arbeitsstätten im Industrierevier. Die Ehepartner lernten sich oft in ihrem gemeinsamen Wohnort kennen. In der, von der Landwirtschaft geprägten Gegend entstanden grenzüberschreitende Bekanntschaften über bereits vorhandene Bekanntschafts- und Verwandtschaftsnetzwerke, oder während kurzzeitiger Aufenthalte beim Nachbarn. Die intensivere Ausprägung des grenzüberschreitenden Arbeitsmarktes und die besser entwickelte Infrastruktur im Industrierevier begründen den insgesamt höheren Anteil binationaler Ehen in der Industrieregion und deren Zunahme in der Phase der Industrialsierung, den Rückgang der grenzüberschreitenden Familienverflechtungen auf dem Land erklären die strukturellen Unterschiede jedoch nicht. 177 Siehe: Abbildung 22 und 23. Es wurden für die folgende Untersuchung die Heiratseinträge von 1810 bis 1890 berücksichtigt. Die Streckenentfernungen (Fuβweg) wurden im Internet mit dem Routenplaner Mappy errechnet. www.mappy.de. 77 67 Prozent 24 26 26 29 27 31 Montenach Borg Kirsch Oberdorff Eft Grindorff Perl Tettingen 17 Abbildung 22: Herkunft der Ehepartner. Über vier Stunden Fuβweg zwischen Geburtsund Wohnort/Land 72 45 32 Prozent 49 37 StiringWendel Morsbach Creutzwald Ludweiler Schoeneck MertenBibling 18 Grossrosseln Lauterbach 18 47 Abbildung 23: Herkunft der Ehepartner. Über vier Stunden Fuβweg zwischen Geburtsund Wohnort / Industrie 78 3.2.6. Einfluss des Beitritts Luxemburgs in den Deutschen Zollverein auf das Heiratsverhalten Unbeantwortet blieb bisher die Frage, warum Volumen und Anteil der binationalen Ehen auf dem Land so deutlich abnahmen. Auffällig ist, dass die Periode des Rückgangs grenzüberschreitender Eheverbindungen im Dreiländereck mit dem Beitritt Luxemburgs in den Deutschen Zollverein zusammenfällt.178 In Perl nahm die Quote zwischen den 1830er und 1850er Jahren um 4,3 Prozentpunkte ab, in Borg um 7,4 Prozentpunkte, in Tettingen um 9,1 Prozentpunkte und in Eft um 16,8 Prozentpunkte. Im französischen Ort Kirsch-lès-Sierck sank der Anteil binationaler Ehen um 5,2 Prozentpunkte. Hingegen änderte sich die binationale Heiratsquote in den anderen Orten nicht wesentlich, in acht Gemeinden stieg diese sogar an.179 60 40 Prozent 20 10 7,5 2,6 8,8 4,2 0 1830 1850 1860 1870 1880 Jahrzehnt Abbildung 24: Binationale Ehen in Borg180 178 179 180 Siehe: Abbildung 24-31. Siehe: Abbildung 10-18 und 24-31. Die Quote grenzüberschreitender Heiraten sank lediglich in Lauterbach, Creutzwald, Merten-Bibling (-3,2%) und Morsbach (-3,8%), wobei der deutliche Rückgang der Heiratsquote in Lauterbach und Creutzwald bereits mit der Neuumschreibung der Pfarrbezirke begründet wurde. Ein Diagramm für den Ort Faha wurde nicht angelegt, da hier von 1830-1890 lediglich fünf binationale Ehen geschlossen wurden. 79 60 40 29,1 Prozent 16,4 12,3 20 11,5 11,6 0 1830 1850 1860 1870 1880 Jahrzehnt Abbildung 25: Binationale Ehen in Eft 60 40 Prozent 20 20,3 19 20 18,4 9,3 0 1830 1850 1860 1870 1880 Jahrzehnt Abbildung 26: Binationale Ehen in Grindorff 60 34,4 40 29,3 24,1 Prozent 19,2 20 20 0 1830 1850 1860 Jahrzehnt Abbildung 27: Binationale Ehen in Kirsch-lès- Sierck 80 1870 1880 60 40 17,7 Prozent 22,2 18,8 23,3 20 7,4 0 1830 1850 1860 1870 1880 Jahrzehnt Abbildung 28: Binationale Ehen in Montenach 60 40 Prozent 19,6 15,3 20 11,7 10,2 3,5 0 1830 1850 1860 1870 1880 Jahrzehnt Abbildung 29: Binationale Ehen in Perl 60 40 Prozent 20 8,3 8,3 7,4 6,1 9,1 0 1830 1850 1860 Jahrzehnt Abbildung 30: Binationale Ehen in Oberdorff 81 1870 1880 60 40 26,7 Prozent 17,6 20 7 5,8 3,4 0 1820 1850 1860 1870 1880 Jahrzehnt Abbildung 31: Binationale Ehen in Tettingen Die Aufnahme Luxemburgs in den Deutschen Zollverein im Jahr 1842 erhöhte das Konfliktpotential im Dreiländereck deutlich.181 Preuβens militärische Präsenz, verbunden mit den preußischen Germanisierungsbemühungen in Luxemburg, verschlechterte die grenzüberschreitenden Beziehungen zwischen den preußischen, luxemburgischen und französischen Grenzraumbewohnern merklich, obwohl die grenzüberschreitenden Kontakte durch die Einbindung Luxemburgs in den Deutschen Zollverein zunahmen.182 Die Kölnische Zeitung berichtete, dass die preuβische Regierung den Luxemburgern nach dem Beitritt eine deutsche Lebensweise habe aufzwingen wollen, die nicht die Ihre sei.183 Anhand der Entwicklung der binationalen Ehen in Tettingen, wird der Zusammenhang zwischen dem Beitritt Luxemburgs in den deutschen Zollverein und der Abnahme der binationalen Heiratsquote besonders deutlich. Der Anteil der deutsch-luxemburgischen Eheschließungen ging zwischen 1830 und 1850 von 43 181 Die Ausführungen über Luxemburg basieren auf: Calmes, Christian; Bossaert, Danielle: Geschichte des Groβherzogtums Luxemburg. Von 1815 bis heute, Luxemburg 1996, 69ff. 182 LHAK, Best.442, Nr. 6550: Landrat von Saarburg an den Reg. Präsidenten von Trier, 31.5.1867. Briefwechsel über die anhaltenden Provokationen der Luxemburger, trotz der steigenden Anzahl der preußischen Kundschaft in Luxemburg. Siehe ebenso: Minister des Inneren an den Regierungspräsidenten in Trier, 28.5.1867. 183 Calmes; Bossaert: Geschichte, 69f. 82 Prozent auf 6 Prozent zurück.184 In den anderen Orten in Grenznähe zu Luxemburg sank sowohl der Anteil der deutsch-luxemburgischen als auch der Anteil der deutsch-französischen Ehen. Möglicherweise wirkten die Kriege mit französischer Beteilung (Krimkrieg, Sardinisch-französischer Krieg gegen Österreich) potenzierend auf den Rückgang des Anteils binationaler Ehen in den 1850er Jahren. Ausschlaggebend für die Abnahme der grenzüberschreitenden Heiraten im Dreiländereck war jedoch der Beitritt Luxemburgs in den Deutschen Zollverein.185 Die relativ konstanten oder steigenden Heiratsquoten in den anderen Orten zeigen, dass die militärischen Konflikte der 1850er Jahre an sich keinen entscheidenden Einfluss auf die grenzüberschreitenden familiären Verflechtungen hatten. 38% 43% 57% 62% deutsch-franz. deutsch-lux. Abbildung 32: Nationalitätenverteilung der binationalen Ehen Tettingen (1810-1829) deutsch-franz. deutsch-lux. Abbildung 33: Nationalitätenverteilung der binationalen Ehen Tettingen (1830-1849) 6% 94% deutsch-franz. deutsch-lux. Abbildung 34: Nationalitätenverteilung der binationalen Ehen Tettingen (1850-1869) 184 Siehe: Abbildung 31-34. 185 Siehe: Abbildung 10-18 und 24-31. 83 3.2.7. Einfluss des Deutsch-Französischen Krieges auf den Anteil binationaler Ehen Der Deutsch-Französische Krieg bedeutete einen Einschnitt in der Geschichte des saarländisch-lothringischen Grenzraumes. Frankreich musste das Departement Moselle und das Elsass an das Deutsche Reich abtreten. Die Reaktion der Forbacher Bürger auf die Hochzeit des preußischen Lehrers Dr. Atorf und des lothringischen Fräuleins Emilie Rimsgern im Jahr 1872 in Forbach zeigt deutlich, dass sich der Protest der Lothringer gegen die neuen Machthaber auch auf den privaten Bereich ausdehnte. Jedoch wies die Gegenüberstellung der deutlichen Abnahme binationaler Eheschließungen im ländlichen Raum und deren Zunahme im Industrierevier nach dem Deutsch-Französischen Krieg, auf die unterschiedliche Auswirkung des Krieges auf die familiären Verflechtungen der Industrieregion und des ländlichen Raumes hin.186 Ein Vergleich der Anteile binationaler Paare auf dem Land und in der Industrieregion bestätigt diese Annahme. Zum einen lag die Quote binationaler Ehen in den Landgemeinden auch nach der Annexion unter der der Industriegemeinden.187 Betrug der Anteil grenzüberschreitender Heiraten im Industrierevier, mit Ausnahme Ludweilers, zwischen 1870 und 1890 immer über zehn Prozent, in fünf Orten sogar um oder über 20 Prozent, heirateten in vier Landgemeinden unter zehn Prozent der Paare grenzüberschreitend und lediglich in einem Ort wurde ein Wert von annähernd 20 Prozent binationaler Ehen erreicht. 186 Siehe: Abbildung 6 und 7. 187 Siehe: Abbildung 35 und 36. 84 30 26,1 25 19,6 19,9 20,4 21,1 20 Prozent 15 13 11,6 14,5 10 Schoeneck StiringWendel Grossr. MertenBibling Morsbach Creutzw. Lauterb. Ludw. 0 L'Hôpital Carling 3,7 5 Abbildung 35: Binationale Ehen in der Industrieregion 1870-1890 30 25 19,6 20 15,4 13,9 Prozent 15 11,6 10 6,5 6,9 7,6 4,6 Kirsch Montenach Grind. Eft Oberd. Perl Borg Tettingen 0 1,2 Faha 5 Abbildung 36: Binationale Ehen im ländlichen Raum 1870-1890 Deutlicher werden die unterschiedlichen Auswirkungen des deutsch-französischen Krieges anhand einer Gegenüberstellung der Heiratsquote der Vor- und Nachkriegszeit.188 Im Gegensatz zum Industrierevier sank der Anteil grenzüberschreitender Eheschlieβungen in allen Landgemeinden während der Annexion. In Kirsch-lès-Sierck ging der Anteil binationaler Paare in den 1870er 188 Siehe: Abbildung 10-18 und 24-31. 85 Jahren im Vergleich zum vorherigen Jahrzehnt um 15,2 Prozentpunkte zurück, in Grindorff nahm die Quote um 9,7 Prozentpunkte ab, in Eft um 4,9 Prozentpunkte und in Borg um 3,3 Prozentpunkte. In Perl sank die Quote zwischen den 1860er und 1870er Jahren zunächst um 1,5 Prozentpunkte, und nahm dann in den 1880er um weitere 6,7 Prozentpunkte ab.189 In Montenach war in den 1870er Jahren zunächst nur die absolute Anzahl binationaler Ehen rückläufig, dann sank in den 1880er Jahren der Anteil binationaler Ehen um 15,9 Prozentpunkte.190 Nur in Oberdorff (-1,3 Prozentpunkte) und Tettingen (-1,2 Prozentpunkte) nahm der Anteil binationaler Paare weniger deutlich ab. Allerdings war in Tettingen die Quote bereits in den Jahrzehnten zuvor mit dem Beitritt Luxemburgs in den Deutschen Zollverein deutlich zurückgegangen. Hier setzte sich in den 1870er Jahren lediglich die Entwicklung der vorherigen Jahrzehnte fort. War der negative Effekt des Deutsch-Französischen Krieges auf die grenzüberschreitenden Familienverflechtungen im ländlichen Raum deutlich erkennbar, sank die binationale Heiratsquote in der Phase der Annexion im Industrierevier nur in zwei Orten. In fünf von neun untersuchten Industriegemeinden stieg sogar der Anteil binationaler Ehen in den 1870er Jahren. In Ludweiler nahm der Anteil um 1,9 Prozentpunkte zu, in L’Hôpital/Carling um 2,3 Prozentpunkte und in Lauterbach um 2,6 Prozentpunkte. Ebenfalls erhöhte sich die Quote binationaler Heiraten in Morsbach (+ 8,6 Prozentpunkte) und in Creutzwald (+ 9 Prozentpunkte). Auch in Merten-Bibling und Groβrosseln ist trotz des sinkenden Anteils binationaler Ehen in den 1870er Jahren (- 4,6 Prozentpunkte bzw.- 4,3 Prozentpunkte) kein negativer Effekt des Krieges nachweisbar. In beiden Orten blieb die absolute Anzahl der binationalen Paare in der Vor- und Nachkriegszeit nahezu identisch und in den 1880er Jahren wurde in beiden Orten 189 190 Perl 1860er Jahre: Heiraten insg.: 145 / Heiraten binat.: 17; Perl 1870er Jahre: Heiraten insg.: 98 / Heiraten binat.: 10 Von den zehn gemischten Ehen waren drei vor Ausbruch des DeutschFranzösischen Krieges geschlossen worden. Montenach 1860er Jahre: Heiraten insg.: 64 / Heiraten binat: 12; Montenach 1870er Jahre: Heiraten insg.: 30 / Heiraten binat.: 7. 86 das Niveau der Heiratsquote der 1860er Jahre sogar überschritten.191 In der Industrieregion nahmen die grenzüberschreitenden Verflechtungen während der Annexion lediglich in den Orten Schoeneck und Stiring-Wendel deutlich ab. In Stiring-Wendel sank die Quote der binationalen Eheschlieβungen in den 1870er Jahren im Vergleich zum vorherigen Jahrzehnt um 5,7 Prozentpunkte, gleichzeitig nahm die Anzahl binationaler Paare von 66 auf 49 ab. In Schoeneck sank die Anzahl der grenzüberschreitenden Eheverbindungen in den 1870er Jahren im Vergleich zum vorherigen Jahrzehnt um etwa die Hälfte,192 gleichzeitig ging hier der Anteil um 11,5 Prozentpunkte zurück. Auffällig ist die direkte Nachbarschaft beider Orte zum Spicherer Berg. Am 6.August 1870 hatte hier die erste groβe Schlacht des Deutsch-Französischen Krieges stattgefunden. Über 4000 Tote, Verwundete und Vermisste auf französischer Seite, über 4800 tote, verwundete und vermisste deutsche Soldaten hatten die Schlacht an den Spicherer Höhen tief im kollektiven Gedächtnis der Grenzraumbewohner verankert. Die zahlreichen Artikel und Anzeigen der Zeitungen über die Gedenkveranstaltungen beweisen, dass der Jahrestag der Spicherer Schlacht im Grenzraum einen deutlich höheren Stellenwert einnahm als der Sedantag.193 Die Feier am 6. August wurde von der lothringischen Bevölkerung in den ersten Jahren nach dem Krieg vor allem zur Demonstration einer pro- französischen Haltung genutzt. Die symbolische Bedeutung dieses Ortes für beide Seiten war groβ. Für den einen Teil der Grenzraumbewohner war 191 Merten-Bibling 1860er Jahre: Heiraten insg.: 43 / Heiraten binat.: 9; Merten-Bibling 1870er Jahre: Heiraten insg.: 49 / Heiraten binat.: 8. Groβrosseln 1860er Jahre: Heiraten insg.: 54 / Heiraten binat.: 12; Groβrosseln 1870er Jahre: Heiraten insg.: 67 / binat. 12. 192 1860er Jahre heirateten 17 Paare grenzüberschreitend, in den 1870er Jahren neun Paare. Siehe Kapitel: 5.2.2. „Die Kriegervereine ein Element der Integration im Kohlenrevier“. Zahlreiche Zeitungsartikel thematisieren die Feiern des 6. Augustes: Forbacher Zeitung, 1.8.1872: Festball des Malstatter Liederkranzes; Forbacher Zeitung: 22.8.1872: Männergesangverein aus Forbach machte Ausflug nach Spicheren; Forbacher Zeitung 27.04.1873: Spicherer Höhe als Touristischer Anziehungspunkt; Saarbrücker Zeitung: 18.7.1893: Allgemein über die Spicherer Schlacht siehe: Böhm, Uwe-Peter: Zwischen Képi und Pickelhaube. Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 und der Mythos von Spichern, in: Grenzenlos. Lebenswelten in der deutsch-französischen Region an Saar und Mosel seit 1840 (Hrsg.) Historisches Museum Saar, Saarbrücken 1998, 90-113. Ruppersberg, Albert: Saarbrücker Kriegschronik, Ereignisse in und bei Saarbrücken und St. Johann sowie am Spicherer Berge 1870, Saarbrücken 1895, St. Ingbert 1978 (Nachdruck der Ausgabe von 1895). 193 87 Spicheren ein Sinnbild für den siegreichen Krieg und die nationale Einheit, für den anderen Teil ein Symbol für die Niederlage und die Abtrennung von Frankreich. Obwohl sich in den umliegenden lothringischen Orten bereits früh Eingewanderte wie auch Lothringer in Kriegervereinen organisierten, sorgte 1905 die Gründung des Spicherer Kriegervereins für Aufsehen. Möglich ist, dass die Nähe Schoenecks und Stiring-Wendels zum Schlachtfeld eine verstärkte Abgrenzungstendenz der lothringischen Bewohner zu den preußischen Nachbarn bewirkte. Jedoch ist zu berücksichtigen, dass die Quote binationaler Ehen in beiden Orten in den 1870er Jahren trotz des beschriebenen Rückgangs auf 22,1 Prozent in Stiring-Wendel und 22,5 Prozent in Schoeneck, immer noch hoch war. In Schoeneck stieg der Anteil binationaler Eheschließungen in den 1880er Jahren bereits wieder auf 29,6 Prozent an. Die Eindrücke der Schlacht hatten, wenn überhaupt, nur zeitweilig einen negativen Effekt auf die Ausprägung der grenzüberschreitenden familiären Verflechtungen dieser beiden Orte. Der Bedeutungswandel des Andenkens an die Spicherer Schlacht von einer national aufgeladenen Erinnerungsfeier zu einer grenzüberschreitenden Erinnerungskultur korrespondiert mit dieser Entwicklung.194 Der unterschiedliche Effekt des Deutsch-Französischen Krieges auf die grenzüberschreitenden Beziehungen der Industrieregion und des ländlichen Raumes ist am Heiratsverhalten deutlich ablesbar. Die fortschreitende Industrialisierung in den 1870er Jahren und der damit verbundene erhöhte Arbeitskräfteaustausch, ist einer der Gründe für diese Entwicklung. Besonders die lothringischen Zechen rekrutierten vermehrt Arbeitskräfte aus dem benachbarten saarpreuβischen Gebiet.195 Neben dem Ausbau des grenzüberschreitenden Arbeitsmarktes war auch die Art des Kennenlernens für die Intensivierung der familiären transnationalen Verflechtungen verantwortlich. Die neuangeworbenen Arbeitskräfte zogen noch häufiger als in den Jahrzehnten zuvor dauerhaft oder zeitweise aus weiter entfernten Gegenden in die Nähe ihrer Arbeitsstätten, sodass 194 Siehe: Kapitel 5.2.2. „Die Kriegervereine ein Element der Integration im Kohlenrevier“. 195 Siehe: Kapitel 4.1.4. „Arbeiter und Arbeiterbauern“. 88 sich im Vergleich zur Vorkriegszeit die Ehepartner im Industrierevier noch Prozent häufiger in ihren gemeinsamen Wohnorten kennen lernten.196 16 14 12 10 8 6 4 2 0 Industrieregion Land 1850-1869 1870-1889 Abbildung 37: Herkunft eines Ehepartners aus einer Entfernung über 100 km vom Wohnort197 Die Reaktion der Grenzraumbewohner auf den Beitritt Luxemburgs in den Deutschen Zollverein beweist jedoch, dass eine erhöhte Quantität der Kontakte nicht zwangsläufig eine erhöhte Heiratsquote nach sich zog. Der emotionale Gehalt des Kontaktes spielte eine mindestens ebenso wichtige Rolle. Denkbar ist, dass die grenzüberschreitenden Beziehungen im Industrierevier durch die gemeinsam erfahrenen Härten der Arbeitswelt positiver belegt waren als auf dem Land. Die Angst der Bergarbeiter, Opfer eines Bergwerksunglückes und Arbeitsunfalls zu werden, die materielle Not und harten Arbeitsbedingungen unter Tage waren grenzüberschreitend und schufen eine gemeinsame emotionale Basis.198 Die sozialen Konflikte der Gründerjahre waren ebenfalls ein Element, das die lothringischen und saarpreußischen Bergarbeiter verband. Prägend für die Bergarbeiter war die, von Bergarbeitern Groβrosselns angeführte Streikbewegung im lothringischen Petite-Rosselle im August 1874, bei der es zu gewalttätigen 196 Siehe: Abbildung 37. 197 Die Werte ergeben sich sich aus dem Mittel des Anteils in den einzelnen Orten. 198 Siehe Kapitel: 4.3. „Solidarität, Sprachgrenzen und soziale Konflikte“. 89 Ausschreitungen gekommen war.199 Noch während der Streikbewegung im Jahr 1889 blieben die Bergarbeiter der Petite-Rosseller Zechen besonders ruhig, da ihnen noch „die schweren Folgen der im Jahre 1874 hier vorgefallenen Unruhen wohl bekannt“ waren.200 Die Bedeutung des emotionalen Gehaltes für die Qualität eines Kontaktes bestätigt die Netzwerkforschung, welche die Qualität einer Beziehung anhand der Dauer und des emotionalen Gehaltes definiert.201 In der Industriezone konnten die längere Dauer und der positive emotionale Gehalt der grenzüberschreitenden Kontakte offenbar die negative Wirkung des DeutschFranzösischen Krieges auf die familiären Verflechtungen gröβtenteils neutralisieren. Im Vergleich zur Industrieregion war im ländlichen Raum sowohl die Dauer der grenzüberschreitenden Kontakte kürzer als auch deren emotionaler Gehalt seit dem Beitritt Luxemburgs in den Deutschen Zollverein negativer belegt. 3.2.8. Die binationalen Paare vor und nach dem Deutsch-Französischen Krieg Die Entwicklung der grenzüberschreitenden familiären Verflechtungen im Industriegebiet korrespondiert auf den ersten Blick nicht mit dem Inhalt des Artikels über die Eheschließung zwischen dem Lehrer Atorf und Fräulein Rimsgern in Forbach. Die hier als auβergewöhnliches Ereignis dargestellte Vermählung zwischen einem Preußen und einer Lothringerin entspricht nicht den ermittelten konstant hohen und sogar steigenden Anteilen grenzüberschreitender Eheschließungen in den meisten Orten der Industrieregion nach dem Krieg 1870/71. Dieser Widerspruch löst sich auf, wenn zwischen eingewanderten 199 200 201 Saargemünder Zeitung, 13.8.1874; Saarbrücker Zeitung, 13.8.1874; Saarbrücker Zeitung, 16.8.1874. LAS, Best. Landratsamt Saarbrücken, Nr. 1831: Zeitungsausschnitt « St.-Johanner Volkszeitung », 22.5.1889. Die Definition Mark S. Granovetters der Faktoren, welche die Stärke einer interpersonellen Beziehung bestimmen, wurde hier auf die Bewertung interpersoneller Kontakte übertragen. Granovetters Definition lautet: „The strength of a tie is a (probably linear) combination of the amount of time, the emotional intensity, the intimacy (mutual confiding), and the reciprocal services which characterize the tie.“ Granvovetter, Strength, 1361. 90 Preuβen und „Saarpreuβen“ differenziert wird. Die geographische Herkunft der Eheleute zeigt, dass der Anteil der binationalen Ehen zwischen eingewanderten Preuβen und Lothringern sehr niedrig war. In der Industrieregion konnten für den Zeitraum 1870-1890 nur zwei eingewanderte Ehemänner ermittelt werden. Ein Sergeant des I. Hannoveraner Dragoner Regimentes in Ludweiler und ein Polizeibeamter in Stiring-Wendel. Im ländlichen Raum war keine einzige Eheschließung zwischen Einheimischen und Eingewanderten nachweisbar. Auf dem Land wie auch in der, von der Industrie geprägten Region war der Integrationsgrad der eingewanderten Deutschen in die lokale Gesellschaft sehr gering.202 Dass ein eingewanderter Preuße aus Krefeld – ein Preuβe aus dem Reich eine Lothringerin heiratete, war demnach die Besonderheit, auf die der Artikel aufmerksam machte. Eine binationale Ehe zwischen einem „Saarpreuβen“ und einer Lothringerin war auch während der Annexion keinen Zeitungsartikel wert. Es ist jedoch fraglich, ob für die geringe Anzahl binationaler Ehen zwischen eingewanderten Preuβen und Lothringern ausschlieβlich nationale Gründe verantwortlich waren. Der niedrige Anteil binationaler Ehen in Ludweiler beweist, dass konfessionelle Gegensätze die grenzüberschreitenden familiären Verflechtungen stark negativ beeinflussten. Die eingewanderten Deutschen waren wie die Bürger Ludweilers meist Protestanten, sodass Lothringer und Eingewanderte nicht nur eine nationale, sondern auch eine konfessionelle Grenze trennte. „Protestantisch“ wurde während der Annexion zu einem Synonym für 202 Siehe zur Trennung der Lebenswelten der Eingewanderten und der Einheimischen auch: Riederer, Feiern, 240ff. Eine zeitgenössische Sicht auf die Mischehen zwischen eingewanderten Preußen und Lothringern bietet der Roman „Colette Baudoche“ von Maurice Barrès, der in Lothringen eine breite Leserschaft erreichte. Er beschreibt die Geschichte eines jungen Mädchens, das bei seiner Großmutter aufwächst. Aufgrund finanzieller Schwierigkeiten vermieten die beiden Frauen einem preußischen Lehrer ein Zimmer ihrer Wohnung. Colette und der Lehrer verlieben sich ineinander. Als jedoch der preußische Lehrer der jungen Frau einen Heiratsantrag macht, lehnt diese ab, weil sie nicht zur Germanisierung Lothringens beitragen möchte. Barrès, Maurice: Colette Baudoche. Histoire d'une jeune fille de Metz, Paris 1909. 91 „preuβisch“, sodass die konfessionelle Grenze potenzierend auf die Abgrenzungstendenz der Lothringer zu den Eingewanderten wirkte.203 Mit Blick auf die Abnahme der Quote binationaler Ehen nach dem DeutschFranzösischen Krieg, schlieβt sich die Frage an, ob die familiären Verflechtungen innerhalb bestimmter sozialer Schichten beziehungsweise Berufsgruppen rückläufig waren.204 Die Analyse der beruflichen Hintergründe der Ehemänner ergab einen deutlichen Rückgang der binationalen Eheschließungen der bürgerlichen Schichten im ländlichen Raum nach dem Deutsch-Französischen Krieg, um mehr als die Hälfe, von 16 Prozent auf 5 Prozent.205 In der Industrieregion änderte sich die soziale Zusammensetzung der binationalen Paare nicht wesentlich; der Anteil binationaler bürgerlicher Ehen war hier bereits in der Vorkriegszeit sehr niedrig.206 Das Optionsrecht begründet den Rückgang der bürgerlichen Eheschlieβungen nicht, da im germanophonen grenznahen Raum nur ein geringer Anteil der Bevölkerung diese Möglichkeit in Anspruch nahm und auf französisches Staatsgebiet zog.207 Die Abnahme des Anteils binationaler bürgerlicher Ehen steht daher vor allem mit einer nationalen Abgrenzungstendenz der ansässigen bürgerlichen Schichten im Zusammenhang. 203 Siehe zur nationalen Konnotation des Konfessionskonfliktes: Kapitel 2.1. „Kulturkampf. Ein Konfessionskonflikt als nationaler und sozialer Konflikt“. 204 Das Problem der sozialen Aussagekraft der Berufsangabe betrifft besonders die bürgerlichen Berufe. Ein Kaufmann konnte sowohl ein Kramhändler, der eher den unteren Erwerbsschichten zuzuordnen ist, als auch ein wohlhabender Geschäftsinhaber sein. Die hier ermittelten Werte sind daher als ungefähre Angaben zu verstehen. 205 Siehe: Abbildung 38 und 39. 206 Siehe: Abbildung 40 und 41. 207 Zum Optionsrecht Siehe Kapitel: 2.5. „Die Grenze zwischen Lothringen und der Saarregion nach 1871“. 92 16% 12% 30% 5% 15% 45% 38% 39% Bauer/Winzer Handwerker Tagelöhner/Arbeiter Bürger Abbildung 38: Beruflicher Hintergrund der Ehemänner ländlicher Raum (1850-1869) 3% Bauer/Winzer Handwerker Tagelöhner/Arbeiter Bürger Abbildung 39: Beruflicher Hintergrund der Ehemänner ländlicher Raum (1870-1890) 4% 3% 21% 72% 18% 77% Bauer/Winzer Handwerker Tagelöhner/Arbeiter Bürger Abbildung 40: Beruflicher Hintergrund der Ehemänner Industrieregion (1850-1869)208 208 2% Bauer/Winzer Handwerker Tagelöhner/Arbeiter Bürger Abbildung 41: Beruflicher Hintergrund der Ehemänner Industrieregion (1870-1890) In den Abbildungen 40 und 41 wurden L’Hôpital/Carling und Merten-Bibling nicht berücksichtig, da in deren Einwohnerverzeichnissen die Berufe der Ehemänner nicht vermerkt sind. 93 3.3. Zusammenfassung Die Quote binationaler Ehen sowohl in der Industrieregion als auch im ländlichen Raum variierte, war jedoch im gesamten untersuchten Zeitraum hoch. Voraussetzung für diesen hohen Grad familiärer Verflechtungen waren die konfessionellen Gemeinsamkeiten der Grenzraumbewohner. Anhand der starken Schwankungen in der Anzahl und der Quote binationaler Ehen wurden Mechanismen der Integration beziehungsweise Segregation im Grenzraum herausgearbeitet. Im Gegensatz zur Grenzentfernung, die nicht ausschlaggebend für die Intensität der familiären grenzüberschreitenden Verflechtungen war, beeinflusste die Wirtschaftsstruktur das Heiratsverhalten deutlich. Klar zeichnet sich in der Entwicklung und in der Ausprägung der grenzüberschreitenden Familienverflechtungen ein Unterschied zwischen der Industrieregion und dem ländlichen Raum ab. Eine Erklärung für den durchschnittlich höheren Anteil binationaler Ehen in der Industrieregion, ist deren besser ausgebaute Infrastruktur – im Kapitel „Freizeit“ wird dieser Aspekt wieder aufgegriffen – und der im Vergleich zum Land intensivere Arbeitskräfteaustausch und die erhöhte Dauer der Kontakte zwischen den Nationalitäten.209 Ab den 1850er Jahren entwickelten sich der Anteil und die Anzahl binationaler Ehen in der Land- und Industrieregion in entgegengesetzte Richtungen. Stiegen Anzahl und Quote der binationalen Paare im Industrierevier, nahmen diese auf dem Land deutlich ab. Es wurde nachgewiesen, dass der Rückgang der grenzüberschreitenden Familienverflechtungen mit dem Beitritt Luxemburgs in den Deutschen Zollverein begann und sich nach dem DeutschFranzösischen Krieg fortsetzte. Andere auβenpolitische Ereignisse wie Italien- und Krimkrieg wirkten auf dem Land möglicherweise potenzierend auf die 209 Siehe die Kapitel: 5.5.1. „Freizeit ohne Grenzen? Freizeit an der Grenze vor 1871“, 4.1.4. „Arbeiter und Arbeiterbauern“. 94 Abgrenzungstendenz der Grenzraumbewohner, hatten an sich jedoch keine negativen Auswirkungen auf die familiären Verflechtungen.210 Deutlich unterscheiden sich die Landgemeinden von der Industrieregion im Hinblick auf die Auswirkungen des Deutsch-Französischen Krieges. Nahm der Anteil binationaler Ehen während der Annexion im Industrierevier nur in zwei Orten (Schoeneck und Stiring-Wendel) deutlich ab, sank die Quote auf dem Land in allen hier untersuchten Gemeinden. Denkbar ist, dass eine Intensivierung des grenzüberschreitenden Arbeitsmarktes in den 1870er und 1880er Jahren einer der Gründe für den geringen negativen Effekt des Deutsch-Französischen Krieges auf das Heiratsverhalten im Industrierevier war. Neben den vermehrten grenzüberschreitenden Kontakten der Bewohner, war jedoch vor allem der positive emotionale Gehalt der Beziehungen im Kohlenrevier für den marginalen negativen Effekt des Deutsch-Französischen Krieges im Industrierevier verantwortlich. Im ländlichen Raum, Richtung Dreiländereck, hatten sich mit dem Beitritt Luxemburgs in den Deutschen Zollverein die grenzüberschreitenden Kontakte vermehrt, diese waren jedoch gleichzeitig emotional negativ belegt.211 Die Untersuchung des beruflichen Hintergrundes der Ehemänner ergab eine deutliche Abnahme der binationalen bürgerlichen Ehen nach dem DeutschFranzösischen Krieg. Auf dem Land fiel die Quote der bürgerlichen grenzüberschreitenden Eheverbindungen nach dem Krieg auf ein ähnlich niedriges Niveau wie in der Industrieregion. Im Kapitel „Freizeit“ wird der Rückgang der grenzüberschreitenden Verbindungen der bürgerlichen Schichten erneut thematisiert. 210 Im Kapitel 5.5.1. „Freizeit ohne Grenzen? Freizeit an der Grenze vor 1871“ wird dieser Aspekt genauer behandelt. 211 Im Kapitel „Freizeit“ und „Arbeit“ wird dieser Zusammenhang wieder aufgegriffen. 95 4. Arbeit im Grenzraum 4.1. Die verschiedenen Arbeitsbereiche und die Staatsgrenze 4.1.1. Ackerbau In der am 23.10.1829 abgeschlossenen Konvention zwischen Preußen und Frankreich über den endgültigen Grenzverlauf heißt es: Falls ein Grundstück durch die Übereinkunft zerstückelt werde, habe der Bauer die Erlaubnis, die auf den Grundstücken „gemachten Erndten, von welcher Art sie auch seyn mögen, frey, ohne alle Abgaben und ungehindert heim [zu] führen.“ Diese Regelung galt für alle Ländereien, die weniger als fünf Kilometer von der Grenze entfernt lagen.212 Einige Orte hatten das Recht der freien Ausfuhr der auf dem anderen Staatsgebiet geernteten Produkte in bilateralen Nutzungsrechtsvereinbarungen protokollarisch festgehalten.213 Die Beschwerden der Bauern, die diese Ausnahmebestimmung nutzten, zeigen jedoch, dass die Zollbeamten im Grenzalltag diese Regelung nicht immer respektierten. 1843 und 1848 beklagten sich die Gemeinden Merlebach, Rosbruck und Spicheren darüber, dass ihnen die Zollbeamten die freie Einfuhr von Ernteerzeugnissen verweigert hätten, obwohl die Grundstücke weniger als fünf Kilometern von der Grenze entfernt lagen.214 Die Gemeinde Merlebach ging sogar soweit, sich an den zuständigen Minister zu wenden.215 Beschwerden dieser Art 212 LHAK, Best.442, Nr. 6: Derselbe Wortlaut findet sich auch in der Konvention zwischen Bayern und Frankreich von 5.7.1825. Abdruck der Konvention in: ADM, 183M. 213 LHAK, Best.442, Nr. 7: 16 Nutzungsrechtsabkommen zwischen Dörfern in Preuβen und Frankreich, August 1833. Recht der freien Ausfuhr landwirtschaftlicher Produkte der Bauern in Überherrn, Merten und Creutzwald. 214 ADM, 6 P 8: Schriftwechsel der Präfektur mit dem Conseil Municipal von Merlebach sowie mit dem Zoll, Februar-Mai 1843. ADM, 6 P 2: Beschwerde der Gemeinde Merlebach und Rosbruck gerichtet an den Minister. Der leitete die Beschwerde an den Präfekten weiter, 7.6.1848. Beschwerde der Gemeinde Spicheren, Schriftwechsel Unterpräfektur-Präfektur, Juni 1848. 215 96 waren jedoch selten. In der Regel konnten die Bauern ohne Schwierigkeiten die Ausnahmeregelungen für sich in Anspruch nehmen.216 Auch bei der Verarbeitung der landwirtschaftlichen Erzeugnisse gewährten die Behörden den Grenzraumbewohnern in bestimmten Fällen eine Vereinfachung der Zollvorschriften. Beispielsweise wurden die im französischen Rolbing geernteten Getreidekörner traditionell in der Riedelberger Mühle auf deutschem Territorium weiterverarbeitet. Als der französische Zoll 1862 auf der Einhaltung der Ausfuhrvorschriften bestand, bat der Bürgermeister von Rolbing die zuständigen Behörden darum, dass die „Vereinfachung die Körner im Ausland mahlen zu können weiter“ bestehen bleibe.217 Den direkt an der Grenze lebenden Bauern, wurde durch einige Sonderbestimmungen das grenzüberschreitende Arbeiten erleichtert. In der Regel galten jedoch auch für die Bauern die Ein- oder Ausfuhrbestimmungen. So war der Import und Export von landwirtschaftlichen Produkten an bestimmte, hierfür autorisierte Zollämter gebunden. Beispielsweise war 1853 im Departement Moselle nur über folgende Zollämter die Aus- und Einfuhr von Getreide, Mehl und Früchten gestattet : La Malmaison,218 Tellancourt,219 Ville-Houdlemont (nur Ausfuhr), Mont-Saint-Martin, Longlaville, Audun le Tiche, Evrange, Apach, Sierck, Waldwisse, Schreckling, Trois Maisons, Creutzwald, Forbach, Stiring, Grosbliederstroff, Welferding (nur Ausfuhr),220 Sarreguemines (nur Ausfuhr), Frauenberg, Volmunster, Roppeviller, Walschbronn (nur Einfuhr), Sturzelbronn, 216 217 218 Für den Zeitraum bis 1870 wurden lediglich fünf Vorgänge aktenkundig. In zwei der fünf Fälle wurde der Beschwerde nicht stattgegeben, da die Ausnahmeregelung nur dann Gültigkeit besaβ, wenn sich die Ländereien bereits vor der endgültigen Festlegung der Grenze 1829 im Besitz des Bauern befanden. Im Falle einer späteren Grundstückserwerbung auf der anderen Seite der Grenze galt die Zollfreiheit nicht. ADM, 6 P 2: Mit der Begründung wurde die Beschwerde einiger Bauern aus Merlebach und Rosbruck zurückgewiesen. Schriftwechsel Unterpräfekt-Präfekt, April 1848. ADM, 6 P 8: Anfrage des Bürgermeister von Rolbing an den Zoll, weitergeleitet an den Präfekten, 29.4.1862. Gemeint ist Allondrelle-la-Malmaison. 219 Laut Quelle: „Cellancourt“. 220 Laut Quelle: „Velferding“. 97 Schweyen.221 Die zahlreichen Anfragen über Zuständigkeiten der Zollämter und die permanente Aktualisierung der Listen über die Kompetenzbereiche der Zollstationen beweisen den hohen Stellenwert, den die Kontrolle des Warenflusses bei den Behörden hatte.222 In der Arbeitswelt der Bauern war die Grenze auch während der Marktbesuche gegenwärtig. Das Preisgefälle im Grenzraum bescherte den Bauern, die auf den Märkten ihre Waren anboten, eine national gemischte Käuferschaft. In den Zeitungen wurden die Kunden auf beiden Seiten der Grenze über die Preisentwicklung im Nachbarland informiert, sodass diese ihre Einkäufe dementsprechend planen konnten. So veröffentlichte der Courrier de la Moselle jede Woche die Kornpreise des Marktes in Zweibrücken, Sankt Wendel, Saarlouis und zeitweise die Preise des Marktes in Ottweiler, die Saarbrücker Zeitung informierte die Leser über die Kornpreise in Strasbourg.223 Im Vergleich zu den industriellen Lohnarbeitern war jedoch nur ein geringer Teil der Bauern durch die Lage ihrer Besitzungen oder Handelsbeziehungen mit der Grenzsituation konfrontiert. 4.1.2. Legaler und illegaler Handel Die unterschiedlichen Zahlungsmittel waren bei Handelsgeschäften kein Hindernis. Händler und Geschäftsleute nahmen sowohl die preuβische als auch die französische Währung an. Ein alleiniges Grenzraumphänomen war die Annahme ausländischer Zahlungsmittel jedoch nicht. Auch im preuβischen Inland wurde, 221 ADM, 6 P 8: Auflistung der zuständigen Zollämter durch den Direktor des Zolls in Metz, 6.10.1853. 222 ADM, 6 P 8. 223 Courrier de la Moselle: u. a.: 7.8.1851, 4.9.1851, 2.10.1851, 9.7.1863, 3.9.1863, 5.11.1863, 3.4.1866, 7.6.1866, 6.12.1866. Allgemeiner Artikel über die Preisentwicklung in der bayerischen Pfalz und Baden: 18.7.1863. Saarbrücker Zeitung: 13.11.1851, 4.8.1855. Kornpreise in Strasbourg. 98 obwohl gesetzlich verboten, mit verschiedenen Währungen gehandelt.224 Hingegen galt im Grenzgebiet eine Sonderregelung. Die Kabinetsordres vom 5. Juni 1823, 25. November 1826 und 30. November 1829 nahmen die Grenzorte von dem Verbot, mit fremden Währungen zu handeln aus.225 Allerdings versuchten die Behörden in den 1850er Jahren, den Umlauf französischer Kupfermünzen im preuβischen Teil der Grenzregion zu unterbinden. Die Gewohnheiten der Bewohner änderte diese Anordnung jedoch nicht. So meldete ein Bürgermeister 1852 dem Landrat von Saarburg, dass es möglich sei, „dass in den diesseitigen Gemeinden längs der Mosel die fremden Kupfermünzen hin und wider noch im gemeinen Verkehr gebracht werden.“ Laut Bürgermeister würden die Einwohner der Grenzorte wöchentlich zweimal Butter, Eier und sonstige Gegenstände nach Grewenmachern auf den Wochenmarkt zum Verkauf bringen und konnten dort nicht immer preuβische Münzen erhalten.226 Offenbar kursierten die französischen Kupfermünzen nicht nur aus praktischen Gründen weiterhin auf preuβischem Gebiet. Einige Händler erwirtschafteten durch die Gleichstellung des Pfennigs und 224 1852 hatte eine Bekanntmachung der königlichen Regierung in Koblenz auch im Regierungsbezirk Trier für Verwirrung gesorgt. In dieser Bekanntgabe wurden die Kabinettsordres vom 22. Juni 1823 und 30. November 1829 in Erinnerung gerufen, in denen ein Verbot des Einbringens und Verkehrs von ausländischen Münzen ausgesprochen worden war. Folge der Koblenzer Bekanntmachung war, dass die Geschäftsleute des Regierungsbezirkes Trier nunmehr die Annahme sämtlicher ausländischer Währungen verweigerten, auch die des Zollvereins. Der köngliche Polizeidirektor plädierte nun dafür, dass Münzen des Zollvereins weiterhin kursieren dürften, jedoch die Zirkulation der Kupfermünzen der übrigen Staaten, insbesondere der Englischen, „womit das Land gleichsam überschwemmt [sei], ein Damm entgegen gestellt werden möge.“ LHAK, Best. 442, Nr. 1425: Königl. Polizeidirektor an die königl. Regierung, 28.10.1852. 225 Gesetzsammlung für die Königlich-Preuβischen Staaten 1830, Nr. 1, 3: „Allerhöchste Kabinetsorder vom 30sten November 1829, über die Anwendung der Allerhöchsten Order vom 25sten November 1826, wegen Verbreitung der neuen Scheidemünzen in die westlichen Provinzen der Monarchie, auf die östlichen Provinzen.“ Gesetzsammlung für die KöniglichPreuβischen Staaten 1823, Nr. 12, 128: „Allerhöchste Kabinetsorder vom 22sten Juni 1823, daβ die neue Scheidemünze allgemein in Gebrauch kommen und die fremden Silber- und Kupfer-Scheidemünzen nicht blos auβer Kurz gesetzt, sondern auch ihre Einbringung verboten seyn soll.“ Gesetzsammlung für die Königlich-Preuβischen Staaten 1826, Nr. 16, 115: „Allerhöchste Kabinetsorder vom 25sten November 1826, wegen wirksamer Verbreitung der durch das Gesetz vom 30sten September 1821 eingeführten neuen Scheidemünze in die Westlichen Provinzen der Monarchie“. LHAK, Best. 442, Nr. 1425: Bürgermeister von (unleserlich) an den Landrat von Saarburg, 26.12.1852. 226 99 des Centimes einen Extragewinn.227 Das Verbot betraf jedoch nur die ausländischen Kupfermünzen, der Umlauf ausländischer Silbermünzen war im Grenzgebiet weiterhin erlaubt.228 Nach der Annexion Elsass-Lothringens zirkulierten im Reichsland neben den französischen und deutschen Währungen noch zahlreiche andere legale und illegale Münzsorten.229 Sogar nach Inkrafttreten des Reichsmünzgesetzes im Jahr 1875 blieben im Reichsland ausländische Münzen als Zahlungsmittel präsent.230 Die Vielzahl der grenzüberschreitenden Geschäftsbeziehungen lässt sich am Anteil der grenzüberschreitenden Inserate in den Zeitungen erahnen - das Handeln mit verschiedenen Währungen war für den Warenfluss im Grenzraum Vorausetzung und Notwendigkeit zugleich.231 Die Zeitungsannoncen informierten die Grenzraumbewohner über die Ankunft der Kohlen-, Brikett- und Pferdehändler aus Saarbrücken und Malstatt oder über die Möglichkeit, sich traditionelle französische Konditorwaren von einem Forbacher Händler liefern zu lassen.232 Intensiv war offenbar auch der „grenzüberschreitende Kundenverkehr“ in einigen 227 228 LHAK, Best. 442, Nr. 1425: Anonymus aus Saarlouis an die königl. Regierung in Trier, 10.1.1854. Laut des Briefschreibers würden noch massenweise französische Kupfermünzen kursieren. Diese sollten entweder verschwinden oder man solle einen festen Wechselkurs für dieselben bestimmen. LHAK, Best. 442, Nr. 1425: Königl. Regierung in Trier an die Polizeidirektion in Trier, 4.11.1852. 