Raum, Zeit, Materie, Kräfte Auf der Suche nAch den Grundelementen der nAtur W oraus bestehen Menschen, Planeten oder ganze Gala­ xien? Ihre Bausteine sind Atome, die wiederum aus Atomkernen und Elektro­ nen bestehen. Die Atomkerne schließlich setzen sich aus weiteren, noch kleineren Teilchen zusammen. Doch wie können wir uns solche Partikel vorstellen? Und warum finden sie überhaupt zueinander, welche Kräfte wirken zwischen ihnen? Wer solche Fragen untersucht, will nicht nur die Geheimnisse der Materie ent­ rätseln, sondern auch verstehen, wie das Universum zu dem wurde, was es heute ist (Bild 1). Teilchenphysiker dringen nicht nur immer tiefer in die Materie vor. Sie sind auch auf der Suche nach völlig neuen Par­ tikeln, die die Entwicklung des Kosmos be­ einflussen. Das wichtigste Werkzeug der Forschung auf diesem Gebiet sind Teilchen­ beschleuniger. In diesen Anlagen, die viele Kilometer lang sein können, prallen Teil­ chen mit hohen Energien aufeinander. Die Bruchstücke der Kollisionen enthüllen, wie die Materie aufgebaut ist – gelegentlich ent­ stehen sogar bisher unbekannte Teilchen. Solche Beschleuniger sind in gewisser Weise auch Zeitmaschinen: Indem sie Teil­ chen auf extrem hohe Energien beschleu­ nigen, werden diese Bedingungen ausge­ setzt, wie sie kurz nach dem Urknall vor 13,7 Milliarden Jahren herrschten. So hel­ fen uns die neuesten Beschleuniger, auch jene ferne kosmische Epoche zu erforschen. Mit Hilfe solcher Instrumente wurde ent­ deckt, dass die Bauteile von Atomkernen – Neutronen und Protonen – aus noch klei­ neren Quarks bestehen. Quarks werden durch Teilchen zusammengehalten, die Kräfte übertragen, den so genannten Gluo­ nen – von glue, englisch: Klebstoff. Das Resultat all dieser Funde ist kein ungeordnetes Sammelsurium von Teilchen und Kräften. Vielmehr ist es Forschern ge­ lungen, sie systematisch in einem Schema zusammenzufassen: dem so genannten Standardmodell der Teilchenphysik. So stim­ men bislang alle experimentellen Ergebnis­ se mit den theoretischen Vorhersagen über­ ein, die sich aus dem Modell ergeben. Damit ist die Forschung keineswegs am Ende. Zum einen konnten wir eine der wichtigsten Vorhersagen des Modells bis­ lang nicht überprüfen: Masse – also das, was einen Gegenstand zu einem mehr oder weniger schweren Körper macht – ist dem­ zufolge keine grundlegende Eigenschaft der Elementarteilchen. Stattdessen wird sie ih­ nen durch ein bislang unentdecktes zusätz­ liches Partikel erst »vermittelt«. Zu den Hauptzielen des weltgrößten Beschleuni­ gers, des Large Hadron Collider (LHC) bei Genf, gehört es, nach diesem so genannten Higgs­Teilchen zu fahnden1. Doch manches kann auch das so erfolg­ reiche Standardmodell nicht erklären. Wa­ rum etwa ist die Kraft eines kleinen Magne­ ten stärker als die Schwerkraft der gesamten Erde? Schließlich hebt ein Magnet eine me­ tallische Nadel an, obwohl diese zugleich von der Schwerkraft nach unten gezogen wird. Tatsächlich sind die Grundkräfte der Natur offenbar verschieden stark (Bild 2). Ein weiteres Rätsel ist die Dunkle Ma­ terie: Nach allem, was wir wissen, muss der Masseninhalt des Universums zu fast ei­ nem Viertel aus dieser bislang unbekann­ ten Substanz bestehen. Weil Dunkle Mate­ rie unsichtbar ist, können wir aber nicht einfach mit Teleskopen nach ihr Ausschau halten. Erst spezielle Experimente ermög­ lichen es, nach den neuen Teilchen zu fahnden2. Auch Astronomen könnten Spu­ ren davon mit ihren Detektoren entde­ cken. Denn wenn Dunkle­Materie­Teilchen in der Milchstraße ausgelöscht werden, entsteht energiereiche Gammastrahlung. D ie emission von Partikeln in extradimensionen sowie die Produktion mikroskopisch kleiner schwarzer löcher und schwingender saiten sind spannende ideen, die theoretisch am MaxPlanck-institut für Physik untersucht werden. eine neue Welle von 68 Forschungsperspektiven der Max-Planck-Gesellschaft | 2010+ Ungeklärt ist bislang auch die »Gene­ rationenfrage«. Im Standardmodell gelten Myonen und Tauonen als enge Verwandte des Elektrons: Sie sind praktisch identisch mit diesem, besitzen aber ungleich mehr Masse. Diese Teilchenklasse der Leptonen kommt wie andere auch in drei verschie­ denen Generationen vor. Warum ausge­ rechnet drei? Viele dieser Fragen könnte die Theorie der Supersymmetrie beantwor­ ten3. Trifft sie zu – was unter anderem der LHC klären könnte –, wäre der »Teilchen­ zoo« mit einem Mal doppelt so groß wie bislang vermutet. Denn zu jedem bekann­ ten Teilchen würde zusätzlich ein super­ symmetrisches Gegenstück existieren. Rätselhafte antiteilchen Eng mit der Supersymmetrie hängt wiede­ rum die so genannte String­Theorie4 zusam­ men. Sie könnte sich als besonders aus­ sichtsreicher Ansatz für die Erweiterung des Standardmodells erweisen. Ihre Grundan­ nahme ist simpel: Wir können uns alle ele­ mentaren Teilchen als winzige schwin­ gende Saiten vorstellen. Dies würde unter anderem helfen, die Generationenfrage zu beantworten und die Symmetrieeigenschaf­ ten von Teilchen zu erklären. Die String­Theorie hätte merkwürdige Konsequenzen: Neben den drei Dimensio­ nen des Raums gäbe es zusätzliche Dimen­ sionen, die wir im Alltag allerdings nicht bemerken, oder auch mikroskopisch kleine Schwarze Löcher. Gelänge es dem LHC, die­ se Voraussagen experimentell zu bestätigen, wäre das ein Durchbruch in unserem Ver­ ständnis der Welt. Das Universum besteht hauptsächlich aus Materie, doch seit rund 80 Jahren ist bekannt, dass es zu jedem Teilchen ein An­ titeilchen gibt. Es besitzt dieselbe Masse, weist sonst aber exakt entgegengesetzte Ei­ teilchenphysik-experimenten in der neutrino-Physik, zur suche nach Dunkler Materie, zur Produktion schwerer Quarks und bei höchsten energien wird zu tests solcher neuen theorien von Materie, Raum und Zeit führen (Dvali, G. & Redi, M., Phys. Rev. D 80, 055001, 2009). CHEMIE, PHYSIK UND TECHNIK Mit experimenten wollen teilchenphysiker klären, was Dunkle Materie ist und warum es kaum antimaterie gibt. Mikroskopische schwarze löcher, zusätzliche Dimensionen oder andere neuentdeckungen könnten unsere sicht der Welt erweitern. teilchenbeschleuniger der nächsten Generation werden höhere energien erreichen und könnten kleiner und billiger sein als heutige anlagen. Bild 1 | Die Entwicklung des Universums seit dem Urknall genschaften auf. Manche dieser Teilchen können wir sogar künstlich herstellen und in Beschleunigern untersuchen. Doch wo steckt all die Antimaterie, die beim Urknall nach den gängigen Theorien in gleicher Menge wie normale Materie entstanden sein sollte? Des Rätsels Lösung könnte in den Neutrinos liegen5. Diese Elementar­ teilchen werden unter anderem in der Son­ ne erzeugt und durchdringen unseren Kör­ per in jeder Sekunde billionenfach. Sie spielen auch eine Rolle bei der Entwicklung des Universums. Forscher vermuten, dass das Fehlen der Antimaterie eng mit der Fra­ ge zusammenhängt, ob das Neutrino sein eigenes Antiteilchen ist. Dies wiederum untersuchen Forscher derzeit in einem un­ terirdischen Labor im italienischen Gran­ Sasso­Gebirge anhand sehr seltener radio­ aktiver Zerfallsprozesse6. Um die Entwicklung des Universums seit dem Urknall zu verstehen, müssen Teilchenphysiker, Kernphysiker, Kosmologen und Astrophysiker zusammenarbeiten. p e z q g Urknall ? ? γ p e q p ? ? e w g e q g e p Superstrings? vereinheitlichte Kräfte inflationäre Expansion 10-43 s 10-35 s Zeit Atome Trennung der Kräfte Sterne Nukleonen 10-10 s Energie 1017 TeV 1013 TeV heute 1 TeV 300 s 300 000 a 0,3 MeV 109 a 1 eV 15 x 109 a 5 meV 0,5 meV neUe GROssPROJeKte ➟ Bibliographie siehe Seiten 70 und 71 Bild 2 | Die relative Stärke der Grundkräfte – elektroschwache Kraft, starke Kraft und Gravitation – hängt von der Energie ab. Physiker vermuten, dass es bei den hohen Energien, wie sie unmittelbar nach dem Urknall herrschten, nur eine vereinheitlichte Grundkraft gab. Mit der Ausdehnung des Universums spaltete sich die ursprüngliche Grundkraft letztendlich in die vier Kräfte auf, die wir heute beobachten. 0,12 αg (Schwerkraft) α1 (elektroschwach) α2 (elektroschwach) α3 (stark) 0,10 Kopplungsstärke Weitere Großprojekte sind in Planung: Im International Linear Collider (ILC) sollen eines Tages nicht Protonen wie im LHC, sondern Elektronen aufeinanderprallen. Da diese punktförmigen Elementarteilchen keine innere Struktur besitzen, lassen sich ihre Kollisionsprodukte einfacher analy­ sieren. Auch Myonen wollen die Forscher künftig auf hohe Energien beschleunigen. Diese schweren Verwandten des Elektrons zerfallen aber bereits nach millionstel Se­ kunden. Sie in einem Ringbeschleuniger zu untersuchen, gilt daher als große Heraus­ forderung. Die finanziellen Mittel und die bisher verfügbaren Technologien setzen der Grö­ ße von Teilchenbeschleunigern allerdings Grenzen. Mit Hilfe von Plasmen – eine Art heißes Gas, wie es auch in der Sonne exis­ tiert – könnten sich noch stärkere elek­ trische Felder als bisher erzeugen lassen7. Darauf aufbauende so genannte Plasma­ Wakefield­Beschleuniger, deren Größe und Kosten im Vergleich zu bisherigen Appara­ turen wesentlich reduziert wären, wollen Forscher in den nächsten Jahren auf den Weg bringen. 0,08 0,06 0,04 0,02 0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 log(Q [GeV]) 2010+ | Forschungsperspektiven der Max-Planck-Gesellschaft 69