Historische Literatur, 5. Band - 2007 - Heft 3 - Humboldt

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Band 5
2007
Heft 3
HistLit
Historische
Literatur
www.steiner-verlag.de
Band 5 · 2007 · Heft 3
Juli – September
Franz Steiner Verlag
Franz Steiner Verlag
Rezensionszeitschrift von
H-Soz-u-Kult
Historische Literatur
ISSN 1611-9509
Veröffentlichungen von Clio-online, Nr. 1
Außereuropäische Geschichte
Außereuropäische Geschichte
Besier, Gerhard; Lindemann, Gerhard: Im Namen der Freiheit. Die amerikanische Mission. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006. ISBN:
3-525-36734-1; 415 S.
Rezensiert von: Jan C. Behrends, FedorLynen-Stipendiat
der
Alexander-vonHumboldt-Stiftung, Department of History,
University of Chicago
In seinem Gedicht „Der anachronistische Zug
oder Freiheit und Democracy“ karikierte der
Dichter Bertolt Brecht 1947 diejenigen geschlagenen Deutschen und umgedrehten Nazis, die sich nun zur „amerikanischen“ Idee
der Freiheit bekannten:
„Blut und Dreck in Wahlverwandtschaft
Zog das durch die deutsche Landschaft
Rülpste, kotzte, stank und schrie:
Freiheit und Democracy!“
Der Blick zurück in den frühen Kalten
Krieg verdeutlicht, wie ambivalent und schillernd der Freiheitsbegriff in der politischen
Sprache Deutschlands besetzt war. Brecht
hielt ihn nicht nur für unzeitgemäß, sondern versuchte hier, seine Verfechter moralisch zu diskreditieren. Da sie den Freiheitsbegriff fünfzig Jahre nach Brechts Gedicht keineswegs für anachronistisch halten, haben die
Dresdner Theologen Gerhard Besier und Gerhard Lindemann den Pfad der Diktaturforschung verlassen, um sich der Geschichte der
Freiheit zu widmen. Was liegt da näher als
die amerikanische Geschichte zu betrachten
– schließlich sind „freedom“ und „liberty“
seit dem 18. Jahrhundert Kernbestand amerikanischer Selbstbeschreibung. Eingangs beklagen sie dann auch, dass sich die deutsche
Historiographie bisher zu wenig mit der Geschichte der Freiheit hierzulande beschäftigt
habe. Durch den Blick auf die USA wollen sie
dazu beitragen, die „Freiheitsforschung“ als
Teil der Kulturwissenschaft in Deutschland
zu etablieren. Wohl um das Anliegen des Buches offensiv zu untermauern, sind ihm zwei
kämpferische Zitate von Karl Popper und George W. Bush zum Siegszug der Freiheit in
434
den Vereinigten Staaten vorangestellt. So eingestimmt, nehmen die Autoren den Leser mit
auf die Reise durch drei Jahrhunderte amerikanischer Geschichte – von der Kolonialzeit
bis in die Gegenwart des „Krieges gegen den
Terror“.
Das Buch gliedert sich in zwölf Kapitel, die
den etablierten Zäsuren amerikanischer Geschichte folgen. Die einzelnen Abschnitte erklären das Leben in den Kolonien, die Entstehung der Vereinigten Staaten, die Erschließung des Westens und den Weg in den Bürgerkrieg, die Industrialisierung und die Sozialreformen der klassischen Moderne und
widmen sich schließlich dem inneren Wandel
und der Außenpolitik der USA im 20. Jahrhundert. Die Erzählung der Ereignisse streift
dabei immer wieder die Entwicklung des
Freiheitsbegriffes in den USA: Sie berichtet
von der liberty bell in Philadelphia und den
liberty trees der amerikanischen Revolution
mit ihrem Schlachtruf „liberty or death“, vom
rassistischen Freiheitsverständnis des Südens
und der Freiheitspropaganda des Ersten Weltkrieges, bis hin zu den Forderungen des civil
rights movements und dem consumer freedom der wohlhabenden Nachkriegsgeneration. Doch das Freiheitsthema ist nur ein Strang
des Buches. Vornehmlich handelt es sich um
eine Geschichte der amerikanischen Republik
und ihrer Gesellschaft, die hier gerafft erzählt
wird. Chronologisch stringent und überwiegend flüssig geschrieben ist die Darstellung
insbesondere für Einsteiger in die amerikanische Geschichte gut geeignet. Diejenigen, die
sich bereits mit der amerikanischen Moderne befasst haben, werden hingegen weder auf
der Ebene der Fakten noch der Deutungen
viel Neues erfahren.