229 Die Aktiengesellschaft für Boden und Kommunal-Kredit meldete im Mai 1874 dem Oberpräsidenten von Elsass-Lothringen, dass im Reichsland die verschiedenartigsten Geldsorten, welche teils legale und teils illegale Zahlungsmittel seien kursieren würden. Sie plädierten daher für eine rasche Einführung der Reichswährung: ADBR, 5 AL 7.1: Aktiengesellschaft für Boden und Kommunal-Kredit an den Oberpräsidenten, 8.5.1874. 230 Beschwerde eines Eingewanderten beim Oberpräsidenten darüber, dass in Lothringen noch eine groβe Menge polnischer Münzen im Umlauf sei, obwohl diese in „Altdeutschland“ bereits eingezogen worden seien: ADBR, 5 AL 7.1: Brief eines „deutschen Patrioten“ aus Metz an den Oberpräsidenten, 8.2.1876. 231 In sechs Monaten des Jahrgang 1851 der Saarzeitung, dem Vorgänger der Saarbrücker Zeitung, wurden 43 Anzeigen gezählt, was im Durchschnitt eine „grenzüberschreitende“ Anzeige jeden dritten Erscheinungstag bedeutet. Mit Blick auf die geringe Seitenzahl der Saarzeitung von vier Seiten ist diese Anzahl bemerkenswert. Ähnliche Ergebnisse ergab die Untersuchung des Courrier de la Moselle. Hier erschienen in den sechs ausgewerteten Monaten des Jahrganges 1851 30 grenzüberschreitende Anzeigen. 232 Kohlen und Briquettehändler: Courrier de la Moselle: 25.1.1859, 7.5.1859, 5.6.1866, 12.7.1866, 6.12.1866, 3.8.1869, 28.8.1869. Pferdehändler: Courrier de la Moselle: 1.3.1851, 3.5.1851, 12.7.1851, 27.9.1851. Lieferung von Konditorwaren aus Forbach: Saarbrücker Zeitungen, 15.6.1866. 100 Geschäften im Grenzraum.233 Die Zeitungsannoncen lassen vermuten, dass die deutsche Kundschaft vor allem wegen des Kleiderkaufes nach Frankreich kam. Der Pariser Chic wirkte sichtbar anziehend auf die Kundschaft von der Saar. Hüte und Schuhe, aber auch französische Spezialitäten, wie Baguette und Champagner, lockten die Saarbewohner in die französischen Städte.234 Sich der Internationalität ihrer Kundschaft bewusst, suchten die Geschäfte und großen Handelshäuser der Grenzregion zweisprachige Mitarbeiter.235 Die Internationalität des Handels wurde durch Ein- und Ausfuhrverbote sowie Zölle eingeschränkt. Neben dem legalen Handel mit Waren, war daher auch die illegale Einfuhr, das Schmuggeln von Waren, eine alltägliche Erscheinung im saarländisch-lothringischen Grenzraum. Die Behörden unterschieden zwischen gewerbsmäβigem Schmuggel und dem „Einschwärzen“ zum eigenen Gebrauch. So sei es „nicht die Absicht jeden, der das eine oder andere Mal eine Kleinigkeit zum eigenen Verbrauch eingeschwärzt hat, der Passkontrollen zu unterweisen.“236 Obwohl das Leben der Grenzraumbewohner laut dieser Anweisung des preußischen Finanzministers des Jahres 1839 nicht grundlegend von der Bekämpfung des Schmuggels beeinträchtigt werden sollte, konnten die 233 Der intensive grenzüberschreitende Kundenkontakt machte die Händler für die Behörden als Informanten interessant. Besonders bei angespannter politischer Lage wurden die Geschäftsleute zur „Stimmung“ der Bevölkerung in den angrenzenden Gebieten befragt. LHAK, Best. 403, Nr. 17986: Wochenbericht der Polizeidirektion vom 9.4.1853. Weitere Berichte: LHAK, Best. 403, Nr. 6584: Landrat von Saarbrücken an den königl. Oberpräsidenten, Dezember 1852. Landrat von Saarbrücken an den königl. Oberpräsidenten, 18.12.1852. LHAK, Best. 403, Nr. 6575: Bericht eines Informanten aus Metz, 4.5.1859. 234 Saarbrücker Zeitung, 10.5.1859: Pariser Schuhlager in Forbach bietet Sommerschuhe; Saarbrücker Zeitung, 13.1.1859, 18.1.1859, 14.5.1959, 17.5.1859: Modegeschäfte in Forbach; Saarbrücker Zeitung, 5.10.1869, 8.9.1869, 9.5.1866: Hute aus Paris in Forbach. Saarbrücker Zeitung 13.1.1859: Das Haus Grumbach aus Sarreguemines gab bekannt, dass die Niederlassung in Forbach für die Wintersaison geschlossen sei und die Kunden aus der Saargegend die kurze Frist nutzen sollten, um sich mit dem Nötigsten zu versorgen. In der Wintersaison wurden die Kunden von der Saar gebeten nach Sarreguemines fahren. Saarbrücker Zeitung 2.12.1851, 28.11.1859, 15.6.1866: Baguette und Champagner. U. a. Courrier de la Moselle: 7.5.1863, 8.11.1855, 28.6.1866, 5.8.1969, 2.10.1869, Saarbrücker Zeitung: 16.1.1851, 1.11.1955, 6.11.1855, 5.5.1859, 14.9.1859, 23.10.1869, 30.10.1869. LHAK, Best. 403, Nr. 145: Finanzminister, 11.3.1839: Anmerkungen des Finanzministers zum Regulatiers vom 12.1.1839 „Regulatier, die Paßschriftlichkeit der in- und ausländischen Grenzbewohner und die polizeiliche Aufsicht über dieselbe betreffend, vom 12. Januar 1839“. 235 236 101 Maβnahmen gegen den Schleichhandel für die Grenzraumbewohner Unannehmlichkeiten mit sich bringen. So verhindern diese Anweisung nicht, dass Händlerinnen, die Produkte auf der anderen Seite der Grenze zum Kauf anbieten wollten, wegen des Verdachtes Schmuggel zu betreiben, am Zoll einer Leibesvisitation unterzogen wurden, von der sie sich sexuell belästigt fühlten.237 Dem Übereifer der Zollbeamten fiel auch ein achtjähriger Junge aus Lauterbach zum Opfer, den die Beamten fälschlicherweise für einen Schmuggler hielten und durch einen Schuss leicht verletzten. Grenzzwischenfälle dieser Art waren nicht selten und so klagte der Courrier de la Moselle “Wieviele Unfälle sind bereits wegen dieser elenden Schmuggler passiert !“238 Die Zeitungsartikel über die Erfolge und vor allem über die Misserfolge der Grenzüberwachung der Zollbeamten, zeugen jedoch vor allem von der Diskrepanz zwischen dem Anspruch der staatlichen Grenzkontrolle und deren Umsetzung in der Praxis.239 4.1.3. Dienstleistung Internationalität beziehungsweise Zweisprachigkeit waren im Grenzraum nicht nur für Händler und Geschäftsleute, sondern auch für Hausangestellte von Vorteil. Vor allem bilinguale Kindermädchen und Hauslehrer suchten über Zeitungsanzeigen Anstellung in bürgerlichen Haushalten oder wurden von den Familien für den 237 238 239 ADM, 6 P 2: 1840er Jahre: Grenzraumbewohnerinnen beschwerten sich beim Untepräfekten, dieser leitete die Beschwerde an den Präfekten weiter. Courrier de la Moselle, 2.10.1869: Im Artikel lautet der Satz „Pour ces misérables chiens de fraudeurs, combien de malheurs sont déjà arrivés!“ ADM, 6 P 8: Zoll an den Präfekten, 21.10.1861: Vorausschauend kontaktierte hier ein Schoenecker Zollbeamter den Präfekten. Der Zöllner befürchtete, dass die unerlaubte Einfuhr von Waren durch ein Haus möglich sei, das ohne Genehmigung sowohl auf preußischem als auch französischem Boden erbaut worden war. Der Abriss konnte jedoch nicht angeordnet werden, da das Haus vor 1829 errichtet worden war, demnach vor der abschließenden Vereinbarung zum Grenzverlauf zwischen Preußen und Frankreich. Saarbrücker Zeitung, 12.3.1863: Bestrafung eines Fuhrmanns wegen Schmuggels von Frankreich nach Preußen; Courrier de la Moselle, 22.3.1855: Ein Bewohner Petite-Rosselles hatte bei der Einfuhr von Korn falsche Angaben gemacht.; Courrier de la Moselle, 19.3.1870: Brigade von Ottange hatte Schmuggler gefasst. Zum Kontrast zwischen Anspruch und Wirklichkeit der staatlichen Grenzkontrolle in anderen Grenzräumen: Sauer, Straße; Stauber, Zentralstaat. 102 Deutsch- und Französischunterricht der Kinder gesucht.240 Bedarf bestand auch an zweisprachigen Sekretären, die besonders bei den Notaren und Handelshäusern der Grenzregion eine Anstellung fanden.241. Ärzte boten ebenfalls ihre Dienste grenzüberschreitend an. Entweder warben sie für ihre Praxen, oder sie kamen persönlich in die grenznahen Städte und behandelten die Patienten vor Ort. Regelmäβig hielten Zahnärzte aus Metz in Forbach und Sarreguemines Sprechstunden für die deutschen und französischen Grenzraumbewohner ab.242 So kündigte auch Dr. Lambert aus Metz an, dass er jeden 2.und 16. des Monats in Forbach im Gasthaus "Zum Goldenen Löwen" Behandlungen vornehmen würde, nicht ohne zu erwähnen, dass er auch Deutsch spreche.243 Die Anzahl der Stellenanzeigen deutet an, dass der grenzüberschreitende Arbeitsmarkt im Dienstleistungssektor bedeutend war.244 240 Courrier de la Moselle: 7.6.1859, 9.6.1859, 10.3.1859, 20.1.1859, 5.11.1863, 7.11.1863, 26.5.1866, 21.6.1866. Saarbrücker Zeitung: 17.7.1851, 23.12.1851, 24.3.1859, 4.7.1863. 241 Stellenanzeigen: u. a.: Courrier de la Moselle: 21.3.1863, 11.6.1863, 17.4.1866, 19.6.1866, 26.6.1866, 10.2.1870. Saarbrücker Zeitung, 5.1.1851: Versteigerung der Ländereien auf der Goldenen Bremm. Informationen bei Notar Sadler in Forbach. Saarbrücker Zeitung, 6.1.1855: Versteigerung in Lixing; Saarbrücker Zeitung, 9.9.1851: Versteigerung in Blieskastel; Saarbrücker Zeitung, 12.7.1855: Grosbliederstroff; Saarbrücker Zeitung, 11.8.1869: Versteigerung in Longeville-les-Saint-Avold. 242 Saarbrücker Zeitung: 15.3.1851, 11.9.1851, 27.12.1851, 10.3.1855, 1.5.1855, 14.7.1855, 11.8.1855, 5.11.1855, 1.3.1859, 2.7.1859, 2.8.1859, 3.1.1863, 5.6.1863, 3.8.1863, 6.6.1866, 29.8.1866, 7.9.1866, 17.10.1866. Saarbrücker Zeitung, 16.11.1859. Neben den Zahnärzten kamen auch andere Fachärzte in die grenznahen Städte. So auch ein Arzt aus dem Departement Meurthe-et-Moselle, der sich auf die Heilung von Brüchen spezialisiert hatte: Saarbrücker Zeitung, 14.5.1859, 11.5.1863, 18.8.1863, 18.6.1869, 10.7.1870. Ein Fabrikant von Bruchbändern aus Saint-Louis im Elsass kündigte seinen Aufenthalt in Forbach in der Saarbrücker Zeitung an: Saarbrücker Zeitung, 2.12.1869. Ein Apotheker aus Forbach bot den Kunden von der Saar unter anderem ein Arzneimittel gegen Geschlechtskrankheiten an: Saarbrücker Zeitung, 24.1.1870. Obwohl der Stellen- und Anzeigenteil des Courrier de la Moselle nicht umfangreich war, erschien im Jahr 1863 durchschnittlich an jedem vierten Tag eine Anzeige. 243 244 103 4.1.4. Arbeiter und Arbeiterbauern Am häufigsten waren die Arbeiter mit der Grenzsituation konfrontiert, da die groβen Industrieanlagen ihre Arbeitskräfte grenzüberschreitend rekrutierten. So waren in der Burbacher Hütte und in der Forbacher Adt’schen Papier- und Lackwarenfabrik zahlreiche Arbeiter von der anderen Seite der Grenze beschäftigt.245 1853 hatte die Firma Adt, mit Hauptsitz in Ensheim, eine Fabrik in Forbach gegründet und Teile der Stammbelegschaft in Forbach weiterbeschäftigt. Auch in der weiteren Firmengeschichte zogen zahlreiche deutsche Arbeiter Richtung Lothringen.246 Die Familie de Wendel hatte in der Nähe ihres Hüttenwerkes für die zugezogenen deutschen und lothringischen Arbeiter sogar eine eigene Stadt (Stiring-Wendel) errichten lassen. Einen groβen Anteil des grenzüberschreitenden Arbeitsmarktes machten die pendelnden Bergarbeiter aus, die vor allem vom Saarrevier Richtung Lothringen zogen. In den lothringischen Zechen waren die Saarbergarbeiter aufgrund ihrer Arbeitserfahrung von Beginn des regulären Steinkohlenabbaues Teil der Belegschaft. Zeitweise stammten hier über 60 Prozent der Arbeiter aus dem preuβischen Teil des Grenzraumes.247 Anzunehmen ist, dass der Anteil der Bergarbeiter von der Saar besonders nach dem Deutsch-Französischen Krieg anstieg.248 Demgegenüber rekrutierte die preußische Bergwerksdirektion fast ausschlieβlich deutsche Arbeiter.249 Die auf der anderen Seite der Grenze beschäftigten Arbeiter zogen entweder dauerhaft in die Nähe ihres Arbeitsplatzes, wie die Arbeiter der Adt’schen Fabrik 245 In der Adt’schen Fabrik waren je nach Konjunkturlage zwischen 700 und 1300 deutsche Arbeiter angestellt. Zahlen nach: Wilmin, Henri: Die Familie Adt und ihre Industriebetriebe, in: Hans Adt, (Hrsg.) ders., Bad Orb 1978, 20f. 246 ebda, 10. 247 Buchheit, Immigration, 45. Eine Auswertung der Belegschaftslisten der de Wendel’schen Zechen ergab, dass zwischen 1867 und 1883 64% der Arbeiter aus der Saarregion und etwa 9% der Bergarbeiter aus anderen deutschen Staaten stammten. 248 Anzeige der Direktion der de Wendel’schen Bergwerksgesellschaft, in der Arbeitskräfte „verschiedener Klassen“ zur dauerhaften Anstellung gesucht wurden. Saarbrücker Zeitung, 15.10.1872. Zur Herkunft der Arbeiter im preuβischen Staatsbergbau: Fehn, Klaus: Preußische Siedlungspolitik im saarländischen Bergbaurevier (1816-1919), Saarbrücken 1981, 233. 249 104 und die Stiringer Hüttenarbeiter, oder Arbeitsrhythmus angepasst, zwischen pendelten, dem wöchentlichen Wohn- und Arbeitsplatz, wie die französischen Arbeiter der Burbacher Hütte und die zahlreichen, in Lothringen beschäftigten saarpreußischen Bergarbeiter.250 War eine tägliche Heimkehr nicht möglich, wohnten die Arbeiter als Kostgänger bei einheimischen Familien oder logierten wie in Petite-Rosselle in sogenannten Schlafhäusern. Die Anzahl der Grenzpendler, die nur an den Wochenenden in ihre Heimatorte zurückkehrten, war beträchtlich. Eine Volkszählung von 1877 ergab, dass in Petite-Rosselle etwa 1700 Personen lebten, deren Hauptwohnsitz sich in der Saarregion befand, was ein Drittel der Petite-Rosseller Gesamtbevölkerung entsprach.251 Die ausgeprägte Grenzpendlerbewegung ist auf die Besitzverhältnisse der Arbeiter zurückzuführen. In ihren Heimatorten waren die Bergarbeiter vielfach Besitzer eines kleinen Hauses und einer Parzelle Land, die in der Woche von der zurückbleibenden Familie bewirtschaftet wurde. Das wöchentliche Pendeln zum Arbeitsplatz erhielt den Arbeitern diese Form einer materiellen Sicherheit. Auf die „Lothringengänger“ trifft der Begriff „Arbeiterbauern“ ebenso zu wie auf die Arbeiter des Saarreviers.252 Wie tief diese Tradition der weiträumigen Grenzpendlerbewegung im saarländisch-lothringischen Grenzraum verwurzelt ist, beweist die Herkunft der Grenzgänger nach dem Zweiten Weltkrieg. In den 1950er Jahren pendelten die Arbeiter aus denselben Gegenden zu ihren Arbeitsplätzen wie zur Anfangszeit der Kohlenförderung. Mit dem Unterschied, dass die Arbeiter 250 ADM, 106 M 1: Innenminister an den Präfekten, 11.2.1859. Anfrage bezüglich der Formalitäten des Grenzübertritts der französischen Arbeiter der Burbacher Hütte. 251 Buchheit, Immigration, 45. 252 Fehn, Klaus: Das saarländische Arbeiterbauerntum im 19. und 20. Jahrhundert, in: Agrarisches Nebengewerbe und Formen der Reagrarisierung im Spätmittelalter und 19./20. Jahrhundert, (Hrsg.) Hermann Kellenbenz, Stuttgart 1975, 195-214. Altenkirch, Gunter: Jeder wußte, wo man ein "Gimmche" machen konnte. Arbeiterbauern an der Saar, in: Richtig daheim waren wir nie. Entdeckungsreisen ins Saarrevier 1815-1955, (Hrsg.) Klaus-Michael Mallmann, Gerhard Paul, Ralph Schock, Bonn 1987, 61-64. 105 durch neuere Transportmittel nunmehr täglich in ihre Wohnorte zurückkehren konnten.253 Im Saar-Mosel- Raum bestand ein ausgeprägter grenzüberschreitender Arbeitsmarkt, der durch Grenzformalitäten nicht behindert wurde.254 Die Behörden versuchten sogar in bestimmten Fällen durch Ausnahmeregelungen das Pendeln zu erleichtern. So bat der Unterpräfekt den Präfekten 1859 um die Erlaubnis, den französischen Arbeitern, die in Burbach beschäftigt waren, Pässe auszustellen, ohne die geforderten Gebühren zu verlangen – dem Antrag wurde stattgegeben.255 Mit der Frage, ob der nachgewiesene intensive Arbeitskräfteaustausch zur Herausbildung grenzüberschreitender Arbeiterorganisationen führte, beschäftigen sich die folgenden Kapitel. 253 254 255 So kamen noch Ende der 1950er Jahre zahlreiche in Lothringen arbeitende Bergarbeiter aus der Umgebung Saarlouis’, Merzigs oder des Hunsrücks. Haby, René: Les Houillères Lorraines et leur région (Bd. 2 : Documentation Hors-Texte), Paris 1965, Karte Nr. 11 « Résidence du personnel et migrations journalières. Zone de recrutement des sièges de Merlebach-Cuvelette », Karte Nr. 12 « Résidence du personnel et migrations journalières. Zone de recrutement du siège Gargan », Karte Nr. 13 « Zone de recrutement du siège Vuillemin », Karte Nr. 14 « Zone de recrutement du siège de Wendel », Karte Nr. 15 « Zone de recrutement des sièges St. Charles ». Siehe Kapitel: 2.3.3. „Der Grenzübertritt. Die Vorschriften und die Realität“. ADM, 106 M 1: Minister des Inneren an den Präfekten, 11.2.1859. 106 4.2. Grenzen der Arbeiterbewegungen im saarländisch- lothringischen Steinkohlenrevier 4.2.1. Arbeiterorganisationen vor 1889 Am Anfang der organisierten Arbeiterbewegungen stand im Grenzraum wie im gesamten Deutschen Reich die Ausbildung des Arbeitervereinswesens.256 Bereits in den 1850er Jahren schlossen sich im Saarrevier Bergarbeiter in Vereinen zusammen.257 Zunächst bildeten sich hier katholische Bergarbeitervereine, welche sich rasch im Steinkohlenrevier verbreiteten, sodass ein dichtes Netz katholischer Bruderschaften und Knappenvereine entstand. Neben diesen konfessionell geprägten Vereinen, wurden auch zahlreiche überkonfessionelle Geselligkeits- und Selbsthilfeorganisationen gegründet.258 Die Entwicklung des lothringischen Bergarbeitervereinswesens begann später. Erst 1876 schlossen sich die Petite-Rosseller Bergarbeiter im Gesangverein Barbara zum ersten lothringischen bergmännischen Verein zusammen.259 Mit dem im Jahr 1881 gegründeten katholischen Arbeiterverein „Union“ in Stiring-Wendel, war der Gesangverein Barbara der einzige Arbeiterverein im lothringischen Steinkohlenrevier vor 1889.260 Zu vermehrten Arbeitervereinsgründungen kam es in 256 257 258 259 260 Zur Geschichte der Arbeiterbewegungen siehe besonders die Forschungsarbeiten Klaus Tenfeldes: Tenfelde, Klaus: Sozialgeschichte der Bergarbeiterschaft an der Ruhr im 19. Jahrhundert, Bonn-Bad Godesberg 1977. Tenfelde, Klaus: Die Entfaltung des Vereinswesen während der Industriellen Revolution in Deutschland (1850-1873), in: Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland, (Hrsg.) Otto Dann, München 1984, 55-114. Tenfelde, Klaus: Bergmännisches Vereinswesen im Ruhrgebiet während der Industrialisierung, in: Fabrik, Familie, Feierabend. Beiträge zur Sozialgeschichte des Alltags im Industriezeitalter, (Hrsg.) Jürgen Reulecke, Wolfhard Weber, Wuppertal 1978, 315-144. Die Informationen zum Arbeitervereinswesen im Saarrevier beziehen sich auf: Mallmann, Klaus-Michael: Die Anfänge der Bergarbeiterbewegung an der Saar (1848-1905), Saarbrücken 1981, 50ff. Zur Lokalisierung des Steinkohlenreviers siehe: Abbildung 42. ADM, 3 AL 463: Genehmigungsverfahren. Weitere Informationen zu den Vereinsaktivitäten: Forbacher Zeitung, 6.1.1881, 11.1.1881. ADM, 3 AL 475: Genehmigungsverfahren. Weitere Informationen zu den Vereinsaktivitäten bei: Mourer, Robert: Mineurs de charbon Lorrain dans l'histoire d'une région frontalière (1856-2004). L'empreinte du syndicalisme chrétien, Sarreguemines 2005, 116. Die Arbeit des 107 Lothringen erst ab den Organisationsmöglichkeiten 1890er zahlten Jahren. daher in den Mangels 1870er Jahren anderer einige lothringische Bergarbeiter der Petite-Rosseller Zeche in die Sterbekassen der Bergarbeiter von Groβrosseln und St. Nikolaus ein.261 Ottweiler Reden Neunkirchen Camphausen Heinitz Dudweiler Sankt Ingbert Saarbrücken Hostenbach Petite-Rosselle Forbach Spittel Merlebach Hombourg - Haut Kohlefeld Bergwerk Abbildung 42: Das saarländisch-lothringische Steinkohlenrevier262 Behindert wurde die Entwicklung des lothringischen Arbeitervereinswesen durch das restriktive Vereins- und Versammlungsrecht, auch „Diktaturparagraph“ genannt, das von der deutschen Regierung aus der Zeit des Zweiten Kaiserreiches für das Reichsland Elsass-Lothringen übernommen worden war.263 Im Gegensatz zu Preuβen, wo nichtpolitische Versammlungen in geschlossenen Räumen ohne Gewerkschaftlers Robert Mourers ist bisher die einzige umfassende Abhandlung über die Entwicklung der Arbeiterbewegung im lothringischen Kohlenrevier. Weiterhin sind die Arbeiten von François Roth zur Arbeiterbewegung in Lothringen als zusätzliche Informationsquelle unerlässlich. 261 Mallmann, Anfänge, 57. Über die Anzahl der in Lothringen arbeitenden Bergarbeiter ist jedoch nichts bekannt. 262 Karte nach: Cartellieri, Walther: Wirtschaftskunde des Saargebietes, Saarlouis 1934, Anhang, Karte „Das Saarkohlengebiet“. Nur die im Text genannten Bergwerke wurden in die Karte eingezeichnet. Mayer, O.: Der elsaβ-lothringische Diktaturparagraph, in: Deutsche- Juristen Zeitung, 4 (1899) besonders 26ff. 263 108 vorherige obrigkeitliche Erlaubnis stattfinden durften, mussten Versammlungen in Elsass-Lothringen grundsätzlich behördlich genehmigt werden, und konnten jederzeit untersagt werden. Ähnlichen Einschränkungen unterlagen im Reichsland die Vereinsgründungen. War in Preußen lediglich die Meldung einer Vereinsgründung bei den Behörden gesetzlich vorgeschrieben, erforderte eine Vereinsgründung in Elsass-Lothringen bis zum Inkrafttreten des Reichsvereinsgesetzes von 1908 eine behördliche Genehmigung, welche den Vereinen jederzeit wieder entzogen werden konnte.264 Der direkte Anlass zur Anwendung dieser restriktiven Bestimmungen im Kohlenrevier war der Streik von 1874 in Petite-Rosselle. Im August 1874 war es hier während eines Arbeitskampfes zu tumultartigen Ausschreitungen gekommen, bei denen das Verwaltungsgebäude demoliert und Zechenbeamte verprügelt worden waren. Die Hauptschuldigen, die sämtlich aus dem preuβischen Groβrosseln stammten, waren vor das Kriegsgericht in Straβburg gestellt und zu hohen Strafen verurteilt worden.265 Vor diesem Hintergrund ist auch verständlich, warum sich das Genehmigungsverfahren des Rechtsschutzvereins in Lothringen so lange hinauszögerte. 4.2.2. Die Rechtsschutzvereine in Lothringen und an der Saar. Anfänge der grenzüberschreitenden Organisation der Bergarbeiter Der große Ruhrgebietsstreik im Mai 1889 führte im gesamten Deutschen Reich zu Arbeiterausständen und Unruhen, und auch im saarländisch-lothringischen Steinkohlenrevier traten die Belegschaften mit ihren Forderungen, begleitet durch spontane Arbeitsniederlegungen, an die Zechendirektionen heran.266 Die 264 O.A.: Das Vereins- und Versammlungsrecht in Deutschland, Berlin 1892, 1, 73. Eine genaue Beschreibung der Entwicklung der Gesetze, die Arbeiterorganisationen betreffend: Nourrisson, Paul: Histoire de la liberté d’association en France depuis 1789, Paris 1920, 78ff. 265 Saargemünder Zeitung, 13.8.1874; Saarbrücker Zeitung, 13.8.1874; Saarbrücker Zeitung, 16.8.1874. Dieses Kapitel wird sich vornehmlich mit dem Bildstocker und dem Forbacher Rechtsschutzverein beschäftigen. Der erst im April 1890 gegründete und bereits im Januar 266 109 Forderungen sowie die Form der Interessenartikulation unterschieden sich von Belegschaft zu Belegschaft und hingen von den Arbeitsbedingungen unter Tage und den Lohnverhältnissen der Zechen ab. Obwohl in den lothringischen Bergwerken nur vereinzelt Bergleute streikten, befürchteten die lothringischen und preußischen Behörden, dass es hier wie im Jahr 1874 zu einem Streik mit Ausschreitungen kommen könnte.267 Der Arbeitskonflikt wurde jedoch in Lothringen Ende Mai auf Verhandlungsebene beigelegt.268 Die während der Streikbewegung vom Mai 1889 gesammelten Erfahrungen mündeten in der Gründung der Rechtsschutzvereine. Seit Mitte Juni 1889 wurde innerhalb des Streikkomitees der Saarbergarbeiter über die Gründung eines Rechtsschutzvereins für das Saarrevier diskutiert. Laut Satzung trat der sogenannte Bildstocker Rechtsschutzverein schließlich am 4. August ins Leben.269 Vermutlich gleichzeitig entstand innerhalb der lothringischen Bergarbeiterschaft die Idee, sich ebenfalls in einem Rechtsschutzverein zusammenzuschließen.270 Bereits im Sommer 1889 hatten Vertreter der lothringischen Bergarbeiterschaft, mit dem späteren Vorsitzenden des 1892 aufgelöste Rechtsschutzverein von St. Ingbert wird nur am Rande berücksichtigt. Zum St. Ingberter Rechtsschutzverein siehe: Mallmann, Anfänge, 138-141. 267 268 269 270 LHAK, Best. 403, Nr. 7008: Königl. Regierungspräsident an den Staatsminister und Minister des Inneren, 20.5.1889. Zunächst hatte man ein Gendarmeriekommando nach Ludweiler an die lothringische Grenze beordert. Die Ausschreitungen blieben jedoch aus. LAS, Best. Landratsamt Saarbrücken, Nr. 1831: Zeitungsausschnitt « St.-Johanner Volkszeitung », 22.5.1889. Zu den Verhandlungen, siehe: Saarbrücker Zeitung, 20.5., 21.5., 25.5., 28.5.1889. LAS, Best. Landratsamt Saarbrücken, Nr. 1831: Bürgermeisteramt Ludweiler an den Landrat, 21.5.1889. Der genaue Verlauf des Arbeitskonfliktes in Lothringen bei: Mourer, Mineurs, 157ff. Minutiös hat Klaus-Michael Mallmann die Entwicklung des Bildstocker Rechtsschutzvereins in seiner Dissertation nachgezeichnet. Ergänzend hierzu skizziert er auf einigen Seiten auch die Entwicklung des lothringischen Rechtsschutzvereins. Mallmann, Anfänge, 142-144. Ähnliche Themenschwerpunkte setzt Horst Steffens in seinen Forschungsarbeiten: Steffens, Horst: Autorität und Revolte. Alltagsleben und Streikverhalten der Bergarbeiter an der Saar im 19. Jahrhundert, Weingarten 1987. Forschungsschwerpunkt ist hierbei die Entwicklung des Bildstocker Rechtsschutzvereins sowie die Sozialgeschichte der saarpreußischen Bergarbeiterschaft. Hingegen wurde die spätere Entwicklung der Gewerkschaftsbewegung bisher noch nicht umfassend erforscht. Die Abhandlung Robert Mourers über die Geschichte der christlichen Gewerkschaftsbewegung in Lothringen liefert besonders für die Anfänge des Rechtsschutzvereins in Lothringen viele Detailinformationen. Mourer, Mineurs. 110 Forbacher Rechtsschutzvereins Nikolas König an der Spitze, den Zusammenkünften im Saarrevier beigewohnt.271 Wurde der Bildstocker Rechtsschutzverein schnell genehmigt, zog sich das Genehmigungsverfahren des lothringischen Rechtsschutzvereins in die Länge. Nachdem aus vereinsrechtlichen Gründen der Anschluss des lothringischen an den Bildstocker Rechtsschutzverein in einer Sitzung in Petite-Rosselle am 23. September gescheitert war, fand eine Woche später auf preußischem Gebiet in Großrosseln unter Rechtsschutzvereins dem Beisein Nikolaus des Warken die Vorsitzenden des Gründungssitzung Bildstocker statt. Die Anwesenden beschlossen, die lothringischen Bergarbeiter in einem eigenen Rechtsschutzverein für Elsass-Lothringen zusammenzuschließen, welcher ganz nach dem Muster des Bildstocker Vereins gebildet werden und eng mit diesem zusammenarbeiten sollte. Beabsichtigt war, die Rechtsschutzvereine in einem Netzwerk zusammenzuschließen.272 Kurz nach dieser Versammlung Anfang Oktober 1889 stellte der designierte Vorsitzende des Forbacher Rechtsschutzvereins Nikolaus König beim Kreisdirektor einen Antrag auf Genehmigung eines Rechtsschutzvereins für Forbach, dem schlieβlich am 7. Dezember 1889 stattgegeben wurde.273 Die Gründungsphase der beiden Rechtsschutzvereine verlief vor dem Hintergrund eines engen Kontaktes der Führungspersönlichkeiten der in Lothringen und im Saarrevier beschäftigten Bergarbeiter. Unklar ist, wie der Kontakt zwischen den Führungsriegen zustande gekommen war. Auffällig ist jedoch, dass die Vorstandsmitglieder der beiden Rechtsschutzvereine fast ausschließlich aus dem nördlichen Randgebiet des Saarreviers stammten. So wurden die beiden Vorsitzenden der Rechtsschutzvereine, Warken und König, in den etwa zehn Kilometer voneinander entfernten Dörfern Hasborn und Kostenbach im Hunsrück 271 Mourer, Mineurs, 121. 272 ADM, 8 AL 13: Zeitungsausschnitt der « Lothringer Zeitung » 25.9.1889. LHAK, Best.442, Nr. 4138: Bericht des Landrates von Saarbrücken an den königlichen Regierungspräsidenten in Trier, 4.10.1889. ADM, 8 AL 13: Kreisdirektor Dieckmann an den Bezirkspräsidenten, 15.10.1889. ADM, 8 AL 13: Kreisdirektor Dieckmann an den Bezirkspräsidenten, 2.12.1889. 273 111 geboren. Beide waren 1889 um die 30 Jahre alt, verheiratet, hatten Kinder und pendelten zwischen Wohnort und Arbeitsplatz.274 Sowohl der gemeinsame regionale Hintergrund als auch die ähnlichen Lebenserfahrungen der Vorsitzenden, erleichterten sicherlich die Zusammenarbeit der Rechtsschutzvereine. Die Vermutung, dass die Verbindungen der beiden Vereine vor allem auf der Grenzpendlerbewegung basierten, bestätigt die Herkunft der Gründungsmitglieder. Mehr als die Hälfte der ersten Mitglieder des lothringischen Rechtsschutzvereins hatte ihren Hauptwohnsitz auf preußischem Territorium und pendelte zwischen Wohnort- und Arbeitsplatz.275 In ihren Wohnorten kamen die Grenzpendler mit den ebenfalls pendelnden, im Saarrevier beschäftigten Bergarbeitern in Kontakt. Die Streikbewegungen Ende 1889 zeigen jedoch, dass die Verbindungen der Rechtsschutzvereine nicht zu einer Koordination der Interessenartikulation im saarländisch-lothringischen Grenzraum führten.276 Die Kooperation der Vorstände setzte sich auch nach der Gründungsphase fort. Am 4. Februar, also zwei Wochen nachdem der erste und der zweite Vorsitzende des Bildstocker Rechtsschutzvereins Nikolaus Warken und Matthias Bachmann offiziell ihre Kandidatur für die Reichstagswahl 1890 bekannt gegeben hatten, wurde der Vorsitzende des lothringischen Rechtsschutzvereins Nikolaus König ebenfalls als Reichstagskandidat aufgestellt.277 Eine Absprache der Verantwortlichen der beiden Rechtsschutzvereine ist wahrscheinlich. An der Saar 274 275 276 277 Nikolaus König wurde am 12.10.1858 als Sohn eines Müllers in Kostenbach geboren. Am 21.9.1877 wurde er in Petite-Rosselle angelegt, pendelte jedoch weiterhin zwischen PetiteRosselle und seinem Hauptwohnsitz in Kostenbach, wo er 1886 heiratete. Mit seiner Frau Margaretha Jost aus Gehweiler hatte er insgesamt zwölf Kinder. AHBL, Vers. 440, Belegschaftsliste, 1867-1883, Eintrag Nikolaus König; Jung, Rudi: Familienbuch der Pfarrei Kastel 1800-1900 für Kastel, Braunshausen, Buweiler, Kostenbach, Nonnweiler 1991, Eintrag: König, Nikolaus. Zur Biographie Warkens siehe: Mallmann, Anfänge, 128. Von insgesamt 52 Mitgliedern wohnten in: Großrosseln: 1, Überherrn: 13, Berus: 2, Altforweiler: 1, Niederlosheim: 2, Bisten: 1, Oppen: 5, Fickingen: 1, Reinsfeld: 1, Michelbach: 1. ADM 8 AL 13, Kreisdirektor an den Bezirkspräsidenten, 15.10.1889. Die preußischen Behörden beobachteten die Streikbewegung in Lothringen im Oktober/November 1889, nahmen aber nicht an, dass diese sich auf die preuβischen Staatszechen ausweiten würde. LHAK, Best. 442, Nr. 4138: Landrat von Saarbrücken an den königl. Regierungspräsidenten, 3.11.1889. Ebenfalls keine grenzüberschreitende Ausprägung hatte der Streik im Dezember 1889 im Saarrevier. Zum genauen Streikverlauf siehe: Mallmann, Anfänge, 166ff. ADM, 8 AL 13: Zeitungsausschnitt der « Straßburger Post », 4.2.1890. Mourer, Mineurs, 128. 112 hatten sich bereits im September 1889 die ersten Wahlkomitees gebildet, sodass in den von beiden Vorsitzenden besuchten Versammlungen im Oktober 1889 die Möglichkeit bestanden hatte, über die Reichstagskandidatur zu diskutieren.278 Zudem weisen die Wahlkämpfe der Kandidaten Parallelen auf. Warken, Bachmann und König betonten gleichermaβen ihre politische Unabhängigkeit und wiederholten in diesem Zusammenhang ohne Unterlass, dass sie keine Sozialisten seien, sondern sich lediglich als Arbeiterkandidaten für die Verbesserung der Verhältnisse des Arbeiterstandes einsetzen würden.279 Trotz der aufgezeigten Ähnlichkeiten der Wahlkampagne der drei Reichstagskandidaten und der Ankündigung einer engen Zusammenarbeit beider Vereine im Oktober 1889, sind nach der behördlichen Genehmigung des lothringischen Rechtsschutzvereins und während des Wahlkampfes keinerlei Kontakte mehr zwischen dem Forbacher und Bildstocker Rechtsschutzverein dokumentiert. Wahrscheinlich war für den Kontaktabbruch das preuβische Vereinsgesetz verantwortlich, das Verbindungen politischer Vereine untersagte.280 Vor diesem Hintergrund ist auch die Aussage des Gemeindevorstehers von Klarenthal zu verstehen, der zu Protokoll gab, dass jeder Kontakt des Forbacher Rechtsschutzvereins zum Bildstocker Verein „von oben herab untersagt“ sei.281 Die beiden Rechtsschutzvereine mussten nun, da sich ihre Vorsitzenden als Reichstagskandidaten zur Wahl gestellt hatten, befürchten, von den Behörden als politische Vereine betrachtet zu werden. Bis zur Reichstagswahl waren die Vereine demnach gezwungen, den Kontakt zum Nachbarverein zu vermeiden, um der Gefahr eines Verbotes aus dem Weg zu gehen. Bereits im Oktober 1889 hatten die 278 Mallmann, Anfänge, 173; LHAK, Best. 442, Nr. 4138: Bericht des Landrats von Saarbrücken über eine Versammlung in Großrosseln, an der Warken und König teilnahmen, gerichtet an den königl. Regierungspräsidenten, 4.10.1889. 279 Zum Wahlkampf Warkens und Bachmanns: Bellot, Josef: Hundert Jahre politisches Leben an der Saar unter preußischer Herrschaft (1815-1918), Bonn 1954, 181ff. Zum Wahlkampf Königs: Hiery, Hermann: Reichstagswahlen im Reichsland. Ein Beitrag zur Landesgeschichte von Elsass-Lothringen und zur Wahlgeschichte des Deutschen Reiches 1871-1918, Düsseldorf 1986, 152. 280 O.A.: Vereins- und Versammlungsrecht, 84. 281 LHAK, Best. 442, Nr. 4169: Bericht vom 27.1.1890 des Gemeindevorstehers Krämer von Klarenthal über die Versammlung des Rechtsschutzvereins Klarenthal am 26.1.1890. 113 Behörden über diese Möglichkeit eines rechtlichen Einschreitens einen regen Schriftverkehr geführt.282 Gestützt wird die Annahme eines „strategischen“ Kontaktabbruchs beider Vereine durch die Wiederaufnahme der Beziehungen nach der Reichstagswahl. So nahm Nikolaus König bereits Mitte März wieder an einer Bergarbeiterversammlung in Dudweiler teil.283 Intensiv war die Zusammenarbeit auch im Vorfeld des im September 1890 in Halle stattfindenden „Deutschen Bergarbeitertages“. Im Zentrum der Diskussion stand die Frage, ob dort sozialdemokratische Ziele propagiert werden würden. Der Meinungsaustausch zwischen den beiden Rechtsschutzvereinen darüber, ob eine Abordnung nach Halle reisen solle, war rege. 284 Nachdem sich der lothringische Rechtsschutzverein Ende Juli während einer Versammlung im preuβischen Großrosseln für die Teilnahme am Delegiertentag ausgesprochen hatte,285 nahm der Vorsitzende König Kontakt zum Nachbarverein auf.286 Die Beratungen mündeten schließlich in der Wahl der Delegierten.287 Gemeinsam nahmen Vertreter des lothringischen, Bildstocker und Pfälzer Rechtsschutzvereins vom 15. bis 19. September 1890 am ersten deutschen Bergarbeiterkongress in Halle teil.288 Hatten die Bergarbeiter des Saarreviers und des lothringischen Reviers die Beteiligung am nationalen Bergarbeiterkongress in Halle relativ einheitlich 282 LAS, Best. Landratsamt Saarbrücken, Nr. 1833: Regierungspräsident an den Landrat von Saarbrücken, 18.10.1889; LAS, Best. Landratsamt Saarbrücken Nr. 1835: Bericht der Polizeiverwaltung an den Staatsanwalt in Saarbrücken, Oktober 1889. 283 LHAK, Best. 403, Nr. 7011: Artikel der St.-Johanner Volkszeitung vom 17.3.1890. 284 Mallmann, Anfänge, 199. LAS, Best. Landratsamt Saarbrücken, Nr. 1836: Bericht des Bürgermeisteramtes von Ludweiler an den Landrat von Saarbrücken, 9.8.1890. LAS, Best. Landratsamt Saarbrücken, Nr. 1836: Bericht des Bürgermeisters von Friedrichsthal über eine Versammlung am 3.8. an den Landrat von Saarbrücken, 4.8.1890. 285 286 287 288 Im Saarrevier wählte jede Berginspektion, mit Ausnahme Neunkirchens, einen Delegierten: Mallmann, Anfänge, 200. Für Lothringen wurde in Großrosseln in einer Versammlung am 24. August Nikolaus König als Abgeordneter bestimmt LAS, Best. Landratsamt Saarbrücken, Nr. 1836: Bürgermeister von Ludweiler an den Landrat von Saarbrücken, 25.8.1890. LHAK, Best. 442, Nr. 4304: Landrat von Saarbrücken an den königl. Regierungspräsidenten, 25.8.1890. Der Pfälzer Rechtsschutzverein St. Ingbert wählte seinen ersten Vorsitzenden Peter Groß zum Delegierten. Mallmann, Anfänge, 141. 114 beschlossen,289 führte die Diskussion über die Entsendung einer Delegation zum Pariser internationalen Bergarbeiterkongress im Grenzraum zu hitzigen Debatten. Nicht nur das Vertrauen auf den Reformwillen des Kaisers und die Angst vor einer Stigmatisierung als Sozialisten war für diese ablehnende Haltung eines Teiles der Arbeiterschaft verantwortlich, sondern auch der internationale Charakter des Kongresses.290 Die Kongressbefürworter konnten sich in Lothringen und an der Saar durchsetzen. Nikolaus König fuhr vom 31. März bis 4. April 1891 gemeinsam mit Warken, Thome, Schillo und Müller zum internationalen Bergarbeiterkongress nach Paris.291 Einerseits polarisierte die Debatte über den Pariser Kongress die Bergarbeiterschaft in den beiden Revieren, anderseits trug die Diskussion dazu bei, die Zusammenarbeit der Führungsriege der beiden Rechtsschutzvereine weiter auszubauen. So unterstützte Nikolaus König den Bildstocker Rechtsschutzverein auf Versammlungen im Saarrevier in seiner Kampagne gegen das neue Knappschaftsstatut und bei der Anwerbung neuer Mitglieder.292 Die Teilnahme der Delegation des Saarreviers und des lothringischen Reviers am Kongress in Paris verstärkte die bereits im Vorfeld des Kongresses einsetzende Polarisierung der Bergarbeiter. Vor allem die Kranzniederlegung einer deutschen Delegation am 289 Nur die Inspektion Neunkirchen hatte abgelehnt. 290 Mallmann, Anfänge, 229. Zweiter Internationaler Congress der Bergarbeiter. Abgehalten am 31 März und 1, 2, 3, 4 April 1891 in der Bourse du Travail, Paris. Officieller Bericht, London 1891, 5. Nikolaus Warken und Nikolaus König wurden als Stimmzähler für die deutschsprachigen Kongressteilnehmer bestimmt. König wird jedoch nicht als Delegierter in dem Bericht aufgelistet. Ob man damit einer Verletzung der nationalen Gefühle der Gastgeber aus dem Weg gehen wollte, oder ob König schlicht vergessen wurde, ist nicht zu sagen. Zum Kongress in Paris und zur Teilnahme Königs siehe auch: LHAK, Best. 422, Nr. 4221: Artikel aus der St.-Johanner Volkszeitung, 2.4.1891. LHAK, Best. 442, Nr. 4221: Landrat von Saarbrücken an den königl. Regierungspräsidenten, 12.3.1891. Bericht über eine Versammlung in Ludweiler am 21.2.1891. Im Februar und März versuchten die Vorstandsmitglieder der beiden Rechtsschutzvereine gemeinsam, die Bergleute der preuβischen Privatgrube Hostenbach von der Versteigerung der Grubenarbeiten abzubringen und zum Eintritt in den Rechtsschutzverein zu bewegen. Am 15. Februar sollten zu diesem Zweck Warken und König in Differten während einer allgemeinen Bergarbeiterversammlung sprechen. Da Warken jedoch verhindert war, erschien nur Nikolaus König. Eine weitere Versammlung wurde für den 1. März in Hostenbach ebenfalls mit Warken und König als Hauptredner angekündigt. LHAK, Best. 442, Nr. 4221: Bürgermeister von Differten an den Landrat von Saarlouis, 26.2.1891. 291 292 115 letzten Kongresstag am Kommunardengrab des Pariser Friedhofs „Père Lachaise“, bestätigte die Einwände der Kongressgegner. Obwohl die Delegierten nach ihrer Rückkehr schnell bemüht waren, ihre Nichtbeteiligung zu beteuern, flammte der Konflikt zwischen Kongressbefürwortern und –gegnern in Lothringen und an der Saar nach der Rückkehr der Delegierten erneut auf.293 Auf der einen Seite deutete sich bereits die Radikalisierung eines Teiles der Bergarbeiterschaft an, welcher sich immer offensichtlicher zu sozialdemokratischen Grundsätzen bekannte. Auf der anderen Seite zeigte sich, dass viele Bergarbeiter ihre religiöse Überzeugung nicht mit der Verfolgung sozialdemokratischer Ziele vereinbaren konnte. Dieser Polarisierungsprozess bewirkte auch das Ende der Zusammenarbeit der beiden Rechtsschutzvereine. Die lothringische Vorstandsriege Ausrichtung der vertrat weiterhin Arbeiterbewegung, eine während christlich-konservative sich die Bildstocker Führungspersönlichkeiten immer offener zu sozialdemokratischen Ideen bekannten. So gestand das Bildstocker Vorstandsmitglied Thome später, an der Kranzniederlegung in Paris teilgenommen zu haben, und auch die Streikwelle im Mai 1891 offenbarte die Richtungsunterschiede zwischen lothringischem und Bildstocker Rechtsschutzverein. König sprach sich gegen eine Beteiligung am Streik und für den Beschwerde- und Verhandlungsweg aus. Im Saarrevier rief hingegen die Führungsriege des Rechtsschutzvereins zum Solidaritätsstreik und zur Unterstützung der streikenden belgischen Bergarbeiter auf.294 Gegensätzlich war auch die Haltung der beiden Rechtsschutzvereine zum „Verband deutscher Bergarbeiter“. Die lothringische Vereinsführung distanzierte sich vom Verband, als dessen sozialdemokratische Orientierung offenkundig wurde, wohingegen der Bildstocker Rechtsschutzverein Vertreter zur ersten Generalversammlung im Juli 1891 sowie zu den Generalversammlungen des Jahres 1892 und 1893 sandte und sich auch an der Führungsarbeit beteiligte.295 Schlieβlich wurden der Redakteur des 293 294 295 LHAK, Best. 442 Nr. 4221: Bericht des Bürgermeisters von Ludweiler an den Landrat, 14.4.1891. ADM, 8 AL 13: Zeitungsbericht (o.Q), 10.5.1891. Mallmann, Anfänge, 230. Mallmann, Anfänge, 231. Mallmann, Anfänge, 204. 