Media briefing remarks Martin Senn | Annual

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Sperrfrist 7. März 2013, 19.00 Uhr
Es gilt das gesprochene Wort.
Zürcher Volkswirtschaftliche Gesellschaft, Zürich
Finanzplatz Schweiz – von der Krise zu neuer Stärke
Referat von Dr. Josef Ackermann
Präsident des Verwaltungsrats, Zurich Insurance Group
7. März 2013
Guten Abend meine Damen und Herren,
es ist mir eine Ehre, heute in dieser Stadt, in der jeder sechste Erwerbstätige im Finanzsektor arbeitet,
über das Thema Finanzplatz zu sprechen. Und es freut mich, den ersten branchenpolitischen
Auftritt seit meiner Rückkehr nach Zürich gerade hier bei Ihnen machen zu dürfen. Ich danke Ihnen
herzlich für die Einladung.
Wer sich zum Finanzplatz Schweiz äussert, spricht über ein befrachtetes Thema: umstritten im
Innern und unter Beschuss von aussen. Für Kritiker offenbar ein dankbares Thema. Und für
Befürworter oft schwer zu vertreten. Erst recht nach einer Krise.
Dabei müssen wir uns nicht verstecken. In einer Gesamtschau steht der Finanzplatz Schweiz
hervorragend da. Aber wir sind nicht hier, um uns selbst zu loben. Der Finanzplatz stand schon
immer vor Herausforderungen. Das wird auch in Zukunft so sein. Nur wenn wir uns über die
Erfolgsfaktoren im Klaren sind, werden wir auch den Weg in eine gute Zukunft finden.
Aus der Bedeutung des Finanzplatzes für unser Land ergibt sich eine spezielle Verantwortung, der
sich Marktteilnehmer, Behörden und Politik stellen müssen. Dabei geht es in erster Linie darum, für
eine stabile Fortentwicklung zu sorgen. Dies kann nur gelingen, wenn alle Anspruchsgruppen
gemeinsam für den Finanzplatz eintreten. Ich sage dies als Heimkehrer. Ausserhalb der Grenzen
werden im Innern kultivierte Unterschiede nicht mehr wahrgenommen. Und das ist Grund genug,
uns allen Anfechtungen zum Trotz nicht auseinanderdividieren zu lassen.
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Eine integrale Sicht
Damit komme ich zum Plädoyer für eine umfassende Perspektive und zu den Faktoren, die den
Erfolg unseres Finanzplatzes ausmachen.
Genauso wie der Bankensektor nicht nur aus zwei Grossbanken besteht, gehören zum Finanzplatz
neben den Banken auch Börsen, Clearing-Institute, Hedge Fonds, Vermögensverwalter und
Versicherungsunternehmen – um nur einige Hauptakteure zu nennen. Und von der Öffentlichkeit
weithin übersehen, haben sich die Schwergewichte zwischen den einzelnen Sektoren erheblich
verschoben. In den letzten 20 Jahren wuchs nämlich der Wertschöpfungsbeitrag der Versicherer um
mehr als 100%, während der Beitrag der Banken nur um 60% zunahm.
Damit machten die Versicherer zuletzt über 42% der gesamten Wertschöpfung des Finanzsektors
aus. Und ihr Zuwachs war stark genug, um den seit 2008 beobachteten krisenbedingten Rückgang
der Banken mehr als auszugleichen. Die Versicherer haben damit den Finanzplatz insgesamt
während der jüngsten Krise stabilisiert.
Die umfassende Betrachtung darf jedoch nicht bei den Finanzinstituten enden. Zum Finanzplatz
gehören auch zugewandte Dienstleistungen wie Rechtsanwälte, Unternehmensberater,
Wirtschaftsprüfer und IT-Anbieter, um auch hier nur die wichtigsten Akteure zu nennen. Alles in
allem kommt so die direkte und indirekte Wertschöpfung des Finanzplatzes Schweiz auf rund 120
Milliarden Franken zu stehen. Das ist ein Fünftel der gesamten Wertschöpfung der Schweizer
Wirtschaft.
Aber die integrale Betrachtung darf selbst an diesem Punkt nicht haltmachen. Man bezeichnet den
Finanzsektor oft als Blutkreislauf der Wirtschaft. So gesehen wäre der Werkplatz Schweiz ohne den
Finanzplatz blutleer. Haushalte und Unternehmen stünden ohne Versicherungsschutz da. Und es
gäbe weder Kredit noch Zahlungsverkehr. Das eine geht nicht ohne das andere. Beide zusammen –
Finanz- und Werkplatz – machen die Schweiz erst zur prosperierenden Volkswirtschaft. Der oft
beschworene Gegensatz ist ein Trugbild.