Letztlich leidet „Im Namen der Freiheit“
darunter, dass die Verfasser sich nicht entschieden haben, ob sie sich mit der amerikanischen Freiheitstradition auseinandersetzen möchten oder für den deutschen Markt
eine Geschichte der USA verfassen wollen.
Das Ergebnis dieses Versäumnisses ist zwar
eine lesbare Darstellung der Entwicklung der
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© Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart
P. Birle u.a. (Hrsg.): Hemisphärische Konstruktionen der Amerikas
Vereinigten Staaten – es löst jedoch den eingangs von den Autoren formulierten Anspruch kaum ein. Zu häufig verlieren sie sich
zwischen den Fakten und in der Erklärung
von Institutionen und Traditionen der USA;
eine systematische Auseinandersetzung mit
einem spezifisch amerikanischen Freiheitsverständnis – die auch den systematischen
Vergleich mit anders geprägten europäischen
Traditionen verlangt hätte – findet kaum statt.
Erst im letzten Kapitel kommen die Verfasser auf konkurrierende Freiheitsvorstellungen zurück. Als Charakteristikum der USA
nennen sie dabei, dass verschiedene Freiheitsvorstellungen sich stets ausbalanciert hätten.
Ihre Erklärung der amerikanischen Freiheitskultur kommt allerdings nicht ohne Allgemeinplätze aus: so sprechen sie vom „unbändigen Freiheitswillen“ als movens amerikanischer Kultur und bescheinigen ihren Bürgern
einen „unverbesserlichen, stets auf die Zukunft hin fokussierten Optimismus“ (S. 285).
Es ist bedauerlich, dass die Autoren das
Wechselspiel zwischen amerikanischen Freiheitsvorstellungen und den totalitären Ordnungen des 20. Jahrhunderts nur in Ansätzen
diskutieren. Schließlich entstanden die Freiheitsdiskurse der Neuen Welt immer auch
in der Auseinandersetzung mit konkurrierenden Vorstellungen in Europa. Stattdessen haftet dem Buch ein didaktischer Unterton an, so
dass das Gefühl entsteht, dass es als Aufklärungsschrift für ein antiamerikanisches Publikum konzipiert wurde. Dies mag hierzulande, wo legitime Kritik an den USA nicht selten
in zügelloses Ressentiment umschlägt, nicht
ganz unbegründet sein. Doch eine Zeit, die
ohne den plakativen Antiamerikanismus Bertolt Brechts auskommen möchte, sollte nicht
in den Americana Norman Rockwells Zuflucht suchen.
HistLit 2007-3-041 / Jan C. Behrends über Besier, Gerhard; Lindemann, Gerhard: Im Namen
der Freiheit. Die amerikanische Mission. Göttingen 2006. In: H-Soz-u-Kult 17.07.2007.
Birle, Peter; Braig, Marianne; Ette, Ottmar; Ingenschay, Dieter (Hrsg.): Hemisphärische Konstruktionen der Amerikas. Frankfurt: Vervuert
Verlag 2006. ISBN: 3-86527-283-5; 170 S.