116 Vereinsorgans des Bildstocker Rechtsschutzvereins „Schlägel und Eisen“, Peter Weyand, und das Vorstandmitglied Jakob Thome bei der Reichstagswahl 1893 als Kandidaten der SPD aufgestellt. Demgegenüber war der Vorsitzende des lothringischen Rechtsschutzvereins Nikolaus König im Volksverein für ein katholisches Deutschland aktiv und legte im Juni 1892 in einer Versammlung den lothringischen Bergarbeitern den Beitritt in den Volksverein nahe.296 Der Richtungsstreit innerhalb der Bergarbeiterschaft war der entscheidende Grund für das schnelle Ende der beiden Rechtsschutzvereine. Im Januar 1893 reichte König beim Kreisdirektor noch einen Antrag zur Genehmigung einer Bergarbeiterversammlung ein, welcher jedoch abgelehnt wurde, dann enden die Nachrichten über die Aktivitäten des lothringischen Rechtsschutzvereins, in dem sich noch 1890 über 60 Prozent der lothringischen Bergarbeiter organisiert hatten.297 Nach dem missglückten Streik zur Jahreswende 1892/93 zerfiel auch der Bildstocker Rechtsschutzvereins rasch. Im Dezember 1893 hatte dieser nur noch elf Mitglieder. Auf diese Bedeutungslosigkeit herabgesunken, existierte er noch bis zu seiner offiziellen Auflösung am 27. August 1896.298 4.2.3. Das Ende der Rechtsschutzbewegung und Beginn der Konfrontation zwischen sozialdemokratisch und christlich orientierten Arbeitern Am Ende der Rechtsschutzvereinsbewegung hatten die Vorstände der beiden Vereine unterschiedliche Richtungen eingeschlagen. Vertrat die lothringische Führungsriege die christliche Arbeiterbewegung, schloss sich die Mehrheit der Bildstocker Führungsriege der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung an. Dieser Polarisierungsprozess kann auch innerhalb der Bergarbeiterschaft festgestellt werden, mit dem Unterschied, dass dieser gegenläufig zu dem der Führungsriege verlief. Gröβere Teile der lothringischen Bergarbeiterschaft waren 296 Mallmann, Anfänge, 144, Anmerk.24. 297 Saarbrücker Zeitung, 14.1.1893. Berechnet nach: Mitgliederzahlen bzw. Belegschaftszahlen bei: Mourer, Mineurs, 138; Haby, Houillères, Bd. 2., o.S. 298 Mallmann, Anfänge, 314. 117 sozialdemokratischen Ideen gegenüber aufgeschlossen, wohingegen die saarpreuβischen Bergarbeiter christlich-konservativ eingestellt waren.299 Bereits im März 1890 bemerkte der Bürgermeister von Ludweiler, dass die Bergarbeiter in Lothringen der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung näher ständen.300 Ein anderer Bericht thematisiert, dass der lothringische Rechtsschutzverein durch den Besuch des Pariser Kongresses „einen empfindlichen Stoß erlitten“ habe und sich eine „vollständige Gegenströmung mit vielen Anhängern bemerkbar“ mache. Diesen „Hitzköpfen“ sei der Vorsitzende König nicht radikal genug.301 Über den lothringischen Rechtsschutzverein urteilte daher eine Zeitung, man wolle „die Bewegung in ein Fahrwasser [bringen] von dem sich die christlich gesinnten Bergleute fern“ halten würden.302 Die Abwahl des katholisch-konservativ orientierten Vorstandsmitgliedes Herber nach seinem deutlichen Auftreten als Gegner einer international organisierten Bergarbeiterbewegung im Mai 1891 zeigt, dass der Einfluss sozialistischer Ideen im lothringischen Kohlenrevier relativ groß war. 303 Eine Rede des Kaplans Dasbach gegen die sozialdemokratische Arbeiterbewegung wurde von den anwesenden lothringischen Arbeitern mit Rausrufen kommentiert.304 Auch die Wahlergebnisse von 1893 bestätigen die sozialdemokratische Orientierung eines Teiles der lothringischen Arbeiterschaft. Im Wahlkreis Sarreguemines- Forbach kandidierte Joseph Leopold Emmel für die SPD, ein im Grenzraum bekannter Parteifunktionär.305 Das Wahlergebnis bestätigte, was sich bereits innerhalb der erfolgreich verlaufenden Wahlkampagne andeutete - 299 Vgl. Mourer, Mineurs, 132ff. Mourers setzt die christlich-soziale Ausrichtung des Vorstandes mit der Ausrichtung der gesamten lothringische Arbeiterschaft gleich. 300 LAS, Best. Landratsamt Saarbrücken, Nr. 1837: Bürgermeisteramt Ludweiler an den Landrat, 11.3.1890. 301 LHAK, Best. 442, Nr. 4380: Bürgermeister von Ludweiler an den Landrat, 9.5.1891. 302 ADM, 8 AL 13: Zeitungsbericht (o.Q), 10.5.1891. 303 LHAK, Best. 442, Nr. 4221: Bericht des Bürgermeisters von Ludweiler an den Landrat von Saarbrücken, 28.3.1891. 304 ADM 8 AL 13: Artikel der Lothringer Zeitung, 6. 2. 1891. 305 Joseph Leopold Emmel (1863-1919): Hauptamtlicher Parteifunktionär der SPD. Auf Geheiß der Parteileitung siedelte er im Dezember 1891 nach St. Johann um und leitete die Zeitung "Bote von der Saar. Organ des werkthätigen Volkes des Saar- und Bliesgaues". Mallmann, Anfänge, 262. 118 der SPD Kandidat erhielt im Wahlkreis Sarreguemines- Forbach 25 Prozent der abgegebenen Stimmen.306 Gegensätzlich verlief die Entwicklung im Saarrevier. Als sich der Vorstand des Rechtsschutzvereins immer offensichtlicher der SPD zuwandte, vermehrten sich die Forderungen nach einem neuen, christlich orientierten Vorstand. Wurden für den SPD-Kandidaten im lothringischen Steinkohlenrevier bei der Reichstagswahl 1893 25 Prozent der Stimmen abgegeben, erlitt die SPD im Saarrevier eine herbe Niederlage. Obwohl die SPD mit Thome und Weynand prominente Kandidaten aufgestellt hatte, konnte sie lediglich ein Fünftel der Stimmen auf sich vereinen, die Warken und Bachmann im Jahr 1890 erhalten hatten.307 Der Polarisierungsprozess innerhalb der Bergarbeiterschaft des Grenzraumes legt die Grenze zwischen sozialdemokratisch orientierten und christlich-konservativen Bergarbeitern offen, deren Verlauf deutlich die ehemalige nationale Grenze nachzeichnet. 4.2.4. Die sozialdemokratische Arbeiterbewegung. Gescheiterte Organisation, aber erfolgreiche Einflussnahme im lothringischen Steinkohlenrevier Die sozialdemokratischen Tendenzen innerhalb der lothringischen Arbeiterschaft und die mehrheitlich christliche Ausrichtung der Saarbergarbeiter, spiegeln sich auch in den späteren Arbeiterbewegungen im Grenzraum wider. Eine in Lothringen und im Saarrevier groβangelegte Werbekampagne des Alten Verbandes anlässlich des einmonatigen Steikes der lothringischen Bergarbeiter im Mai 1899 hatte nur in Lothringen Erfolg.308 Die bis 1900 eingetretenen 700 Mitglieder waren fast 306 Siehe Abbildung 43. ADBR, 87 AL 400: Zeitungsausschnitt der « Metzer Presse », 19.1.1893. Soell, Arbeiterbewegung, 270. 307 Mallmann, Anfänge, 308. 308 Zum Streikverlauf siehe die Saargemünder Zeitung vom: 10.5.1899, 14.5.1899, 20.5.1899, 2.6.1899, 4.6.1899; sowie: Mourer, Mineurs, 199ff. 119 ausschlieβlich Arbeiter der Bergwerke in Petite-Rosselle, L’Hôpital und Carling.309 Bei einer Belegschaftsstärke von 5700 Bergarbeitern bedeutet das immerhin einen Organisationsgrad von 12 Prozent.310 Im Saarrevier war die Mitgliederwerbung hingegen erfolglos, ebenso scheiterten die Bemühungen des Alten Verbandes, den Streik über die Grenze auszuweiten.311 Aufgrund der Streitigkeiten um die Finanzierung eines lothringischen Rechtsschutzbüros, deren Kosten die Mitglieder alleine tragen sollten, traten jedoch die meisten Bergarbeiter aus Protest wieder aus dem Alten Verband aus.312 1904 wurde schlieβlich, aus Verbandsmitteln finanziert, in St. Johann ein Arbeitersekretariat für das Saarrevier und das lothringische Kohlenrevier eingerichtet.313 Erfolgreich waren die vom Sekretariat im gesamten Grenzraum organisierten Werbemaβnahmen jedoch nicht.314 1902 verzeichnete der Alte Verband im Saarrevier und in Lothringen lediglich 26 Mitglieder, bis 1905 stieg die Anzahl auf 280 an, sank jedoch 1908 bereits wieder auf 276 Mitglieder.315 Bei einer Belegschaftsstärke von 13000 im lothringischen Kohlenrevier, und 53000 in den staatseigenen Bergwerken im Saarrevier im Jahr 1910, war dies eine 309 310 311 312 LHAK, Best. 442, Nr. 4157: Landrat von Saarbrücken an den königl. Regierungspräsidenten, 20.1.1901. LAS, Best. Landratsamt Saarbrücken, Nr. 1842: Vorsitzende der königl. Bergwerksdirektion Saarbrücken an den Landrat, 25.1.1901. Belegschaftszahlen nach: Haby, Houillères, Bd. 2., o.S. Sander, Struktur, 59. Roth stellt hingegen heraus, dass es auch im Saarrevier zu einer Streikbewegung kam. Vgl.: Roth, Konflikte, 260. Die ausgewerteten Zeitungsartikel und Berichte der preuβischen Behörden betonen hingegen das Ausbleiben einer Streikbewegung im Saarrevier. Saargemünder Zeitung vom: 10.5.1899, 14.5.1899, 20.5.1899, 2.6.1899, 4.6.1899; LHAK, Best. 442, Nr. 4157: Landrat von Saarbrücken an den Regierungspräsidenten, 1.9.1899; ADBR, 27 AL 226: u. a. ein Zeitungsartikel im « Straßburger Tageblatt », 8.5.1899. LHAK, Best. 442, Nr. 4157: Landrat von Saarbrücken an den königl. Regierungspräsidenten, 20.1.1901. LAS, Best. Landratsamt Saarbrücken, Nr. 1842: Vorsitzende der königl. Bergwerksdirektion Saarbrücken an den Landrat, 25.1.1901. 313 Mallmann, Anfänge, 325. 314 Alleine in Lothringen fanden im Jahr 1909 in 17 Ortschaften 31 Versammlungen des Alten Verbandes statt. (besonders in Moyeuvre-Grande, Merlebach, Porcelette, L’Hôpital): Bour, Carl: Die Arbeiterorganisation in Deutsch-Lothringen, Breslau 1916, 6. Protokoll der Verhandlungen des 5. Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands, Köln 22. 27. Mai 1905, 84; Protokoll der Verhandlungen des 6. Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands, Hamburg 22. – 27. Juni 1908; Andere Zahlen im Jahresbericht 1907/1908 des Verbandes der Bergarbeiter Deutschlands hier: Zahlstellen: 1906: 17, 1907: 20, 1908: 51; Mitglieder: 1906: 680, 1907: 890, 1908: 996. 315 120 verschwindend geringe Zahl.316 Die Bemühungen des Alten Verbandes, sich im Steinkohlenrevier im saarländisch-lothringischen Grenzraum zu etablieren, waren gescheitert. Trotz der Offenheit der lothringischen Bergarbeiter für sozialdemokratische Ideen, misslang auch hier die gewerkschaftliche Organisation der Arbeiter, ebenso wenig bildeten sich sozialdemokratisch orientierte Vereine oder konnte die SPD Mitglieder werben. 317 Dennoch war der Einfluss des Alten Verbandes auf die lothringische Belegschaft relativ groß. Auf Anraten des Alten Verbandes wurde der Streik 1908 in Merlebach weitergeführt und die sozialdemokratischen Gewerkschaftler konnten sogar den Vertreter des christlichen Gewerkvereins so unter Druck setzen, dass sich dieser trotz geäußerter Bedenken letztlich ebenfalls für eine Fortführung des Merlebacher Streiks aussprach.318 Im Dezember 1910 beklagten sich die Delegierten des Berliner Verbandes auf dem Bezirksverbandstag über „die unaufhaltsame Zunahme der Sozialdemokratie in Lothringen, besonders in den Kreisen Forbach und Saargemünd“.319 Ebenso konnte die SPD im Wahlbezirk SarregueminesForbach im Gegensatz zum Saarrevier, beachtliche Erfolge erzielen. Wie bereits erwähnt, erreichte die SPD 1893 25 Prozent der abgegeben Stimmen. 1898 wurden 15,8 Prozent der Stimmen für die SPD abgegeben, 1903 20,4 Prozent, 1907 15,5 Prozent und 1912 22,3 Prozent.320 Der Unterschied zum Saarrevier ist deutlich, hier blieb die SPD eine Splitterpartei ohne nennenswerte Bedeutung.321 316 317 In Lothringen lag die Anzahl der Belegschaftsmitglieder im Jahr 1905 bei etwa 8500 und im Jahr 1908 bei 12000. In den staatseigenen Zechen des Saarreviers waren 1905 46 000 Arbeiter beschäftigt. Zahlen bei: Haby, Houillères, Bd. 2., o.S. und Fehn, Siedlungspolitik, 227. Zum Vereinswesen siehe Kapitel: 5.2.1. „Bürgerliche und katholische Vereinsverflechtungen. Eine Zäsur zwischen Vor- und Nachkriegszeit“. Zur Mitgliederentwicklung der SPD in Elsass-Lothringen: Hiery, Reichstagswahlen, 85ff. 318 Der Arbeiter. Organ des Verbandes der katholischen Arbeiter-Vereine (Sitz Berlin), 3.1.1909. 319 Der Arbeiter. Organ des Verbandes der katholischen Arbeiter-Vereine (Sitz Berlin), 18.12.1910. Der französische Ortsname für Saargemünd ist Sarreguemines. Siehe: Abbildungen 43-47. 320 321 Die Pfalz stellt hier eine Ausnahme dar. Hier begünstigte die protestantische Konfession eines Teiles der Bevölkerung die Akzeptanz der Sozialdemokratie in der Bevölkerung. Zum Einfluss der SPD in der Pfalz siehe: Barmbold, Sigrid; Staudt, Michael: Die Roten im Schwarzen Eck. Die Anfänge der Sozialdemokratie in St. Ingbert 1889-1919, St. Ingbert 1991. 121 Was sich mit der Polarisierung der Arbeiterschaft in eine radikale und gemäβigte Arbeiterbewegung in der Zeit der Rechtsschutzvereinsbewegung andeutete, bestätigt sich in der weiteren Entwicklung der Arbeiterbewegungen im Grenzraum. Erstens: die „nationale“ Grenze beschrieb die Grenzen des Einflussbereiches der SPD. Zweitens: trotz des Einflusses der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in Lothringen entwickelte sich dort kein organisiertes sozialdemokratisches Milieu. 4.2.5. Die christlichen Arbeiterorganisationen. Ausdruck eines grenzüberschreitenden katholischen Milieus Im Gegensatz zu den misslungenen Organisationsbemühungen der Sozialdemokraten etablierte sich, als Bestandteil eines grenzüberschreitenden katholischen Milieus, ein bedeutendes grenzüberschreitendes Netzwerk von Arbeitervereinen. Die christlich-gewerkschaftliche Organisation der Arbeiter scheiterte in Lothringen jedoch ähnlich deutlich wie die sozialdemokratische Gewerkschaftsbewegung, obwohl der Gewerkverein wie auch der Alte Verband bemüht waren, die Arbeiter grenzüberschreitend zu organisieren. So gründete der Gewerkverein 1904 einen regionalen Verband für das Saarrevier, dem die lothringischen Steinkohlenzechen zugeordnet waren.322 Der Bezirk „Saarrevier“ unterteilte sich in drei Unterbezirke: Forbach, Neunkirchen und Saarbrücken, welche jeweils von Arbeitersekretariaten betreut wurden.323 Erst im November 1911 wurde das lothringische Kohlenrevier dem Bezirk „Lothringen“ angegliedert, dessen Verwaltungssitz sich in Thionville befand. Für das lothringische Steinkohlenrevier und die preußischen Dörfer Emmersweiler, Nassweiler und St. 322 Geschäftsbericht des Vorstandes des Gewerkvereins christlicher Bergarbeiter Deutschlands für die Jahre 1905 und 1906 und Protokoll der 11. Generalversammlung abgehalten vom 29. Juni bis 2. Juli 1907 zu Gelsenkirchen, 106. Der Grund für diese verzögerte Etablierung des Gewerkvereins war der Widerstand des Bischofs von Trier und Teilen der katholischen Geistlichen gegen die Gründung einer christlichen Gewerkschaft. 323 Mourer, Mineurs, 215. 122 Nikolaus war nun das Büro im lothringischen Merlebach zuständig.324 Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges blieb diese grenzüberschreitende Organisationsstruktur erhalten. Trotz der intensiven Werbung der Gewerkschaftsvertreter im gesamten Kohlenrevier war der Gewerkverein nur im Saarrevier erfolgreich.325 Im Mai 1911 wurden in beiden Revieren insgesamt 15648 Mitglieder registriert, von denen lediglich 198 Mitglieder im Kreis Forbach lebten.326 Obwohl das Zentrum bei den Reichstagswahlen in Lothringen erfolgreich war und der Zentrumskandidat und christliche Gewerkschaftler Joseph Collet 1911 im Wahlkreis ForbachSarreguemines die Landtagswahl gewann,327 hatte der Gewerkverein auf lothringischem Gebiet ebenso viele beziehungsweise ebenso wenig Mitglieder wie der Alte Verband. Hingegen organisierten sich die lothringischen Bergarbeiter in beachtlicher Zahl in katholischen Arbeitervereinen. Hatten sich auf preuβischer Seite des Saarreviers die Arbeiter bereits in den 1850er Jahren in katholischen Arbeitervereinen zusammmen geschlossen, wurden im lothringischen Kohlenrevier die ersten katholischen Arbeitervereine in den 1880er und 1890er Jahren gegründet.328 Im Saarrevier schlossen sich ab 1902, angeregt durch den Trierer 324 Ab dem 30.11.1911 wurde das Forbacher Büro nach Merlebach verlegt. Mourer, Mineurs, 217. 325 Zur christlichen Arbeiterbewegung im Saarrevier siehe besonders die Arbeiten Klaus-Michael Mallmanns: u. a.: Klaus-Michael, Mallmann: Ultramontanismus und Arbeiterbewegung im Kaiserreich. Überlegungen am Beispiel des Saarreviers, in: Deutscher Katholizismus im Umbruch zur Moderne, (Hrsg.) Wilfried Loth, Stuttgart, Berlin, Köln 1991, 76-94. 1906 fanden 502 Versammlungen auf beiden Seiten des Grenzraumes statt. Geschäftsbericht des Vorstandes des Gewerkvereins christlicher Bergarbeiter Deutschlands für die Jahre 1905 und 1906 und Protokoll der 11. Generalversammlung abgehalten vom 29. Juni bis 2. Juli 1907 zu Gelsenkirchen, 106. Kiefer, Organisationsbestrebungen, 227. 326 327 O.A.: Die Landtagswahl von 1911 in Elsaβ-Lothringen, Strasbourg 1911. 328 Die ersten katholischen Arbeitervereine in Lothringen bildeten sich im Steinkohlenrevier. Nach Mourer war der katholische Arbeiterverein „Union“ in Stiring Wendel 1881 der erste katholische Arbeiterverein in Lothringen. Siehe: Mourer, Mineurs, 116 und das Genehmigungsverfahren in: ADM, 3 AL 475. Weitere Vereine bildeten sich 1890 in PetiteRosselle (Genehmigungsverfahren ADM, 3 AL 463) und 1891 in Morsbach (Genehmigungsverfahren ADM, 3 AL 460). Zu spät, auf das Jahr 1903, datiert hingegen Roth 123 Bischof Korum, die katholischen Vereine dem Verband der katholischen Arbeitervereine mit Sitz in Berlin an. 1909 zählten die Arbeitervereine Berliner Richtung nahezu 13000 Mitglieder, von denen sich etwa 7000 in den Fachabteilungen des Verbandes organisiert hatten, und entwickelten sich so zu einer ernstzunehmenden Konkurrenz für den Gewerkverein.329 In Lothringen blieben die katholischen Arbeitervereine unabhängig, trotz der Bemühungen des Berliner Verbandes, von Saarbrücken aus das gesamte Kohlenrevier im Grenzraum zu betreuen. Die Sprechstunden des katholischen Arbeitersekretariates in Forbach, die zahlreichen Werbeveranstaltungen und die vom Berliner Verband nach Lothringen gesandten Geistlichen aus dem Saarrevier, konnten nicht zu einer positiven Mitgliederentwicklung beitragen.330 1909 hatten die Vereine Berliner Richtung im lothringischen Kohlenrevier lediglich 300 Mitglieder, von denen sich 170 in den Fachverbänden eingeschrieben hatten.331 Der Misserfolg des Berliner Verbandes in Lothringen ist auf die Streitigkeiten über die Angliederung des Metzer Diözesanverband an den Berliner Verband oder Westdeutschen Verband zurückzuführen. Der Metzer Bischof Benzler entschied schlieβlich Anfang 1909, dass die in dem lothringischen Diözesanverband zusammengeschlossenen Arbeitervereine unabhängig bleiben sollten.332 Die Streitigkeiten zwischen dem Westdeutschen und Berliner Verband die Gründung des ersten katholischen Arbeitervereins in Lothringen. Vgl.: Roth, Lorraine, 476. 329 Kiefer, Organisationsbestrebungen, 222ff. Sander, Michael: Katholische Arbeitervereine Berliner Richtung, in: Archiv für Mittelrheinische Kirchengeschichte, 37 (1985) 128. 330 Zu den Sprechstunden in Forbach: Forbacher Bürger-Zeitung, 16.5.1906. Zu den Werbeveranstaltungen: St.-Johanner Volkszeitung: 20.2.1907, 5.4.1907, 27.4.1907, 1.6.1907, 3.9.1907. Versammlungen in Morsbach, Forbach, Stiring-Wendel, Petite-Rosselle, Merlebach. Zur Unterstützung der Werbemaβnahmen durch Geistliche aus dem Saargebiet. Roth, Lorraine, 401. Kiefer, Organisationsbestrebungen, 222ff. Diese Einschätzung wird auch in den Geschäftsberichten des christlichen Gewerkvereins deutlich. Geschäftsbericht des Vorstandes des Gewerkvereines christlicher Bergarbeiter Deutschlands für die Jahre 1909 und 1910 und Protokoll der 13. Generalversammlung abgehalten vom 9. bis 12. Juli 1911 zu Köln, 144ff. Dem Berliner Verband und dem Westdeutschen Verband wurde jedoch gestattet, Bezirksverbände zu gründen, was jedoch nicht zu einer positiven Mitgliederentwicklung beitrug. Westdeutsche Arbeiter-Zeitung. Organ des Verbandes der katholischen Arbeitervereine Westdeutschlands, 3.1.1909 über den 3. Delegiertentag in Metz und zu den neuen Statuten 21.3.1909. 331 332 124 verhinderten jedoch nicht die positive Mitgliederentwicklung der katholischen Arbeitervereine in Lothringen. 1907 umfasste der Diözesanverband Metz 21 Arbeitervereine mit 2050 Mitgliedern. Mit zwölf Arbeitervereinen war die Konzentration im lothringischen Kohlenbecken am höchsten.333 1911 bestanden bereits 37 Arbeitervereine mit etwa 4000 Mitgliedern. Am ausgeprägtesten war das katholische Arbeitervereinswesen weiterhin im lothringischen Kohlenrevier, wo laut Bericht zu diesem Zeitpunkt 15 Vereine existierten.334 Die zahlreichen katholischen Jünglings- sowie Freizeitvereine, die positive Resonanz auf die grenzüberschreitende Arbeit des Volksvereins und die Verbreitung der katholischen Arbeitervereine beweist den Erfolg der katholischen Arbeiterorganisationen auf beiden Seiten des Grenzraumes.335 Das gemeinsame Engagement lothringischer und deutscher Katholiken in den Arbeitervereinen, und der rege grenzüberschreitende Kontakt zwischen den katholischen Organisationen belegen die Dichte der grenzüberschreitenden Vernetzungen.336 Wie sehr die integrative Wirkung der Vereine von deren konfessioneller Prägung abhing, 333 Dies waren die katholischen Arbeitervereine in Alsting, Cocheren, Falck, Forbach, Freyming, Hombourg-Haut, L’Hôpital, Longeville-lès-Saint-Avold, Merlebach, Petite-Rosselle, StiringWendel und Théding. Eine Auswertung des stenographischen Berichtes über den 1. Delegiertentag des Verbandes der katholischen Arbeitervereine der Dözese Metz, in: Hiegel, Le catholicisme social en Moselle de 1871 à 1918, Cahiers Lorrains, 1, 2 (1968), 6. 334 Eine Auswertung des offiziellen Berichtes des Diözesanverbandes bei: Roth, Lorraine, 477ff. 335 Siehe Kapitel: 5.2.1. „Bürgerliche und katholische Vereinsverflechtungen. Eine Zäsur zwischen 336 Vor- und Nachkriegszeit“. 1903 konnten die Redner aus Saarbrücken während einer Veranstaltungen in Alsting 206 der 250 anwesenden Personen vom Beitritt in den Volksverein überzeugen. Ähnlich verlaufende Werbeveranstaltungen sind für Forbach, Spicheren und dem Siercker Raum überliefert. ADL, 2 AL 161: Kreisdirektor an den Bezirkspräsidenten, 25.11.1903. Zur Verbreitung des Volksvereins in Lothringen: Roth, Lorraine, 472ff. Eine national gemischte Mitgliederstruktur hatten u. a. Jünglingsverein Petite-Rosselle (ADM, 3 AL 462), Arbeiterunterstützungsverein Morsbach (ADM, 3 AL 460). Jünglingsverein Forbach (ADM, 3 AL 434), Bergmanns-Sterbe und Kranken-Unterstützungs-Verein Merlebach (ADM, 3 AL 442), Arbeiter Unterstützungsverein Morsbach (ADM, 3 AL 460). Beispiele grenzüberschreitender Kontakte: u. a.: Forbacher Zeitung, 27.7.1893: Der Namenstag des Priesters von Petite-Rosselle wurde vom Jünglingsgverein Petite-Rosselle, dem Jünglingsverein Burbach und dem Männerunterstützungsverein Morsbach gefeiert. Forbacher Bürger-Zeitung, 25.5.1904: Der katholische Jünglingsverein Petite-Rosselle stattete dem „Bruderverein“ Malstatt-Burbach mit 200 Mann einen Besuch ab. St.-Johanner Volkszeitung, 3.9.1907: Der katholische Arbeiterverein Merlebach feierte seine Fahnenweihe. Anwesend war auch der katholische Arbeiterverein Emmersweiler. St.-Johanner Volkszeitung, 20.7.1907: Werbung für das Patronatsfest des hl. Joseph veranstaltet vom katholischen Arbeiterverein Stiring-Wendel. Forbacher Bürger-Zeitung 18.7.1908: Besuch des Petite-Rosseller Jünglingsverein beim Bruderverein in Ottenhausen. 125 beweisen die überkonfessionellen Arbeitervereine, denen keine Kontakte zu Nachbarvereinen nachgewiesen werden konnten.337 Die Wahlergebnisse bestätigen die Ausprägung des katholischen Milieus auf beiden Seiten der Grenze. Im Saarrevier bestimmte das Zentrum neben der Nationalliberalen Partei die Parteienlandschaft und auch in Lothringen entwickelte sich die Zentrumspartei zu einer bedeutenden politischen Macht.338 1903 erhielt das Zentrum bei seiner ersten Reichstagswahlbeteiligung in Lothringen im Wahlkreis Sarreguemines-Forbach 19,7 Prozent der abgegebenen Stimmen. Die Reichstagswahl der Jahre 1907 und 1912 gewannen die Zentrumskandidaten mit jeweils 55,8 Prozent und auch die Landtagswahl 1911 konnte das Zentrum für sich entscheiden.339 337 U. a. Knappen-Unterstützungsverein Forbach (ADM, 3 AL 434), BergmannUnterstützungsverein Marienau (ADM, 3 AL 434), Bergmannsunterstützungsverein MertenBiblingen (ADM, 3 AL 442), Bergmannsverein Glück Auf Oettingen (ADM, 3 AL 463). 338 Siehe: Abbildungen 43-47. 339 Landtagswahl 1911: Wahlkreis Forbach: 2357 Stimmen Collet (Zentrum), 1835 Dr. Couturier (Lothringischer Block), 365 Stadler (SPD). Zahlen aus: O. A., Landtagswahl. 126 Ottweiler-St.Wendel-Meisenheim Saarbrücken 6,2% 0,5% 35,9% 24,% 63,6% 69,% Saarburg-Merzig-Saarlouis Sarreguemines-Forbach 25% 17,6% 3,6% 75% 78,8% Abbildung 43: Reichstagswahlergebnisse 1893 (nach Wahlkreisen)340 Saarbrücken Ottweiler-St.Wendel-Meisenheim 2,9% 0,4% 45% 54,6% 43,6% 53,5% Saarburg-Merzig-Saarlouis 0,9% 0,7% Sarreguemines-Forbach 16% 84% 98,4% Abbildung 44: Reichstagswahlergebnisse 1898 (nach Wahlkreisen)341 340 Quelle: Roth, Lorraine, 688; Bellot, Jahre, 189ff. Das Zentrum stellte sich in Lothringen das erste Mal 1903 zur Wahl. 341 Quelle: Roth, Lorraine, 689; Bellot, Jahre, 196ff. 127 Saarbrücken Ottweiler-St.Wendel-Meisenheim 5,1% 0,5% 42,3% 52,6% 49,4% Saarburg-Merzig-Saarlouis 4,4% 50,1% Sarreguemines-Forbach 0,8% 20,4% 19,7% 59,9% 94,8% Abbildung 45: Reichstagswahlergebnisse 1903 (nach Wahlkreisen)342 Ottweiler-St.Wendel-Meisenheim Saarbrücken 6,7% 1,4% 49,1% 49,8% 44,2% Saarburg-Merzig-Saarlouis 48,8% Sarreguemines-Forbach 1,20% 15,5% 13,4% 28,7% 85,40% 55,8% Abbildung 46: Reichstagswahlergebnisse 1907 (nach Wahlkreisen)343 342 Quelle: Roth, Lorraine, 689f.; Bellot, Jahre, 212ff. 343 Quelle: Roth, Lorraine, 690; Bellot, Jahre, 224ff. 128 Saarbrücken Ottweiler-St.Wendel-Meisenheim 7,8% 4% 46,1% 47% 49,9% 45,2% Saarburg-Merzig-Saarlouis Sarreguemines-Forbach 3,8% 22,2% 8,9% 22% 55,8% 87,3% Abbildung 47: Reichstagswahlergebnisse 1912 (nach Wahlkreisen)344 Zentrum SPD Sonst 344 Quelle : Roth, Lorraine, 691; Bellot, Jahre, 233ff. 129 4.2.6. Scheitern der grenzüberschreitenden gewerkschaftlichen Organisation der Arbeiter Der grenzüberschreitende Arbeitsmarkt in der Bergbauregion regte zur grenzüberschreitenden gewerkschaftlichen Organisation der Arbeiter an. Das Saarrevier und das lothringische Kohlenrevier wurden von den Verantwortlichen der Organisationen als ein zusammenhängendes Revier betrachtet. So erkannten bereits die Vorstände der Rechtsschutzvereine die Notwendigkeit einer engen Zusammenarbeit. Obwohl die Gewerkschaften grenzüberschreitend agierten und nahezu zeitgleich mit ihren Werbemaβnahmen begannen, fanden sie in den Revieren einen unterschiedlichen Zuspruch. So war der Anteil der gewerkschaftlich organisierten Bergarbeiter in den lothringischen Zechen, auβer in den Anfängen der Rechtsschutzvereinsbewegung und zu Beginn der Aktivitäten des « Alten Verbandes », im Vergleich zum Organisationsgrad der Saarbelegschaft sehr niedrig. Die gewerkschaftliche Organisation der lothringischen Bergarbeiterschaft scheiterte, im Gegensatz zur Organisation der Saarbelegschaft, die sich zu einem bedeutenden Teil dem christlichen Gewerkverein und den katholischen Arbeitervereinen Berliner Richtung anschlossen. Von den gewerkschaftlichen Organisationen ging keine integrative Wirkung im Grenzraum aus. Diese Einschätzung wird durch das Streikverhalten der Bergarbeiter bestätigt. Obwohl die Arbeitskonflikte in den beiden Revieren teilweise Reaktionen der Belegschaften im jeweils anderen Revier auslösten, kam es während des gesamten untersuchten Zeitraums zu keiner koordinierten, gemeinschaftlichen Streikbewegung oder zu Solidaritätsstreiks. Jedoch förderte möglicherweise die grenzüberschreitende Gewerkschaftsarbeit das Bewusstsein der Bergarbeiter für die Ähnlichkeiten ihrer Arbeitswelt. In den von den Gewerkschaftlern angestoβenen Diskussionen über niedrige Löhne, lange Arbeitszeiten und gefährliche Arbeitsbedingungen konnten sich sowohl die lothringischen als auch die deutschen Bergarbeiter wiederfinden. 130 4.2.7. Die Arbeiterorganisationen und die nationale Grenze Die Ausprägung der gewerkschaftlichen Organisation der Bergarbeiter im Grenzraum und der Einflussbereich der Sozialdemokratie, zeichnen deutlich die nationale Grenze nach. Der „Nationalitätenhader“, wie die Gewerkschaftsfunktionäre mutmaβten, war jedoch nicht für den Misserfolg der Gewerkschaften in Lothringen verantwortlich.345 Zwar behinderte möglicherweise der Ruf der Gewerkschaften als deutsche Organisationen und die Entsendung ortsfremder Funktionäre „aus dem Reich“ den Erfolg der Gewerkschaften in Lothringen.346 Eine national motivierte Abgrenzung der lothringischen von den deutschen Arbeitern impliziert dies jedoch nicht. Nationale Abgrenzungstendenzen hätten, wie auch in anderen national gemischten Revieren, die Ausbildung landsmannschaftlich organisierter Gewerkschaften nach sich gezogen.347 Sogar die Gründungswelle pro- französischer Vereine nach Inkrafttreten des Reichsvereinsgesetzes im Jahr 1908 blieb im lothringischen Steinkohlenrevier ohne Auswirkungen.348 Abgesehen davon, dass in den Quellen keinerlei national motivierte Streitigkeiten innerhalb der Bergarbeiterschaft überliefert sind, belegen die national gemischte Mitgliederstruktur der lothringischen Vereine und die grenzüberschreitenden Vernetzungen der katholischen Arbeitervereine die geringe Bedeutung der „Nation“ als trennendes Element innerhalb der Arbeiterschaft. Der geringe Organisationsgrad der lothringischen Bergarbeiter ist nicht auf den „Nationalitätenhader“, sondern vor allem auf die Unterdrückungsmethoden der Arbeitgeber zurückzuführen. Insbesondere die de Wendel’sche Zechenverwaltung 345 So lautete die Einschätzung des Berichterstatters des Gewerkvereins für Elsass-Lothringen. Geschäftsbericht des Vorstandes des Gewerkvereins christlicher Bergarbeiter Deutschlands für die Jahre 1907 und 1908 und Protokoll der 12. Generalversammlung abgehalten vom 27. bis 30. Juni 1909 in Saarbrücken, 98. 346 Diesen „nationalen“ Blickwinkel auf die Gewerkschaften nahmen besonders die frankophonen lothringischen Unternehmer ein. Roth, Konflikte, 263. So bildeten sich im oberschlesischen Revier polnische Gewerkschaften. Schofer, Lawrence: Die Formierung einer modernen Arbeiterschaft – Oberschlesien 1865-1914, Dortmund 1983. 347 348 Zu „Wiederentdeckung“ der französisch- nationalen Tendenzen in Lothringen nach 1908 siehe das Kapitel: ›La renaissance du „nationalisme“ en Lorraine‹, in: Roth, Lorraine, 543549. 131 versuchte die Arbeiter von einer Mitgliedschaft in den Gewerkschaften abzuhalten. So beklagte sich 1912 der Zentrumsabgeordnete und christliche Gewerkschaftler Joseph Collet im elsass-lothringischen Landtag über die Verfolgungsmethoden der Firma de Wendel.349 Im Saarrevier wurde hingegen seit 1905 der christliche Gewerkverein durch die Saarbrücker Bergwerksdirektion geduldet.350 Neben den repressiven Maβnahmen behinderten auch die Internationalität und die hohe Fluktuation eines Teiles der Bergarbeiterschaft die gewerkschaftliche Organisation im lothringischen Revier.351 Die nationale Grenze zeichnet nicht nur die Grenze des Verbreitungsradius’ der Gewerkschaften nach, sondern beschreibt auch die Grenze des Einflussbereiches der sozialdemokratischen Bewegung. Auffällig ist, dass die sozialdemokratischen Ideen bei Teilen der lothringischen Bevölkerung Anklang fanden, ohne zur Herausbildung eines organisierten sozialdemokratischen Milieus zu führen. Für dieses Phänomen war vor allem die laizistische Tradition in Lothringen verantwortlich.352 Die Ausdifferenzierung des katholischen Frankreichs in zwei konkurrierende und sich feindlich gegenüberstehende Lager begann bereits im Ancien Régime und erstreckte sich über das gesamte 19. Jahrhundert.353 In dieser Gegenüberstellung werden Katholiken als praktizierende Gläubige definiert, die an 349 350 351 352 353 Roth, Lorraine, 401.Um effektiver die Organisationsbestrebungen der Arbeiter bekämpfen zu können, hatten sich die Industriellen von der Saar, Lothringen und der Pfalz zu einer Interessengemeinschaft zur Bekämpfung der Sozialdemokratie zusammengeschlossen. LHAK, Best. 442, Nr. 4244: Vorsitzende der königl. Bergwerksdirektion an den königl. Regierungspräsidenten, 29.12.1903. Westdeutsche Arbeiter-Zeitung. Organ des Verbandes der katholischen Arbeitervereine Westdeutschlands, 21.1.1905. Die Zechen der Firma de Wendel verfügten über einen festen Arbeiterstamm, wohingegen die Belegschaft der Saar und Mosel Bergwerksgesellschaft - der zweitgrößte Arbeitgeber im lothringischen Kohlenrevier - international zusammengesetzt war und stark fluktuierte, siehe: Haby, Houillères, Bd. 1, 84ff. Hiery führt als Grund für die geringe Mitgliederzahl die Skepsis der Einheimischen gegenüber deutschen Organisationen an. Eine Begründung für das Nichtvorhandensein sozialdemokratischer Arbeitervereine trotz der sozialdemokratischen Tendenzen innerhalb der Arbeiterschaft liefert Hiery jedoch nicht. Hiery, Reichstagswahlen, 90. Hiery nennt als wichtigsten Grund für die geringe Mitgliederzahl der Elsass-Lothringer in der SPD die Abneigung der Einheimischen gegen deutsche Organisationen. Über diese ideologische Grenze zwischen Katholiken und Laizisten siehe: Langlois, Claude: Catholiques et laïcs, in: Les lieux de mémoire, Bd. 2, (Hrsg.) Pierre Nora, Paris 1997, 23272358 (2. Auflage). 132 den Dogmen der katholischen Kirche festhalten und sich mit den Äuβerungen der Geistlichen sowie der katholischen Presse identifizieren. Der Laizismus wird hingegen als eine Ablehnung jeder dogmatischen Festlegung, eine freie Suche nach der Wahrheit definiert.354 Die in der republikanischen Tradition gewachsene laizistische Grundhaltung eines Teiles der lothringischen Bevölkerung machte diese für sozialdemokratische Ideen empfänglicher als die Saarpreuβen.355 Bestärkt wird diese These durch die Nichtausbildung eines organisierten sozialdemokratischen Milieus in Lothringen, trotz der Offenheit der Lothringer für sozialdemokratische Ideen. Verdeckte sozialdemokratische Vereinsgründungen wären trotz der Verfolgungsmethoden der Unternehmer möglich gewesen, was die These unterstüzt, dass der Erfolg der Sozialdemokratie im lothringischen Teil des Kohlenbeckens auf einer Ablehnung des Katholizismus und nicht auf einer positiven Identifikation mit der sozialdemokratischen Bewegung basierte. Der Grenzverlauf des Einflussbereiches der Sozialdemokraten beschreibt daher keine nationale Trennungslinie zwischen den Bergarbeitern des lothringischen Reviers und des Saarreviers, sondern eine ideologische Grenze zwischen Laizisten und Katholiken. Der Erfolg der sozialdemokratischen Bewegung in Lothringen wurde durch den Ruf der SPD als Protestpartei gegen die Annexion begünstigt. Die sozialdemokratischen Führungspersönlichkeiten hatten während und nach dem Krieg deutlich gegen die Annexion des Elsass und Lothringens Stellung bezogen.356 Noch 1893 betonte Bebel im Reichstag, dass die Elsass-Lothringer, „vor 22 Jahren wider ihren Willen zu Deutschen gemacht“ worden seien.357 Die Sozialdemokraten kritisierten nicht nur die Gründung des Reichslandes, sondern später auch die Benachteiligung der Arbeiter durch das restriktive Versammlungs- und 354 355 Mollenhauer, Daniel: Symbolkämpfe um die Nation. Katholiken und Laizisten in Frankreich (1871-1914), in: Nation und Religion in Europa. Mehrkonfessionelle Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert, (Hrsg.) Heinz-Gerhard Haupt, Dieter Langewiesche, Frankfurt a. M. 2004, 202ff. Auf diesen Zusammenhang weist Michael Sander hin. Sander, Struktur, 64. 356 Wendel, Hermann: Elsass-Lothringen und die Sozialdemokratie, Berlin 1916, 10. 357 ebda, 11. 133 Vereinsrecht in Elsass-Lothringen, indem sie dieses mit den fortschrittlicheren Gesetzen der französischen Republik verglichen.358 So berichtete die ElsassLothringische Volkszeitung Ende 1892, dass dem vom Marseiller Kongress der Arbeiterpartei zurückgekehrte Wilhelm Liebknecht beim „Passieren der schwarzweiß-rothen Grenzphäle […] der Unterschied in der politischen Bewegungsfreiheit der Republik Frankreich und des kaiserlich-deutschen Elsass-Lothringens in seiner ganzen Schroffheit“ deutlich wurde.359 Indem die Sozialdemokraten die Lage der Arbeiter in Elsass-Lothringen mit einer Debatte über rechtliche Unterschiede in Deutschland und Frankreich verbanden, verlieh die SPD ihren politischen Zielen als Arbeiterpartei eine pro- französische Tendenz.360 Die „Vive Bebel“ und Vive la France“ Rufe nach der Bekanntgabe der Wahlergebnisse der Reichstagswahl 1893 in Straßburg, machen diese Verquickung französisch-nationaler und sozialdemokratischer Opposition im Reichsland deutlich.361 Wirkte sich die, im Wahlkampf zur Reichstagswahl 1893 thematisierte gescheitere Militärvorlage und die damit verbundene Stigmatisierung der Sozialdemokraten als „Vaterlandsverräter“ im kaiser- und reichstreuen preuβischen Saarrevier hemmend auf die dortige Ausbreitung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, war diese für die Lothringer ein zusätzlicher Anreiz, sich sozialdemokratischen Ideen zu öffnen.362 Die SPD rückte jedoch nach der aufsehenerregenden Ausweisung eines Bekannten Elsass-Lothringischen Sozialdemokraten aus Frankreich im September 1896 von ihrer Rolle als Protestpartei ab. Frankreich hatte seine Vorbildfunktion als liberale Republik verloren.363 Mit Blick auf den Ruf der SPD als Protestpartei gegen die Annexion deutet die Beschränkung des sozialdemokratischen Einflussbereiches auf lothringisches Gebiet die Abgrenzung der Lothringer vom Deutschen Reich an. Eine national 358 Soell, Arbeiterbewegung, 27f. 359 Elsass-Lothringische Volkszeitung, 28.9.1892. Zitiert nach: Soell, Arbeiterbewegung, 63. 360 Soell, Arbeiterbewegung 60ff. Ebenso hebt Hiery hervor, dass sich die SPD als Protestpartei präsentierte. Hiery, Reichstagswahlen, 263ff. Soell, Arbeiterbewegung, 81. 361 362 Hiery, Reichstagswahlen, 263. 363 Soell, Arbeiterbewegung, 91ff. 134 motivierte Abgrenzung der Grenzraumbewohner impliziert diese Opposition zum Deutschen Reich jedoch nicht. Ebenso scheiterte die grenzüberschreitende gewerkschaftliche Organisation der Arbeiter nicht an nationalen Konflikten innerhalb der Arbeiterschaft, sondern an der Grenze der Weltanschauungen zwischen Laizisten und Katholiken und den Unterdrückungsmethoden der lothringischen Unternehmer. Dennoch war die Nation beziehungsweise Nationalität als Element der Selbstzuschreibung innerhalb der Bergarbeiterschaft im Grenzraum deutlich präsent. So trat die Nation immer dann in den Vordergrund, wenn sich die Bergarbeiter einem nationalen Kontext zuordneten. Die lothringische Sicht auf die SPD als Oppositionspartei war gegen das Deutsche Reich gerichtet und die Debatte im Saarrevier über die Wahl des Tagungsortes im Vorfeld des internationalen Kongresses in Paris, richtete sich gegen Frankreich.364 In beiden Fällen hatte die nationale Selbstzuschreibung der Arbeiter auf die transnationale Lebenswelt keine merklichen Auswirkungen. Das Identitätskonstrukt Nation rückte innerhalb der Arbeiterschaft des Kohlenreviers nur dann in den Vordergrund, wenn der transnational-regionale Identifikationsraum in den Hintergrund trat.365 4.3. Solidarität, Sprachgrenzen und soziale Konflikte Niedrige Löhne, Bergwerksunglücke und die erschwerten Arbeitsbedingungen unter Tage waren im gesamten Kohlenrevier Teil der Alltags. Neben der katholischen Konfession als integrativem Faktor, waren vor allem die ähnlichen Arbeitserfahrungen im Kohlenrevier für die geringe Bedeutung der Nation als Element der Segregation im Industriegebiet verantwortlich. Die Kommunikation über die Ähnlichkeiten der Lebens- und Arbeitswelt in der Industrieregion 364 Mallmann, Anfänge, 229. 