Schliesslich gilt es, über die Landesgrenzen hinauszublicken. Die Schweiz ist zwar klein, aber
weltoffen. Sie verdient jeden zweiten Franken im Export. Der Zugang zu den Weltmärkten ist für
viele Schweizer Unternehmen, seien es KMUs oder grosse Konzerne, von existenzieller
Notwendigkeit – auch für zahlreiche Finanzinstitute.
Was wir vielleicht noch zu wenig berücksichtigen, ist die Häufung von Versicherungs-Unternehmen
in den benachbarten Räumen Zürich und München. Die zwei weltweit grössten
Rückversicherungen und zwei der global grössten Erstversicherungsunternehmen sind hier zu Hause.
Allein in Zürich ballt sich ein Versicherungs-Know-how mit einer Konzentration von zugewandten
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Dienstleistungen, die weltweit einmalig sein dürfte. Die Ballung schafft Synergien, von denen jedes
einzelne Unternehmen profitiert. Daraus ergeben sich aber auch Folgerungen, etwa für die
Rekrutierung von Fachkräften. Trotz Migrations-Ängsten gilt es, den Zugang zu diesem regionalen
Talent-Pool offenzuhalten.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einen Punkt speziell aufgreifen: Unser Bankenplatz ist
gross. Er fällt auch international überdurchschnittlich ins Gewicht. Ist er zu gross? In einem
Arbeitspapier der volkswirtschaftlichen Abteilung der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich
war kürzlich zu lesen, zusammen mit Kanada, Irland und den USA habe die Schweiz einen
Bankensektor, der volkswirtschaftlich nicht mehr optimal sei und das Wachstum belaste.
Solche Rechnungen werden jedoch zuweilen ohne Verständnis für grössere Zusammenhänge
gemacht. So verkennt die Studie, dass der Bankkredit bei uns eine sehr viel grössere Rolle spielt als in
anderen Ländern. Sie lässt unberücksichtigt, dass unsere Banken als Dienstleister der
Exportwirtschaft einen völlig anderen Stellenwert haben als die Institute jener Länder, in denen die
Exportindustrie weniger hoch entwickelt ist. Und sie übersieht, dass unser Finanzplatz aus mehr als
nur Banken besteht.
Dessen ungeachtet stellt sich die Frage, wie das „Too-big-to-fail“-Problem zu lösen sei. Mir scheint,
die Schweiz hat hier Pionierarbeit geleistet. Zum einen erkannten die Behörden, dass Grösse bei den
Versicherungsunternehmen keine systemischen Risiken mit sich bringt. Sie haben diesen Sektor
darum keiner speziellen Regelung unterworfen. Auch das revidierte Bankengesetz geht von der
Prämisse aus, dass eine ausdrückliche Beschränkung der Grösse von Banken volkswirtschaftlich
wenig sinnvoll wäre. Statt dessen sollen potentiell negative Grössen- und Systemeffekte über
differenzierte Eigenkapital- und Liquiditätsvorschriften sowie eine Begrenzung der VerschuldungsHebel internalisiert werden. Das ist eine pragmatische und systemgerechte Lösung.
Die Grundlagen des Erfolgs
So viel zur Grösse und Bedeutung unseres Finanzplatzes. Bevor ich Überlegungen zu dessen
Fortentwicklung anstelle, lassen Sie mich kurz die Grundlagen der schweizerischen Erfolgsgeschichte
streifen.
Der Erfolg unseres Finanzplatzes beruht wohl wie in keinem anderen Sektor auf Stabilität. Während
Jahrhunderten hat uns die Neutralität gegen aussen befriedet. Und im Innern garantiert das
Friedensabkommen seit 1937 das einvernehmliche Auskommen zwischen Arbeitnehmern und
Arbeitgebern. Dazu kommen die Rechtssicherheit mit dem Schutz der Privatsphäre sowie die stetige
Finanzpolitik mit vergleichsweise niedrigen Steuern und einer geringen Staatsverschuldung. Garant
des letzteren sind Föderalismus und Referendumsdemokratie. Sie streuen zuweilen Sand ins Getriebe
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eines sonst überbordenden steuer- und ausgabenpolitischen Aktionismus. Und von entscheidendem
Gewicht war und ist die auf Preisstabilität ausgerichtete Geldpolitik. Hinzufügen möchte ich
schliesslich die Kleinräumigkeit. Gepaart mit Durchsetzungswillen ermöglicht sie konsensfähige
Vertrauensbildung sowie schnelle, flexible Entscheidungsfindung. Ich denke, die im Vergleich zum
Ausland rasche Überwindung der Bankenkrise kann vor allem diesen Faktoren zugeschrieben
werden.