2007-3-089
Rezensiert von: Frank Mattheis, Zentrum für
Höhere Studien der Universität Leipzig
Interdisziplinarität und Transregionalität sind
Attribute, denen bei der Konzipierung von
Studiengängen und Forschungsprojekten immer häufiger eine zentrale Rolle zugewiesen wird. Diese Entwicklung ist ob der Zunahme globalperspektivischer Wissenschaftsansätze sehr erfreulich. Sie macht allerdings
auch eine genaue Betrachtung notwendig, um
zu unterscheiden, wo lediglich unabhängige Themen eklektisch unter einen Denkmantel gezwängt werden und wo tatsächlich ein
Mehrwert durch neue Perspektiven entsteht.
Der vorliegende Sammelband ist das Ergebnis einer gleichnamigen Ringvorlesung des
Forschungsverbundes Lateinamerika BerlinBrandenburg im Sommersemester 2004. Er erhebt den Anspruch, in einem interdisziplinären Kontext die konstruierten Grenzen der
westlichen Hemisphäre als dynamisch und
vielschichtig zu begreifen. Die Autorinnen
und Autoren, jeweils drei aus der Politikwissenschaft und drei aus der Philologie, versuchen so, einige der zahlreichen Prozesse von
Identitätskonstruktion zu beleuchten und in
einen globalen Rahmen zu stellen.
Zunächst beschäftigt sich Ottmar Ette mit
der wissenschaftlichen Annäherung Alexander von Humboldts an die westliche Hemisphäre. Ette hebt anhand zahlreicher Primärquellen die transregionale Komponente
der Humboldtschen Erfassung Amerikas hervor und zeigt sich beeindruckt von seinen
zahlreichen Kategorisierungen, die den Doppelkontinent intern gliedern, ihn als Neue
Welt in einem globalen Kontext abgrenzen.
Die natur- und sozialwissenschaftlichen Aufteilungen bezeichnen eine Reihe von unterschiedlichen Räumen, die sich überschneiden
und mit jeder neuen fachlichen Betrachtung
vernetzt werden. Die berechtigte Euphorie Ettes für die aufeinander aufbauenden Perspektivwechsel und Verknüpfungen erzeugen jedoch einige Redundanzen und Längen, die
mitunter eine kritische Auseinandersetzung
mit dem „preußischen Gelehrten“ (S. 29) vermissen lassen. Ohne Ausführung bleibt leider
der Hinweis auf Transfermöglichkeiten für
die heutige Verbundforschung. Zwar greifen
die folgenden Autoren seinen Vorschlag auf,
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Außereuropäische Geschichte
aber dennoch hätte hier eine knappere Analyse der Werke Humboldts zugunsten von Anknüpfungspunkten für einzelne Fachgebiete
einen deutlicheren Mehrwert für den Leser
schaffen können.
Im folgenden Kapitel nehmen sich Marianne Braig und Christian Baur zunächst der
verschiedenen Konzeptionen der Eliten zum
Raumverständnis Amerikas im 19. Jahrhundert an. Hierbei wird deutlich, dass politische Entwürfe zum Selbstverständnis der
Amerikaner sich über das Verhältnis zu Europa definierten. Dies galt auch dann noch,
als mit dem Aufstieg der USA zum Regionalhegemon eine kontinentale Einheit unmöglich und für den Süden der Kulturkreis
Lateinamerika konstruiert wurde. Erfreulich
sind insbesondere die Ansätze, die abwechselnd passive und aktive Rolle Europas bei
der lateinamerikanischen Identitätssuche dieser Zeit zu verknüpfen. Im zweiten Teil dieses Kapitels gehen Braig und Baur der Frage
nach, welche Rolle Mexiko im Kontext aktueller Kultur- und Sicherheitsentwürfe spielt.
Dieser zeitliche Sprung von fast 90 Jahren
kommt etwas abrupt und setzt die Zweiteilung des Kontinents in ein völlig anderes Umfeld, in dem Europa wiederum gänzlich abwesend ist. Nichtsdestotrotz wird veranschaulicht, dass es nicht ein Mexiko, sondern eine ganze Reihe unterschiedlicher „Mexikos“ gibt, deren (soziale und/oder kulturelle) Grenzziehungen jeweils anders verlaufen
und damit eine ungeheure Dynamik jenseits
der des Nationalstaates entwickeln. Braig und
Baur weisen hierbei auf den obsoleten Charakter allzu klarer Abgrenzungskonzepte hin,
da die Entstehung von transkulturellen Netzwerken eine zunehmende Durchlässigkeit bedingt.