365 Der Fall eines Bergarbeiters, der sich Ende des Jahres 1891 aufgrund seiner schlechten Erfahrungen während des Militärdienstes in Lothringen weigerte, für streikende französische Bergleute zu spenden, ist das einzige ermittelte Beispiel, in dem ein regionaler Bezug für eine national motivierte Abgrenzung eine Rolle spielte. Mallmann, Anfänge, 231. 135 Forbach/Saarbrücken wurde durch das ausgeprägte Grenzpendlerwesen gefördert. Möglicherweise trug auch die grenzüberschreitende Arbeit der gewerkschaftlichen Organisationen seit der Zeit des Rechtsschutzvereins dazu bei, die Bergarbeiter für die Ähnlichkeiten ihrer Arbeitssituation zu sensibilisieren. Die grenzüberschreitenden Hilfsaktionen bei Bergwerkskatastrophen zeigen, dass sich im Kohlenrevier über die Wahrnehmung dieser Gemeinsamkeiten hinaus eine grenzüberschreitende Solidaritätsgemeinschaft herausgebildet hatte. Im Juli 1876 – nur fünf Jahre nach Kriegsende – gaben die Kirchenchöre aus Saarlouis, Lisdorf und Fraulautern ein Konzert zugunsten der Verunglückten der Zeche Spittel in Lothringen.366 Ebenso grenzüberschreitend waren die Spendenaktionen. Beispielsweise rief die lothringische „Forbacher Zeitung“ zur Spendensammlung für die Opfer der großen Bergwerkskatastophe in der Zeche Camphausen im Saarrevier im Jahr 1885 auf.367 Diese Solidaritätsgemeinschaft manifestierte sich jedoch lediglich bei Bergwerkskatastrophen, eine gegenseitige Unterstützung beim Arbeitskampf implizierte die Solidarität der Arbeiter nicht. Neben der ähnlichen Lebens- und Arbeitswelt der Bergarbeiter des Grenzraumes, war der deutsche Dialekt als Umgangssprache der lothringischen und deutschen Bergarbeiter für die geringe Bedeutung der nationalen Unterschiede als trennendes Element innerhalb der Arbeiterschaft verantwortlich. Die integrative Wirkung der sprachlichen Gemeinsamkeiten wurde durch die Übereinstimmung der sozialen Grenze und der Sprachgrenze im lothringischen Teil des Kohlenreviers verstärkt. Bei Arbeitskämpfen entwickelte sich die Sprachgrenze in Lothringen zu einer Konfliktlinie, entlang derer lothringische und deutsche Bergarbeiter vereint den frankophonen Unternehmern gegenüberstanden. Konkret wurde diese Auseinandersetzung in der Ablehnung der Arbeiterorganisationen durch die frankophonen Unternehmer, welche die Arbeiterorganisationen als deutsche 366 Saar-Zeitung, 1.8.1876. Weitere Informationen in: Saar-Zeitung, 8.7.1876, 13.7.1876. 367 Forbacher Zeitung, 19.3.188, 26.3.1885. Zur Verwendung der Spendengelder: Forbacher Zeitung 18.07.1885. St.-Johanner Volkszeitung, 20.2.1907: Sammlung für die verunglückten Bergleute in Reden (Saar) durch den Kriegerverein in Petite-Rosselle. St.-Johanner Volkszeitung, 16.2.1907: Sammlung für die verunglückten Bergleute in Reden durch den Werkmeisterverein in Petite-Rosselle. St.-Johanner Volkszeitung, 20.2.1907: Bericht über eine sehr erfolgreiche Sammlung in Schoeneck. 136 Importe sowie die Streikenden als deutsche Aufrührer stigmatisierten,368 und während der Verhandlungen bei Arbeitskämpfen. Die Bürobeamten verhandelten mit den Bergarbeitern auf Französisch, sodass die Verhandlungsführer der Arbeiter den eventuell unrichtigen Angaben der Beamten nichts entgegensetzen konnten.369 Im lothringischen Kohlenrevier war eine deutschsprachige, lothringische und deutsche Bergarbeiterschaft durch Sprache und gemeinsame Interessen vereint gegen eine französischsprachige Mittel- und Oberschicht. Dieser Opposition zwischen den frankophonen und germanophonen Einwohnern Lothringens haftete ein latenter Konflikt zwischen den deutschsprachigen Lothringer und der französischen Nation an, der sich bereits während des zweiten Kaiserreiches in der Auseinandersetzung um die Beibehaltung des deutschsprachigen Unterrichts manifestiert hatte.370 4.4. Zusammenfassung Die grenzüberschreitenden Verflechtungen im Lebensbereich Arbeit waren vielschichtig. Diverse gesetzliche Ausnahmeregelungen, welche das Arbeiten auf der anderen Seite der Grenze erleichterten, förderten die Ausbildung eines transnationalen Arbeitsmarktes. So existierten Sonderregelungen im Bereich der Landwirtschaft und im Bereich des Zahlungsverkehrs. Die Entwicklung des grenzüberschreitenden Arbeitsmarktes wurde durch die Grenze nicht behindert. In jedem Arbeitsbereich war der Austausch an Arbeitskräften beachtlich, wobei die Grenzpendlerbewegung der industriellen Lohnarbeiter am bedeutendsten war. Der Grenzpendlerstrom der Arbeiter führte vor allem Richtung Lothringen, da sich der Rekrutierungsbezirk der preuβischen 368 369 370 Roth, Konflikte, 263. LAS, Landratsamt Saarbrücken, Nr. 1836: Bericht über eine Versammlung in Groβrosseln, Bürgermeisteramt Ludweiler an den Landrat von Saarbrücken, 9.8.1890. Roth, Lorraine, 46. Zur Sprachgrenze zwischen den Angestellten der Zechen und den Bergarbeitern siehe auch: Buchheit, Immigration, 38. Siehe Kapitel: 6.1.5. „Laizismus gegen Katholizismus. Konflikte in Lothringen und die deutschen Nachbarn“. 137 Bergwerksdirektion nicht nach Lothringen ausdehnte. Die hohe Anzahl der Grenzpendler weist darauf hin, dass die Lothringengänger gröβtenteils Arbeiterbauern waren, die auf der Saarseite kleine Anwesen besaßen und aus diesem Grund nicht dauerhaft nach Lothringen zogen. Das Kapitel „Familie“ zeigte, dass sich dieser erhöhte Arbeitskräfteaustausch im Industriegebiet positiv auf die Intensität der grenzüberschreitenden familiären Verflechtungen auswirkte. Der grenzüberschreitende Arbeitsmarkt regte auch die Gewerkschaften an, die Arbeiter transnational zu organisieren, was jedoch misslang. Im lothringischen Teil des Kohlenbeckens konnten sich die gewerkschaftlichen Organisationen nicht etablieren. Möglicherweise förderten die grenzüberschreitenden Gewerkschaftsaktivitäten das Bewusstsein der Bergarbeiter für die Ähnlichkeiten der Arbeitswelten auf beiden Seiten der Grenze, darüber hinaus sind die Gewerkschaften jedoch nicht als konstitutives Element eines grenzüberschreitenden Identifikationsraumes zu bewerten. Die Untersuchung wies nach, dass sich in der Polarisierung der Arbeiterschaft die Gegensätze zwischen Laizisten und Katholiken widerspiegelten. So gewann die sozialdemokratische Arbeiterbewegung, ohne Vereine und Organisationen zu etablieren, Einfluss auf die lothringische Arbeiterschaft. Das katholische Milieu organisierte sich hingegen grenzüberschreitend in Vereinen und Verbänden. Die Polarisierung der Arbeiter in eine radikale und eine gemäβigte Arbeiterbewegung verhinderte eine grenzüberschreitende Solidarität im Arbeitskampf, hatte jedoch, wie die Entwicklung der grenzüberschreitenden familiären Verflechtungen im Industrierevier beweist, keine negativen Auswirkungen auf die Intensität des grenzüberschreitenden Identifikationsraumes. Der geringe Effekt der politischen Spaltung der Arbeiter auf die transnationale Identifikation, ist auf die groβe Bedeutung des grenzüberschreitenden katholischen Milieus und die integrative Wirkung der aus ähnlichen Lebens- und Arbeitserfahrungen sowie sprachlichen Gemeinsamkeiten entstandenen grenzüberschreitenden Solidaritätsgemeinschaft zurückzuführen. 138 Verstärkt wurde der Zusammenhalt der Bergarbeiter im lothringischen Teil des Kohlenreviers durch die Übereinstimmung der Sprachgrenze mit der sozialen Grenze. Die germanophonen, lothringischen und saarpreuβischen Bergarbeiter standen den frankophonen Angestellten und Büroangestellten der Zechen gegenüber. Latent haftete dieser entlang der Sprachgrenze verlaufenden Konfliktlinie eine Opposition zur französischen Nation an, die auch in anderen Lebensbereichen festzustellen ist.371 Trotz der grenzüberschreitenden Verflechtungen des Arbeitsmarktes, der transnationalen Verbindungen innerhalb des katholischen Milieus und der Solidarität im Kohlenrevier, blieb die Nation als Element der Selbstzuschreibung im Grenzraum präsent und existierte als Identitätskonstrukt parallel zur transnationalen Lebenswelt der Bewohner des Saar-Mosel- Raumes.372 371 372 Siehe Kapitel: 6.1.5. „Laizismus gegen Katholizismus. Konflikte in Lothringen und die deutschen Nachbarn“. Siehe besonders Kapitel: 5.5. „Auswirkung der politischen Ereignisse auf das Freizeitverhalten“ und Kapitel: 6.2.4. „Nationalisierung des Katholizismus. Eine bedingte Konstante in Lothringen nach 1871“. 139 5. Freizeit im Grenzraum 5.1. Vereinswesen vor 1871. Grenzüberschreitende Begegnungen der bürgerlichen Schichten Im Oktober 1848 feierte die Bürgerwehr der Stadt Saarbrücken ihre Fahnenweihe. Erschienen war auch eine Delegation des Turnvereins Saarbrücken, zusammen mit einer Abordnung der Nationalgarden von Metz, Sarreguemines, Saint-Avold, Forbach, Grosbliederstroff, Sarreunion und Folklingen. Ebenfalls anwesend waren die Bürgerwehren von Zweibrücken, Kaiserslautern, Landstuhl, Homburg, St. Wendel, Ottweiler und Lebach. Gemeinsam zogen die Teilnehmer in einem feierlichen Umzug durch die Stadt.373 Wie im gesamten Reich hatte die Revolution von 1848 auch in der Saargegend eine erste, von den stadtbürgerlichen Mittelschichten getragene Vereinsgründungswelle ausgelöst.374 Im Grenzraum suchten diese demokratisch orientierten Vereine Kontakt zu französischen, sich nunmehr in einer Republik entfaltenden demokratischen Gruppierungen.375 373 Schwarz, Hans: Das Vereinswesen an der Saar bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts - der Verein als Medium der sozialen Kommunikation, Saarbrücken 1992, 97f. Zur sozialen Zusammensetzung der Vereine bis 1871 siehe: Tenfelde, Entfaltung, 64 u. 73. Zur grenzüberschreitenden Beziehungen der Bevölkerung während der Revolution 1848 siehe: Heckmann, Gerhard: Die Revolution von 1848/49, in: Restauration und Revolution. Die Saarregion zwischen 1815 und 1850, (Hrsg.) Johannes Schmitt, St. Ingbert, 1990, 119-126. Burg, Peter: Die Revolution von 1848/49 im Kontext der saarländischen Geschichte, in: Revolution an der Grenze. 1848/49 als nationales und regionales Ereignis, St. Ingbert 1999, 128-146. Auf die Bedeutung der Grenzen innerhalb der Rezeption der französischen Revolution geht ein: Ulbrich, Bedeutung. 374 Tenfelde, Entfaltung, 59. Zu den Vereinsgründungen in den Grenzstädten der preußischen Rheinprovinz bis zur Revolution 1848/49, siehe: Schwarz, Vereinswesen. Ergänzende Informationen zu den Vereinsgründungen liefert die Magisterarbeit von Sigrid Lambertz: Vereine im Saarland zwischen 1800 und 1870, Saarbrücken 1987 (masch.). 375 Die neue Forschung befasst sich mit dieser europäischen Dimension der Revolution 1848 siehe u. a.: Bauerkämper, Arnd: Die Revolution von 1848/49. Gemeinsames Erleben und Scheitern in Europa?, in: Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, (Hrsg.) Rüdiger Hohls, Iris Schröder, Hannes Siegrist, Stuttgart 2005, 182-187; Brendel, Thomas: Zukunft Europas? Das Europabild und die Idee der internationalen Solidarität bei den deutschen Liberalen und Demokraten im Vormärz (18151848), Bochum 2005, 213ff; Siemann, Wolfgang: 1848/49 in Deutschland und Europa: Ereignis – Bewältigung – Erinnerung, Paderborn 2006. 140 Nachdem die Märzrevolution gescheitert und die Franzosen im November 1852 in einer Volksabstimmung einer neuen Verfassung zugestimmt hatten, welche die zweite Republik durch eine Monarchie ersetzte, waren diese durch die Verfolgung gemeinsamer politischer Ziele entstandenen, grenzüberschreitenden Kontakte in der bisherigen Form nicht mehr möglich. Peinlich genau wachten die Grenzbeamten und Behörden darüber, den grenzüberschreitenden Kontakt der Demokraten des Grenzraumes zu verhindern.376 Es zeigt sich, dass bereits mit der ersten Vereinsgründungswelle Vereinigungen beider Seiten der Grenze in Verbindung zueinander traten, und auch in den Folgejahren bestanden auf die politischen Traditionen der Revolution 1848 aufbauende grenzüberschreitende Beziehungen der bürgerlichen Schichten. Auf diesen Zusammenhang weisen die grenzüberschreitenden Verbindungen der 1860er Jahre hin, die vor allem zwischen Musik- und Schützenvereinen bestanden – zwei wesentlichen Trägern patriotisch-demokratischer Ideen des Vormärz.377 Nachdem im April 1861 die Société de Tir von Metz offiziell von den französischen Behörden genehmigt wurde, veranstalteten die Metzer Schützen im August desselben Jahres ein internationales Schützenfest, an dem sich Vereine aus Saarbrücken, St. Johann, Duttweiler und Luxemburg beteiligten. Die Liste der 376 377 LHAK, Best. 403, Sig. 7045: Landratsamtsverwalter von Merzig an den Oberpräsidenten, 10.1.1853: Ausweisung eines preuβischen Grenzraumbewohners aus Frankreich wegen angeblich demokratischer Gesinnung. LHAK, Best. 403, Sig. 17986: Wochenberichte der Polizeidirektionen (Trier), u. a. Bericht vom 30.8.1853: Verschärfung der Passvorschriften für die demokratischen Persönlichkeiten der Saarregion. Dem Bericht liegt die Liste der betreffenden Demokraten bei. Mosse, George: Die Nationalisierung der Massen. Politische Symbolik und Massenbewegung in Deutschland von den Napoleonischen Kriegen bis zum Dritten Reich, Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1976, 153. Zu den Schützenvereinen: Stambolis, Barbara: Schützenvereine in der Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts. Interdisziplinäre Arbeitsmöglichkeiten am Beispiel historischer Vereinsforschung, in: Rheinisch-Westfälische Zeitschrift für Volkskunde, 44 (1999) 171-213, bes. 181ff. Internationale Musikfeste: LHAK, Best. 442, Nr. 6387: Bürgermeister von Metz an die Bezirksregierung in Trier, 28.9.1860; Landrat von Saarbrücken an den Regierungspräsidenten in Trier, 3.10.1860: Gesangswettbewerb Mai 1961 in Metz. Einladung an die Saarbrücker- St. Johanner Liedertafel. Saarbrücker Zeitung, 15.6.1870: Für das Gesangsfest im Juni 1870 wurden zahlreiche Besucher aus Frankreich erwartet. Saarbrücker Zeitung, 15.7.1870: Gersweiler Gesangverein lädt zu einem Waldfest auf französischem Boden. 141 eingeladenen Vereine vergröβerte sich dabei von Jahr zu Jahr.378 Im August 1863 lud seinerseits der Zweibrücker Schützenverein einige Schützengesellschaften aus Lothringen und die lothringische Bevölkerung zum großen Schützenfest ein.379 Die Verwendung von Leitmotiven der Revolution und des Vormärz während der Vereinsfeiern weist ebenfalls auf eine Kontinuität der Vereinskontakte des Vorund Nachmärz hin. Während eines internationalen Musikfestes 1863 in Sierck, veranstaltet vom Musikverein Cäcilia, vermischten sich die Ausrufe „Les chanteurs de tous pays sont frères“- „Die Sänger aller Länder sind Brüder“ mit „Vive la Pologne“ Rufen, mit denen die deutschen, französischen und luxemburgischen Teilnehmer ihre Sympathiebekundungen für den Januaraufstand in Polen äuβerten.380 Nachdem die polnische Nationalbewegung bereits im Vormärz eine Vorreiterrolle übernommen hatte, übertrugen die Festteilnehmer offenbar auch die polnische Erhebung im Januar 1863 auf ihre eigenen nationalen Bestrebungen.381 Ähnlich knüpfte die Dankesrede des Vorsitzenden der Trierer Liedertafel an die Ideen des Vormärz und der Revolution an. Pfingsten 1868 nahmen deutsche und französische Vereine an einem Musikwettbewerb in Metz teil – die Trierer Liedertafel gewann den Wettbewerb. Leitmotiv der auf Französisch gehaltenen Dankesrede des Trierer Vereinspräsidenten war die Verbrüderung der Sänger und Völker, die zu einer perfekten Zivilisation – dem Frieden – führen solle.382 Unter Berücksichtigung der geringen Vereinsdichte in Frankreich, waren diese bürgerlichen Vereinsverbindungen intensiv. In Frankreich herrschten zunächst Formen der Gesellschaftsbildung vor, die von informellen Absprachen, Gewohnheiten und Gebräuchen bestimmt waren, die freie kommunikative 378 Brunn, Denis: Activités physiques et vie sportive à Metz sous le Second Empire, in: Des jeux et des sports, (Présentés par) Alfred Wahl, Metz 1986, 97. 379 Courrier de la Moselle, 23.7.1863; Saarbrücker Zeitung, 6.8.1863, 13.8.1863. 380 Courrier de la Moselle, 28.7.1863. Zur Polenbegeisterung der Deutschen im Vormärz: Brendel, Zukunft, 213ff. 381 382 LHAK, Best. 442, Nr. 6387: „C’est elle, c’est la fraternité des peuples, c’est ce doux accord, qui devra être à jamais le boulevard le plus important et le plus désirable d’une parfaite civilisation, c’est-à-dire de la paix. Vive la concorde internationale!“ Dankesrede des Präsident der Liedertafel von Trier anlässlich des Gesangsfestes 1868 in Metz gesandt an den königl. Regierungsrat in Trier, 10.9.1870. LHAK, Best. 403, Nr. 178: Bericht vom 13.7.1868. 142 Geselligkeit, die Sociabilité, nahm hier einen weitaus größeren Raum ein als das Vereinswesen.383 So fanden sich in Metz bereits in den 1850er Jahren Gruppen regelmäßig zum Schwimmen, Turnen, Reiten und Tanzen ein, wobei die ersten Sportvereine erst 1861 gegründet wurden.384. 5.2. Vereinswesen nach 1871 5.2.1. Bürgerliche und katholische Vereinsverflechtungen. Eine Zäsur zwischen Vor- und Nachkriegszeit Das Vereinsspektrum des Grenzraumes wurde durch die zweite Vereinsgründungswelle der 1880er und 1890er Jahre, die vor allem die unteren Schichten erfasste, und durch die zahlreichen von den eingewanderten Deutschen initiierten Vereinsgründungen erweitert.385 Im Saar-Mosel- Raum zeichnen sich nun vier vorherrschende Vereinstypen ab:386 Katholische Vereine, bürgerliche Vereine 383 384 Maurice Agulhon hat den Forschungszweig « sociabilité » entscheidend geprägt. Agulhon, Maurice: Pénitents et francs-maçons de l’ancienne Provence, Paris, 1968. Zum Vergleich mit dem deutschen Vereinswesen siehe die Aufsätze in: François, Etienne (Hrsg.): Sociabilité et société bourgeoise en France, en Allemagne et en Suisse 1750-1850. Geselligkeit, Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Frankreich, Deutschland und der Schweiz 1750-1850, Paris 1986. Zur Soziabilität in Frankreich siehe besonders: Reichardt, Rolf: Zur Soziabilität in Frankreich beim Übergang vom Ancien Régime zur Moderene: neuere Forschungen und Probleme, in: Sociabilité et société bourgeoise en France, en Allemagne et en Suisse 1750-1850. Geselligkeit, Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Frankreich, Deutschland und der Schweiz 1750-1850, (Hrsg.) Etienne François, Paris 1986, 27-42. Brunn, Activités, 93ff. 385 Tenfelde, Entfaltung, 59. 386 Das folgende Kapitel basiert auf einer Auswertung 94 Vereinsgenehmigungsverfahren in 19 lothringischen Orten (Siehe: Abbildung: 48). Untersuchungsschwerpunkt ist das Industrierevier um Forbach und das Dreiländereck. Ausgewertet wurden die Genehmigungsverfahren der Orte: Bouzonville, Forbach, Koenigsmacker, Manderen, Marienau, Merlebach, Merten-Biblingen, Morsbach, Oeting, Petite-Rosselle, Ranguevaux, Redange, Schoeneck, Sierck, Spicheren, Stiring-Wendel, Téterchen, Waldweistroff, Waldwisse. Keine Genehmigungsverfahren sind für folgende Orte überliefert: Apach, Colmen, Grindorff, Kirsch, Launstroff, Oderdorff, Rodemacker. ADM, 3 AL 428, 434, 435, 440, 442, 460, 463, 465, 468, 474, 475, 480. Die Informationen zum Vereinswesen in der Saarregion basieren auf: Mallmann, Anfänge; Lambertz, Vereine; Bungert, Gerhard; Lehnert, Charly: Vereine im Saarland, Saarbrücken 1988. 143 mit mehrheitlich deutschen Mitgliedern, bürgerliche Vereine in denen einheimische lothringische Mitglieder dominierten und milieu- und schichtübergreifende Vereine.387 Ein sozialdemokratisches Vereinswesen existierte im Grenzraum nicht. Die Genehmigungsverfahren und Polizeiberichten liefern keine Anhaltspunkte für sozialistische Arbeitervereine im lothringischen Steinkohlenrevier. Unbedeutend blieb das sozialdemokratische Vereinswesen auch im Saarrevier.388 Luxemburg Rodemack Apach Kirsch-lès-Sierck Sierck Grindorff Koenigsmacker Waldweistroff Bouzonville Téterchen Rangwall Ranguevaux Metz Manderen Launstroff Waldwisse Colmen Oberdorff Saarbrücken Forbach/ MertenMarienau Bibling Schoeneck StiringWendel Spicheren Petite- Oeting Merlebach Rosselle Morsbach Abbildung 48: Untersuchte lothringische Orte: Vereinswesen 387 Für den Zeitraum nach 1871 lagen für 55 Vereinstreffen Informationen über die Mitgliederzusammensetzung der beteiligten Vereine vor: 13 bürgerlich- deutsch dominierte Vereine, 9 bürgerlich- lothringisch dominierte Vereine, 8 katholische Freizeitvereine (ohne die katholischen Arbeiter- und Jünglingsvereine), 25 milieu- und schichtübergreifende Vereine. 388 Bungert; Lehnert, Vereine, 50f. 144 Deutlich ist anhand der grenzüberschreitenden Vereinsverflechtungen eine Zäsur zwischen Vor- und Nachkriegszeit ablesbar. Von den intensiven, transnationalen Verbindungen der bürgerlichen Vereine vor dem Krieg fehlt nach dem Deutsch-Französischen Krieg jede Spur. Nach 1871 ist kein einziger grenzüberschreitender Kontakt dieser Vereine überliefert. Die der revolutionären Bewegung des Jahres 1848 entsprungenen Vernetzungen der bürgerlichen Schichten des Grenzraumes existierten offenbar nicht mehr.389 Sicherlich war auch die Auflösung der Vereine nach dem Krieg 1870/71 für den Abbruch der transnationalen Verbindungen der bürgerlichen Vereine mitverantwortlich.390 Der im Kapitel „Familie“ festgestellte Rückgang grenzüberschreitender bürgerlicher, familiärer Verflechtungen nach dem Deutsch-Französischen Krieg beweist jedoch, dass vor allem die national motivierte Abgrenzung der bürgerlichen Schichten des Grenzraumes der Grund für den Kontaktabbruch der Vereine war.391 Auf diesen Zusammenhang deutet auch das Siercker Musikfest von 1876 hin. Kam es während dieser Veranstaltung in Sierck 1863 zu einem freundschaftlichen Zusammentreffen preußischer, französischer und luxemburgischer Vereine, wurde das Fest 1876 zu einer antipreußischen Demonstration. Der luxemburgische Verein „Fanfare Mansfeld“ zog auf Einladung des Siercker Musikvereins Cäcilia mit der luxemburgischen Flagge, das heiβt mit den französischen Nationalfarben, durch Sierck und spielte französische Musikstücke, die von den Zuschauern mit „Vive la France, à bas la Prusse“ – „Hoch lebe Frankreich, nieder mit Preußen“ - Rufen begleitet wurden. Selbstverständlich nahm dieses Mal kein preußischer Verein am Fest teil.392 389 390 Für die Bewertung der Ausprägung der grenzüberschreitenden Vernetzung des Vereinswesens ist zu beachten, dass sich bei diesen Begegnungen meist mehr als zwei Vereine trafen. So trafen sich 1885 Mitglieder des Stenographenvereins Saarbrücken, Dudweiler, Völklingen mit Forbacher Bürgern zu einem Tanzabend, um einen Forbacher Stenographenverein zu gründen. Beim Sängerfest 1881 in Forbach trafen sich sogar zehn Vereine. [Forbacher Zeitung, 11.8.1881, 13.8.1881, 17.8.1881]. In den hier untersuchten Orten reichten nur zwei Vereine, die bereits vor dem DeutschFranzösischen Krieg existierten, einen Genehmigungsantrag ein. 391 Siehe Kapitel: 3.2.8. „Die binationalen Paare vor und nach dem Deutsch-Französischen Krieg“. 392 ADM, 2 AL 102; Courrier de la Moselle, 10.6.1876. 145 Hatten die gemeinsamen politischen Ziele der bürgerlichen Schichten als integratives Element nach dem Krieg keine Kontinuität, belegen die transnationalen Vernetzungen der katholischen Vereine ab den 1880/1890er Jahren die Bedeutung der konfessionellen Gemeinsamkeiten als Element der Integration im Grenzraum. So entwickelten neben den katholischen Arbeiter- und Jünglingsvereinen und dem Volksverein auch die katholischen Freizeitvereine eine transnationale Aktivität. Ein Drittel der in den Zeitungen ermittelten grenzüberschreitenden Veranstaltungen der Vereine lassen sich dem katholischen Milieu zuordnen. Parallel zu diesen transnationalen katholischen Vereinsverflechtungen existierten nach 1871 Vernetzungen bürgerlicher Vereine, die jedoch mit den bürgerlichen Vereinsverbindungen vor dem Krieg nichts gemein hatten: Transnationale, verschiedene Nationalitäten verbindende Verflechtungen waren die nach dem Krieg nachgewiesenen bürgerlichen Vereinskontakte nicht: Mit den Vereinsgründungen der nach Lothringen eingewanderten Deutschen organisierte sich auf beiden Seiten der Grenze eine bürgerlich-deutsche Mittelschicht in Beamten- und Bürgervereinen oder Gesangvereinen, Verschönerungsvereinen, Frauen- und Sportvereinen.393 Anschluss an die lokale Gesellschaft suchend, knüpften die Eingewanderten Kontakte zu Saarvereinen. Im Gegensatz zu den Kontakten der bürgerlichen Vereine vor dem Krieg waren diese Verbindungen grenzüberschreitend, aber nicht transnational.394 Als die Forbacher Liedertafel 1872 an einem Festball des Malstätter Liederkranzes anlässlich des Andenkens an die Spicherer Schlacht teilnahm, war dies ein grenzüberschreitendes Treffen zwischen 393 So organisierten sich in den Fuβballvereinen in Lothringen zunächst vor allem die eingewanderten bürgerlichen Schichten. Später wurden die Fuβballvereine zu einem Faktor der Integration zwischen Eingewanderten und Lothringern: Wahl, Alfred; Pivot, Pierre: L’introduction du football dans le Reichsland Elsass-Lothringen, in: Football an Regional Identity in Europe, (Hrsg.) Siegfried Gehrmann, Münster 1997, 17-31. 394 Ein Viertel der nachgewiesenen Vereinstreffen waren Treffen „altdeutscher“ Vereine. In den bürgerlichen Vereinen auf lothringischer Seite waren vereinzelt auch Einheimische Mitglied. Welche Rolle diese Mitglieder spielten ist unklar. Denkbar ist, dass sich einige Lothringer von der Mitgliedschaft in den Vereinen der neuen Machthaber Vorteile erhofften. Die Vereine in denen lediglich ein bis drei Lothringer Mitglieder waren, werden dennoch als „altdeutsche“ Vereine bezeichnet. 146 „Altdeutschen“.395 Nicht nur die soziale und nationale Herkunft bildeten die gemeinsame Basis dieser Vereine, sondern auch die protestantische Konfession der Mehrheit der Mitglieder.396 5.2.2. Die Kriegervereine ein Element der Integration im Kohlenrevier Am 6. August 1905 fand wie jedes Jahr am Spicherer Berg eine Gedächtnisfeier zum Andenken an die Schlacht von Spicheren statt. Die Festrede hielt der Vorsitzende des Spicherer Kriegervereins - ein ehemaliger französischer Soldat.397 Obwohl die Vereinsgründungen auf Initiative der „Altdeutschen“ erfolgten, war das Engagement der Lothringer in den Kriegervereinen nichts Ungewöhnliches.398 In 14 der 16 untersuchten Kriegervereinen waren gleichermaßen Alt- und Neudeutsche organisiert, fünf Kriegervereine hatten sogar ehemalige französische Soldaten als Mitglieder.399 Die intensiven grenzüberschreitenden Verbindungen der Kriegervereine waren daher auch transnationale Begegnungen zwischen Deutschen und Lothringern.400 395 Forbacher Zeitung, 1.8.1872. 396 Die bürgerlichen Schichten im Saargebiet waren protestantisch dominiert, wie auch die nach Lothringen eingewanderten Deutschen mehrheitlich reformierten Glaubensrichtungen angehörten. Siehe Kapitel: 6.2.1. „Kulturkampf. Ein Konfessionskonflikt als nationaler und sozialer Konflikt“. 397 Saarbrücker Zeitung, 10.8.1905. Zum Kriegervereinswesen an der Saar: Henning, Hansjoachim: Kriegervereine in den preußischen Westprovinzen. Ein Beitrag zur preußischen Innenpolitik zwischen 1860 und 1914, in: Rheinische Vierteljahrsblätter, 32 (1968) 469. Mallmann, Anfänge, 57. Allgemein zur Verbreitung der Kriegervereine in Lothringen und zur Mitgliedschaft der ElsassLothringer in den Kriegervereinen: Metzler, Lionel: Les Kriegervereine en Lorraine annexée de 1874 à 1914, in: Les associations en Lorraine (De 1871 à nos jours), (Présentés par) Bernard Desmars, Alfred Wahl, Metz 2000, 19-35. 398 399 Für die verbleibenden zwei Kriegervereine können keine Angaben Staatsangehörigkeit der Mitglieder gemacht werden. Siehe: Abbildung 49. 400 Ein Viertel der in den Zeitungen ermittelten grenzüberschreitenden Vereinstreffen waren Zusammenkünfte der Kriegervereine. U. a. Saarbrücker Zeitung, 14.8.1889: Fahnenweihe in Merlebach. Saarbrücker Zeitung, 12.9.1889: Fahnenweihe in Petite-Rosselle. Forbacher Zeitung, 10.9.1889: Fahnenweihefest in Forbach. Forbacher Zeitung, 12.9.1893: Fahnenweihe in Nassweiler. Saarbrücker Zeitung, 16.7.1901; Forbacher Zeitung, 10.7.1901: Fahnenweihe und geselliger Abend in St. Arnual. Siehe Abbildung 49. 147 über die Ort Gründungsjahr Mitgliederzusammensetzung Forbach 1881 218 Mitglieder (Stand: 1891) 61 gebürtige E-L (9 ehem. franz. Soldaten) 3 naturalisierte E-L Merlebach 1885 78 Mitglieder (Stand: 1889) 47 E-L Merten-Bibling 1903 28 Mitglieder 27 E-L (mind. 14 eingeborene E-L) Morsbach 1901 Alle im deutschen Heer gedient Petite-Rosselle 1885 88 Mitglieder (Stand: ca. 1895) 19 gebürtige E-L (7 ehem. franz. Soldaten Schoeneck 1891 37 Mitglieder 31 E-L Spicheren 1905 33 Mitglieder 1 ehem. franz. Soldat (sonst keine Informationen) Stiring-Wendel 1898 61 Mitglieder 53 E-L (6 ehem. franz. Soldaten) Stiring-Wendel (Waffenbruderverein) 1904 35 Mitglieder 17 E-L (1 ehem. franz. Soldat) Bouzonville 1887 81 Mitglieder (nur Angabe der Wohnorte) Koenigsmacker 1889 53 Mitglieder 30 gebürtige E-L 9 naturalisierte E-L Ottange 1889 64 Mitglieder 37 gebürtige E-L Rédange 1895 65 Mitglieder 6 gebürtige E-L 1 naturalisierter E-L Ronguevaux 1897 24 Mitglieder 24 E-L (mind. 19 gebürtige E-L) Sierck 1888 nur dt. Soldaten Téterchen 1889 60 Mitglieder 1 gebürtiger E-L Abbildung 49: Mitgliederzusammensetzung Kriegervereine Manifestierte sich in den transnationalen Treffen der katholischen Vereine die Bedeutung der Milieu- beziehungsweise Konfessionszugehörigkeit als Faktor grenzüberschreitender Integration, sind die Berührungspunkte zwischen den 148 lothringischen und deutschen Mitgliedern der Kriegervereine nicht sofort erkennbar. Die Kriegervereine als Inbegriff des deutschen Patriotismus bieten auf den ersten Blick nur wenige Identifikationsmöglichkeiten für Lothringer. Abgesehen davon, dass möglicherweise die Unterstützung der Mitglieder in Notlagen einige Lothringer dazu veranlasste, einem Kriegerverein beizutreten, waren die Kriegervereine vor allem als „normale“ Freizeitvereine für Lothringer interessant.401 Patriotische Feste waren nur ein Bestandteil des Festkalenders, dem auch nicht von allen Kriegervereinen große Bedeutung beigemessen wurde.402 Mindestens ebenso wichtig waren die Fahnenweihen und sonstigen Vereinsfeste, die sich nicht grundlegend von den Feiern anderer Vereine unterschieden.403 Jedoch deuten die räumliche Konzentration der Kriegervereine sowie der transnationalen Vereinstreffen auf das Kohlenrevier an, dass sich in den Verflechtungen der Kriegervereine vor allem die Bedeutung der gemeinsamen sozialen Herkunft und der ähnlichen Arbeitserfahrungen unter Tage als Element der grenzüberschreitenden Identifikation widerspiegelt.404 In vielen anderen Orten außerhalb des Industriereviers stieβ das Kriegvereinswesen auf den Widerstand der lothringischen Bevölkerung.405 Die im Vergleich zum Industrierevier geringe Anzahl Kriegervereine im Dreiländereck und der Kontrast zwischen den transnationalen Zusammenkünften im Industrierevier und dem Stiftungsfest des 401 402 403 404 405 Zur sozialen Funktion der Kriegervereine: Rohkämper, Militarismus, 77. Zu den Kriegervereinen als Vergnügungsvereine. Metzler, Kriegervereine (2000), 24f. Rohkrämer, Militarismus, 69. So schickte der Kriegerverein von Saint-Avold, in dem auch ehemalige französische Soldaten organisiert waren, erst nach Strafandrohung eine Mitgliederdelegation zur Kaiserparade. Metzler, Lionel: Kriegervereine en Lorraine annexée et à Saint-Avold (de 1874 à 1914), in: Les chahiers lorrains, 3 (2004) 24ff. Zur Mitgliedschaft der französischen Soldaten: ADM, 3 AL 468, Forbacher Zeitung, 30.11.1889; Forbacher Zeitung, 11.6.1881; Forbacher Zeitung, 14.6.1881. Diese unangepasste Haltung einiger lothringischer Vereine korrespondiert mit der Opposition der Kriegervereine der Rheinprovinz gegen die Versuche der Kontrolle des Vereinslebens durch die Regierung. Henning, Kriegervereine 446ff. Metzler, Kriegervereine (2000), 25f. Mallmann weist anhand einer Auswertung von Mitgliederlisten nach, dass sich in den Kriegervereinen im Saarrevier zu einem groβen Prozentsatz Arbeiter organisierten. Mallmann, Anfänge, 57. Vgl.: Henning, Kriegervereine, 469. Dieser schätzt den Anteil der Arbeiter in den Vereinen niedriger ein. Zu den Schwierigkeiten der Etablierung der Kriegervereine in Lothringen: Saarbrücker Zeitung, 26.9.1880, Saarbrücker Zeitung, 20.5.1885. 149 Siercker Kriegervereins, welches 1888 im preuβischen Nachbarort Perl unter Teilnahme ausschlieβlich deutscher Vereine begangen wurde deuten an, dass die Kriegervereine im Dreiländereck weitaus negativer aufgenommen wurden als im Industrierevier.406 Im Gegensatz dazu, entwickelte sich durch die grenzüberschreitenden Vernetzungen der Kriegervereine im Industrierevier das Andenken an den Deutsch-Französischen Krieg von einer national aufgeladenen Erinnerungsfeier zum Bestandteil einer grenzüberschreitenden Erinnerungskultur,407 deren Höhepunkt die bereits erwähnte Rede des ehemaligen französischen Soldaten im August 1905 zum Andenken an die Spicherer Schlacht war.408 Die Erinnerungsfeiern auf den Spicherer Höhen verloren schlieβlich immer mehr den Bezug zum historischen Ereignis und machten Platz für eine Art Schlachtfeldtourismus. Für die Mehrheit der Grenzraumbevölkerung war Anfang des 20. Jahrhunderts die alljährliche Erinnerungsfeier der Kriegervereine auf dem Spichererberg von geringerer Bedeutung als das Spichererberger Turn- und Spielfest, das zeitnah zu den Feierlichkeiten der Kriegervereine stattfand und die Grenzraumbewohner beiderseits der Grenze in Massen anzog.409. 406 Siercker Anzeiger, 7.7.1888. 407 Böhm, Képi, 90ff. Ruppersberg, Kriegschronik. Beispielsweise die Einweihung des Denkmals für die gefallenen französischen Soldaten in Forbach im August 1872. Saarbrücker Zeitung, 27.8.1872. Im Gegensatz dazu die Situation 1906: Zum Trauergottesdienst der katholischen Kirche gäbe es immer weniger Teilnehmer. Es würde sich noch ein Denkmal der Gefallenen Forbachs im Kirchhof befinden, jedoch wäre dies nur noch für die Älteren von Bedeutung. Forbacher Bürger-Zeitung, 7.8.1906: Siehe zu diesem Aspekt der Integration im Grenzraum: Maas, Kriegerdenkmäler, 54ff. Der Begriff „Erinnerungskultur“ entwickelte sich nach der bahnbrechenden Arbeit von Jan Assmann zu einem bedeutenden Forschungs- und Diskussionsgegenstand in der historischen Forschung. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. Erinnerungskultur wird mit Anlehnung an Assmanns Arbeit hier als „Kollektive Leistung der Vergegenwärtigung vergangener Ereignisse durch Wiederholung spezifischer, kulturell vorgegebener Riten und Symbole“ verstanden. Hölscher, Lucian: Geschichte als „Erinnerungskultur“, in: Generation und Gedächtnis. Erinnerungen und kollektive Identitäten, (Hrsg.) Kristin Platt, Mihran Dabag, Opladen 1995, 157. 408 409 Grenzüberschreitende Erinnerungsfeiern: Forbacher Zeitung, 8.8.1882: Der Forbacher Kriegerverein veranstaltete eine Gedächtnisfeier unter Anwesenheit einiger ehemaliger französischer Soldaten zu Ehren der Gefallen. Saarbrücker Zeitung, 20.5.1885: Einweihung des Kriegerdenkmals in Völklingen. Anwesend waren: Kriegervereine der Saargegend und der Kriegerverein Metz, Thionville, Forbach und Saint-Avold. In dem Kriegerverein Forbach und Saint-Avold waren auch ehemalige französische Soldaten Mitglieder. Saarbrücker 150 Wie ungewöhnlich das Engagement der Lothringer in den Kriegervereinen des Kohlenreviers war, beweisen die Zeitungsartikel, welche die Mitgliedschaft von Lothringern in den Kriegervereinen und deren Teilnahme an Veranstaltungen besonders hervorheben. Als zur Kaisergeburtstagsfeier 1885 in Forbach der Kriegerverein einen Festkommerz veranstaltete und dort ein ehemaliger französischer Soldat erschien, kommentierte dies die lokale Zeitung folgendermaβen: Es "fehlte nicht an erhebenden und erfreulichen Momenten. So rief es z.B. allgemein freudige Bewegung hervor, als ein wackerer Landmann aus einem benachbarten Dorfe, ein ehemaliger französischer Soldat, welcher die Kriege in der Krim, in Italien und in China mitgemacht, mit den Denkmünzen dieser Kriege und dem Kreuz der Ehrenlegion auf der Brust, in der Festversammlung erschien und an der Feier theilnahm. Es war mit Einem Worte ein gelungenes Fest."410 5.3. Zwei nationale Konflikte – doppeltes Konfliktpotential: Der Einfluss der Nähe Luxemburgs auf das Freizeitverhalten Die Verbreitung und Akzeptanz der Kriegervereine weist auf einen unterschiedlichen grenzüberschreitenden Verflechtungsgrad der Industrieregion und des Dreiländereckes hin. Bereits im Kapitel Familie wurde auf diese Divergenz hingewiesen und herausgearbeitet, dass eine Verschlechterung der grenzüberschreitenden Verbindungen mit dem Beitritt Luxemburgs in den Zeitung, 8.8.1889: Schmückung der Soldatengräber durch den Forbacher Kriegerverein, den Spicherer Verschönerungsverein und dem Kriegerverein St. Arnuals. Saarbrücker Zeitung, 18.7.1893; Forbacher Zeitung, 18.7.1893, 8.8.1893. Zum Spichererberger- Turn- und Spielfest: Saarbrücker Zeitung, 21.8.1905: Abdruck der Resultate des Spichererberger- Turnund Spielfest am 8. August. Die Teilnehmer kamen von beiden Seiten der Grenze. 410 Forbacher Zeitung, 24.3.1885. Saarbrücker Zeitung, 20.5.1885. Ähnlich hervorgehoben wurde die Mitgliedschaft der französischen Soldaten im Saint-Avolder Kriegerverein. "Auch hat der Verein einige alte Krieger, welche vor 1870-71 in nichtdeutscher Armee gedient, aufzuweisen. Bravo! den alten Soldaten." 151 Deutschen Zollverein einsetzte.411 Das sich formierende Nationalbewusstsein der Luxemburger und die damit verbundene negative Haltung gegenüber den preußischen Grenzraumbewohnern führte auch nach dem Deutsch-Französischen Krieg zu Konflikten zwischen den Grenzraumbewohnern und potenzierte die nationale Abgrenzung der lothringischen von den deutschen Grenzraumbewohnern. Dorfschlägereien und verbale Auseinandersetzungen zwischen den luxemburgischen und preuβischen Bewohnern stehen neben den, seit dem Beitritt in den Zollverein intensivierten grenzüberschreitenden Kontakten. So erledigten die preuβischen Einwohner ihre Einkäufe nicht mehr in der Kreisstadt Saarburg, sondern in den luxemburgischen Grenzorten. Die Einwohner Luxemburgs verhielten sich jedoch derart abweisend gegenüber diesen neuen Kunden, dass es sogar zu Beschwerden bei den Behörden kam. Die Luxemburger würden keine Gelegenheit auslassen die preußischen Grenzraumbewohner „aufzuhetzen und zu beleidigen und die harmlosesten Personen mit gemeinen Schimpfreden zu versetzen.“412 Mit den militärischen Erfolgen Preuβens im Deutschen Krieg 1866 und der Krise von 1867, ausgelöst durch den von preuβischer Seite nicht geleisteten Verkauf Luxemburgs an Frankreich, blieb die nationale Zukunft Luxemburgs ungewiss und verstärkte den national motivierten Abgrenzungsprozess der luxemburgischen von den preuβischen Bewohnern. Am 11. Mai 1867 wurde die Krise mit dem Londoner Protokoll beendet: Luxemburg wurde für neutral erklärt und die preuβischen Truppen zogen ihre Garnison aus der Festung ab. Nach dem Deutsch-Französischen Krieg unterstützte der luxemburgische Nationsbildungsprozess die lothringische Protesthaltung gegen die Annexion. So fand die pro- französische Haltung der Lothringer im öffentlichen Präsentieren der luxemburgischen Nationalsymbole ihren Ausdruck. Die rot-weiß-blaue Fahne der Luxemburger musste lediglich umgedreht werden, um eine französische Trikolore zu erhalten. Der Einmarsch eines ungeladenen luxemburgischen Vereins im Jahr 411 412 Siehe Kapitel: 3.2.6. „Einfluss des Beitritts Luxemburgs in den Deutschen Zollverein auf das Heiratsverhalten“. LHAK, Best. 442, Nr. 6550: Landrat von Saarburg an den Reg. Präsidenten von Trier, 31.5.1867. Siehe ebenso: Minister des Inneren an den Regierungspräsidenten in Trier, 28.5.1867. 