Und nicht vergessen dürfen wir unsere hochqualifizierten Arbeitskräfte, welche die Integration der
Erfolgsfaktoren erst ermöglichen. Das ist in der Dimension und Qualität so schnell nicht zu
kopieren. Viele der neuen Finanzplätze, die gleichsam ab Reissbrett auf der grünen Wiese entstehen,
bereiten mir darum keine grossen Sorgen. Das umfassende Dienstleistungsangebot im Kontext von
Neutralität, Rechtssicherheit und Stabilität ist so schnell nicht replizierbar.
Darüber will ich nicht verschweigen, dass die globalen Finanzmärkte einem tiefgehenden
Strukturwandel unterworfen sind. Selbst New York und London müssen sich der Konkurrenz von
neuen Standorten in Asien erwehren. Bei genauerem Hinsehen erkennen wir aber auch Schwächen.
Da fehlt es in einigen Ländern an einer ausreichenden Zahl von qualifizierten Fachkräften und der
Kapitalmarkt bleibt unterentwickelt. Bei anderen dominieren ausländische Anbieter oder das
regulatorische Umfeld ist labil und kostspielig. Und über einem ganz grossen Finanzzentrum
schweben die Unwägbarkeiten einer nicht mehr kontrollierbaren Staatsverschuldung.
Demgegenüber scheint unser grösstes Problem zu sein, dass wir uns unter dem Druck des Auslandes
zuweilen zu Unrecht ins Bockshorn jagen lassen und nicht ausreichend unseren eigenen Stärken
vertrauen.
Meine Damen und Herren, ich meine, dem sei Remedur zu bieten. Lassen Sie mich darum im
nächsten Teil meines Referats die Konturen einer möglichen Antwort aufzeichnen.
Eine besondere Verantwortung
Am Ausgangspunkt meiner Überlegungen steht die Einsicht, dass sich aus der besonderen
Bedeutung des Finanzplatzes für die Schweiz auch eine spezielle Verantwortung ergibt. Der
Finanzplatz kann seine volkswirtschaftliche und gesellschaftspolitische Rolle nur auf dem Boden von
Stabilität und Leistungsbereitschaft eingebettet in vorteilhafte Rahmenbedingungen erbringen.
Dabei geht es nicht nur um Vorleistungen etwa von Seiten der Politik zu Gunsten des Finanzsektors.
Im Gegenteil, gefordert sind vielmehr alle Anspruchsgruppen, und allen voran die Marktteilnehmer.
Die Rolle der Finanzinstitute
Lassen Sie mich mit der Stabilität und den sich daraus ergebenden Herausforderungen für den
Finanzsektor beginnen. Als Realist wird man einräumen, dass es Krisen immer wieder geben wird.
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Selbst das Vierteljahrhundert vor 2007/2008 war geprägt durch Schuldenkrisen in Lateinamerika
und Asien, den Zusammenbruch des LTCM Hedge Fonds, Immobilienkrisen in den USA, Japan,
Skandinavien und der Schweiz sowie den Staatskonkurs Russlands. Nicht zu verschweigen ist
allerdings, dass die Jahre unmittelbar vor der Krise aussergewöhnlich günstig waren. Die
Risikomargen waren minimal, und viele Marktteilnehmer frönten dem Irrglauben, vollends
krisenresistent geworden zu sein.
Der Einbruch von 2007/2008 hat uns eines Besseren belehrt. Heute sind die Banken daran, die
Bilanzen zu reduzieren und mit neuem Kapital zu stärken. Interne Fehlanreize wurden korrigiert;
Geschäftsmodelle vielerorts revidiert.
Unabdingbare Voraussetzung für eine nachhaltige Fortentwicklung ist– und dies gilt für Banken wie
Versicherungsunternehmen – ein wirksames Risiko-Management. Die Frage ist berechtigt, ob die
Finanzinstitute vor der Krise nicht zu modellgläubig geworden waren. Man hat Risiken modelliert
und dabei den Unterschied zwischen Risiko und Unsicherheit übersehen. Das ging zu Lasten des
gesunden Menschenverstands und zu Lasten einer breit abgestützten Beurteilung des Umfelds.