152 1886 mit gehisster luxemburgischer Fahne in die preuβische Stadt Perl, wurde von den Bewohnern offenbar als symbolischer Einmarsch der französischen Arme und somit als Provokation gedeutet. Die Folge war eine Massenschlägerei zwischen den Bewohnern und den Mitgliedern des Vereins. Auch den Behörden war die Instrumentalisierung der luxemburgischen Fahne als pro- französisches Symbol bekannt. Vereinstreffen zwischen luxemburgischen und lothringischen Vereinen wurden daher behördlich untersagt.413 Ereignisse wie das Musikfest in Sierck im Jahr 1876 oder die Massenschlägereien zwischen den Grenzraumbewohnern 1886 und 1887 in Schengen und Perl, zeugen von der Höhe des Aggressionspotentials, dass die luxemburgischen Nationalsymbole bei den lothringischen und preuβischen Bewohner auslösten.414 Um weitere Konflikte zwischen den Nationalitäten zu vermeiden, feierte der Siercker Kriegerverein 1888 sein Stiftungsfest im preuβischen Nachbarort Perl.415 Die Formierung des luxemburgischen Nationalbewusstseins und der damit verbundene Abgrenzungs- und Emanzipierungsprozess gegenüber anderen Nationen, potenzierten die national motivierte Abgrenzung der lothringischen von der preuβischen Bevölkerung nach 1871 und lieβ die „Nation“ im Dreiländereck deutlicher als trennendes Element zwischen die Lothringer und Preuβen treten als im Gebiet Forbach- Saarbrücken. Noch 1893 wurde von Luxemburg aus im Reichsland ein Flugblatt mit dem Titel "L'Union des Patriotes Français“ verbreitet, auf dem die Loslösung Elsass-Lothringens vom Deutschen Reich gefordert wurde.416 In Forbach kam es auch zu antipreuβischen Zwischenfällen, diese beschränkten sich jedoch weitestgehend auf die ersten Jahre nach dem Krieg und waren zu keinem Zeitpunkt mit der Intensität der Konflikte im Dreiländereck 413 ADBR, 14 AL 107: Bezirkspräsident Lothringens an das kaiserliche Ministerium für ElsassLothringen, 3.8.1887. Der Turnverein Thionville erhielt nicht die Erlaubnis luxemburgische Vereine zu einem Turnfest einzuladen. 414 Zur Schlägerei in Perl: ADBR, 14 AL 107: Bezirkspräsident an das kaiserliche Ministerium für Elsass-Lothringen, 3.3.1887. Zur Schlägerei in Schengen: Siecker Anzeiger, 28.4.1888. Siercker Anzeiger, 7.7.1888. 415 416 Saarbrücker Zeitung, 18.1.1893. 153 vergleichbar. Die Massenschlägereien standen hier dem Vandalismus auf dem Soldatenfriedhof im Spicherer Ehrental oder einzelnen Provokationen gegenüber.417 Der luxemburgische Nationsbildungsprozess erhöhte das Konfliktpotential zwischen den Grenzraumbewohnern merklich, dennoch bestanden positive Kontakte zwischen Preuβen, Lothringern und Luxemburgern. Die familiären Verflechtungen, die erfolgreichen Veranstaltungen des Volksvereins mit Rednern aus dem Saarrevier und die vor und nach dem Deutsch-Französischen Krieg gut besuchten traditionsreichen Märkte und Kirmessen auf beiden Seiten der Grenze sind hierfür ein Beleg.418 5.4 Einfluss der Eliten auf die grenzüberschreitenden Verflechtungen am Beispiel des Musikvereins Cäcilia Sierck Die Abnahme der transnationalen Verflechtungen der bürgerlichen Schichten nach dem Deutsch-Französischen Krieg äuβerte sich sowohl in der Ausprägung der familiären Netzwerke als auch in der Ausprägung der Vereinsverflechtungen. Wie die nationale Protesthaltung der lokalen Eliten auf die Akzeptanz der Eingewanderten in der Bevölkerung einwirkten und so auch die Dichte der grenzüberschreitenden Verflechtungen beeinflussten, zeigt das Beispiel des Musikvereins Cäcilia Sierck. Neben den strukturellen Unterschieden und dem luxemburgischen Nationsbildungsprozess, ist die unterschiedliche Haltung der lokalen Eliten zu den Deutschen eine weitere mögliche Erklärung für den 417 Beispielsweise: Saarbrücker Zeitung, 1.6.1889: Auf dem Schlachtfeld von Spicheren hatten Unbekannte das Denkmal des 40 Regiments mit Steinen beworfen. Forbacher Zeitung, 14.6.1881. Ein Bewohner Forbachs hatte den Lokomotivheizer wegen seiner "Preußenmütze" beleidigt und ihm einen Schlag mit einem Stock versetzt. 418 ADM, 2 AL 161: Kreisdirektor an den Bezirkspräsidenten, 25.11.1903. Zu den Veranstaltungen des Volksvereins im Siercker Raum: Roth, Lorraine, 472ff. Zur Siercker Kirmes: Siercker Anzeiger, 15.9.1888, 16.9.1900, 9.9.1905: Zum Perler Herbst Kram- und Viehmarkt: Siercker Anzeiger, 10.10.1888. 154 divergierenden Grad der grenzüberschreitenden Integration im Industrierevier und im ländlichen Raum.419 Bereits erwähnt wurde der Kontrast zwischen dem freundschaftlichen Zusammentreffen preuβischer, lothringischer und luxemburgischer Vereine 1863 und der antipreuβischen Stimmung während des Festes 1876 in Sierck.420 Zwei Jahre später im Jahr 1878 kam es zu einem ähnlichen Zwischenfall. Die Stadtoffiziellen baten den Präsidenten des Siercker Musikvereins Monsieur Gillard, die Karnevalsgesellschaft „Heuschreck“ aus Trier mit Musik vom Bahnhof abzuholen. Der Vereinspräsident lehnte dies mit der Begründung ab, dass er erst die Genehmigung des Kreisdirektors einholen müsse. Allerdings hatte die Cäcilia kurz zuvor die luxemburgische Musikgesellschaft aus Echternach mit Musik am Bahnhof empfangen. Ebenso lehnte der Präsident die Teilnahme der Cäcilia an der von den Eingewanderten organisierten Wohltätigkeitsveranstaltung zugunsten des Siercker Krankenhauses ab. Auf dem Wohltätigkeitsball erschien kein einziger lothringischer Bürger, was laut Kreisdirektor vor allem auf die Nichtbeteiligung der Cäcilia zurückzuführen gewesen sei. Die Untersuchung dieses Falles ergab, dass einige Mitglieder eine Beteiligung der Cäcilia an dem Fest befürwortet hatten, dass diese jedoch der Entscheidung des Präsidenten Folge geleistet hätten.421 Nachdem sich aufgrund dieser vereinsinternen Konflikte die Cäcilia auflöste und der Verein 1893 mit nahezu identischen Mitgliedern, jedoch unter Vorsitz eines anderen Präsidenten neu gegründet wurde,422 meldete die Zeitungen 1897 aus Sierck, dass die Erinnerungsfeier zum 100jährigen Geburtstag Wilhem I. gemeinschaftlich vom Veloclub, dem Männergesangverein und dem Musikverein Cäcilia organisiert werden würde.423 419 420 421 Zur Wirkung der strukturellen Unterschiede siehe Kapitel: 3.2.5. „Binationale Ehen: Landund Industrieregion im Vergleich“. Zum luxemburgischen Nationsbildungsprozess siehe Kapitel: 3.2.6. „Einfluss des Beitritts Luxemburgs in den Deutschen Zollverein auf das Heiratsverhalten„. Siehe: Kapitel 5.2.1. „Bürgerliche und katholische Vereinsverflechtungen. Eine Zäsur zwischen Vor- und Nachkriegszeit“. ADM, 3 AL 474, Polizeikommissar an den Kreisdirektor in Diedenhofen, 31.5.1878. 422 ADM, 3 AL 474, Brief des Kreisdirektor an den Bezirksdirektor in Metz, 4.5.1893. 423 Siecker Anzeiger, 24.3.1888; Siecker Anzeiger, 20.3.1897. 155 Diese Episode der Vereinsgeschichte des Musikvereins Cäcilia ist nur ein Beleg neben zahlreichen anderen Ereignissen, die beweisen, wie groß der Einfluss der Eliten auf die Haltung der Bewohner der Ortschaften war. In Saaralb beflaggten die lothringischen Bewohner zum Anlass der Beisetzung Wilhelms I. nicht ihre Häuser, da laut Forbacher Zeitung „wichtige Persönlichkeiten gegen Beflaggen seien“ und sich deswegen die „anderen auch nicht trauen“ würden.424 Eine Stigmatisierung als Freund der Deutschen wog offenbar schwerer als die Unannehmlichkeiten, die eine Nichtbeflaggung nach sich ziehen konnte. Ebenso ist die relativ schnelle Akzeptanz der deutschen Einwanderer in Forbach mit der kooperativen Haltung eines Teiles der Forbacher Eliten erklärbar. So wurde die Feier zum 70. Geburtstags Bismarcks 1885 „auch von mehreren der hervorragenden eingeborenen Bürgern besucht“.425 1893 attestierte man den Bewohnern des Kreises Forbach in der amtlichen Korrespondenz sogar eine besonders kooperative Haltung während der Feier des Kaisergeburtstages.426 5.5. Auswirkung der politischen Ereignisse auf das Freizeitverhalten 5.5.1. Freizeit ohne Grenzen? Freizeit an der Grenze vor 1871 Die Staatsgrenze war für die Freizeitgestaltung kein Hindernis. Traten auf Vereinsebene zu diesem Zeitpunkt vor allem die bürgerlichen Schichten in grenzüberschreitenden Kontakt, trafen sich auf den Volksfesten wie den Kirmessen und den Gärtnerei- sowie Landwirtschaftsausstellungen die weniger bemittelten 424 Forbacher Zeitung, 22.3.1888. 425 Forbacher Zeitung, 31.3.1885. 426 Forbacher Zeitung, 2.2.1893. 156 Grenzraumbewohner.427 Grundsätzlich waren die Freizeitmöglichkeiten für die unteren Schichten durch die langen Arbeitszeiten und das geringe Einkommen jedoch begrenzt.428 Einen Besuch der zahlreichen Ausflugslokale oder einen Aufenthalt in den grenzüberschreitend beworbenen Kurorten konnten sich lediglich die wohlhabenden Grenzraumbewohner leisten.429 Informationen über das Freizeitangebot erhielten die Grenzraumbewohner in den Zeitungen. Etablierte Ausflugslokale wie das Gasthaus „Goldene Bremm“ organisierten zu besonderen Anlässen zwischen Saarbrücken und Forbach Transportmöglichkeiten für ihre Gäste.430 Positiv beeinflusste auch die Eröffnung der Eisenbahnstrecke zwischen Metz und Saarbrücken im Jahr 1852 und die Einweihung der Eisenbahnverbindung Sarreguemines- Saarbrücken im Juni 1870 die Intensität der grenzüberschreitenden Freizeitaktivitäten im Industrierevier.431 Die Möglichkeiten transnationaler Freizeitgestaltung waren vielfältig und wurden von den Grenzraumbewohnern auch genutzt. Ganz so harmonisch, wie ein Artikel 427 428 Dabei waren die traditionsreichen Kirmessen wie die Forbacher Kirmes ein besonderer Anziehungspunkt für die Bewohner der Saargegend. Zur Forbacher Kirmes: Saarbrücker Zeitung, 20.10.1866. Ebenso wurde die Stiringer Kirmes und die Schoenecker Kirmes in Lothringen in der Saarbrücker Zeitung beworben. Saarbrücker Zeitung, 13.10.1855, 1.10.1859, 28.9.1859, 6.10.1859, 8.10.1859, 15.10.1859, 9.10.1869. Herre, Günther: Arbeitersport, Arbeiterjugend und Obrigkeitsstaat 1893 –1914, in: Sozialgeschichte der Freizeit, (Hrsg.) Gerhard Huck, Wuppertal 1980, 187ff. 429 U. a. Courrier de la Moselle, 3.7.1851: Einladung der Gärtner des Regierungsbezirks Trier zur Gärtnereiausstellung in Metz; Courrier de la Moselle, 2.9.1851: Gärtnereiausstellung in Luxemburg mit Teilnehmern aus Belgien, dem Departement Moselle und dem Regierungsbezirk Trier. LHAK, Best. 442, Nr. 3422: Bericht über Landwirtschaftsfest der Stadtbezirke Forbach und Saint-Avold 1853 mit Besuchern aus Deutschland. LHAK, Best. 403, Nr. 178: Landwirtschaftsaustellung in Metz 1868 mit besonders vielen Teilnehmern aus den Kreisen Saarbrücken und Saarlouis. Courrier de la Moselle, 13.5.1851, 1.5.1855. LAS, Landratsamt Saarbrücken, Nr. 804. Informationsbroschüre in französischer Sprache zum Kurbad Rilchingen,1868. 430 Werbung für die Goldene Bremm: Saarbrücker Zeitung, 3.7.1851, 2.5.1870; Werbung für eine Tanzveranstaltung auf der Simbacher Mühle bei Alsting: Saarbrücker Zeitung, 10.5.1851. Zu Forbach: Saarbrücker Zeitung, 1.3.1855, 10.3.1855, 15.3.1855. Zu Sarreguemines: Saarbrücker Zeitung, 28.6.1870. "Saargemünd hat sich seit Eröffnung der Eisenbahn eines sehr zahlreichen Besuches von hier aus zu erfreuen." Siehe auch: Saarbrücker Zeitung, 4.6.1870, 7.6.1870. Grenzüberschreitende Vergnügungszüge: Saarbrücker Zeitung, 4.6.1863: Vergnügungszug nach Mettlach über Saarbrücken und Trier mit Anschlüssen für Reisende aus Forbach, Neunkirchen und Luxemburg. Saarbrücker Zeitung, 5.10.1866: Vergnügungsfahrt von Saarbrücken über Forbach nach Paris. Saarbrücker Zeitung, 4.8.1855: Fahrt nach Paris inklusive Eintrittskarten für die Kunstausstellung und die Industrieausstellung von Saarbrücken über Forbach. 431 157 die Beziehungen zwischen den Einwohnern vor 1871 beschreibt, waren diese jedoch nicht. Rückblickend meinte ein Journalist, dass „vor dem Jahre 1870 […] zwischen der lothringischen Bevölkerung und den Bewohnern des angrenzenden Regierungs-Bezirkes Trier ein ziemlich intimer Verkehr [bestanden] habe. An den Sonn- und Feiertagen [habe] man oftmals ganze Schaaren (!) vergnügungslustiger Trierer in Metz antreffen [können], die stets von der Bevölkerung gut aufgenommen [worden waren].“432 In Zeiten auβenpolitischer Konflikte ist diese Einschätzung des grenzüberschreitenden Freizeitverhaltens differenzierter zu betrachten. Bereits thematisiert wurde die Verschlechterung der Beziehungen der Grenzraumbewohner im Dreiländereck nach dem Beitritt Luxemburgs in den Deutschen Zollverein.433 Ebenso erhöhte der sardinisch-französische Krieg gegen Österreich das Konfliktpotential im Grenzraum deutlich. Nachdem die französischen Truppen im Mai 1859 gegen das österreichische Heer gesiegt hatten und die lothringischen Grenzraumbewohner mit Freudenfesten zum Sieg von Magenta den preußischen Nachbarn die militärische Stärke der französischen Armee demonstrierten, entstand im Grenzraum eine gereizte Stimmung, die sich auch in Auseinandersetzungen zwischen den Bewohnern äußerte. Bereits zuvor wurden die Aggressionen durch die mit der Eisenbahn über Forbach transportierten französischen Soldaten geschürt, welche wiederholt Preußen und besonders die preußischen Bahnbeamten beschimpften.434 Es waren vor allem die Bewohner der grenznahen lothringischen Ortschaften, die versuchten, mit dem Sieg der französischen Armee ihre preußischen Nachbarn zu provozieren. So wurde der Sieg von Magenta in den direkt an der Grenze liegenden Ortschaften wie Forbach und Sierck besonders ausgelassen mit Freudenfeuern bejubelt, wohingegen in Metz 432 Saar-Zeitung, 30.4.1878. 433 Siehe Kapitel: 5.3. „Zwei nationale Konflikte – doppeltes Konfliktpotential: Der Einfluss der Nähe Luxemburgs auf das Freizeitverhalten“ und Kapitel 3.2.6. „Einfluss des Beitritts Luxemburgs in den Deutschen Zollverein auf das Heiratsverhalten“. 434 LHAK, Best. 442, Nr. 6389: Königl. Polizeidirektor an den königl. Regierungspräsidenten in Trier, 7.5.1859; Bericht des königl. Polizeikommissars Stoll, 6.5.1859. LHAK, Best. 403, Nr. 6575: Königl. Polizeikommissar von St. Johann an den Landrat, 6.5.1859; Brief an der Oberpräsidenten vom Landrat von Saarbrücken, 8.5.1859. 158 oder anderen, weiter von der Grenze entfernt liegenden Städten der Sieg kaum bis gar nicht gefeiert wurde.435 An der Grenze blieb es jedoch nicht bei den indirekten Provokationen der preuβischen Bevölkerung durch die Siegesfeiern. In Sarreguemines sah sich die Polizei genötigt, in den Wirtshäusern eine Bekanntmachung auszuhängen, die unter Androhung von Strafen untersagte, „verletzende Bemerkung“ gegenüber preußischen Bürgern zu äußern.436 Besonderes Ärgernis war offenbar ein in der Bevölkerung kursierender Witz, der von einem französischen Soldaten handelte, der ohne Mühe sechs preußische Soldaten besiegte.437 Dieser Witz führte an zwei aufeinander folgenden Sonntagen zu Schlägereien zwischen den Jugendlichen des französischen Ortes Merlebach und den Jugendlichen des preußischen Ortes St. Nikolaus. In seinem Bericht an den Regierungspräsidenten konnte der Landrat nur schwer seine Genugtuung darüber verbergen, dass „die jungen Leute des französischen Dorfes Merlenbach den kürzeren gezogen“ hätten.438 An einem anderen Tag zogen etwa zwanzig Franzosen, darunter einige in Grosbliederstroff stationierte Kurassiere, in das preußische Kleinblittersdorf und marschierten dort singend und eine Kaffeemühle drehend durch den Ort. „Angeblich solle hier die Anspielung liegen, daß die Preußen gleichfalls zermahlen werden würden.“439 Ebenso wurde den preußischen Behörden gemeldet, dass Dorfbewohner eines grenznahen Ortes nach der Feier zum Sieg von Solferino zur Grenze gezogen seien und dort einen preuβischen Zollstock zerbrochen hätten. Hintergrund waren Streitigkeiten mit der preußischen Nachbargemeinde, 435 436 während des sardinisch-französischen Krieges gegen LHAK, Best. 403, Nr. 6575: Polizeikommissar an den königl. Landrat, 7.6.1859. LHAK, Best. 403, Nr. 6575: Polizeikommissar an den königl. Landrat, 7.6.1859. 437 Eine zeichnerische Umsetzung des Witzes wurde sogar im Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten bekannt, als in Forbach in einem Güterwagen ein derartiges Bild gefunden und dieses weder dort noch in Saarbrücken von den zuständigen Beamten entfernt worden war, wies der Minister die Eisenbahndirektion an, die betreffenden Beamten auf dieses Vergehen aufmerksam zu machen. LHAK, Best. 403, Nr. 6575: Minister für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten an den Direktor der Eisenbahndirektion in Saarbrücken, 27.7.1859. 438 LHAK, Best. 403, Nr. 6575: Landrat von Saarbrücken an den Regierungspräsidenten, 2.7.1859. Die französische Ortsbezeichnung ist Merlebach. LHAK, Best. 403, Nr. 6575: Landrat von Saarbrücken an den Regierungspräsidenten, 2.7.1859. 439 159 Österreich.440 Trotz dieser angespannten Stimmung in den grenznahen Orten während und kurz nach dem Italienfeldzug, wurde für die Stiringer und die Schoenecker Kirmes in der Saarbrücker Zeitung geworben,441 und auch die Bekanntmachung der Sarregueminer Polizei in den Gaststätten bezüglich der beleidigenden Bemerkungen über Preußen, zeugt von dem fortwährenden Wirtshausbesuch der preußischen Nachbarn, trotz der angespannten Stimmung in der Bevölkerung. Der Markt in Metz verlor ebenfalls nicht seine Anziehungskraft auf die preuβischen Bewohner, obwohl der Redakteur des Courrier de la Moselle meinte: „Nos voisins les Allemands, semblent nous tenir rigueur“, dass es also die Deutschen den Franzosen übel nahmen, gewonnen zu haben.442 Ähnlich reagierten die Grenzraumbewohner auf Napoleons Pläne zur Neuordnung Europas Mitte der 1860er Jahre, die eine Revision der Grenzen von 1815 mit einschlossen. Napoleons Vorhaben wurden durch die französische Tagespresse im Grenzraum insofern unterstützt, dass sie in zahlreichen Artikeln die Zugehörigkeit der Rheinprovinz zu Frankreich betonten und darüber hinaus von einer indifferenten nationalen Haltung der deutschen Grenzraumbewohner berichteten.443 Als der französische Kaiser nach dem Deutschen Krieg seiner Forderung auf die Rheingrenze noch mehr Nachdruck verlieh, äuβerten sich auch die Eliten der Grenzstädte zu den Plänen des französischen Kaisers. Am 2. Juli 1866 veröffentlichten die Wahlmänner aus Saarbrücken, Ottweiler und St. Wendel in der Saarbrücker Zeitung einen Aufruf, in dem sie betonten, dass sie Deutsche bleiben wollen und dass die Bewohner der Rheinprovinz „durch und durch deutsch“ seien und man deren Nationalität respektieren solle. Jedoch behinderten 440 LHAK, Best. 403, Nr. 6575: Regierungspräsident an den Oberpräsidenten, 2.8.1859. Minister der auswärtigen Angelegenheiten an den Innenminister, 9.11.1859. 441 Saarbrücker Zeitung, 28.9.1859, 6.10.1859, 8.10.1859, 15.10.1859, 1.10.1859. 442 Courrier de la Moselle, 10.5.1859. 443 Courrier de la Moselle, 31.5.1866, 17.5.1866, 10.5.1866, 6.2.1866, 26.7.1866, 23.6.1866, 31.5.1866, 22.5.1866. 160 auch in diesem Fall nicht die politischen Ereignisse eine rege Beteiligung der Saarbewohner an der Forbacher Kirb, sondern die in Stiring grassierende Cholera.444 Vor Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges war der Alltag der Grenzraumbewohner von einer Mischung aus Anspannung und Normalität bestimmt. Obwohl sich seit der Luxemburgkrise 1867 das Verhältnis zwischen Preuβen und Frankreich deutlich verschlechtert hatte, unternahmen die Grenzraumbewohner bis kurz vor Ausbruch des Deutsch-Französischen Kriegs Ausflüge auf die andere Seite der Grenze. Der Gersweiler Gesangverein veranstaltete in Lothringen ein Waldfest, die traditionellen Ausflugslokale empfingen gleichermaβen lothringische sowie deutsche Gäste, die Sarregueminer Gastwirtschaften erhielten immer mehr Kundschaft von der Saar und die Gesangvereine der Saarstädte erwarteten im Juni 1870 zahlreiche französische Gäste zu ihrem Gesangsfest in Saarbrücken.445 Man rief die Stadtbewohner zur Ausschmückung der Stadt durch Beflaggung auf, da laut eines Artikels in der Saarbrücker Zeitung „ohne allen Zweifel eine große Zuhörermenge aus unserer deutschen und französischen Nachbarschaft herangezogen wird“. Der Artikelschreiber war sich sicher, dass es „im Interesse unserer gesammten Bürgerschaft liegt, den Besuchern den hiesigen Aufenthalt so freundlich wie möglich zu machen.“446 Weniger friedlich ging es im Mai 1870 an der Goldenen Bremm zu. Ein preuβischer Wanderer, der in einem Gasthof im angetrunken Zustand eine lothringische Hochzeitsgesellschaft störte, löste ein Handgemenge zwischen Angehörigen der Saarbrücker Garnison und der Hochzeitgesellschaft 444 445 446 Saarbrücker Zeitung, 2.7.1866. "[…] die Hinausschiebung der sonst immer auch von hier aus sehr besuchten Kirmes dieser Stadt hat ihren Grund in dem Umstande, dass in dem nahe und volkreichen Styringen der unheimliche asiatische Gast eingekehrt ist und nicht unbedeutende Opfer schon gefordert hat." Mit « asiatischer Gast » ist vermutlich die sogenannte asiatische Cholera gemeint. Saarbrücker Zeitung, 2.5.1870: Zusammentreffen von Deutschen und Franzosen in einer Gaststätte an der Goldenen Bremm. Saarbrücker Zeitung, 15.7.1870: Werbung für ein Waldfest des Gersweiler (Saar) Gesangvereins in Lothringen. Saarbrücker Zeitung, 15.6.1870: Zum Gesangsfest in Saarbrücken. Saarbrücker Zeitung, 4.6.1870, 7.6.1870, 28.6.1870: Zur Vermehrung der Kundschaft von der Saar in Sarregueminer Gastwirtschaften. Saarbrücker Zeitung, 15.6.1870. 161 aus.447 Ein Journalist kommentiert diesen Vorfall wie folgt: „Es ist dies leider eine Thatsache, einer jener beklagenswerthen Vorfälle, wie deren so manche zu verzeichnen sind, wo junge oft übermüthige Leute zusammen kommen, und die insbesondere da sehr leicht hervorgerufen werden, wo an einem Belustigungsort sich zwei Nationalitäten berühren […]“.448 Laut Einschätzung des Artikelschreibers war es vor allem der Übermut der jungen Leute, welcher zu Konflikten führte, der Nationalitätenunterschied stellte lediglich ein zusätzliches Konfliktpotential dar. 5.5.2. Zäsur oder alte Gewohnheiten? Das erste Jahrzehnt nach dem Krieg „In vielen Augen sah man während der feierlichen Handlung Thränen stehen, und mancher Hasserfüllte Blick aus schönen Frauenaugen traf die der Feierlichkeit anwohnenden Deutschen. […] Von den männlichen Theilnehmern des Zuges hörte man wohl hie und da ein vereinzeltes „Vive la France!“ oder ein gemurmeltes „Au jour de la révanche“ ec., aber ihre Antipathie scheint mir lange nicht so intensiv zu sein, wie die der Damen.“ So lautet der Bericht des Journalisten der Saarbrücker Zeitung über die Einweihung des Denkmals für die gefallenen französischen Soldaten in Forbach im August 1872.449 Die Intensität der national motivierten Konflikte der Grenzraumbevölkerung war während der vorherigen auβenpolitischen Konflikte deutlich geringer als in den ersten Jahren nach der Annexion. Entluden sich nationale Ressentiments vor dem Krieg eher in harmlosen Sticheleien, kam es nach dem Krieg nicht nur während der zahlreichen Gedächtnisfeiern zu antideutschen Demonstrationen, sondern auch im Alltag wurden Deutsche in Lothringen Opfer von Übergriffen. Noch während des Krieges weigerte sich laut Saarbrücker Zeitung ein Delikatessenhändler, einen Kaufmann aus Saarbrücken zu bedienen. "Ehe diese Sardinen gegessen sein werden, [wird] noch viel, viel Preußenblut fließen, bis sie alle vernichtet sind, die Bismarcker!", 447 Saarbrücker Zeitung, 2.5.1870. 448 Saarbrücker Zeitung, 2.5.1870. 449 Saarbrücker Zeitung, 27.8.1872. 162 war sich der Händler sicher.450 In Forbach wurden nach dem Krieg preußische Besucher von einer Gruppe lothringischer Männer und Frauen beleidigt und tätlich angegriffen.451 Provokationen erfolgten auf beiden Seiten des Grenzraumes. Beim Saarbrücker Karnevalsumzug 1972 machte man sich auf den Themenwagen über das französische Militär lustig, sodass auch hier eher Konfliktpotential als die Möglichkeit eines positiven Kontaktes der Grenzraumbewohner bestand.452 Die Meldungen über Auseinandersetzungen zwischen Lothringern und Deutschen nahmen zwar in den folgenden Jahren ab, sind jedoch immer noch in den Akten und Zeitungen präsent. Auf den ersten Blick deuten die Zeitungen auf eine weiterhin dichte Verflechtung im Freizeitbereich hin, genauer betrachtet war es jedoch vor allem der „Siegertourismus“, der zu vermehrten Ausflügen nach Lothringen animierte - die aus dem Reich eingewanderten Deutschen erkundeten ihre neue Heimat. Rundreisetickets regten zu ausgedehnten Bahnreisen durch Elsass-Lothringen an und Ausflugslokale in Lothringen warben vermehrt um die deutsche Kundschaft.453 Diese Form der grenzüberschreitenden Ausflüge führte oftmals zu verbalen und körperlichen Auseinandersetzungen zwischen den Ausflüglern und den Lothringern.454 Ein Zeichen der grenzüberschreitenden Integration waren diese Freizeitaktivitäten demnach nicht. Sicherlich waren die grenzüberschreitenden Verflechtungen im Freizeitbereich in den ersten Jahren nach dem Krieg weniger intensiv als in den Vorkriegsjahren. Der Protest der Lothringer richtete sich jedoch vor allem gegen die eingewanderten Deutschen und nicht gegen die alteingesessenen Grenzraumbewohner. Offensichtlich wird dies an der Kontinuität der positiven grenzüberschreitenden Kontakte. So nahm bereits 1873 der Forbacher Musikverein 450 451 Saarbrücker Zeitung, 20.9.1870. Forbacher Zeitung, 10.7.1872. 452 Saarbrücker Zeitung, 15.2.1872. 453 Zu den Rundreisetickets: Saarbrücker Zeitung, 30.5.1873. Zu den Ausflugslokalen für Eingewanderte: Saarbrücker Zeitung, 4.5.1871, 21.9.1871, 24.12.1871. In Remilly beispielsweise pries ein Lokal seine deutsche Küche und sein deutsches Casino an. Aufsehen erregte die Misshandlung eines preußischen Ehepaares, welches die Stadt Pont à Mousson besichtigen wollte. Saarbrücker Zeitung, 10.8.1873; 31.8.1873. 454 163 Concordia an einem Fest anlässlich der Fahnenweihe in St. Johann teil.455 Die Concordia war 1869 auf Initiative der nach Lothringen eingewanderten Arbeiter der Firma Adt gegründet worden und hatte sowohl deutsche als auch lothringische Mitglieder.456 Ebenso wurden direkt nach dem Krieg wieder die Kirmessen auf der anderen Seite der Grenze beworben und auch das Kurbad Rilchingen versuchte erneut Gäste aus Lothringen anzuziehen.457 Ein weiterer Beweis für die Beständigkeit der positiven grenzüberschreitenden Beziehungen ist die gegenseitige Hilfe der Grenzgemeinden bei Bränden auch nach dem Krieg. Da diese Form der Solidarität auch zwischen lothringischen Gemeinden nicht selbstverständlich war, ist die Bedeutung dieser dörflichen Solidarität als Gradmesser grenzüberschreitender Integration nicht hoch genug einzuschätzen.458 Die guten nachbarschaftlichen Beziehungen zwischen der Saarregion und dem lothringischen Teil des Grenzraumes wurden durch den Krieg nicht unterbrochen, jedoch erfüllte sich die Hoffnung der eingewanderten Deutschen durch grenzüberschreitende Kontakte auf Freizeitebene, jene durch Krieg und Annexion entstandenen „Empfindlichkeiten vergessen zu machen“ nicht.459 Mit Blick auf die Verbindungen der alteingesessenen Grenzraumbewohner, ist jedoch die pessimistische Einschätzung eines Journalisten übertrieben, der im Jahr 1878 meinte, dass „eine Annäherung der beiden Nationalitäten bis jetzt durchaus als gescheitert zu betrachten ist.“460 455 Saarbrücker Zeitung, 17.7.1873. 456 ADM, 3 AL 434. Zu den Kirmessen: Forbacher Zeitung, 25.8.1872; Saarbrücker Zeitung, 7.10.1873, 18.10.1873; Saarbrücker Zeitung 8.10.1876, 21.10.1876, 22.10.1876. Beworben wurden die Malstätter, Forbacher, Spicherer, Grosbliedertroffer und Schoenecker Kirmes. Zum Kurbad Rilchingen: Courrier de la Moselle 17.5.1872. Courrier de la Moselle, 3.6.1869: Hilfe der Großrosseler Bürger beim Brand in PetiteRosselle; Courrier de la Moselle, 25.8.1863: Hilfe der Biringer Bürger beim Brand in Waldwisse; Forbacher Zeitung, 29.8.1872: Hilfe der Großrosseler Bürger beim Brand in Petite-Rosselle; Saarbrücker Zeitung 29.8.1873: Brand in Kleinblittersdorf, der u. a. von Bewohnern aus Grosbliederstroff gelöscht wurde; Diedenhofener Zeitung, 22.4.1876: Ein Feuer in Apach wurde gemeinschaftlich von der Siercker und Perler Feuerwehr gelöscht; Forbacher Zeitung, 9.5.1889; 11.5.1889: Berichte über die mangelnde gegenseitiger Brandhilfe lothringischer Gemeinden. Forbacher Zeitung, 12.1.1873. 457 458 459 460 Saar-Zeitung, 30.4.1878. 164 Positive grenzüberschreitende Verbindungen bestanden auch nach dem Deutsch-Französischen Krieg. Jedoch spiegelt sich im Freizeitverhalten der Grenzraumbewohner deutlich wider, dass das Konfliktpotential innerhalb der Bevölkerung nach dem Krieg 1870/71 höher war und dauerhafter präsent blieb als bei vorangegangenen auβenpolitischen Konfliktsituationen. Erst mit dem DeutschFranzösischen Krieg nahm die Intensität grenzüberschreitender Verfechtungen zumindest in den ersten Nachkriegsjahren merklich ab. 5.5.3. Der Weg der Normalisierung. 1880 bis 1904 In den 1880er Jahre vermehrten sich die Meldungen über grenzüberschreitende Freizeitaktivitäten deutlich. Die Zeitungen berichteten wieder über die zahlreichen Kirmes- und Karnevalsbesucher von der anderen Seite der Grenze.461 1889 war der Andrang zum Saarbrücker Karnevalsumzug so groß, dass im Forbacher Bahnhof sogar Gepäckwagen zum Personentransport eingesetzt werden mussten. Dass sich die Saarbrücker Bevölkerung während des Karnevalsumzuges kurz nach dem Krieg über das unterlegene französische Heer lustig gemacht hatte, war 1889 für die Besucher aus Lothringen offenbar kein Hinderungsgrund mehr.462 Nicht nur die traditionellen Volksfeste und Ausflugslokale zogen die Menschen wieder auf die andere Seite der Grenze, sondern auch Theatervorstellungen, Landwirtschaftsausstellungen und Zirkusveranstaltungen.463 Allgemein groß war der Andrang der sonntäglichen Ausflügler aus Forbach, die sich nach Saarbrücken 461 Siecker Anzeiger, 15.9.1888: Kirmes in Sierck; Saarbrücker Zeitung, 12.10.1881: Kirmes in Forbach; Saarbrücker Zeitung, 8.10.1889: Kirmes in Stiring-Wendel, Petite-Rosselle, Forbach. 462 Forbacher Zeitung, 7.3.1889. Forbacher Zeitung, 11.3.1901: Theaterbesucher aus Forbach hatten Probleme mit der Rückfahrt von Saarbrücken nach Forbach; Saarbrücker Zeitung, 16.3.1901, 2.11.1901, 18.9.1901: Werbende Artikel für das Theater in Saarbrücken (erschienen ganzjährig); Forbacher Bürgerzeitung, 16.3.1908: Erfolgreich war auch ein Gastspiel des Saarbrücker Thaliatheaters in L’Hôpital; Saarbrücker Zeitung, 5.5.1885; Forbacher Zeitung, 7.5.1885: Landwirtschaftliche Ausstellungen: Sieg eines Forbachers bei der Geflügelausstellung. Die Ausstellung wurde von zahlreichen Forbacher Bürgern besucht. Siercker Anzeiger, 14.4.1888: Der Circus Corty-Althof gastierte in Trier: Besucher hätten sich positiv über die Vorstellung geäuβert, auβerdem könne man mit dem letzten Zug nach Sierck zurückfahren. 463 165 begaben. So beschwerte sich 1897 ein Forbacher Wirt über die frühe Sperrstunde bei den Behörden. „An schönen Sonntagen , wenn alles zu Fuß nach Saarbrücken wandert, man schon den ganzen Tag dadurch nichts zu thun hat und nun des abends, wenn alles mit dem letzten Zug nach Hause fährt man dann noch einiges verkaufen könnte, nur muß man vorher schon schließen.“ Die Sperrstunde wurde auf 24 Uhr verlegt.464 Die zahlreichen Vereinsneugründungen trugen ebenfalls zu vermehrten Kontakten über die Grenze hinweg bei.465 Immer häufiger trafen sich ab den 1890er Jahren lothringische Vereine und Vereine aus der Saargegend zu Fahnenweihen, Sommerfesten, geselligen Nachmittagen und Stiftungsfesten. 466 5.5.4. Miteinander oder Konfrontation? Die letzten zehn Jahre vor Beginn des Ersten Weltkrieges Die Anwendung des Reichsvereinsgesetzes im März 1908 im Reichsland ElsassLothringen gab den pro-französischen Teilen der Bevölkerung nunmehr die Möglichkeit, sich vereinsmäßig zu organisieren. Ein Wiederaufleben eines französischen Nationalismus war in Lothringen deutlich spürbar.467 Profranzösische Vereine existierten in direkter Grenznähe lediglich in Sarreguemines.468 Jedoch erfasste der neue französische Patriotismus ebenso den 464 465 ADM, 13 Z 62: Wirt Franz Foerster an den Bezirkspräsidenten, 25.5.1897; Antwort des Kreisdirektors und des Bürgermeisters vom 25./22.6.1897. Siehe Kapitel: 5.2.1. „Bürgerliche und katholische Vereinsverflechtungen. Eine Zäsur zwischen Vor- und Nachkriegszeit“. 466 Auszugsweise einige weitere Veranstaltungen: 1885 wurde ein großes Sängerfest in Forbach von der Forbach Concordia mit Beteiligung weiterer lothringischer Vereine und Vereinen aus dem Saarrevier veranstaltet. Forbacher Zeitung, 26.3.1885, 9.7.1885, 14.7.1885, 16.7.1885, Saarbrücker Zeitung, 15.7.1885; Veranstaltungen der Kriegervereine: Der Kriegerverein Merlebach feiert seine Fahnenweihe mit 20 Vereinen aus Lothringen u. a. aus Petite-Rosselle und der Saargegend: Saarbrücker Zeitung, 14.8.1889. Das Fahnenweihefest in Petite-Rosselle „gestaltete sich zu einem Volksfeste“. Anwesend waren die Kriegervereine aus Forbach, Ludweiler, Metz und Großrosseln sowie der Forbacher Turnverein. Saarbrücker Zeitung, 12.9.1889. 467 Siehe hierzu: Roth, Lorraine, 543ff. 468 Zu den antideutschen Aktionen des Souvenir- Lorraine Vereins in Sarreguemines: Saarbrücker Zeitung, 6.7.1912, 29.7.1912. 166 Forbacher Raum. 1908 meinte ein Journalist, dass auch in Forbach die Kategorisierung der Einwohner Lothringens in Eingewanderte und alteingesessene Lothringer an "gewisse niedrige Instinkte der Massen appellieren" könne.469 Ebenso meldeten die Zeitungen aus der Gegend um Forbach steigende Teilnehmerzahlen bei den Feierlichkeiten zum französischen Nationalfeiertag in Nancy.470 Dieser neubelebte französische Patriotismus erfasste jedoch nur Teile der lothringischen Bevölkerung. Ähnlich lautet die Einschätzung des Kreisdirektors von Thionville, der dem Bezirksdirektor berichtete, dass in Moyeuvre-Grande ein Union Lorraine Verein bestehe, in dem auch Deutsche Mitglied seien. Was ihn zu dem Schluss kommen lieβ, dass es übertrieben sei, anzunehmen, dass in dem Verein nur der „französische Sinn“ gepflegt werde.471 Ebenso blieben die Beziehungen zu den deutschen Nachbarn an der Saar von dem „neuen“ französischen Patriotismus offenbar unberührt. Die Zeitungen zeugen vielmehr von einer Zunahme der Kontakte. Zahlreich sind beispielsweise die Artikel über die gemeinsame Teilnahme der Sportvereine beiderseits der Grenze an Wettkämpfen und Festen.472 Um die Menschenmassen zur beliebten Forbacher Kirmes und die Pfingstausflügler von der einen auf die andere Seite der Grenze zu transportieren, 469 470 Forbacher Büger-Zeitung, 19.9.1908. Ein anderer Vorfall aus dem Jahr 1905: Während der sonst harmonisch verlaufenden Kaisergeburtstagsfeier wurde Zurückhaltung „von einer nicht näher zu bezeichnenden Seite an den Tag gelegt." Forbacher Zeitung, 1.2.1905. "Ich sehe immer noch wie vieler Augen leuchteten bei jedem Wink, den sie erhielten dort oben auf dem Carnot-Platz. In der Truppe steckt was drinn (!)." Forbacher Bürgerzeitung, 16.7.1904. 471 ADM, 3 AL 420, 6.8.1912: Brief der Kreisdirektors an den Bezirksdirektor. 472 U. a.: Saarbrücker Zeitung, 14.11.1909: Stiftungsfest des RV Edelweiss Carling. Es nahmen auch teil der RV Saarbrücken und Malstatt-Burbach. Forbacher Bürger-Zeitung, 13.5.1908. Fussballspiel St. Arnual gegen FC "Viktoria" St. Arnual. Forbacher Bürger-Zeitung 3.5.1910: Fussballspiel Petite-Rosselle gegen Völklingen. Forbacher Bürger-Zeitung, 8.3.1910: Fussballspiel Forbach gegen Ludweiler. Forbacher Zeitung, 25.5.1910: Turnwettkampf in Saarbrücken. Es beteiligte sich auch der Turnverein Forbach. Forbacher Bürger-Zeitung, 31.5.1910: Fussballspiel: Großrosseln gegen Petite-Rosselle. Forbacher Bürger-Zeitung, 18.05.1910: Fussballspiel Sportclub Petite Roselle gegen FC Germania Großrosseln. Saarbrücker Zeitung, 1.7.1912: Turnfest in Saarbrücken, beteiligt war auch der TV Schoeneck. Zur integrativen Wirkung der Fuβballvereine in Lothringen siehe: Wahl; Pivot, I’introduction, 22ff. 167 musste die Bahn Sonderzüge einsetzen.473 Theatervorstellungen in Saarbrücken zogen Besucher aus dem Forbacher Raum an und Forbach hatte sich zu einem beliebten Ort für die Sonntagsausflügler aus dem Saarbrücker Raum entwickelt.474 Die beschriebenen ausgeprägten grenzüberschreitenden Kontakte widersprechen nicht dem „neuen“ französischen Nationalismus. Vielmehr beweisen diese, dass sich Teile der lothringischen Bevölkerung mit der Anwesenheit der deutschen Besatzer als Repräsentanten des Deutschen Reiches beziehungsweise mit der Annexion lediglich arrangiert hatten. Dass sich die antideutsche Haltung der Lothringer auf die deutsche Regierung und nicht auf die deutschen Nachbarn an der Saar bezog, illustriert folgende in der Saarbrücker Zeitung abgedruckte Anekdote. Als 1909 Turner aus dem Saarbrücker Raum unter der Leitung ihres Trainers in einen lothringischen Ort einmarschierten und die Sportler auf die Frage einer Einwohnerin des Ortes erzählten, dass sie deutsche Turner seien, verstand die lothringische Frau anstatt „Turner“ „Tour“ und schimpfte: „O die grausame preußische Regierung! So nette junge Leute ins Tour (in den Turm) einzusperren!“475 5.6. Zusammenfassung Erst der Deutsch-Französische Krieg beeinflusste merklich das Freizeitverhalten. Vorangegangene kriegerische Auseinandersetzungen oder außenpolitische Spannungen hatten einen weitaus geringeren Effekt auf das Verhalten der Grenzraumbewohner. Die Ergebnisse des Kapitels „Familie“ werden hiermit bestätigt und dahingehend ergänzt, dass die Präsenz des Identifikationselementes „Nation“ bei angespannter außenpolitischer Lage im Grenzraum spürbar war, ohne 473 Saarbrücker Zeitung, 8.10.1909: Forbacher Kirmes. Forbacher Zeitung, 14.5.1910: Sonderzug zu Pfingsten Metz – Forbach- Saarbrücken. 474 U. a.: Forbacher Zeitung, 11.1.1910, 14.1.1910, 28.1.1910, 15.3.1910: Informationen zu den Theatervorstellungen in Saarbrücken. Forbacher Bügerzeitung, 29.3.1910: Zum Ausflugsort Forbach: "[…] besonders wird der sonntägliche Zufluß Saarbrücker Touristen stets stärker." 475 Saarbrücker Zeitung, 13.3.1909. 