Daraus nun zu schliessen, die Strategien der Finanzinstitute seien auf einfachere Geschäftsmodelle zu
limitieren, scheint mir jedoch falsch zu sein. Einer erfolgreichen Fortentwicklung wird es dienlicher
sein, wenn die Finanzinstitute ihre Strategie der Risikotragfähigkeit anpassen. Dass es dazu der
Verbesserung des Risiko-Managements und insbesondere einer besseren Einbettung in die
Unternehmenskultur – sprich Corporate Governance – bedarf, wird wohl niemand bestreiten
wollen.
Dem ist hinzuzufügen, dass man auch in den Konzernspitzen stärker den gesunden
Menschenverstand walten lassen sollte. Am einen oder anderen Ort hat man offensichtlich die
Bodenhaftung verloren. Am wuchtigen Ja zur Minder-Initiative gibt es nichts zu herum zu deuten.
Der Souverän will keine Exzesse bei der Vergütung.
Bei genauerem Hinsehen entdeckt man hinter der Entrüstung darüber auch ein weit verbreitetes
Unbehagen an der marktwirtschaftlichen Ordnung. Von Raubtierkapitalismus ist die Rede. Die
Gewinnerzielung wird verteufelt. Und es heisst, Markt und Moral seien unvereinbar. Die Signale
sind unmissverständlich – der Markt soll an die Zügel gebunden werden. Mir scheint allerdings, das
Pendel schlage zu weit aus. Wir dürfen den Teufel nicht mit dem Belzebuben austreiben.
Meine Damen und Herren, wir reden vom Vertrauensverlust in ein konstitutives Prinzip unserer
liberalen Gesellschaftsordnung. Dieser Vertrauensverlust schadet nicht nur den betroffenen
Unternehmen und ihren Führungskräften, sondern uns allen. Friedrich August von Hayek hat uns
gelehrt, den Markt als Entdeckungsverfahren zu begreifen. Der Markt kann enorme
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Innovationskräfte entfesseln und damit den Wohlstand aller fördern. Voraussetzung ist allerdings,
dass er in eine starke Ordnung eingebunden ist, die für fairen Wettbewerb unter den Teilnehmern
sorgt. Und dazu gehört, dass unfähige Anbieter bestraft werden und den Markt verlassen müssen. So
gesehen ist der Wettbewerb auch ein Entmachtungsinstrument. Er diszipliniert viel nachhaltiger, als
das staatliche Instanzen je tun könnten.
Wenn wir den Vertrauensverlust wieder wettmachen wollen, muss unternehmerisches Handeln
nicht bloss rechtlich sondern auch ethisch einwandfrei sein. Alle Unternehmen, und besonders die
Grossen mit mehreren zehntausend Arbeitnehmern und Hunderttausenden von Kunden, tragen
eine hohe gesellschaftliche Verantwortung. Unternehmerische Führung muss zugleich erfolgs- und
werteorientiert sein. Exzesse dürfen wir nicht tolerieren. Hier müssen wir uns als Vertreter des
Finanzsektors kritisch hinterfragen, ob wir der Entwicklung nicht früher und aus eigenem Antrieb
hätten Einhalt gebieten müssen.
Schliesslich – und das ist wohl die grösste Herausforderung – gilt es, den Konsens über die Rolle der
Wirtschaft in unserer Gesellschaft wieder zu finden. Laut Meinungsumfragen glaubt rund die Hälfte
der Bevölkerung, die Marktwirtschaft führe automatisch zu sozialer Ungerechtigkeit. Vor dem
Hintergrund dieses Vertrauensverlusts reicht es nicht, bei den Spitzen der Wirtschaft mehr
Bodenhaftung anzumahnen. Wir müssen der Gesellschaft vielmehr glaubwürdig vermitteln, worauf
die Grundlagen unserer Prosperität bauen. Wir müssen wieder Vertrauen schaffen, damit die
Marktwirtschaft nicht zum Auslaufmodell wird. Die Wende ist allerdings nicht per Dekret zu haben.
Werte müssen vorgelebt werden. Die Führung muss mit dem guten Beispiel vorangehen – „we must
walk the talk.“ Wenn das geschieht, dann darf sich auch Leistung wieder lohnen.