168 jedoch negativ auf die Intensität der grenzüberschreitenden Freizeitaktivitäten einzuwirken. Trotz der Kontinuität der positiven grenzüberschreitenden Verbindungen nach dem Deutsch-Französischen Krieg, verdeutlicht der Blick auf die Freizeitverflechtungen, dass während der Annexion Lothringens zumindest in den ersten Jahren nach dem Krieg das Konfliktpotential deutlich anstieg, und die positiven Kontakte der Grenzraumbewohner abnahmen. Im Laufe der 1880er Jahre intensivierten sich jedoch die Freizeitverflechtungen bereits wieder und die weitere Zunahme der transnationalen Verflechtungen in den 1890er Jahren deutet darauf hin, dass die nationale Grenze vor allem die Lothringer von den Eingewanderten als Repräsentanten der unerwünschten Staatsmacht trennte, aber keine Trennungslinie zwischen den Grenzraumbewohnern darstellte. Die Analyse des Freizeitverhaltens bestätigt die Abnahme der grenzüberschreitenden Verflechtungen der bürgerlichen Schichten auch auf Vereinsebene und wies nach, dass die Verbindungen vor dem Krieg 1871 auf der Basis gemeinsamer politischer Ideale aufbauten, die nach dem Krieg keine integrative Wirkung mehr besaβen. Die bürgerlichen Schichten förderten in einigen Orten auf lothringischer Seite nunmehr die national motivierte Abgrenzung der übrigen Stadtbewohner und beeinflussten so die Intensität der grenzüberschreitenden Verflechtungen. Die unterschiedlichen Auswirkungen des Deutsch-Französischen Krieges auf die grenzüberschreitenden Verflechtungen in der Industrieregion Forbach/Saarbrücken und im Dreiländereck, korrespondieren mit der schnellen Anpassung der führenden Persönlichkeiten Forbachs an die neuen Machtverhältnisse und der ablehnenden Haltung der Eliten in der Gegend um Sierck. Neben der divergierenden Haltung der Eliten der Region um Forbach und Sierck zu den Besatzern, wurde im Siercker Raum die Segregation nach 1871 im Gegensatz zur Gegend Nationsbildungsprozess grenzüberschreitenden um verstärkt. Forbach Die Identifikationsraumes durch den luxemburgischen unterschiedliche auf dem Land Intensität des und der in Industrieregion spiegelt sich auch im Kriegervereinswesen wider. Stieβen die 169 Kriegervereine in vielen lothringischen Orten auf die Ablehnung der lokalen Bevölkerung, organisierten sich in den Vereinen des Kohlenreviers Lothringer und Eingewanderte. Die stärkere Präsenz der nationalen Grenze als trennendes Element im ländlichen Raum in Richtung Dreiländereck ist jedoch nicht gleichbedeutend mit dem Nichtvorhandensein grenzüberschreitender Verflechtungen. Der beachtliche Anteil der grenzüberschreitenden familiären Verflechtungen und die erfolgreichen grenzüberschreitenden Aktivitäten der katholischen Organisationen sowohl auf dem Land als auch in der Industrieregion, zeugen von der Existenz eines grenzüberschreitenden Identifikationsraumes im Industriegebiet wie auch auf dem Land. Die Bedeutung der katholischen Konfession als integratives Element wird anhand des Freizeitverhaltens der Grenzraumbewohner bestätigt. Auf beiden Seiten der Grenze schlossen sich Katholiken in Vereinen zusammen und formten durch intensive grenzüberschreitende Kontakte ein transnationales katholisches Milieu. Parallel zu diesen Vernetzungen des katholischen Teiles der Bevölkerung, bestanden grenzüberschreitende, aber nicht transnationale Verbindungen der bürgerlich- deutschen Bevölkerungsteile. Diese Verflechtungen zwischen den nach Lothringen eingewanderten Deutschen und den Bürgern der Saarregion weisen neben einer nationalen und sozialen auch eine konfessionelle Homogenität auf. Dass die grenzüberschreitend organisierte protestantische Bevölkerung in Opposition zu den katholischen transnational organisierten Bevölkerungsteilen stand, wird im folgenden Kapitel „Kirche“ thematisiert. 170 6. Kirche Nationalismusforschung, Religionswissenschaft und Kirchengeschichte beschäftigen sich seit einigen Jahren intensiv mit der wechselseitigen Prägung der Identifikationssysteme Nation und Religion.476 Zum einen wurden auf Nationen Funktionen und Ausdrucksformen der Religion übertragen, zum anderen erfolgte in einem Prozess, in dem der Gläubige das Werte- und Deutungssystem der Nation in sein Denken und Handeln aufnahm, eine Nationalisierung der Religion. Mit Blick auf die katholische Kirche entsteht ein latenter Widerspruch zwischen einer transnationalen, auf die Autorität des Papstes ausgerichteten katholischen Gesamtkirche und der Nationalisierung des katholischen Glaubens.477 In den vorangegangen Kapiteln wurde auf die Bedeutung des katholischen Glaubens für die Ausprägung des grenzüberschreitenden Identifikationsraumes hingewiesen. Die folgenden Abschnitte stellen hingegen den Widerspruch zwischen Transnationalität und Nationalität des Katholizismus im Saar-Mosel- Raum in das Zentrum des Interesses. 476 Zum Verhältnis von Nation und Religion siehe u. a. die Sammelbände: Haupt, Heinz-Gerhard; Langewiesche, Dieter (Hrsg.): Nation und Religion in der deutschen Geschichte, Frankfurt M. 2001; Haupt, Heinz-Gerhard; Langewiesche, Dieter (Hrsg.): Nation und Religion in Europa. Mehrkonfessionelle Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2004. Schulze Wessel, Martin (Hrsg.): Nationalisierung der Religion und Sakralisierung der Nation im östlichen Europa, Stuttgart 2006. Eine Neuerscheinung zu dem Thema von Urs Altermatt ist für Oktober 2007 geplant: Urs, Altermatt: Katholizismus zwischen Konfession, Nation und Rom. 477 Besonders deutlich wird der Zusammenhang zwischen Katholizismus und Nationalismus anhand des polnischen Nationsbildungsprozesses. Siehe hierzu: Kriedte, Peter: Katholizismus, Nationsbildung und verzögerte Säkularisierung in Polen, in: Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa. Bilanz und Perspektiven der Forschung, (Hrsg.) Hartmut Lehmann, Göttingen 1997, 149-174. Karp, Hans Jürgen: Die deutsch-polnische Grenze: Identität und Konfession, in: Grenzen und Grenzräume, in der deutschen und polnischen Geschichte. Scheidelinie oder Begegnungsraum?, (Hrsg.) Georg Stöber, Robert Maier, Hannover 2000, 109-120. 171 6.1. Transnationalität der Volksfrömmigkeit und religiösen Praxis im Grenzraum Das religiöse Leben katholischer Gläubiger wird durch die Verehrung der Heiligen und den Kirchgang bestimmt. Wallfahrten als wichtiger Bestandteil der katholischen Volksfrömmigkeit bieten sich als Untersuchungsobjekt für die Frage nach der Transnationalität oder Nationalisierung des katholischen Glaubens im Grenzraum besonders an, da sich in ihnen beide Deutungsarten des Katholizismus widerspiegeln.478 Auf der einen Seite konnten sich die Pilger und deren soziales Umfeld, das ebenfalls an dem Vorhaben der Wallfahrt Anteil nahm, durch die gemeinschaftliche, grenzüberschreitende Gottesverehrung als eine Glaubensgemeinschaft erfahren.479 Auf der anderen Seite steht die nationale Lesart der Heiligenverehrung.480 Das Nebeneinander von transnationalen Wallfahrtsbewegungen und der national aufgeladenen Debatte um die beiden Marienwallfahrtsorte Marpingen und Lourdes zeigt deutlich den Widerspruch zwischen der transnationalen und nationalen Prägung des Katholizismus auf. 478 Wallfahrt wird in diesem Kapitel als ein Oberbegriff für „die verschiedenen Formen des religiösen Unterwegsseins zu einem heiligen Ort“ verstanden. Schneider, Bernhard: Wallfahrt und Kommunikation – Kommunikation über Wallfahrt. Einleitende Bemerkungen zu einem Forschungsfeld, in: Wallfahrt und Kommunikation – Kommunikation über Wallfahrt, (Hrsg.) Bernhard Schneider, Mainz 2004, 10. 479 Schneider, Wallfahrt, 11f. 480 Die nationale Aufladung der Heiligenverehrung wird besonders deutlich am Beispiel Polens: Laube, Stefan: Nationaler Heiligenkult in Polen und Deutschland. Ein erinnerungspolitischer Vergleich aus dem 19. Jahrhundert, in: Nationalisierung der Religion und Sakralisierung der Nation im östlichen Europa, (Hrsg.) Martin Schulze Wessel, Stuttgart 2006, 31-49. 172 6.1.1. Die Trierer Wallfahrten von 1844 und 1891 Den mit Abstand größten grenzüberschreitenden Pilgerstrom löste die Ausstellung des sogenannten „Heiligen-Rockes“ in Trier aus. Trotz der schlechten Verkehrsverbindungen pilgerten vom 18. August bis zum 6. Oktober 1844 etwa eine halbe Million Gläubige, darunter zahlreiche Grenzraumbewohner, nach Trier.481 Die Artikel der Gazette de Metz et de Lorraine geben einen Eindruck vom Andrang der Pilger aus Lothringen und von der Begeisterung mit der sie ihre Pilgerreise nach Trier unternahmen.482 In Trier fände „ein Treffen zwischen „Frankreich und Deutschland“ statt und unter den Pilgern entstehe der Eindruck, dass in Trier die „Nationen Europas mit einem Gefühl der Brüderlichkeit zusammentreffen“ würden, hieβ es in einem Artikel und einem Leserbrief.483 Laut der Gazette de Metz et de Lorraine würden sich aus Lothringen ohne Unterlass Ströme von Fußgängern und Wagen auf dem Weg nach Trier befinden.484 Sicherlich betonte die lothringische, katholisch orientierte Presse die Massenbewegung nach Trier, um die Bedeutung der katholischen Glaubensgemeinschaft gegenüber der laizistischen Bewegung in Frankreich hervorzuheben, jedoch bestätigen die 481 Zum grenzüberschreitenden Aspekt der Rockwallfahrt: Gazette de Metz et de Lorraine, 28.9.1844. Gazette de Metz et de Lorraine, 25.7.1844: Verlängerung der Ausstellung bis zum 6. Oktober. Dohms, Peter: Rheinische Wallfahrten des 19. und 20. Jahrhunderts im Spannungsfeld von Staat und Kirche, in: Landeskundliche Vierteljahrsblätter, 48 (2002) 15; Blackburn, David: Wenn ihr sie wieder seht, fragt wer sie sei. Marienerscheinungen in Marpingen - Aufstieg und Niedergang des deutschen Lourdes, Hamburg 1997, 85. Zentral zur Rockwallfahrt 1844: Schieder, Wolfgang: Kirche und Revolution. Sozialgeschichtliche Aspekte der Trierer Wallfahrt von 1844, in: Archiv für Sozialgeschichte, 14 (1974) 419-454. 482 U. a.: Vorberichte: Gazette de Metz et de Lorraine, 18.6.1844; Gazette de Metz et de Lorraine, 9.7.1844; Gazette de Metz et de Lorraine, 25.7.1844. Berichte über die Pilgerströme: Gazette de Metz et de Lorraine, 20.8.1844, 22.8.1844, 22.8.1844, 27.8.1844, 31.8.1844, 10.9.1844, 14.9.1844, 17.9.1844, 19.9.1844, 1.10.1844, 28.9.1844, 5.9.1844. 483 Gazette de Metz et de Lorraine, 8.10.1844. Gazette de Metz et de Lorraine 10.9.1844. Zur Internationalität der Rockwallfahrt siehe auch: Gazette de Metz et de Lorraine, 25.9.1844. 484 Gazette de Metz et de Lorraine, 7.9.1844. Gazette de Metz et de Lorraine, 208.1844: Auch per Schiff fuhren Pilger von Metz nach Trier. Gazette de Metz et de Lorraine, 25.9.1844: Teilweise würden sich ganze Städte nach Trier begeben, begleitet von dem Ruf „Gott will es“. Gazette de Metz et de Lorraine, 5.9.1844: Immer mehr Menschen würden aus den Departements Meuthe, Haute und Bas-Rhin, aus „Deutschlothringen“ („de la Lorraine allemande“), aus der Pfalz und aus der Rheinprovinz nach Trier pilgern. Ebenfalls über die Beteiligung der Lothringer an der Wallfahrt. Gazette de Metz et de Lorraine 19.9.1844; 25.9.1844. 173 Berichte der Behörden zum Anlass der Rockwallfahrt des Jahres 1891 die starke Beteiligung der Lothringer an der Wallfahrt des Jahres 1844. Am 20. September bis 4. Oktober 1891 wurde der „Heilige Rock“ zum zweiten Mal ausgestellt. Im Vergleich zum Jahr 1844 verdoppelte sich die Gesamtzahl der Pilger auf eine Million.485 Nicht nur die Eisenbahn als neues Transportmittel war für diesen Anstieg der Pilgerzahl verantwortlich, auch der zurückliegende Kulturkampf, mit den damit einhergegangenen Einschränkungen des religiösen Lebens, motivierte zahlreiche Katholiken, nach Trier zu pilgern, um so ihren Glauben öffentlich zu demonstrieren.486 1891 zogen erneut viele lothringische Grenzraumbewohner, unter anderem wegen der positiven Erinnerungen an die Rockwallfahrt 1844, nach Trier. Der Siercker Anzeiger berichtete im Juni 1891 darüber, dass die Nachricht über die Ausstellung des „Heiligen Rockes“ in Lothringen mit großer Freude aufgenommen worden sei.487 Zügeweise fuhren die Pilger aus dem gesamten lothringischen Grenzgebiet nach Trier.488 Der Andrang auf die Pilgerzüge war so groß, dass die Reichsbahn aufgrund des Mangels an Personenwagons Güterwagen zum Transport der Pilger einsetzen musste.489 Die Zentralleitung der Pilgerfahrten hatte eine Übersicht der angemeldeten Pilgerzüge erstellt. Allein aus dem deutschsprachigen Teil Lothringens begaben sich etwa 20000 Pilger aus Saint-Avold, Koenigsmacker, 485 Korff, Gottfried: Formierung der Frömmigkeit. Zur sozialpolitischen Intention der Trierer Rockwallfahrten 1891, in: Geschichte und Gesellschaft, 3 (1977) 360. 486 Blackburn, Marienerscheinungen, 88. Siecker Anzeiger, 13.6.1891: Die Nachricht über die Ausstellung des „Heiligen Rockes“ in Lothringen sei mit großer Freude aufgenommen worden. Die älteren Leute würden sich an die letzte Ausstellung noch erinnern. BAT, Abt. 91, Nr. 249a, Blatt 13: Der Geistliche von HauteKontz schrieb in einem Brief an den Bischof Korum, dass er zunächst erstaunt über die große Anzahl der Pilger aus seiner Gemeinde gewesen sei, er jedoch später erfahren habe, dass einige Gemeindemitglieder bereits 1844 die Pilgerreise nach Trier unternommen hatten, und dass es dort zu Wunderheilungen gekommen sei. Viele Gemeindemitglieder wollten deswegen auch die Ausstellung 1891 miterleben. Forbacher Zeitung, 1.9.1891: Am 31. August führen etwa 1200 Pilger aus den Pfarreien Forbach, Oeting, Kerbach und Bousbach vom Forbacher Bahnhof nach Trier. Siecker Anzeiger, 29.8.1891: Ankündigung der Pilgerzüge von Sierck, Thionville und Sarreguemines nach Trier. St.-Johanner Volkszeitung, 30.9.1891: Nachdem zahlreiche Gläubige keinen Platz in dem mit 2400 Plätzen ausverkauften ersten Siercker Pilgerzug erhalten hatten, wurde ein zweiter Pilgerzug organisiert. 487 488 489 ADM, 7 AL 11, Zeitungsausschnitt « Metzer-Zeitung », 23.8.1891. 174 Creutzwald, Metzervisse, Forbach, Fixem, Grosbliederstroff, Petite-Rosselle, Sierck und Umgebung sowie Stiring-Wendel nach Trier.490 Unter Berücksichtigung der zahlreichen unangemeldeten Pilgergruppen entsteht ein ungefährer Eindruck von der tatsächlichen Anzahl der lothringischen Pilger.491 Nicht nur aus dem germanophonen Teil Lothringens begaben sich die Gläubigen massenweise nach Trier, auch die Pfarrer des frankophonen Teils organisierten Wallfahrten.492 6.1.2. Lokale Wallfahrten und Schutzpatrone Die Rockwallfahrten waren nur periodische Ausdrucksformen des Volksglaubens, hingegen war der religiöse Alltag vor allem von der Anbetung lokal bedeutender Schutzheiliger bestimmt. Eine besonders intensive Verehrung genoss im saarländisch- lothringischen Kohlenrevier die Heilige Barbara als Schutzpatronin der Bergarbeiter.493 Der Barbaratag, der 4. Dezember, war einer der bedeutendsten Festtage im saarländisch-lothringischen Kohlenrevier. Im Saarrevier und in einigen lothringischen Grenzorten fanden am Barbaratag Umzüge statt, bei denen ein mit Fahnen Schärpen geschmückter Wagen, auf dem sich eine Barbarastatue befand, unter Begleitung der Bevölkerung durch die Orte gefahren wurde. Neben diesen Ähnlichkeiten im Brauchtum weisen die Feierlichkeiten zum Patronatsfest auch Unterschiede auf. In Lothringen war der Umzug des Ehrenpaares, des „couple d’honneur“, eines der wichtigsten Ereignisse des Barbaratages. Ein Komitee wählte 490 491 492 493 LHAK, Best. 403, Nr. 16220, Zeitungsausschnitt der « St.-Johanner Volkszeitung », 18.10.1891. Weitere Informationen über die Ausstellung des „Heiligen Rockes“: 1891: BAT, Abt. 91, Nr. 249a: Schreiben von Geistlichen u. Privatpersonen zur Ausstellung des Hl. Rockes 1891, Blatt 12: Sicherheitsprobleme; BAT: Nachlass Korum, 434: Der Pfarrer von Uckange an Bischof Korum über die Wunderheilung einer Frau aus Uckange. 1891. Siecker Anzeiger, 31.10.1891: Bericht Wunderheilung einer Frau aus Kontz-lès-Bains. Le Lorrain, 18.7.1891: Eine Metzer Pilgerreise wurde zur Gelegenheit der „l’ostension solennelle de la sainte robe de notre-Seigneur“ nach Trier organisiert. Buchheit, Chip; Deluze, Jean-Marc; Kühn, Hans-Joachim; Rosenberger, Hans: Sankt Barbara, Patronin der Bergleute, im saarländisch-lothringischen Kohlenrevier. Saint Barbe, patronne des mineurs, dans le bassin houiller sarre-lorrain. Zweisprachiges Begleitheft zur Ausstellung, Ottweiler, Petite-Rosselle 1997, besonders 24ff. 175 unter den Kindern der Bergarbeiter zwei Jugendliche aus, die auf Kosten der Zechenbesitzer wie für eine Hochzeit eingekleidet wurden. Nachdem die „Braut“ von dem Präsidenten des Komitees abgeholt und ihrem „Bräutigam“ vorgestellt worden war, präsentierte man das Paar dem Direktor, der ihm seinen Segen gab und es zu Eheleuten erklärte. An der Saar bestand diese Tradition nicht. Neben der Ablehnung des Brauches durch die Geistlichen, die in diesem eine Nachahmung von Sakramenten sahen, fehlte es auch am Willen der preußischen Bergwerksdirektion, derartige Umzüge und Feierlichkeiten zu unterstützen.494 Der Schutz des Viehs war ein weiterer wichtiger Aspekt der alltäglichen Heiligenverehrung. Besonders bei drohenden Viehseuchen suchten viele Gläubige die Unterstützung der Heiligen. Die Katholiken im Saar-Mosel- Raum konnten beispielsweise in den Wallfahrtsorten Schlettstadt und Behren-lès-Forbach den Heiligen Blasius beziehungsweise den Heilige Antonius als Schutzpatrone für ihre Haustiere anrufen.495 Einen jährlichen grenzüberschreitenden Besucherandrang erfuhr das am 1. Februar in Freyming veranstaltete Fest der Heiligen Brigitta, die der Legende nach das Vieh der Dorfbewohner vor einer Seuche bewahrt hatte.496 6.1.3. Grenzüberschreitende Pfarrbezirke Wie sehr die Religiosität der Grenzraumbewohner von der Transnationalität des katholischen Glaubens bestimmt wurde, zeigen auch die grenzüberschreitenden Pfarrbezirke, die im Saar-Mosel- Raum bereits vor dem Deutsch-Französischen Krieg bestanden. Beim sonntäglichen Kirchgang trafen sich in diesen Gemeinden preußische und lothringische Katholiken. Ebenso erhielten die Kinder in diesen Pfarreien gemeinschaftlich den Religionsunterricht. Manderen wurde erst 1830 im 494 Buchheit, Chip: Les rites de la Sainte-Barbe dans les Bassins Houillers de Lorraine et de Sarre, in: Les Cahiers de l'Institut d'Histoire Sociale Minière, 21 (2000) 12. 495 Saarbrücker Zeitung, 11.10.1873: Zahlreiche Schweinebesitzer baten in Behren-lès-Forbach den Heiligen Blasius um den Schutz für ihre Tiere. Saarbrücker Zeitung, 1.2.1885: 1885 zogen zahlreiche Schweinebesitzer des Grenzraumes nach Schlettstadt, um beim Heiligen Antonius Schutz zu ersuchen. 496 St.-Johanner Volkszeitung, 30.1.1907. 176 Zuge seiner Abtretung an Frankreich von der Pfarrei Borg getrennt.497 Die Gebietsabtretungen an Frankreich hatten auch eine Loslösung der Gemeinden Schreckling und Heining von der Pfarrei Leidingen zur Folge. Faktisch wurden die lothringischen Orte Heining und Scheckling noch nach dem Krieg 1870/71 von ihrer alten Mutterkirche in Leidingen pastoriert und gehörten auch weiterhin einem Schulverband an.498 Erst Ende der 1860er Jahre errichtete Heining eine eigene Schule. Schreckling hingegen bildete weiterhin mit Leidingen einen Schulverband.499 Der 1830 von den Einwohnern Heinings und Schrecklings an den zuständigen Grenzkommissar gerichteten Bitte, weiterhin von Leidingen seelsorgerisch betreut zu werden, wurde offenbar entsprochen. Mit einem ähnlichen Anliegen traten die preußischen Untertanen von Biringen bei Oberesch im Kreis Saarlouis an den Grenzkommissar heran. Die katholischen Einwohner wollten weiterhin mit den lothringischen Orten Flatten und Gongelfang zum Pfarrbezirk Waldwisse in Lothringen gehören.500 Auch diesem Antrag wurde entsprochen, Biringen und Waldwisse gehörten noch 1871 einem Pfarrbezirk an.501 Ebenfalls besuchten die Katholiken Nassweilers noch bis in die 1880er Jahre die Kirche der lothringischen Gemeinde Merlebach. Bei der Neumschreibung der Pfarreien in den Jahren 1802, 1804 und 1807 war der Pfarrbezirk Nassweiler zwar von dem Pfarrbezirk Merlebach getrennt worden, jedoch gingen die Katholiken Nassweilers weiterhin gewohnheitsmäβig in die Kirche und Schule im lothringischen Merlebach.502 497 498 Der letzte Eintrag von Manderen in den Heiratsregistern von Borg erfolgte am 15.2.1830. Groβ; Rettgen, Einwohner, 8. Heinig erhielt erst 1939 einen eigenen Kirchenbau. Lask, Tomke: „Wir waren doch immer Freunde in der Schule“. Einführung in die Anthropologie der Grenzräume. Europäisches Grenzverständnis am Beispiel Leidingens, St. Ingbert 2002, 97. 499 Lorenzi, Beiträge, 430ff. LHAK, Best. 442, Nr. 3809: Landrat Saarlouis an die königl. Regierung Trier, 1.2.1871. 500 LHAK, Best. 442, Nr. 6: Grenzkommissar an die kgl. Regierung Trier, 5.6.1830. LHAK, Best. 442, Nr. 3809: Landrat Saarburg an die königl. Regierung Trier, 14.1.1871. 501 502 LHAK, Best. 442, Nr. 3809: Landrat von Saarbrücken an die königl. Regierung, 13.1.1871. 1884 einigten sich schlieβlich die katholischen Gemeinderatsmitglieder Nassweilers und Merlebachs darauf, „dass mit Rücksicht darauf, dass Nassweiler schon seit undenklichen Zeiten in Merlenbach eingepfarrt, und noch keinerlei Beiträge zu Kirche und Friedhof geleistet, Nassweiler vorab zur Anlage des neuen Friedhofes in Merlenbach 300 Mark beiträgt 177 Die Neuumschreibung der Pastoralbezirke traf nicht nur aus Gewohnheitsgründen auf den Unwillen der Einwohner, sondern bereitete auch Probleme im Bezug auf ihre Umsetzung. Durch weite Wege oder nicht vorhandene Kirchenbauten war die seelsorgerische Betreuung der Bewohner nicht ausreichend gewährleistet, sodass trotz der Neuumschreibung die alten Pfarrbezirke faktisch beibehalten werden mussten.503 So gingen auch die Lauterbacher Katholiken weiterhin in die Kirche im lothringischen Creutzwald, obwohl sie seit 1803 zur Pfarrei Emmersweiler gehörten. Emmersweiler lag jedoch zwei Stunden Fuβweg von Lauterbach entfernt. Erst als Lauterbach 1856 eine eigene Kirche erhielt, erfolgte die endgültige Abtrennung von der Pfarrei Creutzwald.504 Unter Berücksichtigung des nachgewiesenen positiven Effektes der grenzüberschreitenden Pfarrbezirke auf das transnationale Heiratsverhalten, und der Annahme, dass sich die integrative Wirkung der grenzüberschreitenden Pastoralbezirke auf den gesamten Aktionsraum der Bewohner der betreffenden Pfarreien ausdehnte, sind die grenzüberschreitenden Pfarrbezirke als ein bedeutendes Element der Integration im Grenzraum zu bewerten.505 503 […]“. LAS, Best. Landratsamt Saarbrücken, Nr. 343: Brief des Forbacher Kreisdirektor an den Landrat von Saarbrücken, 23.1.1884. Der französische Ortsname ist Merlebach. LHAK, Best. 442, Nr. 6: Grenzkommissar an die königl. Regierung Trier, Regierungspräsident von Trier an „Empfänger unleserlich“, 9.6.1830. 504 Lorenzi, Beiträge, 523. 505 Siehe Kapitel: 3.2.4. „Einfluss der Religionszugehörigkeit und der religiösen Praxis auf das Heiratsverhalten“. 178 Luxemburg Borg Manderen Flatten Waldwisse/Gongelfang Biringen Leidingen Heining Schreckling Saarbrücken Creutzwald Metz Lauterbach Nassweiler Merlebach Abbildung 50: Grenzüberschreitende Pfarrbezirke 6.1.4. Grenzüberschreitende Verbindungen der Geistlichen vor 1871 Die gelebte Transnationalität der „einfachen“ katholischen Gläubigen im Grenzraum, wurde durch die traditionell engen, grenzüberschreitenden Verbindungen der katholischen Geistlichen gefördert. Zwischen dem katholischen Klerus im Grenzraum bestanden zahlreiche freundschaftliche Kontakte.506 Da die preußische Regierung den Klerus der Saarregion verdächtigte, mit der 506 Le Vœu National. Écho du Pays Messin, 2.6.1860: An der Einweihung der Schoenecker Kirche im Frühjahr 1860 nahm neben den lothringischen Geistlichen auch ein Vikar aus St. Johann teil, der zur Eröffnungsfeier einen Gesangsbeitrag vortrug. 179 französischen Regierung zu symphathisieren, erweckten die Verbindungen zwischen den französischen und deutschen Geistlichen das Misstrauen der Regierung. So wurde dem Minister des Inneren im Dezember 1852 aus der Rheinprovinz berichtet, dass ein Zusammenschluss mit Frankreich von der unteren und mittleren sozialen Schichten nicht gefordert werden würde, „während der Gedanke an eine derartige Vereinigung wohl bei einzelnen Theilen der höheren Klassen und namentlich der katholischen Geistlichkeit vorhanden sein mag.“507 Die Behörden hatten auch in Erfahrung gebracht, „daß ein cordialer besuchsweiser Verkehr des diesseitigen Clerus mit jenem in den Grenzorten Frankreichs“ in den Kreisen Saarburg, Merzig, Saarlouis und Saarbrücken bestehe.508 Diese Besuche beschränkten sich nicht nur auf den Grenzraum, sondern führten die Priester auch ins Innere Frankreichs. Die Mutmaβungen der preuβischen Regierungen gingen noch weiter. Sie verdächtigten die preußischen, bayerischen und französischen Geistlichen, an der Errichtung eines katholischen Königreiches zu arbeiten. Dies seien zwar laut Polizeikommissar lediglich Vermutungen, aber man spreche besonders an der Grenze von dieser angeblichen geheimen Absprache.509 Die Befürchtungen der preuβischen Regierung waren zwar übertrieben, die Überwachungsberichte der Behörden zeigen jedoch, dass die Verbindungen der Geistlichen im Grenzgebiet intensiv waren. 507 LHAK, Best. 403, Nr. 6584: Der königl. Polizeidirektor an den königl. Geheimen und Minister des Inneren, 25.12.1852. 508 LHAK, Best. 403, Nr. 6584: Der königl. Polizeidirektor an den königl. Geheimen und Minister des Inneren, 25.12.1852. 509 LHAK, Best. 403, Nr. 6584: Der königl. Polizeidirektor an den königl. Geheimen und Minister des Inneren, 25.12.1852. Der Priester Franz Stein sei beispielsweise über Metz nach Paris gereist, um den Abbé Bervanger zu besuchen. Der Priester Peter Davis aus Ittersdorf bei Saarlouis fuhr über Sarreguemines nach Strasbourg und der Grosbliedertroffer Pfarrer sei wiederholt zum Grafen Chambord gereist. 180 6.1.5. Laizismus gegen Katholizismus. Konflikte in Lothringen und die deutschen Nachbarn Der innerfranzösische Konflikt zwischen Laizisten und Katholiken verstärkte die transnationale Verbundenheit der katholischen Gläubigen im Grenzraum vor 1871. Die Teilung Frankreichs in Katholiken und Laizisten geht bereits auf das Ancien Régime zurück. Deutlich verschärfte sich die Opposition zwischen den beiden verfeindeten Lagern mit dem Einflussgewinn der laizistischen Bewegung auf die Bevölkerung und die Regierung im Laufe der Julimonarchie und dem Zweiten Kaiserreich.510 Der Blick der lothringischen Katholiken auf die religiösen Entfaltungsmöglichkeiten ihrer preuβischen und bayerischen Nachbarn verstärkte den Protest gegen die eigenen Einschränkungen des religiösen Lebens. Die Gazette de Metz et de Lorraine berichtete über die Fronleichnamsfeier in Zweibrücken, die trotz eines hohen Anteils protestantischer Einwohner, seit 1841 stattfinden durfte. Der Artikel endet mit dem Satz. „Vergleichen sie also die Versklavung der preußischen und bayerischen Katholiken mit der Freiheit gewisser französischer Katholiken und urteilen sie!!“511 Auf die tolerante Haltung des preußischen Königs gegenüber den katholischen Gläubigen spielt ein Artikel an, der anlässlich der Ausstellung des „Heiligen Rockes“ 1844 verfasst wurden. Der preußische König habe einer Gruppe von Pilgern aus Tirol, die keine Unterkunft hatten, eine Kaserne als Schlafmöglichkeit zur Verfügung gestellt. In Frankreich. „prahle [man] mit einer liberalen Verfassung“, dennoch würden die Katholiken immer mehr 510 Lalouette, Jacqueline: La séparation avant la séparation, projets et propositions de loi (18661891), in: Vingtième Siècle (Sonderheft: Laïcité, Séparation, Sécularisation 1905-2005) 87 (2005) 41-55. Zu den Auswirkungen dieses Konfliktes auf das alltägliche dörfliche Leben: McMillan, James: ‚Priest hits girl’: on the front line in the ‚war of the two Frances’, in: Culture Wars. Secular-Catholic Conflicts in Nineteenth-Century Europe, (Hrsg.) Christopher Clark, Wolfram Kaiser, Cambridge 2003, 91ff. 511 Gazette de Metz et de Lorraine, 20.6.1844: „Comparez donc l’esclavage de catholiques prussiens et bavarois avec la liberté de certains catholiques français, et prononcez!!“ (Hervorhebungen in der Quelle). Auch während der Rockwallfahrt nach Trier beklagten die lothringischen Katholiken die antiklerikale Stimmung in Frankreich und riefen zur Wallfahrt nach Trier auf „um Mut und Hoffnung zu schöpfen.“ Gazette de Metz et de Lorraine, 29.8.1844: „Oh ! allez à Trèves pour reprendre courage et espérance….“ 181 unterdrückt, meinte Entfaltungsmöglichkeiten der Journalist.512 ihrer preuβischen Neben Nachbarn, den wurde religiösen von den lothringischen Katholiken auch die strenge Kontrolle der Einhaltung der Sonntagsruhe durch die preuβischen Behörden positiv bewertet. In einem Leserbrief aus dem Jahr 1855 wird darüber berichtet, dass in Saarbrücken und Saarlouis überraschenderweise alle Geschäfte sonntags geschlossen seien. Händler, die in Preußen dennoch sonntags Waren anbieten würden, mussten mit zwei Talern Strafe rechnen. Dem preußischen Beispiel folgend, würden nun die Priester im deutschsprachigen Teil Lothringens die Bevölkerung dazu aufrufen, den Sonntag zu heiligen.513 Einen Höhepunkt erhielt der Konflikt zwischen Laizisten und Katholiken während des sardinisch-französischen Krieges gegen Österreich 1859. Die katholischen Geistlichen protestierten öffentlich gegen die Politik Napoleons III., durch welche sie die Machtstellung des Papstes gefährdet sahen. Ein Informant der preußischen Regierung berichtete im Mai 1859, dass „unter allen Fraktionen des katholischen Volkes […] die Geistlichkeit am meisten unzufrieden“ sei.514 Die Überwachungsberichte der französischen Behörden zeugen von der Schärfe des Protestes der Geistlichen in den Grenzorten gegen die Politik Napoleons III., die sich auf der Ebene einer Auseinandersetzung zwischen laizistischen Bürgermeistern und den „staatsfeindlichen“ Priestern äuβerte. Die Geistlichen hielten Schmähreden von der Kanzel gegen die Politik der Regierung und besonders gegen den Krieg in Italien, der laut den Geistlichen nur dazu diene, die Revolution in Italien zu unterstützen und die Macht des Papstes zu schwächen. Gemeldet wurden der Regierung diese Vorgänge durch die Bürgermeister.515 Nach 512 513 Gazette de Metz et de Lorraine, 3.10.1844. Der preuβische König unterstützte die Trierer Wallfahrt 1844, jedoch vor allem um eine Koalition konservativer und bürgerlicher Kräfte zum Zweck der Festigung des preußischen Staates zu fördern. Schieder, Kirche, 419ff. Le Vœu National. Écho du Pays Messin, 5.1.1855. 514 LHAK, Best. 403, Nr. 6575: Bericht eines Informanten aus Metz, 4.5.1859. 515 U. a.: ADM, 1 V 27: Minister des Inneren an Präfekten, 11.6.1859: Anfrage zum Fall Rodemack; Bericht zum Fall Rodemack: Unterpräfekt von Thionville an Präfekten von Thionville, 14.6.1859. Fall Mainvillers: Brief des Bischofs von Metz an den Präfekten, 4.7.1859. 182 dem Sieg von Magenta setzte sich der Protest des Klerus im Stillen fort, indem sie sich weigerten das angeordnete „Te Deum“ zu singen – auch hier achteten einige Bürgermeister genau darauf, dass die Anordnung befolgt wurde. So meldete der Bürgermeister von Etting den Behörden, dass der Priester nicht das „Te Deum“ hätte singen können, da dieser vor Wut geweint hätte.516 Die meisten Fälle verliefen weniger dramatisch. Die Priester stimmten einfach nicht das „Te deum“ an.517 An der Initiative während des zweiten Kaiserreiches Französisch als alleinige Unterrichtssprache auch in den lothringischen Grenzorten durchzusetzen, entflammte erneut die Auseinandersetzung zwischen Katholiken und Laizisten. Die lothringischen Geistlichen hatten eine Petition eingereicht, in der sie forderten, die deutsche Unterrichtssprache beizubehalten. Von laizistischer Seite wurde vermutet, dass der katholische Unterrichtssprache die Klerus mit dem germanophonen Festhalten Lothringer an daran der deutschen hindern wollte, französische Bücher und Zeitungen zu lesen, um so eine Öffnung der deutschsprachigen Bevölkerung für antiklerikale, freigeistige Ideen zu verhindern.518 Darüber hinaus wurde von den Verfechtern der Nationalsprache befürchtet, dass die Förderung des „Platt“ vor allem den Eroberungsgelüsten des preußischen Königs Nahrung geben würde. Der Herausgeber des Courrier de la Moselle kommentierte die Bemühungen der Geistlichen daher ironisch. „Der Stand der Dinge ist sehr gut, die Herren Geistlichen beweisen eine groβe Weisheit und arbeiten mit ihren Äuβerungen mit Feuereifer für den Glauben und für den preußischen König.“519 516 517 518 519 ADM, 1 V 27: Unterpräfekt von Sarreguemines an den Präfekten, 18.6.1859. „Le Maire ajoute que M le Curé n’a pu chanter le Te Deum parce qu’il pleurait de colère.“ U. a.: ADM, 1 V 27: Académie de Nancy, Inspection de la Moselle an den Inspector de l’Académie à Metz, 14.5.1860. Minister an den Präfekten, 8.7.1859: Bericht über den Protest des Geistlichen in Etting. Bischof von Metz an den Präfekten, 3.7.1859: Fall Mondoff, „Te Deum“ wurde angeblich nicht angestimmt. Courrier de la Moselle, 24.6.1869. Courrier de la Moselle, 24.6.1869: „Cet état de choses est fort bon, et MM. les ecclésiastiques font preuve d’une grande sagesse en travaillant avec ardeur, dans cette manifestation, pour la religion et pour le roi de Prusse !“. Ähnlich: Courrier de la Moselle, 12.10.1869: „Lisez-les, [die deutschen Gebetsbücher, K.M.] bons Lorrains, et vous ne pourrez manquer d'en retirer les fruits selon le cœur de M. de Bismark.“ 183 Der innerfranzösische Konflikt zwischen Katholiken und Laizisten verstärkte nicht nur die transnationalen Verbindungen zwischen den katholischen Gläubigen des Grenzraumes vor 1871, der Konflikt bildet auch den Hintergund für die späteren ideologischen Auseinandersetzungen innerhalb der lothringischen Arbeiterschaft und die Öffnung der lothringischen Katholiken für deutsche Organisationen in den 1890er Jahren. 6.2. Die Katholiken im Grenzraum nach 1871. Zwischen Nationalisierung und Transnationalität 6.2.1. Kulturkampf. Ein Konfessionskonflikt als nationaler und sozialer Konflikt Die katholischen Geistlichen übernahmen nach dem verlorenen DeutschFranzösischen Krieg die Führung der lothringischen Oppositionsbewegung gegen die Annexion. Gleichzeitig fand in Frankreich eine religiöse Umdeutung der Niederlage statt.520 Der Sieg der deutschen Truppen wurde als „Strafe“ Gottes angesehen, als ein Aufruf zur Rückkehr zu Gott und Glauben. Die Nationalisierung der Heiligenverehrung und die nationale Aufladung religiöser Symbole und Werte waren die Folge dieser Entwicklung. So verbanden die französischen Katholiken die Marienverehrung in Lourdes mit einer Rückgewinnung der verlorenen Provinzen Lothringen und Elsass.521 Die nationale Konnotation der Diskussion um die Marienwallfahrtsorte Lourdes und Marpingen, auf die später näher eingegangen wird, zeigt, dass die Nationalisierung des Katholizismus in Frankreich auch das Leben der Grenzraumbewohner berührte. 520 521 Roth, François: Le rattachement à l’Empire allemand (1871-1918), in: Le Diocèse de Metz, (sous la direction de) Henri Tribout de Morembert, Paris 1970, 218-257, besonders 226ff. Auch der Herz-Jesu-Kult erhielt in Frankreich eine nationale Umdeutung: Mollenhauer, Symbolkämpfe, 207f. 184 Paradoxerweise führte die Nationalisierung des Katholizismus in Lothringen während des Kulturkampfes zu einer Intensivierung der grenzüberschreitenden Verflechtungen. Der Widerstand gegen die Annexion war eng mit einem konfessionellen Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken verbunden. Auf lothringischem Gebiet existierten vor der Annexion nur kleine protestantische Gemeinden, die abgesehen von einigen Anfeindungen durch katholische Geistliche weitestgehend in gutem Einvernehmen mit der katholischen Bevölkerung lebten.522 Mit der Annexion Lothringens wandelte sich das bisher friedliche Zusammenleben der Glaubensrichtungen in einen offen ausgetragenen Konfessionskonflikt.523 Lebten 1870 lediglich 7000 Reformierte in Lothringen waren es 1910 74000.524 Die große Mehrheit der eingewanderten Deutschen, darunter auch die neu eingesetzten Beamten, waren Protestanten, sodass sich eine nahezu ausschließlich katholische Bevölkerung einer oktroyierten protestantischen Führungsschicht gegenübersah. Während des Kulturkampfes verband die lothringischen Katholiken mit den Katholiken der Saarseite diese konfessionelle Auseinandersetzung, wobei der Hintergrund der Konflikte auf beiden Seiten grundverschieden war: Nahm der Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken in Lothringen eine nationale Dimension an, trug die konfessionelle Auseinandersetzung in der Saarregion Züge eines sozialen Konfliktes zwischen Ober- und Unterschicht. Die Beamten des preußischen Bergfiskus und die Verwaltungsbeamten waren, wie auch der Großteil des 522 523 St. Johanner-Saarbrücker Bürgertums, protestantisch.525 Trotz des Michaelis, Otto: Die evangelische Kirche in Lothringen in Vergangenheit und Gegenwart, Metz 1917, 71. So auch die Einschätzung eines Artikels im Courrier de la Moselle: Courrier de la Moselle, 9.5.1871. LAS, Best. Landratsamt Saarbrücken, Nr. 343: Königl. preußische Regierung Abt. des Innern (Trier), an den königl. preußischen Landrat in Saarbrücken. Über die religiöse Betreuung der Forbacher Reformierten durch einen Saarbrücker Geistlichen, 16.6.1842. Saarbrücker Zeitung, 22.4.1869; Courrier de la Moselle, 17.4.1869: Die protestantische Gemeinde Forbach wurde durch ein kaiserliches Dekret vom 7.4.1869 gegründet. Zum Pfarrbezirk gehörten auch die Gemeinden Stiring-Wendel, Schoeneck, Petite-Rosselle, Carling-L’Hôpital, HombourgHaut, Saint-Avold. 524 Roth, Lorraine, 139. 525 Mallmann, Klaus-Michael: „Die heilige Borussia“. Das Saarrevier als preuβische Industriekolonie, in: Richtig daheim waren wir nie. Entdeckungsreisen ins Saarrevier 1815- 185 unterschiedlichen Hintergrundes des Konfessionskonfliktes, einte die katholische Bevölkerungsmehrheit des Grenzraumes die Opposition zur protestantischen Führungsschicht.526 Das Reichsgesetz gegen den Missbrauch der Kanzelreden zu politischen Zwecken, der sogenannte „Kanzelparagraph“, vom 10.12.1871 war das erste Gesetz einer ganzen Gesetzesreihe, welche die Beziehung zwischen Kirche und Staat neu regeln sollte. Die Katholiken im saarländisch-lothringischen Grenzraum waren in unterschiedlichem Ausmaβ von der antiklerikalen Gesetzgebung betroffen. Für das Reichsland Elsass-Lothringen hatten lediglich zwei Reichsgesetze Gültigkeit; der Kanzelparagraph und das Reichsgesetz, die Ausweisung des Jesuitenordens betreffend. Der Großteil der Gesetze betraf daher lediglich den preußischen Teil des Grenzraumes.527 Den Protest der katholischen lothringischen Bevölkerung provozierten die in Lothringen eingesetzten protestantischen Beamten jedoch auch ohne Maigesetze. So erhielt das Lehrerseminar nun eine protestantische Leitung, und das öffentliche und private Unterrichtswesen wurde unter Staatsaufsicht gestellt, was im Gegensatz zum bisher geltenden französischen Grundsatz der Unterrichtsfreiheit stand.528 Als im Februar 1878 in Metz ein Armenball im "Hôtel de Ville" gefeiert wurde und kein Lothringer, auch nicht die, die dem Organisationskomitee angehörten, erschien, kommentierte der Artikelschreiber der katholischen Saar-Zeitung: „Will man die Bevölkerung mit den neuen Verhältnissen aussöhnen, so nehme man vor Allem eine andere Stellung bezüglich der Kirche ein und veranstalte nicht öffentliche 526 527 528 1955, (Hrsg.) Klaus-Michael Mallmann, Gerhard Paul, Ralph Schock, Bonn 1987, 16-20. Mallmann, Volksfrömmigkeit. Mallmann, Ultramontanismus. Zur europäischen Dimension des Kulturkampfes siehe: Clark, Christopher: The New Catholicism and the European culture wars, in: Culture Wars. Secular-Catholic Conflict in Nineteeth-Century Europe, (Hrsg.) Christopher Clark, Wolfram Kaiser, Cambridge 2003, 1146. Kaiser, Wolfram: ‚Clericalism – that is our enemy!’. European anticlericalism and the culture wars, in: Culture Wars. Secular-Catholic Conflict in Nineteeth-Century Europe, (Hrsg.) Christopher Clark, Wolfram Kaiser, Cambridge 2003, 47-76. Zu den verschiedenen Gesetzen siehe: Franz, Georg: Kulturkampf. Staat und katholische Kirche in Mitteleuropa von der Säkularisierung bis zum Abschluss des Preußischen Kulturkampfes, München 1954, 223ff. Unter dem Statthalter Manteuffel wurden diese Bestimmungen teilweise wieder rückgängig gemacht. Franz, Kulturkampf, 245f. 186 Lustbarkeiten, während eine ganze Christenheit trauert.