Die Aufgabe der Aufsichtsbehörden
Lassen Sie mich nun ein paar Worte zur Aufgabe der Aufsicht sagen, wird doch der Finanzsektor wie
kaum ein anderer – und viele würden sagen: aus guten Gründen – einer strengen Überwachung
unterworfen.
In letzter Zeit war oft zu hören, die Finanzkrise sei die Folge einer zu offensiven De-Regulierung
gewesen. Das ist mir zu einfach. Zwar stimmt, dass in den Jahren vor der Krise viele alte Zöpfe
abgeschnitten wurden. Das verkennt jedoch, dass die Banken vor 2008 sehr detailliert reguliert
wurden. Im Nachhinein wissen wir, dass die unter Basel II verlangten Risikomodelle
Umgehungsgeschäfte sowie die Auslagerung in den nicht-regulierten Schattenbanken-Sektor
auslösten. Das Bild des Wasserballons ist zutreffend. Man kann den Ballon zwar auf der einen Seite
drücken, aber nicht verhindern, dass er auf der anderen Seite anschwillt.
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Angesichts dieser Entwicklungen tut die Aufsicht gut daran, sich mehr auf Grundsätze und weniger
auf detaillierte Vorschriften zu konzentrieren. Ich kann darum der Präsidentin der eidgenössischen
Finanzmarkt-Aufsicht FINMA, Anne Héritier Lachat, nur zustimmen, wenn sie die Prinzipien einer
wohl-durchdachten Regulierung anmahnt. Dazu gehören, und ich zitiere Frau Héritier Lachat, „ein
klarer Rahmen, klare Grenzen und klare Fristen.“ Gute Überwachung verlange, nur dann
einzuschreiten, wenn die Limiten durchbrochen seien. In allen anderen Fällen müsse man den
Unternehmen die Handlungsfreiheit belassen.
Gerne möchte man diesem Plädoyer folgen. Allein, die globale Entwicklung geht in die
entgegengesetzte Richtung. Nicht weniger ist mehr, lautet die Devise, sondern noch intensivere
Regulierung und noch mehr Komplexität. 1933, am Tiefpunkt der Weltwirtschaftskrise,
verabschiedete der amerikanische Kongress den Glass-Steagall Act, die wohl weitreichendste
Massnahme zur Regulierung des US-Finanzsektors im 20. Jahrhundert. Dieses Gesetz umfasste
ganze 37 Seiten. Im Jahr 2010 billigte der Kongress den Dodd-Frank Act, der mit 848 Seiten mehr
als 40-mal dicker ist als Glass-Steagall. Und das war erst der Anfang. Heute ist etwa ein Drittel der
auf Dodd-Frank beruhenden Ausführungsgesetze umgesetzt – das sind nochmals 8‘843 Seiten an
neuen Regeln und Normen. Hochgerechnet dürfte Dodd-Frank auf 30‘000 Textseiten kommen.
Kein Wunder, dass dem Finanzsektor die damit verbundenen Kosten Sorgen machen.
Diese Kosten werden auch bei uns ins Gewicht fallen. Nach einer Studie des International Institute
of Finance könnte der regulatorische Mehraufwand allein das Brutto-Inlandprodukt der Schweiz im
Jahr 2015 um mehr als 3-1/2% geringer ausfallen lassen, als dies ohne zusätzliche Regulierung der
Fall gewesen wäre. Das wären umgerechnet eine Belastung von mehr als 20 Milliarden Franken.
Mein zweiter Punkt betrifft den globalen Regulierungszusammenhang. Zwar müssen sich unsere
Behörden nicht verstecken. Im Versicherungsbereich verfügen wir mit dem Swiss Solvency Test
(SST) über eine international vorbildliche Solvabilitäts-Regel. Sie nimmt in vielen Punkten das
europäische Regulierungsvorhaben vorweg und wurde – im Gegensatz zu Solvency II – bereits
umgesetzt. Auch mit der „Too-big-to-fail“-Regelung im Bankenbereich mit dem vielleicht etwas
umstrittenen Swiss Finish haben unsere Behörden eine Pionier-Rolle eingenommen. Man darf
anerkennen, dass diese Leistungen in den internationalen Gremien registriert wurden und die
Diskussion beeinflusst haben. Die Schweizer werden gehört, wenn sie den Weg zu Problemlösungen
weisen.
Das heisst aber auch, dass die Schweiz weiterhin in den Gremien der globalen Standardsetzer gehört
werden muss. Wir haben globale Benchmarks gesetzt. Nun gilt es, diesen Benchmarks Achtung zu
verschaffen, etwa durch gegenseitige Anerkennung oder mit gleichlangen Spiessen im Wettbewerb.
Dasselbe gilt für jene Gremien, die mit der Entwicklung der globalen Finanzarchitektur betraut sind,
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allen voran der Internationale Währungsfonds. Die Regelung des weltweiten Kapitalverkehrs ist für
unser Land von höchster Priorität. Und da müssen wir auch künftig an führender Stelle mitreden.
Derzeit steht im Financial Stability Board (FSB) die Behandlung der systemrelevanten
Finanzinstitute, kurz SIFIs, an. In Bezug auf die Banken hat das Board bereits zum zweiten Mal eine
Liste mit nun 28 systemrelevanten Instituten veröffentlicht und dargelegt, wer wie viel zusätzliches
Kapital bereitzustellen hat.
Noch nicht viel weiter gekommen ist man dagegen beim Thema der Abwicklung solcher Institute.
Der Geist von Pittsburgh ist verflogen, vom Willen, grenzüberschreitende Lösungen zu suchen und
umzusetzen, wenig zu spüren. Die nationalen Aufsichtsbehörden scheinen vielmehr die Grenzen
wieder abschotten zu wollen. Und sie deuten an, dass man im Krisenfall nicht auf internationale
Zusammenarbeit bauen kann.
Im Versicherungssektor ist ebenfalls noch vieles offen. Das FSB will in diesem Jahr erstmals eine
Liste mit systemrelevanten Versicherungsunternehmen veröffentlichen. Das letzte Wort ist hier aber
noch nicht gesprochen, vor allem was die Kapitalunterlegung betrifft. Wenn wir dem globalen
Standardsetzer in der Versicherungsaufsicht folgen, dann sind traditionelle
Versicherungsunternehmen kaum systemrelevant. Konsequenterweise sollten sie dann auch auf
keiner SIFI-Liste stehen und nicht mit höheren Kapitalanforderungen belegt werden.
Darüber hinaus wird niemand bestreiten, dass grosse, komplexe Konzerne zuweilen
versicherungsfremde und systemrelevante Geschäftsbereiche betreiben. Wir sind uns einig, dass es
einen zweiten Fall AIG nicht mehr geben darf. Aber der Fall AIG war weniger ein Problem der
unzureichenden Kapitalunterlegung von versicherungsfremden Geschäften als das Fehlen einer
konsolidierten und risiko-basierten Gruppenaufsicht. Sie hätte in der Lage sein müssen, den Aufbau
eines ungedeckten Klumpenrisikos rechtzeitig zu erkennen und vom Konzern entsprechende
Gegenmassnahmen zu verlangen.
Dessen ungeachtet dürfen wir Finanzinstitute nicht alle über den gleichen Kamm scheren. Ich habe
mit Interesse vernommen, dass Ben Bernanke, der Vorsitzende des Federal Reserve, dieser Tage vor
dem US-Kongress auf die unterschiedlichen Geschäftsmodelle von Banken und Versicherungen
verwies und daraus schloss, das SIFI-Regime müsse diese Unterschiede angemessen berücksichtigen.
Die Verantwortung der Politik
Damit komme ich zur Politik und zur Frage, was der Staat tun und was er lassen soll, um den
Finanzplatz Schweiz weiterhin in einer Spitzenposition zu halten. Der gegenwärtige Leistungsausweis
unterstreicht, dass gesunde Staatsfinanzen und eine gesunde Währung auch in Zukunft unabdingbar
sein werden. In diesem Punkt darf man zuversichtlich sein. Der föderale Steuerwettbewerb und die
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stufengerechte Zuweisung der Verantwortung über die entsprechenden Mittel dürften auch künftig
dafür sorgen, dass die Steuerbelastung und die Staatsverschuldung international gesehen
vergleichsweise niedrig ausfallen. Schliesslich ist das Bekenntnis der Nationalbank zu Preisstabilität
nicht nur in der Verfassung festgeschrieben. Es beruht auf einer tiefgehenden Stabilitätskultur.
Dessen ungeachtet seien drei Bemerkungen zur Wirtschafts-, Aussen- und Geldpolitik angebracht.
Als erstes zur Wirtschaftspolitik. Wir nehmen alle mit Befriedigung zur Kenntnis, wenn die
Schweiz in der Rangliste des World Economic Forum jeweils als eines der wettbewerbsfähigsten und
innovativsten Länder der Welt eingestuft wird. Im jüngsten Bericht standen wir sogar auf Rang 1.