“ Pius IX. war einige Tage vorher gestorben.529 Der Konfessionskonflikt während der Kulturkampfzeit erhöhte nicht nur das Verständnis der Katholiken der Saarseite für den Protest der Lothringer gegen die Annexion, er bewirkte auch konkrete grenzüberschreitende Hilfeleistungen der lothringischen für die saarpreuβischen Katholiken.530 Nach dem Tod des Trierer Bischofs Matthias Eberhard im Jahr 1876, blieb der Bischofsstuhl aufgrund der Streitigkeiten zwischen der preuβischen Regierung und der Diözese bis 1881 vakant. Folge war, dass die Kinder der Trierer Diözese nicht gefirmt werden konnten. In einer Note vom 6. Oktober 1877 berichtete der Metzer Bischof Dupont des Loges dem Trierer Generalvikar Lorenzi, dass ihm vor einigen Wochen ein preußisches Mädchen vorgestellt wurde, dass darum bat, von ihm gefirmt zu werden. Der Bischof von Metz erkundigte sich nun bei den Verantwortlichen der Trierer Diözese, wie er in ähnlichen Fällen handeln solle, und bot gleichzeitig an, während seiner nächsten Firmungsreise auch die Kinder der Trierer Diözese zu firmen.531 Möglicherweise hatte sich der Metzer Bischof die Firmungsreise des Bischofs von Luxemburg des Jahres 1877 zum Vorbild genommen. Dieser hatte seine Firmungsreise ebenfalls bis an die Landesgrenze ausgedehnt, um „große Zuzüge und Prozessionen aus hiesigen Landen anzuziehen.“532 Bischof Dupont des Loges’ Vorschlag wurde von der Diözese Trier angenommen und die katholische Saar-Zeitung berichtete am 7. Juni 1878: „Während der letzten Tage boten einzelne Pfarreien des Bisthums Trier und die angrenzenden Pfarreien des Bisthums Metz ein seltenes Schauspiel. Ueber 3300 Firmlinge aus dem Decanate Saarlouis 529 Saar-Zeitung, 24.2.1878. Ein ähnlicher Fall: Ein Bewohner Malstatts wurde bestraft, weil er öffentlich die Meinung geäuβert habe, dass Elsass-Lothringen wieder an Frankreich zurückgegeben werden müsse, da man es diesem gestohlen habe. Saar-Zeitung, 28.6.1878. 530 Die Ergebnisse widersprechen der Einschätzung Rita Gehlens, die in ihrem Aufsatz über die Katholiken im Grenzraum feststellt, dass „es so gut wie keine Verbindungen zu den Kollegen in Lothringen“ gegeben habe. Vgl.: Gehlen, Kampf, 246. 531 ADM, 29 J 189, Bischof an M. Lorenzi, 6.10.1877. 532 LHAK, Best. 403, Nr. 16005: Landrat von Prüm an die königl. Regierung, 9.8.1877. Aus der Trierer Diözese hatten sich etwa 600 bis 800 Personen an der Firmungsreise beteiligt. Saargemünder Zeitung, 17.5.1899, 19.5.1899: 1899 übernahm wegen der Erkrankung des Metzer Bischofs Fleck die Trierer Diözese die Firmung der lothringischen Kinder. 187 empfingen von Samstag bis gestern in den angrenzenden lothringischen Dörfern von der Hand des hochwürdigsten Herrn Bischofs von Metz das Sakrament der Firmung. Da an einzelnen Tagen 800 bis 1000 Kinder gefirmt wurden, und da viele Eltern ihre Kinder selbst begleiteten, so gewährten die Straßen, die nach Lothringen führten in diesen Tagen einen eigenthümlichen Anblick. So weit man sehen konnte fuhren auf Wagen aller Art die Firmlinge mit ihren Angehörigen betend uns singend dem Orte der Firmung zu; dazwischen sah man auch Gruppen von rüstigern (!) jungen Leuten zu Fuß den Weg zurücklegen. Angeeifert durch das schöne Beispiel ihres Herrn Bischofs, der trotz seines hohen Alters in huldvollster Weise auch den Kindern aus dem noch immer verwaisten Bisthum Trier in ihren geistigen Bedürfnissen zu Hilfe kam, hatten auch die einzelnen Herren Geistlichen des Bisthums Metz mit ihren Pfarrkindern Alles aufgeboten die Feier zu verherrlichen und so kam es, daß alle Betheiligten erbaut von der hl. Handlung und erfreut durch die freundliche Aufnahme, die sie gefunden, heimkehrten.“ Die Firmungsbücher des Bischofs bestätigen sowohl die in dem Artikel genannte Anzahl der Firmlinge als auch die dort wiedergegebene Begeisterung der Grenzraumbewohner.533 1879 bereiste der Bischof die Gegend um Forbach und Sarreguemines, und auch dort waren unter den 11688 Firmlingen 2094 aus der Diözese Trier in Prozessionen nach Lothringen gezogen. Der Bischof vermerkte am Ende seiner Reise, dass die Bevölkerung noch nie so viel Enthusiasmus gezeigt habe. Nicht nur die grenzüberschreitenden Kontakte der Laien, sondern auch die der Geistlichen der Trierer und Metzer Diözese wurden durch den Kulturkampf intensiviert.534 Neben der Firmung der Kinder boten die Nachbardiözesen ihre Hilfe bei der seelsorgerischen Betreuung der durch die Kulturkampfgesetze entstandenen Pfarrstellenvakanzen an. Bliesransbach wurde von mehreren Geistlichen der Umgebung betreut, unter anderem auch vom Pfarrer der zur Diözese Metz gehörenden Gemeinde Blies-Schweyen. Als der Gottesdienst in gesperrten 533 ADM, 29 J 357: Eintrag vom: 4.6.1878, 18.6.1878. 534 ADM, 29 J 357: Einträge des Jahres 1879. Weiterer Bericht über die Firmungsreise 1879 in: Le Vœu National. Écho du Pays Messin, 16. 5.1879, Gazette de Lorraine, 11.5.1879. 188 Pfarreien verboten wurde, gingen die Bliesransbacher Gläubigen daraufhin in die Kirche der bayerischen Pfarrei Bliesmengen oder in die Kirche der lothringischen Pfarrei Blies-Schweyen.535 Obwohl Bliesransbach der einzige überlieferte Fall dieser kulturkampfbedingten grenzüberschreitenden Pfarrstellenbetreuung ist, beweisen die Zusammenarbeit der Pfarreien und die grenzüberschreitenden Firmungen, dass sich durch den Kulturkampf die grenzüberschreitenden Vernetzungen der katholischen Gläubigen verdichteten. Bei der Ausweitung der grenzüberschreitenden religiösen Praktiken erfuhren sich die lothringischen und saarpreußischen Katholiken als eine Glaubensgemeinschaft, in der nationale Gegensätze in den Hintergrund traten. Die Reaktion der Laien wie die der Geistlichen in den 1870er Jahren zeigt, dass die französisch-nationale Konnotation des Katholizismus ohne negative Auswirkungen die grenzüberschreitenden Verbindungen der Katholiken blieb. Paradoxerweise führte der auf der Ebene eines Konfessionskonfliktes ausgetragene Protest der lothringischen Katholiken gegen die deutschen Machthaber zu einer Intensivierung der Verbindungen zu den deutschen Glaubensbrüdern und schwestern. Nicht nur die grenzüberschreitenden Kontakte während des Kulturkampfes waren Ausdruck der Transnationalität des katholischen Glaubens, transnational war auch der Rückzug der katholischen Grenzraumbewohner in die Religiosität, eine Reaktion auf den Druck der protestantischen Machthaber. Im gesamten Grenzraum häuften sich in den 1870er Jahren die Marienerscheinungen, massenweise zogen die Gläubigen zu den Wallfahrtsorten. So pilgerten beispielsweise zahlreiche Gläubige aus beiden Teilen des Grenzraumes nach Marpingen. 536 535 536 BAT, Abt. 70, 710, Nr. 31, 32: Pfarrer Waldner von Bliesmengen an den Generalvikar, 12.11.1875. Weitere Informationen zu den Pfarrstellenvakanzen: Nr. 30: Curé J. B. Port von Blies-Schweyen an das bischöfliche Generalvikar zu Trier, 4.4.1875. Ebenso bot der Pfarrer Reitz in Walsheim (Bistum Speyer) seine Hilfe an. BAT, Abt. 70, 710, Nr. 33: Pfarrer Reitz an das bischöfl. Generalvikariat in Trier, 6.10.1874. Dem grenzüberschreitenden Pilgerstrom nach Marpingen: Saar- und Mosel- Zeitung, 19.7.1876: Es seien Besucher aus Köln, Koblenz und Lothringen nach Marpingen gepilgert. St.-Johanner Volkszeitung, 15.8.1877. Blackburn, Marienerscheinungen, 88. Andere Marienwallfahrtsorte: Zwei Mädchen hatten, nachdem sie mit ihrem Vater nach Gisingen in Lothringen gepilgert waren, in der Nähe der Mendelsheimer Kapelle im bayerischen Teil des 189 Neben diesen transnationalen Zügen der Marienverehrung erhielt der Marienkult in Lothringen eine deutliche nationale Konnotation, die besonders an der Debatte um das „deutsche Lourdes“ Marpingen deutlich wird. Am 3. Juli 1876 hatten drei Mädchen im Härtelwald in der Nähe Marpingens eine Marienerscheinung. Die Nachricht verbreitete sich schnell und kurze Zeit später pilgerten die ersten Gläubigen zum „Gnadenort“. Am 11. Juli 1876 notierte der Gemeindepfarrer von Marpingen: „Ich habe heute Abend von Lourdes gelesen, das kommt mir matt vor gegen den gewaltigen Strom, der hier alle Dämme durchbricht. Prozessionen trotz Maigesetze und Culturkampf.“ Ab dem 12. Juli befanden sich laut Pfarrer durchgehend bis zu 4000 Menschen im Härtelwald. 537 Die lothringische katholische Presse reagierte auf den Pilgerstrom nach Marpingen und den immer häufiger genannten Vergleich mit Lourdes, indem sie die Meinung verbreitete, dass Marpingen durch eine erfundene Marienerscheinung zu einem deutschen Nachfolger oder zumindest einer deutschen Konkurrenz des französischen Marienwallfahrtsort Lourdes hochstilisiert werden sollte. Die Gazette de Lorraine berichtete am 19. Juli 1876, dass immer noch Leute nach Marpingen kommen würden, um die Jungfrau zu sehen, die jedoch „niemand gesehen hat und die niemand sehen wird.“ In weiteren Artikeln versuchte die lothringische katholische Presse die Falschheit verschiedener Marpinger Wunder aufzudecken, um schlieβlich den Artikel mit dem Satz zu beenden „Armes Marpingen! Es wird wirklich nicht das Glück haben ein Nachfolger Lourdes zu werden.“538 Die Schärfe der Debatte über die Authentizität der Marpinger Marienerscheinung ist auf die Nationalisierung 537 538 der Marienverehrung in Lourdes zurückzuführen. Dem Bliesgaues ebenfalls eine Marienerscheinung. Hoffmann, Alfons: Aberglaube und religiöse Schwärmerei in der Pfalz im 19. Jahrhundert, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte, 27 (1975) 212f. Alleine für das Jahr 1873 zeigte der Präsident des UnterElsass dem Oberpräsidenten von Elsass-Lothringen Marienerscheinungen in den Kreisen Wissembourg, Molsheim, Sélestat und Zabern an. ADBR, 247 D 69: Präsident des UnterElsass an den Oberpäsidenten, 29.10.1873. Zitate aus: Blackbourn, Marienerscheinungen, 250. Gazette de Lorraine, 29.7.1876: „que personne n’avait vue et ne pouvait voir“. „Pauvre Marping! Il n’aura décidémont ( !) pas la chance de devenir une succursale de Lourdes.“ Andere Artikel, die diese nationale Sicht auf Marpingen widerspiegeln: Gazette de Lorraine, 22.8.1876, 9.9.1876. Sogar Pariser Zeitungen widmeten dem Streit um die Authentizität der Marpinger Marienerscheinung Artikel: Blackburn, Marienerscheinungen, 262. 190 französischen Marienwallfahrtsort wurde sogar die Kraft zugetraut, eine Wiederangliederung der verlorenen Provinzen an Frankreich zu erreichen.539 Der Widerspruch zwischen den grenzüberschreitenden Wallfahrten nach Marpingen und der Nationalisierung der Marienverehrung in Lourdes, verbunden mit der negativen Haltung der lothringischen Presse gegenüber Marpingen, ist vor allem auf den Widerspruch zwischen der französisch nationalen Konnotation der Marienverehrung und den Gewohnheiten der Grenzraumbewohner zurückzuführen. Die in Grenznähe wohnenden lothringischen Bewohner unterschieden offenbar nicht zwischen der Wallfahrt ins nahe gelegene Marpingen und den anderen traditionellen, grenzüberschreitenden Wallfahrten. Marpingen bot sich für die Grenzraumbewohner wegen seiner Nähe als Marienwallfahrtsort an, da eine Reise zum weit entfernten Lourdes mit einem hohen Kostenaufwand verbunden war. Die Akzeptanz Marpingens bei den lothringischen Katholiken wurde sicherlich auch durch den Einsatz des Militärs gegen die Gläubigen im Härtelwald erhöht. So erleichterte der in der Presse viel diskutierte Militäreinsatz am 13. Juli gegen die Gläubigen im Härtelwald eine nationale pro- französische Interpretation der Marienverehrung auch in Bezug auf das „deutsche Lourdes“.540 Maria konnte auch auf deutschem Territorium um die Wiederangliederung Lothringens an Frankreich gebeten werden. Ein ähnlicher Widerspruch zwischen der Transnationalität und der Nationalisierung des katholischen Glaubens ist in Bezug auf Lourdes festzustellen. Einerseits wurde Lourdes zu einer französischen Nationalwallfahrt mit hoher Symbolkraft für die an das Deutsche Reich verlorenen Provinzen Lothringen und Elsass, andererseits pilgerten vermehrt Deutsche nach Lourdes, deren Interesse am „Original“ durch die Berühmtheit Marpingens geweckt worden war. Als es den preuβischen Grenzraumbewohnern während des Kulturkampfes lediglich gestattet 539 Siehe zu dieser nationalen Komponente der Heiligenverehrung: Mergel, Thomas: Pfarrer Hansjakob in Frankreich. Transnationaler Katholizismus und Nationalismus im späten 19. Jahrhundert, in: Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen Europäischen Geschichte. Ein historisches Lesebuch – FS für Hartmut Kaelble zum 65. Geburtstag, Frankfurt M. 2005, 141-147. 540 Gazette de Lorraine, 19.7.1876. 191 war, in Einzel- oder Kleingruppen nach Lourdes zu pilgern, schlossen sich die meisten deutschen Grenzraumbewohner den jährlichen Pilgerzügen der Bistümer Metz und Strasbourg an.541 Diese Gewohnheit wurde nach Beendigung des Kulturkampfes beibehalten. Die katholischen Gläubigen aus dem deutschen Teil des Grenzraumes konnten sich in Zeitungsanzeigen über mögliche Pilgerfahrten nach Lourdes informieren und sich bei den zuständigen Pfarrern anmelden.542 Dass gleichzeitig zur aggressiv geführten Debatte um die beiden Wallfahrtsorte Lourdes und Marpingen eine transnationale Wallfahrtsbewegung zu beiden Orten nachweisbar ist, macht den Widerspruch zwischen der Nationalisierung und der Transnationalität des katholischen Glaubens besonders offensichtlich. In der religiösen Praxis nahm die Transnationalität des katholischen Glaubens einen weitaus gröβeren Raum ein als die Nationalisierung des Katholizismus. Die alte Gewohnheit, besonders im Frühling eine Pilgerreise auf die andere Seite der Grenze zu unternehmen, änderte die neue nationale Prägung des katholischen Glaubens nicht.543 541 Kotulla, Andreas Johannes: Deutsche Katholiken und Lourdes: Die Popularisierung der Wallfahrt im Spiegel der literarischen Rezeption bis 1891, in: Wallfahrt und Kommunikation. Kommunikation über Wallfahrt, (Hrsg.) Bernhard Schneider, Mainz 2004, 335. In Bezug auf das gesamte Deutsche Reich setzte die Lourdes Wallfahrtswelle erst ab 1900 mit der Gründung des „Deutschen Lourdes-Verein“ ein. Kotulla, Andreas Johannes: „Nach Lourdes“. Der französische Marienwallfahrtsort und die Katholiken im Deutschen Kaiserreich (18711914), München 2006, 236ff. 542 Saar-Zeitung, 9.1.1893: Die Leser der Saar-Zeitung wurden darüber informiert, dass die vom Metzer Abbé Collin geleitete Pilgerfahrt auf Mitte April verschoben worden sei. Diejenigen, die von der Beteiligung zurücktreten wollen, sollten eine Postkarte an den Abbé schicken. Über Pilgerzüge der Diözese Strasbourg: St.-Johanner Volkszeitung, 14.3.1907: Im Mai 1907 wurde von Strasbourg aus eine Pilgerfahrt nach Lourdes unternommen. ADBR, 27 AL 577: Brief von Hohenlohe an den König (Abschrift), 30.9.1892: Deutsche Teilnehmer einer Strasbourger Pilgerfahrt 1892. Die Polizeidirektion des Regierungsbezirkes Trier meldete in ihren Wochenberichten, dass der Fremdenverkehr aufgrund der in der Jahreszeit zahlreichen Wallfahrten sehr lebhaft sei. LHAK, Best. 403, Nr. 17986: Polizeibericht vom 5.6.1852. Sehr engagiert zeigte sich beispielsweise Pfarrer Folschwiller von Morsbach, der regelmäßig Pilgerreisen mit katholischen Gläubigen nach Luxemburg und Saint-Avold unternahm. Die Reiseinformationen wurden auch in Zeitungen der Saarregion in Annoncen bekannt geben, sodass sich auch Katholiken aus dem Saarrevier zur Pilgerreise anmelden konnten. 1907 hatte der Priester sogar einen Sonderzug nach Saint-Avold organisiert. Forbacher Bürger-Zeitung, 27.7.1906; St.-Johanner Volkszeitung, 3.5.1907; Forbacher Bürger-Zeitung, 23.3.1910. Zu Saint-Avold: St.-Johanner Volkszeitung 17.5.1907; Forbacher Bürger-Zeitung, 18.5.1906; 543 192 Die Ähnlichkeiten der repressiven Maβnahmen der Machthaber gegen die Katholiken beiderseits der Grenze trugen ebenfalls dazu bei, dass die Nationalisierung des Katholizismus in Lothringen die Beziehung der Grenzraumbewohner nicht belastete. Die Argumente sowohl gegen die deutschen als auch die lothringischen Pilger waren von Seiten der Behörden dieselben - auf beiden Seiten wurden gesundheitliche und sittliche Gefährdungen angeführt, um die Wallfahrten zu verbieten.544 Während des Kulturkampfes erfuhren sich die Katholiken des Grenzraumes nicht nur als Glaubensgemeinschaft, sondern auch als „Leidensgemeinschaft“ für die die nationale Grenze keine Rolle spielte. 6.2.2. Konfessionelle Konflikte in Lothringen. Von einem nationalen Konflikt zu einem Konflikt zwischen Laizisten und Katholiken Die Führungsrolle der katholischen Geistlichen innerhalb der Oppositionsbewegung gegen die deutschen Besatzer verstärkte, wie gezeigt wurde, die Gleichsetzung der konfessionellen Auseinandersetzung mit dem nationalen Konflikt. Antiprotestantische Aktionen der Bevölkerung waren die Folge. Noch vor der Unterzeichnung des Frankfurter Abkommens wurde der protestantische Friedhof in Forbach verwüstet. Die Bewohner Forbachs, die laut eines Leserbriefes im Courrier de la Moselle, zuvor nie von religiösem Fanatismus angetrieben worden waren, würden jetzt die kriegerischen Auseinandersetzungen auf religiöser Ebene fortführen. Vor allem das Verhalten der katholischen Geistlichen würde das 544 Forbacher Zeitung, 20.5.1905; Forbacher Bürger-Zeitung, 18.5.1908; Forbacher Zeitung, 13.5.1901. ADBR, 27 AL 577: von Püttkammer (Strasbourg) an den Bischof von Metz und Strasbourg, 13.9.1892. Verbot der Wallfahrten. Brief von Hohenlohe an den König (Abschrift), 30.9.1892: Der König wird darüber informiert, dass eine Pilgerfahrt genehmigt worden sei. Zu den preußischen Unterdrückungsmaβnahmen: Blackbourn, Marienerscheinungen, 177. Untersagten die Behörden Prozessionen, bezogen sie sich teilweise beiderseits der Grenze auf dasselbe französische Gesetz aus dem Jahr 1801: LHAK, Best. 403, Nr. 16006: Zeitungssauschnitt der « Germania », 13.7.1899. In Preußen wurde auch die „Verordnung über die Verhütung eines die gesetzlichen Freiheit und Ordnung gefährdenden Missbrauchs des Versammlungs- und Vereinigungsrechts“ vom 11. März 1850 angewandt. Siehe hierzu: Gehlen, Kampf, 236. 193 Konfliktpotential innerhalb der Bevölkerung steigern.545 Auch in den folgenden Jahrzehnten kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Protestanten und Katholiken.546 Die Gewaltakte waren jedoch im Vergleich zur Anzahl der gewaltlosen Auseinandersetzungen gering. Ein Streitpunkt war die Auslegung eines französischen Gesetzes aus der Zeit der französischen Revolution, nach dem nur in Gemeinden, in denen verschiedenen Kulte öffentlich ausgeübt werden, eine Trennung der Friedhöfe nach Konfessionen zulässig war. Die reichsländischen Behörden bewerteten erst den Gottesdienst als eine öffentliche Ausübung des Kultes, wohingegen die katholischen Gemeinden darauf bestanden, dass nach alter französischer Rechtsprechung auch Taufen und andere kultische Handlungen hierzu zählten.547 Besonderes Aufsehen erregte der Fall Fameck. Als der katholischen Gemeinde Fameck die konfessionelle Trennung ihres Friedhofes von den Behörden verweigert wurde, versuchte der Ortsgeistliche durch eine Petition an den Landesausschuss, unterstützt durch eine Unterschriftensammlung, eine konfessionelle Trennung des Friedhofes durchzusetzen. Man ließ 10000 Exemplare eines deutsch-französischen Aufrufes drucken und verschickte diesen in ganz Lothringen. Laut Artikel würden die Geistlichen die Petition von Haus zu Haus tragen und jeder der eine Feder halten könne, würde unterschreiben.548 Wegen der öffentlichen Prozessionen der katholischen Gläubigen kam es in Lothringen ebenfalls zu Spannungen zwischen der katholischen Bevölkerung und den Machthabern. In einer französischen Bestimmung, basierend auf dem Konkordat vom 10. September 1801 zwischen der französischen Regierung und Papst Pius VII., wurde festgelegt, dass in den Städten, in denen Kirchen 545 546 Courrier de la Moselle, 9.5.1871. So wurde 1914 eine evangelische Kirche in Queuleu, einem Vorort von Metz verwüstet. Saarbrücker Zeitung, 12.6.1914; Saarbrücker Zeitung, 13.6.1914. 547 Saarbrücker Zeitung, 19.9.1880. 548 Saarbrücker Zeitung, 6.2.1905; Saarbrücker Zeitung, 16.1.1905. Publik wurde auch der Fall Angevillers im Kreis Thionville. Bei der Neuanlegung des Friedhofes wurde der Gemeinde der Antrag, einen konfessionell getrennten Friedhof anlegen zu dürfen, mit der Begründung abgelehnt, dass in dem Ort keine protestantischen Gottesdienste abgehalten wurden. Saarbrücker Zeitung, 3.7.1909. Weigerung des katholischen Geistlichen in Creutzwald, einem Protestanten eine Grabstätte auf dem katholischen Friedhof bereit zu stellen. Saarbrücker Zeitung, 3.7.1909. 194 verschiedener Glaubensrichtungen existierten, außerhalb der zum katholischen Gottesdienst bestimmten Gebäude keine religiöse Zeremonie stattfinden durfte.549 Obwohl diese Bestimmung in französischer Zeit nur phasenweise umgesetzt wurde, wandten die deutschen Besatzer diese im Reichsland konsequent an. Ab 1874 wurde in Metz die Fronleichnamsprozession untersagt, als die Metzer Katholiken daraufhin nach Plantières-Queuleu zur Prozession gingen und dieser Ort 1908 in Metz eingemeindet wurde, zeigten Protestanten den katholischen Pfarrer wegen des Abhaltens einer verbotenen Prozession an.550 Die katholischen Geistlichen nutzten vor allem die religiösen Zusammenkünfte zu pro- französischen Demonstrationen. Besonders in den ersten Jahren nach der Annexion wurden die zahlreichen Gedenkgottesdienste und Prozessionen, aufgeladen mit nationalen Symbolen und französischen Treuebekenntnissen, zu einem offenen Bekenntnis für das verlorene Heimatland.551 Zum siebten Jahrestag der Kämpfe um die Spicherer Höhe wurde in Forbach durch einen Anschlag an der Kirche bekannt gegeben, dass das Requiem nur für die französischen Soldaten gehalten werden würde. Der Innenraum der Kirche war durch Kränze mit der Aufschrift „Partie“ und Bandschleifen in französischen Farben geschmückt.552 Noch 1893 wurde in Metz ein Trauergottesdienst für die gefallenen französischen Soldaten von zahlreichen Lothringern besucht.553 Der antideutsche Protest der lothringischen Geistlichen äuβerte sich auch in der Weigerung, Festgottesdienste zum Kaisergeburtstag Wilhelms I. und Wilhem II. abzuhalten. Wurden in Forbach 1885 in der evangelischen Kirche und in der Synagoge Festgottesdienste zum Kaisergeburtstag zelebriert, feierte die katholische 549 LHAK, Best. 403, Nr. 16006: Zeitungsausschnitt der « Germania », 13.7.1899. 550 ADM, 7 AL 11: Zeitungsausschnitt der « Augsburger Postzeitung », 6.7.1908. Courrier de la Moselle, 26.8.1871: Gedächtnisgottesdienst in Sarreguemines. Courrier de la Moselle, 26.8.1871: Gedächtnisgottesdienst in Sarrebourg. Roth, Lorraine, 132: Gedächtnisgottesdienst in Metz. ADBR, 29 AL 10: Zeitungsausschnitt « Berliner Tageblatt », 17.8.1877. 551 552 553 Forbacher Zeitung, 10.9.1893. 195 Glaubensgemeinschaft den Kindergottesdienst zu Ehren des Heiligen Josef.554 1889 teilte schliesslich der katholische Geistliche der Forbacher Gemeinde während des Hauptgottesdienstes mit, dass der Bischof von Metz angeordnet habe, dass in jeder katholischen Kirche am Vorabend des Kaisergeburtstages und am Geburtstag selbst die Glocken geläutet werden sollen. Ein Festgottesdienst wie in der Synagoge und in der evangelischen Kirche wurden jedoch weiterhin nicht abgehalten.555 In Laufe der 1890er Jahre gaben die lothringischen Geistlichen ihre Führungsrolle innerhalb der pro- französischen Protestbewegung immer mehr auf.556 Verantwortlich für diese Entwicklung waren die antiklerikalen Maβnahmen der französischen Regierung und die beginnende Einflussnahme der sozialdemokratischen Bewegung in Lothringen.557 Beide politischen Bewegungen evozierten das alte Freund-Feind- Bild entlang der Konfliktlinie zwischen Katholizismus und Laizismus. In der Folge verlagerte sich das Engagement der lothringischen Katholiken immer deutlicher auf die Wahrung der katholischen Interessen und auf die Zurückdrängung der laizistischen Bewegung.558 Der Widerstand gegen die Annexion stand nun nicht mehr im Mittelpunkt der Aktivitäten der katholischen Geistlichen. Diese Verschiebung der katholischen Interessen ist auch an der Verwendung der französischen Nationalsymbole nachvollziehbar. Traten die nationalen Symbole zunächst vor allem im religiösen Kontext in Erscheinung, erfolgte nun eine „Republikanisierung“ der französischen Nationalsymbole.559 Immer seltener erhielten die Gottesdienste eine pro- 554 555 Forbacher Zeitung, 24.3.1885. Forbacher Zeitung, 24.3.1885. Forbacher Zeitung, 28.3.1885. Forbacher Zeitung, 19.3.1885. Forbacher Zeitung, 22.1.1889. 556 Siehe Kapitel:6.2.3. „Organisationsbestrebungen der Katholiken im Grenzraum. Gemeinsam für die Wahrung der katholischen Interessen und gemeinsam gegen die Sozialdemokratie (1890-1914)“. 557 Der Laizsimus wird hier im übertragenen Sinne als eine mit dem Katholizismus konkurrierende „Konfession“ betrachtet. Siehe zu dieser Gleichsetzung: Mollenhauer, Symbolkämpfe, 202. 558 Siehe: Kapitel: 6.2.3. „Organisationsbestrebungen der Katholiken im Grenzraum. Gemeinsam für die Wahrung der katholischen Interessen und gemeinsam gegen die Sozialdemokratie (1890-1914)“. Zum Kampf um die nationale Symbolik zwischen Laizisten und Katholiken siehe: Mollenhauer, Symbolkämpfe. 559 196 französische Note und immer mehr gerieten die Gefallenendenkmäler in den Kirchhöfen in Vergessenheit. Demgegenüber gewann der von den Republikanern 1880 zum Nationalfeiertag erklärte 14. Juli für die Lothringer an Bedeutung. Massenweise reisten die Lothringer in den 1880er und 1890er Jahren in die französischen Grenzstädte.560 Nachdem die lothringischen Geistlichen ihr politisches Engagement von einer antideutschen Protesthaltung auf die Wahrung der katholisch- lothringischen Interessen innerhalb des Deutschen Reiches verlagerten, entbrannte in Lothringen wieder die Auseinandersetzung zwischen Laizisten und Katholiken. Die Protestbewegung gegen die Annexion, die beide Bevölkerungsteile zuvor geeint hatte, existierte in der ursprünglichen Form nicht mehr.561 Sichtbar wird die Konfliktlinie zwischen Laizisten und Katholiken auch an der Polarisierung der lothringischen Arbeiterschaft in einen sozialdemokratisch und einen christlich orientierten Teil.562 Dass die Auseinandersetzungen zwischen Laizisten und Katholiken nicht nur auf verbaler Ebene ausgetragen wurden, zeigt ein Beispiel aus dem Elsass: In dem Ort Schirmeck kam es während des Wahlkampfes zwischen den Anhängern beider Gruppen fast zu einer Massenschlägerei. Als sich ein Redner während einer Versammlung in einer Wirtschaft für den Zentrumskandidaten einsetzte, entbrannte eine hitzige Debatte, in deren Verlauf sich im Saal zwei Lager bildeten, deren Anhänger sich gegenseitig mit „Vive Dieu-“, „Es lebe Gott“ -Rufen und „A bas la galotte-“, „Nieder mit den Pfaffen“ -Rufen überstimmen wollten. Einige Tage später kam es wieder zu einer Auseinandersetzung zwischen beiden Lagern, bei der der Priester so stark verletzt wurde, dass er ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen musste.563 560 561 562 563 Forbacher Bürgerzeitung, 16.7.1904: Forbacher Zeitung, 22.7.1905. Siehe auch Kapitel: 5.5.4. „Miteinander oder Konfrontation? Die letzten zehn Jahre vor Beginn des Ersten Weltkrieges“. Dieser Zusammenschluss spiegelte sich auch in den Bemühungen um ein politisches Bündnis der Katholiken und der liberalen „Protestler“ im Reichstag wider: Hiery, Reichstagswahlen, 97f. Siehe Kapitel: 4.2.7. „Die Arbeiterorganisationen und die nationale Grenze“. Saarbrücker Zeitung, 17.1.1912. 197 6.2.3. Organisationsbestrebungen der Katholiken im Grenzraum. Gemeinsam für die Wahrung der katholischen Interessen und gemeinsam gegen die Sozialdemokratie (1890-1914) Hatten die katholischen Gläubigen auf beiden Seiten der Grenze den Kulturkampf als Auseinandersetzung zwischen weltlich-protestantischer und geistlich- katholischer Macht erfahren, wurde die antiklerikale Haltung der französischen Regierung ab den 1880er Jahren von den lothringischen Katholiken als ein Wiederbelebung des traditionsreichen Konfliktes zwischen Katholizismus und Laizismus wahrgenommen.564 Folge war, dass sich die lothringischen Katholiken von der französischen Regierung distanzierten und sich gleichzeitig den deutschen katholischen Organisationen öffneten, von denen sie sich die Wahrung der katholischen Interessen und die Abwehr der sozialdemokratischen Bewegung erhofften.565 Waren die Katholiken vor der Annexion von den antiklerikalen Maβnahmen der Regierung direkt betroffen, waren sie nun lediglich Beobachter der Situation in ihrem ehemaligen Heimatland. Im Laufe der 1880er Jahre wurde in Frankreich eine Reihe von Gesetzen erlassen, die auf eine strikte Trennung von Staat und Kirche hin abzielten, in deren Folge 261 Klöstern geschlossen und 5643 Ordensleute teilweise gewaltsam ausgewiesen wurden. In einer Reihe weiterer Gesetze setzte die Regierung eine konsequent laizistische Schulpolitik um, in deren Folge der Religionsunterricht in den Schulen verboten und die Ordensgeistlichen durch weltliche Lehrer ersetzt 564 565 Für den politischen Katholizismus im Kaiserreich ist die Arbeit von Wilfried Loth entscheident. Loth, Wilfried: Katholiken im Kaiserreich. Der politische Katholizismus in der Krise des wilhelminischen Deutschlands, Bonn 1984. Grundlegend zum Verhalten der katholischen Geistlichen im annektierten Lothringen: Favrot, Brigitte: Le gouvernement allemand et le clergé catholique Lorrain de 1890 à 1914, Wiesbaden 1981. Favrot arbeitet die Kontinunität der Konfliktlinie Katholizismus- Laizismus zwischen Vor- und Nachkriegszeit nicht heraus, weist jedoch auf den direkten Zusammenhang zwischen antiklerikalen Maβnahmen in Frankreich und der Öffnung der Katholiken für deutsche Organisationen ab den 1890er Jahren hin: Fravrot, gouvernement, 129ff. Zu den Abläufen der Etablierung der deutschen katholischen Organisationen in Lothringen siehe: Roth, Lorraine, 517ff; Roth, Lorraine, 471ff; Hiery, Reichstagswahlen, 92ff. Becker, Winfried: Der Kulturkampf als europäisches und als deutsches Phänomen, in: Historisches Jahrbuch, 101 (1981) 422-446. Zum französischen Kulturkampf: 432 und 441ff. 198 wurden.566 Mit dem Beginn der Regierungszeit Emile Combes im Jahr 1902 nahm der Antiklerikalismus an Schärfe zu. Konfessionelle Schulen wurden geschlossen, Orden mit Gewalt zur Auflösung gezwungen und ihr Besitz konfisziert. Das Gesetz vom Juli 1904 entzog den Nonnen und Patres die Unterrichtserlaubnis, auch wenn diese die offizielle Lehrerlaubnis besaßen.567 Die Entfaltungsmöglichkeiten der lothringischen katholischen Geistlichen waren nunmehr im Vergleich zu denen ihrer Glaubensbrüder und Schwestern in Frankreich sehr groβ. Konfessionelle Schulen bestanden im Reichsland weiterhin und der Religionsunterricht nahm einen beachtlichen Teil des Unterrichts ein.568 In Lothringen besaβen die Geistlichen unter deutscher Herrschaft die gesellschaftliche Stellung, die sie in Frankreich verloren hatten. Sechs Monate bevor in Frankreich mit dem Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat die laizistischen Gesetzesinitiativen ihren Höhepunkt erreichten, fand ein Treffen zwischen Geistlichen der Saarregion und Lothringens statt, das die Reform des Religionsunterrichtes in den Schulen zum Thema hatte.569 Nachdem in Frankreich der Religionsunterricht in den Schulen verboten und massenweise katholische Lehranstalten geschlossen worden waren, berieten deutsche und lothringische Katholiken über die Inhalte des Religionsunterrichtes in den Schulen des Grenzraumes. Mit der Wahl dieser Thematik konnten die lothringischen Geistlichen – beabsichtigt oder nicht – ein deutliches Zeichen in Richtung der französischen Regierung senden: Was in Frankreich verboten war, war im Deutschen Reich möglich. Der gemeinsam durchlebte Kulturkampf, die antiklerikalen Maβnahmen der französischen Regierung und die beginnende Einflussnahme der Sozialdemokratie in Lothringen zeigten den Katholiken im Grenzraum die Notwendigkeit auf, sich zu organisieren, um erneute Angriffe von staatlicher Seite und das Ausbreiten der laizistischen Bewegung zu verhindern. Verbindungen zwischen den Diözesen 566 Caron, François: Frankreich im Zeitalter des Imperialismus, Stuttgart 1991, 369ff. 567 Caron, Frankreich, 529ff. 568 Roth, Lorraine, 126. 569 Saarbrücker Zeitung, 27.5.1905: Es wurde beschlossen, sich jedes Jahr im Herbst in Saarbrücken und im Frühjahr in Metz zusammenzufinden. 199 bestanden auf allen hierarchischen Ebenen. Der Metzer Bischof Dupont des Loges und sein Nachfolger Bischof Fleck waren mit dem Trierer Bischof Korum durch die gemeinsame französische Kultur und Sprache – Korums Muttersprache war Französisch – eng verbunden und auch der spätere Metzer Bischof Benzler hielt die Beziehungen nach Trier aufrecht.570 Auf dem Katholikentag in Mannheim Ende August 1902 kam der katholische Klerus zusammen, um über die Aufstellung von Zentrumskandidaten im Reichsland bei der kommenden Wahl zu diskutieren. Schon seit den 1890 Jahren hatten die Befürworter der politischen Organisation der lothringischen Katholiken in der Zentrumspartei zugenommen. Nachdem sich das Zentrum bereits in der Saarregion erfolgreich etabliert hatte, stellten sich die Zentrumskandidaten 1903 das erste Mal auch in Lothringen zur Wahl.571 Die Katholiken des Grenzraumes, die sich in katholischen Freizeitvereinen, im Volksverein und im Kohlenrevier in zahlreichen katholischen Jünglings- und Arbeitervereinen organisierten, fanden nun im Zentrum ihr politisches Sprachrohr.572 Die Wahrung der katholischen Interessen war das eine Ziel der katholischen Organisation, das andere Ziel war die Eindämmung des Einflusses der sozialdemokratischen Bewegung. Mit der Aufhebung der Sozialistengesetze, dem Wahlerfolg der vermeintlich sozialdemokratischen Arbeiterkandidaten 1890 im lothringischen Teil des Kohlenreviers und der Fahrt zum internationalen Bergarbeiterkongress in Paris 1891, wuchs auf katholischer Seite die Befürchtung, dass der Sozialismus und die laizistische Bewegung an Einfluss gewinnen würde. In Lothringen bestätigten die guten Wahlresultate der SPD- Kandidaten in den folgenden Jahren die Befürchtungen der Katholiken.573 Eine Zunahme der Bemühungen auf beiden Seiten der Grenze, die Arbeiter an katholische 570 571 572 573 Favrot, gouvernement, 80. Embach, Michael: Michael Felix Korum (1881-1921), in: Die Bischöfe von Trier seit 1802. FS für Bischof Dr. Hermann Josef Spital zum 70. Geburtstag am 31. Dezember 1995, Trier 1996, 141ff. Roth, Lorraine, 517ff. Siehe Kapitel: 4.2.5. „Die christlichen Arbeiterorganisationen. Ausdruck eines grenzüberschreitenden katholischen Milieus“. Siehe: Abbildungen 43-47 (Kapitel: 4.2.5. „Die christlichen Arbeiterorganisationen. Ausdruck eines grenzüberschreitenden katholischen Milieus“). 200 Organisationen zu binden und sie so von der sozialdemokratischen Bewegung fernzuhalten, sind unverkennbar. Auch die seelsorgerische Arbeit der Geistlichen zielte ganz darauf ab, die Grenzraumbevölkerung für sozialdemokratische Ziele unempfänglich zu machen. So war die Bekämpfung dieses „neuen Feindes“ eine der Hauptintentionen der Rockwallfahrt 1891, welche die Gläubigen gegen den „revolutionären Zeitgeist“ stärken sollte.574 Hatten sich die Katholiken des Grenzraumes zuvor im Konflikt gegen die protestantischen Machthaber enger zusammengeschlossen, war der gemeinsame Feind nun die sozialdemokratische beziehungsweise laizistische Bewegung. Dass diese Auseinandersetzung nur marginal die Saarregion betraf ist dabei ohne Bedeutung.575 Wichtig ist lediglich, dass die grenzüberschreitenden Verflechtungen des katholischen Milieus nach ausgestandenem Kulturkampf mit der „Bekämpfung“ eines gemeinsamen Feindes erneut intensiviert wurden. Dass dieser gemeinsame Feind auch Züge der beiden Nationen Deutschland und Frankreich annahm, bewirkte eine zusätzliche Stärkung des transnationalen Zusammenhaltes der Katholiken. 6.2.4. Nationalisierung des Katholizismus. Eine bedingte Konstante in Lothringen nach 1871 Die Intensivierung der Verflechtungen zwischen den Katholiken des Grenzraumes während des Kulturkampfes und später durch die grenzüberschreitend agierenden katholischen Organisationen darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Nationalisierung des Katholizismus nach dem Deutsch-Französischen Krieg im Grenzraum für den gesamten untersuchten Zeitraum immer präsent blieb. So lehnten die frankophonen Katholiken einen Anschluss an deutsche Organisationen gröβtenteils ab, die katholischen Arbeitervereine hatten vor allem im lothringischen Kohlenbecken Erfolg, und die katholischen Jünglingsvereine konnten im 574 Zur Intention der Heiligen Rockwallfahrt: Korff, Frömmigkeit, 375ff. 575 Siehe Kapitel: 4.2.4. „Die sozialdemokratische Arbeiterbewegung. Gescheiterte Organisation, aber erfolgreiche Einflussnahme im lothringischen Steinkohlenrevier“. 201 französischsprachigen Teil Lothringens erst mit einer pro- französischen Ausrichtung ab 1908 Mitglieder werben.576 Auch der Volksverein stieβ im frankophonen Teil des Grenzraumes auf Ablehnung. Erst als 1903 eine Abteilung speziell für die frankophone Bevölkerung, die „Union populaire catholique“, gegründet wurde, traten vermehrt französischsprachige Katholiken in den Verein ein. Trotz einiger gemeinsamer Themen mit der deutschen Sektion des Volksvereins, behielt die Union populaire ihre Individualität und hielt gesonderte Versammlungen ab. Die Redner kamen hier nicht aus dem deutschen Teil des Grenzraumes, sondern aus Nancy oder Paris. 1907 trennte sich schließlich die französische Sektion auch juristisch von der deutschen Sektion des Volksvereins, indem eine unabhängige Organisation unter dem Namen „Union Populaire catholique et lorraine“ gründete wurde.577 Ebenso gespalten waren die Meinungen über die Zentrumspartei. In der einflussreichen katholischen Zeitung „Lorrain“ wurde eine Artikelreihe veröffentlicht, die sich gegen das Zentrum aussprach, da man in dieser Partei nicht die linguistischen und kulturellen Rechte der Lothringer verteidigen würde.578 Viele lothringische Geistliche, auch im frankophonen Teil, glaubten jedoch, dass man lediglich mit einer starken katholischen Partei einen erneuten „Kulturkampf“ verhindern könne.579 Dennoch waren die Spannungen in Lothringen zwischen den sich nach Deutschland öffnenden und den nach Frankreich ausgerichteten Geistlichen groβ, und nicht selten kam es zu öffentlichen Auseinandersetzungen zwischen Vertretern beider Richtungen. Die nationale Frage, die bis 1890 von den lothringischen Klerikern einheitlich beantwortet wurde, teilte nun die lothringischen Gläubigen.580 Einigkeit herrschte jedoch darin, dass auf politischer Ebene die speziellen Interessen Elsass-Lothringens zu verteidigen seien.581 576 Roth, Lorraine, 479f. 577 Roth, Lorraine, 473f. 578 ebda., 522. Hier werden die Ausgaben des « Lorrain » vom 7., 8. und 9. November 1906 erwähnt. ebda., 522. 579 580 Zum Konflikt zwischen den lothringischen Geistlichen: Roth, Lorraine, 480ff. 581 Roth, Lorraine, 524. 202 Die Kontroversen innerhalb der lothringischen katholischen Glaubensgemeinschaft bezüglich der Öffnung zum Deutschen Reich beeinflussten jedoch die Beziehungen zu den alteingesessenen deutschen Grenzraumbewohnern nicht. Besonders deutlich wird dies durch eine Untersuchung, die 1918 von den Behörden wegen eines Fotos angeordnet wurde, das auf Initiative der Anhänger des französischen Zweiges des Volksvereins, der Union Populaire, 1903 aufgenommen worden war. Auf dem Foto hatten sich eine Gruppe Männer und zwei Frauen in elsässischer und lothringischer Tracht vor einem lothringischen Kreuz und einem Banner mit der Aufschrift „Quand Même“ ablichten lassen. Das Schlagwort „Quand Même“- „Trotzdem“- stand für den Widerstand gegen die Annexion. Während des Verhörs der 13 auf dem Bild abgelichteten Personen, stellte sich heraus, dass sich auch zwei Volksvereinsmitglieder aus dem bayerischen und preußischen Teil des Grenzraumes auf dem Foto hatten ablichten lassen.582 Sicherlich waren die Verflechtungen zwischen frankophonen Lothringern und germanophonen, deutschen Katholiken im Grenzraum aufgrund der größeren Entfernung zur Grenze und der Sprachbarrieren weniger dicht als der grenzüberschreitende Kontakt der germanophonen lothringischen und deutschen Katholiken. Eine national motivierte Abgrenzung der frankophonen Katholiken im Grenzraum von den alteingesessenen deutschen Grenzraumbewohnern ist jedoch nicht festzustellen. Belasteten die nationalen Unterschiede die grenzüberschreitenden Beziehungen zwischen den katholischen alteingesessenen Grenzraumbewohnern nicht merklich, war der nationale Konflikt im Zusammenleben der nach Lothringen eingewanderten und einheimischen Katholiken deutlich spürbar. Streitpunkt war hier beispielsweise die Aussprache der Messe. „altdeutsche“ Gläubige beschwerten sich über die ungewohnte Aussprache des Lateinischen durch die französischen Muttersprachler in der Messe.583 In einem anderen Fall weigerten sich eingewanderte Lehrer, während der Messe zu singen, da ihnen der Pfarrer verboten 582 ADM, 2 AL 161: Untersuchung des Grenzpolizeikommissars vom 21.1.1918. 583 Saarbrücker Zeitung, 29.9.1881. 203 habe, mit der deutschen Aussprache zu singen. In dem Artikel heisst es: „Der Pfarrer hat nicht zugegeben, daß wir u statt ü sangen.“ Als der Pfarrer wiederholt gebeten wurde, den Lehrern zu erlauben mit deutscher Aussprache zu singen, behauptete der Geistliche, dass dies der Bischof verboten habe und betonte auβerdem, dass es in Lothringen Brauch sei „ü“ zu singen. Als die Lehrer vorschlugen, einen Brief an den Bischof zu senden, um die Frage der Aussprache zu klären, habe der Pfarrer in einem sehr erregten Tone gesagt: „Ich will nicht kapitulieren und will auch nicht, daß mein Bischof kapituliert.“584 Nicht nur wegen der Aussprache kam es zwischen den eingewanderten und lothringischen Katholiken zu Auseinandersetzungen. Ebenso beschwerten sich „altdeutsche“ Katholiken über die „italienische“ Art, beispielsweise über die Sitte, Schüsse abzufeuern, mit der die Katholiken in Lothringen kirchliche Feste feiern würden.585 Auch bei Beerdigungen kam es zu Konflikten zwischen alt- und neudeutschen Katholiken. Mitglieder des Kriegervereins in Forbach waren zur Beerdigung eines Mitgliedes mit der Vereinsfahne angetreten. Der Priester erklärte daraufhin, dass er nur ein kirchliches Begräbnis vornehmen könne, wenn keine Fahne mitgeführt werden würde.586 Die beschriebenen Streitigkeiten zwischen den katholischen Gläubigen hatten einen eindeutig nationalen Hintergrund, wurden aber auf der Ebene interner Milieustreitigkeiten ausgetragen. Die Frage, was zum richtigen Verhalten und Ritus der katholischen Glaubensgemeinschaft gehörte, erhielt in den beschriebenen Fällen eine nationale Konnotation. 584 Saarbrücker Zeitung, 10.8.1893. 585 Saarbrücker Zeitung, 29.9.1881. 586 Saarbrücker Zeitung, 20.11.1885. Forbacher Zeitung, 19.11.1885. Ein weiteres Beispiel: Saarbrücker Zeitung, 24.7.1873. Das militärische Verhalten der Kriegervereine wurde von den Geistlichen nicht nur in Lothringen, sondern im gesamten Deutschen Reich kritisiert. Rohkrämer, Militarismus, 68f. 204 6.3. Zusammenfassung Wurde in den Kapiteln „Familie“, „Arbeit“ und „Freizeit“ die Bedeutung der katholischen Religion als konstitutives Element eines grenzüberschreitenden Identifikationsraumes herausgestellt, zeigte das Kapitel „Kirche“, dass im Grenzraum neben der Transnationalität auch eine Nationalisierung des Katholizismus deutlich präsent war. In der Volksfrömmigkeit und den religiösen Praktiken manifestierte sich die gelebte Transnationalität des katholischen Glaubens im Grenzraum. Die „einfachen“ Gläubigen im Grenzraum verband eine während der Wallfahrten, Gottesdienste und Firmungen erlebte, transnationale, religiöse Praxis. Nicht nur innerhalb der Frömmigkeitspraktiken wurden die gemeinsamen Wertekomplexe und die gemeinsame Lebenskultur erfahren, sondern auch in den katholischen Vereinen, deren Feste auch weite Bevölkerungsteile anzogen. Gefördert durch die Verbindungen der Geistlichen, bildete das grenzüberschreitende Erleben des Glaubens die Basis für ein transnationales katholisches Milieu.587 Der grenzüberschreitende Zusammenhalt des katholischen Milieus im Grenzraum wurde bestärkt, wenn deren Lebenswelt durch eine externe Gefahr bedroht wurde. Während des Kulturkampfes erfuhren sich die lothringischen Katholiken und die Katholiken der Saarregion als eine Glaubensgemeinschaft und als „Leidensgemeinschaft“, die in Opposition zum protestantisch dominierten Deutschen Reich stand. Paradoxerweise war der Konfessionskonflikt ein konstitutives Element der katholischen Milieubildung, obwohl die Auseinandersetzung zwischen Katholiken und Protestanten in Lothringen Formen eines nationalen Konfliktes zwischen deutschen Besatzern und Lothringern annahm. Die Konfliktlinie zwischen Katholiken und Laizisten wirkte ähnlich integrativ auf das grenzüberschreitende katholische Milieu wie der Kulturkampf. Die 587 lange Tradition des Konfliktes zwischen beiden, sich feindlich Zur zentralen Rolle der Kultformen und Frömmigkeitspraktiken für die katholische Milieubildung: Busch, Norbert: Frömmigkeit als Faktor des katholischen Milieus. Der Kult zum Herzen Jesu, in: Religion im Kaiserreich. Milieus – Mentalitäten – Krisen, (Hrsg.) Olaf Blaschke, Frank-Michael Kuhlemann, Güthersloh 1996, 136-164. 205 gegenüberstehenden Bevölkerungsgruppen bewirkte nach 1890, infolge der laizistischen Gesetzesinitiativen in Frankreich eine Stärkung des Zusammenhaltes der katholischen Glaubensgemeinschaft und einen merklichen Bedeutungsverlust der Nationalisierung des Katholizismus in Lothringen. Sowohl die Opposition zwischen Protestanten und Katholiken als auch die Konflikte zwischen Laizisten und Katholiken, trugen zur Festigung des grenzüberschreitenden katholischen Milieus bei. Dies erklärt auch, warum sich die ideologische Grenze zwischen Katholiken und Laizisten zwar in einer Spaltung der Arbeiterschaft in eine radikale und gemäβigte Arbeiterbewegung äuβerte, sich diese Polarisierung jedoch nicht negativ auf die grenzüberschreitenden Familienverflechtungen auswirkte.588 Die Diskussionen um die Marienwallfahrtsorte Lourdes und Marpingen, die anhaltenden Konflikte zwischen den eingewanderten und einheimischen Katholiken in Lothringen sowie die Ablehnung der katholischen Organisationen nach deutschem Vorbild durch die frankophonen Katholiken zeigen jedoch, dass die Nation innerhalb der katholischen Glaubensgemeinschaft des Saar-MoselRaumes dauerhaft als Element der Identifikation präsent blieb. Die beiden sich widersprechenden Deutungsarten des Katholizismus existierten im Grenzraum parallel zueinander. Da paradoxerweise die Opposition der Katholiken des Grenzraumes zum Deutschen Reich wie auch zur französischen Nation ein konstitutives Element der regionalen Transnationalität der Glaubensgemeinschaft darstellte, trat die nationale meist hinter die regionale Identifikation. Hatte während des Kulturkampfes die Opposition zu den protestantischen, deutschen Machthabern eine Intensivierung der transnationalen Verbindungen der Katholiken im Grenzraum zur Folge, bewirkten die laizistischen Gesetzesinitiativen in Frankreich eine Abwendung der lothringischen Katholiken von Frankreich und eine erneute Festigung des grenzüberschreitenden katholischen Milieus. 588 Nur so ist zu verstehen, warum der als unüberwindbarer Siehe Kapitel: 3.2.5. „Binationale Ehen: Land- und Industrieregion im Vergleich“. 206 „Deutschenhasser“ bekannte lothringische Geistliche Henri Collin in den 1890er Jahren auch für die saarpreußischen Katholiken Pilgerreisen organisierte.589 589 Zu Henri Collin siehe: Roth, Lorraine, 191f. Über die Organisation der Pilgerreise durch Collin: Saar-Zeitung, 9.1.1893. 207 7. Fazit und Ausblick 7.1. Das Eigene in der Fremde. Ausmaβ und Mechanismen der grenzüberschreitenden Identifikation Inwieweit beeinflusste die nationale Grenze die Definition des Eigenen und Fremden im Saar-Mosel- Raum? Die Antwort auf diese Frage fällt je nach eingenommem Blickwinkel unterschiedlich aus. Auf einer abstrakten, imaginären Ebene war die „Nation“ Teil des Identitätskonstruktes der Grenzraumbewohner. Im Alltag, also auf der gelebten Ebene, trennte die nationale Grenze die Menschen hingegen nicht. Vielmehr beschreibt ein dichtes Netzwerk transnationaler Verbindungen einen grenzüberschreitenden Identifikationsraum, in dem sich eine gelebte, transnationale Gemeinschaft konstituierte. Dieses transnational gelebte „Eigene“ stand in einem Konkurrenzverhältnis zur gedachten, nationalen Gemeinschaft.590 Mehrere Faktoren beeinflussten die Formierung des transnationalen „Eigenen“ beziehungsweise beeinflussten diese nicht. Gesetzliche Bestimmungen waren für die Ausbildung des grenzüberschreitenden Identifikationsraumes kein Hindernis. Ohne groβe Relevanz für die Ausprägung der Vernetzungen war auch die Grenzentfernung, solange die Distanz einen regelmäβigen Grenzübertritt der Bewohner nicht verhinderte. Andere Faktoren waren entscheidender für die Ausbildung und die Ausmaβe der grenzüberschreitenden Identifikation. Basis für den groβen Umfang des transnationalen „Eigenen“ im Saar-MoselRaum waren die sprachlichen und konfessionellen Gemeinsamkeiten der Bewohner. Wobei gemeinschaftsbildende erst die Wirkung Kombination ausmachte. Eine beider Faktoren sprachliche ohne deren eine konfessionelle Homogenität und umgekehrt hätte einen weitaus geringeren Grad 590 Begriffe in Anlehnung an die bahnbrechende Arbeit Benedict Andersons: Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, New York, London, 1991. 208 grenzüberschreitender Identifikation nach sich gezogen. Das bedeutendere der beiden Identifikationselemente war die Konfession. Trotz der aufgezeigten Auseinandersetzungen zwischen frankophonen und germanophonen Katholiken im Grenzraum waren diese durch gleiche beziehungsweise ähnliche religiöse und kulturelle Praktiken miteinander verbunden. Die Sprachgrenze war weitaus leichter zu überwinden als die konfessionelle Grenze, die nahezu unüberwindbar das „Eigene“ vom „Fremden“ trennte.591 Neben den religiösen Divergenzen beider Glaubensrichtungen und der Inkompatibilität der katholischen und protestantischen Deutungsmuster und Lebenswelten, erhöhte der Konflikt zwischen protestantischen Machthabern und katholischer Bevölkerung die Undurchlässigkeit der konfessionellen Grenze. Waren die gemeinsame Sprache und Konfession dauerhaft konstitutive Elemente eines grenzüberschreitenden Identifikationsraumes, konnte das Eintreten für gemeinsame politische Ideale nur vorübergehend zur Integration im Grenzraum beitragen. Hatte die bürgerlichen Schichten vor dem Deutsch-Französischen Krieg ein intensives Geflecht grenzüberschreitender Beziehungen verbunden, existierten diese auf die politische Traditionen des Revolution 1848 aufbauenden Verbindungen nach 1871 nicht mehr. Der Bruch zwischen Vor- und Nachkriegszeit fiel vor allem wegen der konfessionellen und sprachlichen Heterogenität des Bürgertums im Grenzraum so deutlich aus. Gehörten im Saarrevier die Mitglieder der gehobenen Schichten mehrheitlich der protestantischen Konfession an, waren die Lothringer entweder Laizisten oder Katholiken. Sprachliche Gemeinsamkeiten verbanden die bürgerlichen Schichten ebenfalls nur begrenzt. Muttersprache der Mehrheit der Bürger „Deutschlothringens“ war Französisch. Neben Konfession und Sprache bestimmte der Grad der industriellen Entwicklung beziehungsweise der Grad der infrastrukturellen Verflechtungen und des Arbeitskräfteaustausches Verflechtungen. 591 Die die Ausprägung Netzwerkforschung der bestätigt grenzüberschreitenden die Wichtigkeit der Wie stark der konfessionelle Gegensatz politische und kulturelle Bereiche durchschnitt, zeigen die Sammelbände: Blaschke; Kuhlemann, Religion sowie Blaschke, Konfessionen. 209 Brückenfunktion der schwachen Beziehungen für den Ausbau von sozialen Gebilden.592 Schwache Beziehungen Starke Beziehungen Abbildung 51: Die Stärke der schwachen Beziehungen593 Nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität, definiert durch die Dauer und den emotionalen Gehalt der Beziehungen, bedingte den höheren Grad der grenzüberschreitenden Identifikation im Kohlenrevier. Für die längere Dauer der transnationalen Kontakte waren insbesondere die Grenzpendlerbewegung und der vermehrte Zuzug der Arbeitskräfte auf die andere Seite der Grenze verantwortlich. Die grenzüberschreitende Solidaritätsgemeinschaft im Kohlenrevier schuf darüber hinaus eine positiv belegte, gemeinsame emotionale Basis. Im Gegensatz zum Kohlenrevier waren die grenzüberschreitenden Kontakte nach dem Beitritt Luxemburgs in den Deutschen Zollverein im Dreiländereck verstärkt konfliktbelastet, was zur Folge hatte, dass die transnationalen Vernetzungen abnahmen, obwohl die Quantität der grenzüberschreitenden Kontakte nach dem Beitritt Luxemburgs in den Deutschen Zollverein gleichzeitig anstieg. Demgegenüber war der positive Gehalt der grenzüberschreitenden Kontakte im 592 Siehe: Abbildung 43. 593 Darstellung nach: Granovetter, Strength, 1365. 210 Kohlenrevier für die geringen negativen Auswirkungen des Deutsch-Französischen Krieges auf die dortigen grenzüberschreitenden Verflechtungen verantwortlich. Neben dem positiven Differenzierungsprozess trug die negative Abgrenzung zum „Anderen“ zur Formierung des transnationalen „Eigenen“ bei. Die Abgrenzung folgte dem Verlauf dreier Konfliktlinien, entlang derer sich frankophone und germanophone Bevölkerungsteile, Protestanten und Katholiken sowie Laizisten und Katholiken gegenüber standen. Alle drei Konfliktfelder nahmen Züge einer Auseinandersetzung zwischen Grenzraumbewohnern und deutscher beziehungsweise französischer Nation an. So entbrannte wegen der Pläne der Regierung im Zweiten Kaiserreich, Französisch als alleinige Unterrichtssprache durchzusetzten, ein Konflikt zwischen den germanophonen Grenzraumbewohnern und der Zentralregierung. Auch die Auseinandersetzung zwischen den deutschsprachigen Arbeitern und den frankophonen Zechenbeamten - den „français d’interieur“ - zeichnet diese Opposition nach. Des Weiteren bewirkte der Konflikt zwischen Katholiken und Laizisten eine deutliche Abgrenzung der Bewohner des Saar-Mosel- Raumes zur französischen Nation. Auf der Ebene des Konfessionskonfliktes zwischen Protestanten und Katholiken entlud sich demgegenüber die Opposition der Grenzraumbewohner zum Deutschen Reich. Die Analyse zeigte, dass diese drei Konfliktfelder und die damit verbundene Opposition zum nationalen Gebilde ein konstitutives Element des transnationalen Eigenen darstellten. Sprache und Konfession, als die beiden bedeutendsten Elemente einer positiven Identifikation im Grenzraum, bargen gleichzeitig ein Element der Abgrenzung der Grenzraumbewohner zur französischen und deutschen Nation. „Wenn die französischen Katholiken in Wahrheit keine wirklich großen Patrioten wären […], könnten sie bereuen keine Preußen zu sein“.594 So lautet der Kommentar eines katholischen Journalisten auf die antiklerikalen Maβnahmen der Regierung. Drastischer fiel die Reaktion eines Buchdruckers auf das Ende des DeutschFranzösischen Krieges aus, indem er einen Friedensbaum absägte und einen Zettel 594 Gazette de Metz et de Lorraine, 3.10.1844: „En vérité si les catholiques de France d’étaient encore plus véritablement patriotes (…) ils pourraient regretter de ne pas être Prussiens !!“. 211 mit der Aufschrift: „Schöne Empfehlung. So wie es diesen Bäumen ergangen ist, so gehts auch diesen Jungen, die sie gesetzt haben. Die dem Satan dienen thun, werden zuerst ergriffen, namentlich die Blauen.“ Mit den „Blauen“ sind, wie der Artikel die Leser aufklärt, die Protestanten beziehungsweise die Preuβen gemeint.595 Der Abgrenzungsprozess zu beiden Nationen äuβerte sich jedoch meist unspektakulär in einer skeptischen bis kritischen Haltung gegenüber dem Staat, wie dies beispielsweise in Lothringen während des sardinisch-französischen Krieges gegen Österreich oder in Phasen verstärkter antiklerikaler Tendenzen beobachtet wurde. Die Herausbildung einer regionalen Identität vor dem Hintergrund einer Abgrenzung zur Nation ist kein spezielles Phänomen des Saar-Mosel- Raumes, sondern lässt sich in zahlreichen Regionen nachweisen, wie in der Bretagne oder – ebenfalls ein Grenzraum – dem Baskenland.596 Die Besonderheit des Saar-MoselRaumes besteht dabei im Paradoxon, dass die Opposition zum nationalen Gebilde ausgerechnet im deutsch-französischen Grenzraum ein konstitutives Element in der Formierung eines transnationalen „Eigenen“ darstellte. In einem Grenzraum also, 595 Saarbrücker Zeitung, 7.8.1871, 9.8.1871. Ähnliche Zwischenfälle: Ein Bewohner Gersweilers wurde verurteilt weil er während des Krieges französischen Soldaten ein leer stehendes Gebäude mit den Worten öffnete: „Da trinkt Branntwein und schießt tüchtig auf die Preußen, die Großmäuler.“ Er habe sie damit aufgefordert, auf die sich in Burbach aufhaltenden preußischen Soldaten zu schießen. Saarbrücker Zeitung, 4.10.1870; Ein Bewohner Zweibrückens wurde verurteilt, da er Hausfriedensbruch in einem Hotel verübt hatten, dessen Besitzer für „seine deutschen Gesinnung“ bei den Bewohnern „verhasst gewesen sei“. Darüber hinaus habe sich eine nicht unerhebliche Anzahl der Bewohner Zweibrückens darüber gefreut, als es den Franzosen gelang, in St. Ingbert einzumarschieren. Saarbrücker Zeitung, 19.9.1870. 596 Siehe beispielsweise: Lafourcade, Maïté (Hrsg.): La frontière franco-espagnole : lieu de conflits interétatiques et de collaboration interrégionale. Actes de la journée d’étude du 16 novembre 1996 / Centre d’Etudes Basques de l’Université de Pau et des Pays de l’Adour, Bordeaux 1998. Fournis, Yann: Les régionalismes en Bretagne. La région et l’Etat (19502000), Bruxelles, Bern, Berlin u. a. 2006. Zum Spannungsverhältnis zwischen regionalen und nationalen Identitäten siehe auch die Aufsatzsammlung: Haslinger, Peter (Hrsg.): Regionale und nationale Identitäten. Wechselwirkungen und Spannungsfelder im Zeitalter moderner Staatlichkeit, Würzburg 2000. Mit der Funktion regionaler Erinnerungskulturen in den Konflikten um den spanischen Nationalstaat beschäftigt sich die Dissertation Sören Brinkmanns. Anschaulich zeigt dieser die Diversität regionaler Erinnerungskulturen auf. Brinkmann, Sören: Der Stolz der Provinzen. Regionalbewuβtsein und Nationalstaatsbau im Spanien des 19. Jahrhunderts, Bern, Frankfurt a. M. 2005. 212 in dem zwei Nationen aufeinander treffen, deren gegenseitige Feindschaft als ein konstitutives Element im jeweiligen Nationsbildungsprozess betrachtet wird.597 7.2. Die Nation. Ein imaginäres Identitätskonstrukt im Grenzraum Die Ergebnisse dieser Arbeit widersprechen und belegen zugleich die Forschungsergebnisse der Nationalismusforschung. Auf der einen Seite wurde nachgewiesen, dass der deutsch-französische Herausbildung einer gelebten transnationalen Antagonismus Gemeinschaft nicht im die deutsch- französischen Grenzraum behinderte oder diese Gemeinschaft entzweite. Auf der anderen Seite zeigte sich, dass in der Selbstzuschreibung der Grenzraumbewohner, der Abgrenzung zur jeweiligen anderen Nation eine bedeutende Rolle zukam.598 Der Prozess, in dem die nationale Grenze im Saar-Mosel- Raum zur viel beschworenen „Grenze in den Köpfen“ wurde war langwierig. Vielen Grenzraumbewohnern war zunächst nicht bewusst, welche Nationalität sie besaβen. So meinten Teile der preuβischen Bevölkerung in den 1850er Jahren, dass sie von Geburt- und Rechts wegen Franzosen seien. Besonders die französischen „Maires“ schürten dieses Gerücht, indem sie preuβischen Bürgern, die auf französischem Boden lebten, die Naturalisierung mit der Begründung verweigerten, dass sie bereits Franzosen seien.599 Ein preuβischer Gastwirt, der in Lothringen lebte, zeigte sich sehr überrascht, als er wegen angeblicher demokratischer Gesinnung aus 597 Jeismann, Vaterland, 374ff. 598 Vgl.: Der alleinige Blick auf die (nationale) Grenze in den Köpfen führt zu der Schlussfolgerung, dass die regionale Identität im Grenzraum als ein „Mikrokosmos“ der groβen Nationen zu werten ist. Lüsebrink, Grenzziehung, 320. Ebenso ergibt die Untersuchung der Fremdzuschreibung und Eigenzuschreibung regionaler Traditionen, dass der Regionalismus in Elsass-Lothringen, im Sinne einer Zugehörigkeit zur deutschen Nation und zur französischen Nation gedeutet werden kann. Riederer, Günter: Zwischen ‚Kilbe’, Coiffe’ und Kaisergeburtstag. Die Schwierigkeiten nationaler und regionaler Identitätsstiftungen in Elsaβ-Lothringen (1870-1918), in: Die Nationalisierung von Grenzen. Zur Konstruktion nationaler Identität in sprachlich gemischten Grenzregionen, (Hrsg.) Michael G. Müller, Rolf Petri, Marburg 2002, 109-136, bes. 135. Siehe hierzu auch die Dissertation Riederers: Riederer, Feiern, 403ff. LHAK, Best. 403, Nr. 6584: Landratsamtverwalter von Merzig an den Präsidenten der Rheinprovinz, 18.12.1852. 599 213 Frankreich ausgewiesen wurde. Er war davon ausgegangen, dass er Franzose sei.600 Unklarheit über die nationale Zugehörigkeit der Rheinprovinz herrschte auch bei zahlreichen französischen Grenzraumbewohnern, die Anfang der 1850er Jahre davon überzeugt waren, dass die Landkreise zwischen französischer Grenze und Rhein nur für einen bestimmten, „jetzt verflossenen Zeitraum den deutschen Regierungen zur Nutznießung überlassen worden seien.“601 Andere Teile der Bevölkerung waren sich über ihr Untertanenverhältnis im Klaren, richteten ihr „Nationalgefühl“ jedoch eher nach rationalen, materiellen Gesichtspunkten aus. Als 1852 in der preuβischen Rheinprovinz über die Möglichkeit einer Einverleibung in den französischen Staat diskutiert wurde, berichteten die Informanten den Behörden, dass öffentlich über die Möglichkeit einer Angliederung an Frankreich diskutiert werde. Bei diesen Diskussionen würden sich auch einige „französisch Gesinnte“ zu Wort melden, welche „die guten alten Zeiten“ mit der französischen Herrschaftszeit in Verbindung brachten, da während dieser weniger Steuern hätten gezahlt werden müssen.602 Ebenfalls 1852 konstatierte der Oberpräsident der Rheinprovinz, dass die Stimmung der Bevölkerung nicht für Frankreich sei, da die damaligen Zustände wenig Anklang finden würden.603 Es waren hier eher materielle beziehungsweise pragmatische Argumente, welche die Grenzraumbewohner als Gründe für ihre „nationale Gesinnung“ anführten.604 Neben dem Nichtwissen um die nationale Zugehörigkeit und der eher pragmatischen Sicht einiger Bevölkerungsteile auf das „Nationalgefühl“, beweisen 600 601 602 LHAK, Best. 403, Nr. 6584: Landratsamtsverwalter von Merzig an den Oberpräsidenten, 10.1.1853. LHAK, Best. 403, Nr. 6584: Landrat von Saarbrücken an den königl. Oberpräsidenten der Rheinprovinz, 18.12.1852. LHAK, Best. 403, Sig. 6584: Landratsamtsverwalter von Merzig an den Präsidenten der Rheinprovinz, 10.12.1852. 603 LHAK, Best. 403, Nr. 17986: Wochenbericht der Polizeidirektionen (Trier), 18.12.1852. Ein ähnliches Beispiel: Saarbrücker Zeitung: 30.7.1880: Eine Bäuerin äuβerte sich zu der Annexion folgendermaβen: Sie meinte, dass man merken würde, „dass wir jetzt preußisch sind. Man sieht es am Steuerzettel.“ 604 Eine ähnlich rationale Sicht auf die Nation hatte Peter Sahlins in seiner Untersuchung über den Nationsbildungsprozess im französisch-spanischen Grenzraum festgestellt. Hier benutzten die Gemeinden die Hilfe der staatlichen Herrschaftsträger, um ihre lokalen Interessen durchzusetzen. Sahlins, Boundaries. 214 die Reaktionen anderer Bevölkerungsgruppen auf auβenpolitische Konfliktsituationen, dass der Faktor „Nation“ als Element der Selbstzuschreibung bereits in den 1850er Jahren im Grenzraum an Bedeutung gewonnnen hatte. Während der kriegerischen Auseinandersetzungen der 1850er Jahre ereigneten sich vereinzelt Streitigkeiten zwischen lothringischen und deutschen Grenzraumbewohnern, die zwar eher harmlose Sticheleien waren, die jedoch zeigen, dass bei auβenpolitischen Krisen die vorgestellte nationale Gemeinschaft mit der gelebten transnationalen Gemeinschaft in einen Widerspruch geriet, ohne aber die Intensität des transnationalen gelebten „Eigenen“ merklich negativ zu beeinflussen. Erst der Deutsch-Französische Krieg wirkte sich negativ auf den Umfang des transnationalen Identifikationsraumes aus und lieβ die nationale Grenze deutlicher als trennendes Element zwischen Deutsche und Lothringer treten. Indem der Grenzraum zum Kriegsschauplatz wurde, transformierte sich während der Dauer des Krieges die vorgestellte nationale Gemeinschaft zu einer real gelebten Gemeinschaft. Die These, dass der Einfluss des Krieges 1870/71 zur Herausbildung eines deutsch-französischen Antagonismus führte, ist dennoch zu differenzieren. Trotz der Abnahme des transnationalen Identifikationsraumes im ländlichen Raum, war dessen Ausmaβ im Saar-Mosel- Raum auch nach dem Krieg 1870/71 beachtlich. Die deutsch-französische Feindschaft hatte auch nach dem Krieg 1870/71 im Grenzraum einen „Attrappencharakter“ ohne Bezug zur Realität. Eben weil der Antagonismus zwischen den beiden Nationen unabhängig von der Realität war und weil die Feindschaft zur anderen Nation in einem imaginären, nicht gelebten Raum trotz gegenteiliger Eigenerfahrung existieren konnte, blieb die « Nation » ein dauerhaftes Identifikationselement der Grenzraumbewohner.605 Obwohl die pro- französische Bewegung Anfang des 20. Jahrhunderts bereits die Reaktionen der lothringischen Grenzraumbewohner auf den Ausbruch des Ersten Weltkrieges erahnen lieβ, zeigten sich die deutschen Besatzer sichtlich von der pro- 605 Vgl.: Greverus, Grenzen, 23. Im Gegensatz zu Greverus zeigt diese Arbeit, dass der „Attrappencharakter“ des nationalen Freund-Feindes- Bildes trotz gegenteiliger Eigenerfahrung existierte. 215 französischen Haltung der Bevölkerung nach Kriegsausbruch überrascht.606 Das dichte Netzwerk transnationaler Beziehungen und die fortschreitende Integration der Eingewanderten in die lokale Gesellschaft hatten die Besatzer über die Beständigkeit der vorgestellten nationalen Gemeinschaft hinweggetäuscht. Aber nicht nur die Nation als Element der Identifikation bewies seine Langlebigkeit, auch der transnationale Identifikationsraum ist während und nach dem Ersten Weltkrieg weiterhin nachweisbar. So fand 1915 in Stiring-Wendel eine Fronleichnamsprozession unter groβer Beteiligung der Bewohner der benachbarten preuβischen Ortschaften statt.607 Neben den weiterhin greifenden positiven Differenzierungsmechanismen, begründete die Kontinuität des latenten Konfliktes zwischen Grenzraum und Nation den weiteren Bestand des transnationalen Identifikationsraumes im Grenzraum. Wieder in den französischen Staat aufgenommen, organisierten sich die lothringischen Katholiken mit Erfolg, um das konfessionelle Schulsystem beizubehalten, das sie durch die laizistische Gesetzgebung in Frankreich bedroht sahen.608 Neben dem Konflikt zwischen Laizisten und Katholiken entbrannte direkt im Anschluss an den Ersten Weltkrieg im lothringischen Kohlenrevier erneut die Auseinandersetzung zwischen den französischsprachigen Vorgesetzten – den „français d’interieur“ - und den deutschsprachigen lothringischen und saarpreuβischen Bergarbeitern. Ende 1918 bis September 1919 kam es hier zu mehreren Streiks, in denen die lothringischen und deutschen vorgenommenen Bergarbeiter Austausch gemeinsam der gegen deutschsprachigen den nach Kriegsende Führungskräfte durch französischsprachige protestierten.609 606 Roth, Lorraine, 597. 607 Forbacher Bürger-Zeitung, 8.6.1915. 608 Roth, Lorraine, 671. 609 Schill, Pierre: Le mouvement ouvrier dans les mines de charbon de moselle au lendemain de la Grande guerre (1918-1919), in: Cahiers Lorrains, 2 (1999) 203-232. 216 7.3. Die inszenierte Grenze. Der saarländisch-lothringische Grenzraum heute Was ist von dem grenzüberschreitenden Identifikationsraum des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts übrig geblieben, beziehungsweise wie hat sich dieser bis in die Gegenwart entwickelt? Sprache und Religion sind nur noch bedingt Elemente einer grenzüberschreitenden Identifikation. Resultat der französischen Sprachpolitik der letzten Jahrzehnte ist, dass immer weniger Lothringer den germanophonen Dialekt sprechen. In den Schulen kann die Sprache des Nachbarn lediglich als Fremdsprache erlernt werden, sodass die Muttersprache der jüngeren Generation der Grenzraumbewohner nun die jeweilige Nationalsprache ist.610 Auch die katholische Konfession hat mit dem allgemeinen Bedeutungsverlust der religiösen Praktiken im Alltag der Grenzraumbewohner ihre integrative Wirkung eingebüßt. Mit der Schließung der letzten Zeche „La Houve“ bei Creutzwald und dem Ende der französischen Kohleförderung fehlt in der Gegenwart ein weiteres konstitutives Element des grenzüberschreitenden Identifikationsraumes der hier untersuchten Epoche.611 Die aktuellen grenzüberschreitenden Verflechtungen deuten das Fehlen neuer Elemente der Identifikation an, indem diese weniger die affektive Verbundheit zum Nachbarn, sondern vor allem die Strukturgefälle im Grenzraum widerspiegeln.612 610 So titelt ein Artikel der Saarbrücker Zeitung » „manchmal mit Händen und Füβen“: Schüler aus Groβrosseln machen mit Freunden aus Petite-Rosselle „grenzenlosen“ Unterricht «, Saarbrücker Zeitung, 5.5.1998. Um die Möglichkeiten grenzüberschreitender Kommunikation zu verbessern, wird immer stärker die Förderung des germanophonen Dialektes propagiert und der bilinguale Unterricht gefördert. Beispielsweise koordiniert der Generalrat des Departements Moselle den Austausch von Erzieherinnen zwischen den französischen écoles maternelle und den deutschen Kindergärten und unterstützt die Gründung zweisprachiger Schulen. Kulturveranstaltungen, wie das Festival „Mir redde Platt“, das seit 1998 jährlich in Sarreguemines stattfindet, versuchen den deutschen Sprachgebrauch lebendig zu halten. 611 Museen auf beiden Seiten der Grenze versuchen diesen Teil der gemeinsamen Erinnerung für die folgende Generationen greifbar zu machen. Das Bergbaumuseum, La mine. Musée du Bassin Houllier Loraine in Petite-Roselle und die Völklinger Hütte sind in diesem Bereich die Vorzeigeprojekte der Grenzregion. 612 Wille, Christian: Des travailleurs sans frontières: L’exemple de la grande région SaarLorLux, in: Documents : revue du dialogue franco-allemand, 21 (2006), 20-24. Wille, Christian; Kuntz, Lothar: Im eigenen Land wohnen, beim Nachbarn arbeiten? Komplexität und Vielschichtigkeit des Grenzgängerwesens in der Groβregion am Beispiel deutscher 217 Mit der allgegenwärtigen Inszenierung und Thematisierung der Grenze beziehungsweise der Grenzsituation, nicht im Sinne einer Inszenierung als Nationalsymbol, sondern im Sinne einer Aufwertung als Zeichen für die Diversität und Andersartigkeit der Grenzregion,613 wird in der Gegenwart paradoxerweise vor allem die „Grenze ansich“ zum Element einer grenzüberschreitenden Identifikation hochstilisiert. Möchte man daher gegenwärtig von einer Grenzraumidentität sprechen, basiert diese weniger auf religiösen, sprachlichen Gemeinsamkeiten oder einer Abgrenzung zum Nationalstaat, sondern auf dem Wissen um die Eigenart, „auf der Grenze zu Hause“ zu sein.614 Grenzgänger und von Grenzgängern mit Wohnsitz in Deutschland, in: Dimensions socioéconomiques de la mobilité transfrontalière : actes du séminaire transfrontalier EURES-OIE; organisé les 14 - 15 mars 2005 à Luxembourg-Kirchberg (Hrsg.) European Employment Services, Luxemburg 2006, 47-55. Mit dem geringen Integrationsgrad der nach Lothringen gezogenen Saarländer beschäftigt sich: Ramm, Saarländer, 110ff. 613 614 Zur Inszenierung der Grenze als Nationalsymbol siehe: Talkenberg-Bodenstein, Grenze, 466ff. Beispiele einer Inszenierung der Grenze als Ort der grenzüberschreitenden Identifikation. Das interregionale Kunstprojekt „hArt an der grenze – Art sur la frontière“. ″Institutionalisierte Grenzüberschreitungen″ finden während des „Warndt-Weekends“, das seit dem Jahr 2000 alljährlich von beiden Seiten der Grenze organisiert wird, und während der Radtour „Vélo SaarMoselle“ (ebenfalls seit 200O) statt. Die mehrtägige grenzüberschreitende Radtour „VéloVaration“ mit Musik und Kulturpräsentation an ausgewählten Orten wird seit 2007 veranstaltet. Ebenfalls symbolischen Charakter haben die in Luxemburg, Lothringen und dem Saarland stattfindenden Redaktionssitzungen der angehenden Journalisten des Saar-LorLux Zeitungsprojektes „Extra“. In Anlehnung an den Titel „Nur auf der Grenze bin ich zu Hause“ einer Aufsatzsammlung des saarländischen Schriftstellers, Dramatikers und Liedermachers, Alfred Gulden. 218 219 220 8. Quellen und Literaturverzeichnis 8.1. Ungedruckte Quellen Archives départementales de la Moselle Bestand M: Administration générale du département de la Moselle 58 M 1-3 61 M 1/2 62 M 100 M 1-2 101 M 2 102 M 103 M 104 M 106 M 1 106 M 2 106 M 3 109 M 179 M 182 M 183 M 185 M 1-2 186 M 187 M 227 M 262 ff M 262 M 2 264 M 2 266 M 271 M 279 M 1 Bestand N: Administration et comptabilité départementale 1 N 48 ff 8 N 9-11 Bestand O: Administration et comptabilité communales 2 Op 1ff Bestand P: Finances/Douanes 6P1 6P2 6P8 Bestand 13 Z: Direction du cercle de Forbach 13 Z 1 13 Z 13 13 Z 14 13 Z 15 13 Z 37ff 13 Z 45 13 Z 57 13 Z 58 13 Z 61 13 Z 62 13 Z 63 13 Z 69 13 Z 122 13 Z 127 13 Z 120 13 Z 139-142 221 Bestand J: Fonds de l'évêché de Metz 29 J 189 29 J 357 29 J 412 29 J 414 29 J 415 29 J 444 29 J 506 29 J 507 29 J 523 29 J 627 29 J 635 29 J 662-666 29 J 743 Bestand AL: Fonds de la Présidence de Lorraine 2 AL 89 2 AL 102 2 AL 159-162 2 AL 168 3 AL 1 (1-4) 3 AL 2 (5-7) 3 AL 263 3 AL 275 3 AL 313 3 AL 410-414 3 AL 417 3 AL 420 3 AL 428 3 AL 434-435 3 AL 436 3 AL 440-442 3 AL 460 3 AL 463 3 AL 465 3 AL 468 3 AL 473-476 3 AL 480 3 AL 500 7 AL 1 7 AL 11-17 7 AL 72 7 AL 269 7 AL 270 7 AL 273 7 AL 275 Bestand V: Cultes 1 V 27 1 V 30 1 V 38 1 V 145 222 7 AL 289 7 AL 322 8 AL 13 8 AL 76-78 8 AL 83-85 8 AL 197 8 AL 227 8 AL 336-138 8 AL 350-353 10 AL 74 11 AL 1-3 12 AL 258 12 AL 278 21 AL 112 21 AL 114 Archives départementales du Bas-Rhin Im ADBR sind die Aktenbestände lediglich über Abgabelisten erschlossen: Es wurden die Aktenbestände des Büros des Statthalters und der Bezirksregierung Unterelsass ausgewertet. 5 AL 7.1 14 AL 107 29 AL 10 27 AL 226 27 AL 577 71 AL 8 71 AL 9 87 AL 400 86 AL 5612 247 D 69 Archives des Houillères du Bassin de Lorraine Bestand: Vers. 440 Registre du personnel Bistumsarchiv Trier Abt. 91: Nachlass Korum BAT, Abt. 91, Nr. 249a Abt. 70: Pfarrakten BAT, Abt. 70, Nr. 710 Landesarchiv Saarbrücken Bestand: Landratsamt 1 2 4 6 170 338 339 343 804 1792 1797 1802 1807 1831-1838 1842 223 Landeshauptarchiv Koblenz Bestand 403: Oberpräsidium der Rheinprovinz 145 178 2083 2177 2202 6575 6584 6780 6781 7006-7011 7014 8774 15722 15723 224 16005 16006 16220 16689 18110 18111 Bestand 442: Regierungsbezirk Trier 6 7 1175 1423-1425 1492 1493 3380 3422 3440 3760 3776 3783 3792 3809 3810 4138 4157 4169 4221 4244 4249 4250 4254 4256 4276 4304 4307 4371 4380 4386 4390 4402 4408 4420 4435 4445 6204 6383 6386-6389 6425-6427 6439 6442 6557 10212 17964 225 8.2. 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Jhd…. 40 Abbildung 5: Untersuchte Orte: Heiratsverhalten……………………… 61 Abbildung 6: Anzahl der binationalen Eheschlieβungen im ländlichen Raum................................................................... 64 Abbildung 7: Anzahl der binationalen Eheschlieβungen in der Industrieregion…………………………………………. 64 Abbildung 8: Entfernung der untersuchten Orte zur preuβisch- französischen Grenze und der Anteil binationaler Ehen…………………........................... 67 Abbildung 9: Entfernung der untersuchten Orte zur luxemburgischen Grenze und der Anteil binationaler Ehen…………………. 68 Abbildung 10: Binationale Ehen in Creutzwald………………………… 69 Abbildung 11: Binationale Ehen in Lauterbach…………………………… 69 Abbildung 12: Binationale Ehen in Ludweiler……………………………. 69 Abbildung 13: Binationale Ehen in L'Hôpital/Carling……………………. 70 Abbildung 14: Binationale Ehen in Groβrosseln………………………… 70 Abbildung 15: Binationale Ehen in Merten-Bibling………………………. 70 Abbildung 16: Binationale Ehen in Morsbach…………………………….. 71 Abbildung 17: Binationale Ehen in Schoeneck…………………………… 71 Abbildung 18: Binationale Ehen in Stiring-Wendel………………………. 71 Abbildung 19: Religionszugehörigkeit der binationalen Paare: Montenach…….................................................................... 73 Abbildung 20: Binationale Ehen in der Industrieregion. 1830 und 1850-1890…......................................................... 76 260 Abbildung 21: Binationale Ehen im ländlichen Raum. 1830 und 1850-1890…......................................................... 76 Abbildung 22: Herkunft der Ehepartner. Über vier Stunden Fuβweg zwischen Geburts- und Wohnort / Land………………… 78 Abbildung 23: Herkunft der Ehepartner. Über vier Stunden Fuβweg zwischen Geburts- und Wohnort / Industrie………………. 78 Abbildung 24: Binationale Ehen in Borg………………………………… 79 Abbildung 25: Binationale Ehen in Eft……………………………………. 80 Abbildung 26: Binationale Ehen in Grindorff……………………………. 80 Abbildung 27: Binationale Ehen in Kirsch-lès-Sierck……………………. 80 Abbildung 28: Binationale Ehen in Montenach…………………………… 81 Abbildung 29: Binationale Ehen in Perl………………………………… 81 Abbildung 30: Binationale Ehen in Oberdorff…………………………….. 81 Abbildung 31: Binationale Ehen in Tettingen…………………………… 82 Abbildung 32: Nationalitätenverteilung der binationalen Ehen. Tettingen (1810-1829)…………………………………….. 83 Abbildung 33: Nationalitätenverteilung der binationalen Ehen. Tettingen (1830-1849)……………………………………. 83 Abbildung 34: Nationalitätenverteilung der binationalen Ehen. Tettingen (1850-1869)…………………………………… 83 Abbildung 35: Binationale Ehen in der Industrieregion 1870-1890……… 85 Abbildung 36: Binationale Ehen im ländlichen Raum 1870-1890………... 85 Abbildung 37: Herkunft eines Ehepartners aus einer Entfernung über 100 km vom Wohnort…………………………………… 89 Abbildung 38: Beruflicher Hintergrund der Ehemänner. Ländlicher Raum (1850-1869)…………………………… 93 Abbildung 39: Beruflicher Hintergrund der Ehemänner. Ländlicher Raum (1870-1890)……………………………. 93 Abbildung 40: Beruflicher Hintergrund der Ehemänner. Industrieregion (1850-1869)……………………………… 93 Abbildung 41: Beruflicher Hintergrund der Ehemänner. Industrieregion (1870-1890)………………………………. 93 Abbildung 42: Das saarländisch-lothringische Steinkohlenrevier………… 108 Abbildung 43: Reichstagswahlergebnisse 1893 (nach Wahlkreisen)…… 127 261 Abbildung 44: Reichstagswahlergebnisse 1898 (nach Wahlkreisen)…….. 127 Abbildung 45: Reichstagswahlergebnisse 1903 (nach Wahlkreisen)…….. 128 Abbildung 46: Reichstagswahlergebnisse 1907 (nach Wahlkreisen)…….. 128 Abbildung 47: Reichstagswahlergebnisse 1912 (nach Wahlkreisen)…… 129 Abbildung 48: Untersuchte lothringische Orte: Vereinswesen…………… 144 Abbildung 49: Mitgliederzusammensetzung Kriegervereine…………… 148 Abbildung 50: Grenzüberschreitende Pfarrbezirke………………………. 179 Abbildung 51: Die Stärke der schwachen Beziehungen………………… 210 262 10. Abkürzungsverzeichnis ADBR Archives départementales du Bas-Rhin ADM Archives départementales de la Moselle AHBL Archives des Houillères du Bassin de Lorraine LAS Landesarchiv Saarbrücken LHAK Landeshauptarchiv Koblenz 263