Aber auf diesen Lorbeeren darf man nicht ausruhen. Mir gibt zu denken, dass wir im allgemeinen
Wettbewerbsbericht zwar den ersten Platz einnehmen, im Index der Finanzmarkt-Entwicklung
jedoch bloss auf Rang 8 hinter Japan und vor den Niederlanden stehen. Die drei ersten Plätze
werden von Hong Kong, den USA und dem Vereinigten Königreich eingenommen. Hier besteht
offensichtlich Nachholbedarf.
Zweitens, die Aussenpolitik. Es versteht sich von selbst, dass unsere Aussenwirtschaftspolitik den
Zugang zu allen Märkten sichern sollte. In der gegenwärtigen Situation scheint mir aber fast noch
wichtiger, dass wir uns von ausländischen Handels- und Vertragspartnern nicht vorführen lassen.
Verträge sind dazu da, eingehalten zu werden. Abkommen dürfen nicht innenpolitischer
Opportunität zum Opfer fallen. Es darf nicht sein, dass der Grosse die Rechtsordnung des Kleinen
aushebelt, nur weil sie ihm lästig ist.
Max Huber, der Diplomat und Völkerrechtler, schrieb einmal: „Der Kleine Staat hat seine grösste
Stärke in seinem guten Recht.“ Auf dieser Basis haben wir mit dem Ausland eine Reihe von
Abgeltungssteuer-Abkommen ausgehandelt, die den Schutz der Privatsphäre auch weiterhin
hochhalten. Weitere Abkommen sind in Vorbereitung. Darüber hinaus kann man sich Amtshilfe auf
der Basis der OECD Standards vorstellen. Das ist unser Verständnis von gutem Recht. Dagegen
wäre der automatische Informationsaustausch nicht nur mit unserem Rechtsverständnis unvereinbar
– er entspricht auch keinem internationalen Standard.
Dem füge ich als Heimkehrer bei, dass unsere Aussenpolitik durchaus mehr Vertrauen in das
konstitutive Element der Neutralität haben könnte. Sie ist keineswegs lästige Tradition. Mit dem
Beitritt der Schweiz zur Uno haben wir im Gegenteil bewiesen, dass man die Neutralität differenziell
handhaben kann. Und im Verkehr mit ausländischen Partnern durfte ich immer wieder feststellen,
wie sehr die Neutralität der Schweiz als Garant einer stabilen Geschäftsbeziehung gesehen wird. Das
sollten wir uns zu Herzen nehmen.
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Um diesen aussenpolitischen Exkurs mit der Aussenwirtschaftspolitik zu schliessen: Der Klärung des
institutionellen Auskommens mit der EU kommt unbestritten eine hohe Bedeutung zu. Aber eine
einseitige Fixierung auf die EU wäre verfehlt. Es gilt vielmehr, den Rahmen der bilateralen
Abkommen weit zu spannen. Die Nachricht, dass Washington und Brüssel noch in diesem Jahr ein
Freihandelsabkommen aushandeln wollen, müsste auch für uns Anlass sein, die Chancen eines
bilateralen Abkommens mit den USA auszuloten. Dass dies auch ein erhebliches Mass an
innenpolitischer Überzeugungsarbeit verlangt, gehört zum Wesen unserer Aussenpolitik. Sie
untersteht letztlich der Referendumsdemokratie. Das mag sie zum Sonderfall machen. Die
Notwendigkeit, den Souverän in allen wichtigen Fragen abzuholen, ist aber auch eine unserer
wesentlichen Stärken.
Drittens, zur Geld- und Währungspolitik. Aus der Sicht der gesamten Wirtschaft ist die Preisstabilität ein entscheidender Faktor. Sie ermöglicht Kalkulationssicherheit, und sie ist eine
Voraussetzung, allerdings keine hinreichende, für Finanzmarktstabilität.
Niemand wird bestreiten, dass die Nationalbank im gegenwärtig nach wie vor labilen Umfeld vor
einer heiklen Aufgabe steht. Zusammen mit anderen Notenbanken hält sie die Zinsen seit mehr als
vier Jahren auf einem Tiefst-Niveau, und im September 2011 hat sie einen Euro-Mindestkurs
festgelegt. An diesen Massnahmen, und insbesondere am Wechselkursziel von 1.20 Franken, ist
nicht zu rütteln. Sie waren richtig und zielkonform. Die Schweiz als sicherer Hort hat schon immer
ausländische Gelder angezogen. Und es ist nicht das erste Mal, dass der Mokkatassen-Effekt die
Nationalbank zum Engreifen gezwungen hat.
Dessen ungeachtet seien zwei Punkte angemerkt. Als erstes ist sicher richtig, dass die Nationalbank
zwischen Skylla und Charybdis steht und angesichts der expansiven Geldpolitik anderer
Notenbanken keine andere Wahl hat. Aber man darf nicht übersehen, dass die derzeit weltweit
verfolgten Geldpolitiken lediglich kurzatmige Massnahmen zum Überkleistern von strukturellen
Problemen sind. Die Geschichtsbücher wimmeln von Beispielen, in denen solche Massnahmen den
Keim der nächsten Krise in sich trugen. Je früher die Nationalbank einen glaubwürdigen Pfad für
die Kurskorrektur vorgibt, desto besser.
Und als zweites füge ich hinzu, dass die Politik des billigen Geldes sektorielle Ungleichgewichte
schafft, die uns langfristig teuer zu stehen kommen könnten. Im derzeitigen Niedrigzinsumfeld fällt
es den Lebensversicherungen und Pensionskassen nämlich zunehmend schwerer, die in der
Vergangenheit gemachten Versprechen einzuhalten. Bestraft werden die Sparer von heute und die
Pensionäre von morgen. Und entweder werden die Versprechen gebrochen, mit entsprechenden
Konsequenzen für die Glaubwürdigkeit unserer Institutionen, oder es drohen Defizite, die am Ende
der Steuerzahler decken müsste.
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Miteinander und nicht gegeneinander
Meine Damen und Herren, soweit meine Auslegeordnung zu den Herausforderungen, die sich dem
Finanzplatz Schweiz und seinen Anspruchsgruppen stellen. Es wäre vermessen zu glauben,
Finanzwirtschaft, Aufsichtsbehörden und Politik könnten diese Herausforderungen im Alleingang
meistern. Der pragmatische Ansatz der Schweizer setzt vielmehr auf konsensbereite Kooperation.
Genauso wie sich Werkplatz und Finanzplatz gegenseitig bedingen, müssen Wirtschaft und Politik
vereint marschieren und nicht gegeneinander antreten.
Im Dezember hat der Bundesrat seinen Bericht zur Finanzmarktpolitik mit im wesentlichen drei
Zielen vorgelegt. Erstens will er international akzeptierte Rahmenbedingungen schaffen. Zweitens
soll die Wettbewerbsfähigkeit verbessert werden. Und als drittes will der Bundesrat für einen
glaubwürdigen Schutz der Privatsphäre eintreten, bei gleichzeitigem Verhindern von Missbräuchen
des Bankgeheimnisses. Ich meine, diese Ziele verdienen eine breite Unterstützung auch von Seiten
des Finanzsektors.
Richtschnur unseres Handelns sollte sein, dass der Erfolg unserer global aktiven Unternehmen selbst
in einer weltweit vernetzten Wirtschaft in hohem Masse von den Rahmenbedingungen zu Hause
abhängt. Indem wir die Rahmenbedingungen im eigenen Hause stärken, verhelfen wir auch den
globalen Unternehmen zum Erfolg.
Im Verkehr mit unseren ausländischen Partnern, und als Reaktion auf den ab und zu
unvermeidlichen Druck, sollten wir vermehrt auf unsere eigenen Stärken bauen und selbstbewusster
auftreten. Wir wollen nicht Schwächen kultivieren, sondern Stärken pflegen. Dazu gehört, dass wir
wieder lernen müssen, mit einer Stimme zu sprechen. Das bedarf der Konsensbildung. Aber wenn
der Konsens einmal hergestellt ist, müssen alle dazustehen – der Finanzplatz und die Politik.
Niemand darf abtauchen, wenn es einmal hart auf hart geht.
Meine Damen und Herren, was immer wir tun, es gibt keinen Widerspruch zwischen Finanzplatz
und Werkplatz. In letzter Konsequenz geht es um den Standort Schweiz. Uns müsste doch zu Gute
kommen, dass der Ruf der Schweiz im Ausland weit besser ist als hierzulande behauptet wird. Statt
uns verunsichern zu lassen, sollten wir diesen Vertrauensvorschuss nutzen. Das bedingt die
Zusammenarbeit aller Anspruchsgruppen. Nur so wird die Prosperität der künftigen Schweiz zu
sichern sein.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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