Inspiriert durch Ettes Vorschlag versucht
sich auch Dieter Ingenschay an einer hemisphärischen Betrachtung Amerikas als Konstruktion. Gegenstand seiner Untersuchung
ist der AIDS-Diskurs in der homosexuellen
Literatur Lateinamerikas, die er in einen gesamtamerikanischen beziehungsweise globalen Zusammenhang stellt. Er führt die Ausgrenzung Homosexueller in Lateinamerika
auf die diskursive Verknüpfung von Rassismus und Diskriminierung sodomitischer
Praktiken während der Kolonisation zurück.
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Auch die literarische Auseinandersetzung
mit AIDS in Lateinamerika wurde zunächst
von außen bestimmt, insbesondere durch den
dominanten US-Diskurs, der den Zusammenhang zwischen Homosexualität und AIDS
festigte, an dem sich auch Ingenschay orientiert. Je deutlicher jedoch die Disparitäten
zwischen Homosexuellen in den USA und
in Lateinamerika hervortreten, desto mehr
wächst im Süden die postkoloniale Erkenntnis, keineswegs der im Norden konstruierten
„gay culture“ zuzugehören. Auf dieser Basis
versucht die lateinamerikanische Literatur, eigene Perspektiven zu entwickeln. Ingenschay
weist darauf hin, dass sich diese auf den USDiskurs beziehen und sich somit erst in einer
hemisphärischen Betrachtung entfalten können. Daraus lässt sich die wichtige Erkenntnis
gewinnen, dass der AIDS-Diskurs in Lateinamerika auch bei seiner Emanzipation einer
Auseinandersetzung mit dem US-Diskurs bedarf, um sich selbst neu zu definieren.
Ebenfalls mit dem hemisphärischen Blick
auf einen Literaturprozess beschäftigt sich
Monika Walter. Sie behandelt die testimoniale Erzählpraxis in Lateinamerika und Europa. Der europäische postmoderne „témoignage“ entstand mit den narrativen Zeugnissen der zunächst französischen HolocaustLiteratur. Er hebt die Singularität des Holocausts hervor und verweist auf die ethische
Verantwortung des Individuums. Aufgrund
der Erfahrungen aus den kolonialen Genoziden ist das lateinamerikanische „testimonio“
weiter gefasst und wird in der Auseinandersetzung zwischen kreolischer Elite und marginalisierten Indios eingesetzt. Daraus entsteht auch ein konkretes Streben nach Solidarität und sozialer Neuordnung. Walter verdeutlicht die unterschiedlichen Entwicklungen der beiden Erzählformen, aber auch deren Berührungspunkte. Ein solcher Vergleich
wird erst durch eine hemisphärische Perspektive möglich, welche die gegensätzliche Betrachtung von Zentrum und Peripherie hinter
sich lässt und Gemeinsamkeiten freilegt.
Im letzten Abschnitt widmet sich Peter Birle den Zyklen der brasilianischen Außenpolitik seit seiner Unabhängigkeit. Das bis in die
1970er-Jahre dominante Paradigma einer Allianz mit den USA führt Birle auf die Entscheidung Brasiliens zurück, mit der auf-
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N. Böttcher u.a. (Hrsg.): Los buenos, los malos y los feos
strebenden Hegemonialmacht zu kooperieren, um wirtschaftliche und politische Vorteile zu erlangen. Zum Paradigmenwechsel
kam es erst mit der Demokratisierung in den
1980er-Jahren. Das Scheitern des interamerikanischen Systems und die komplementären wirtschaftlichen Beziehungen zu Lateinamerika ermöglichten eine lateinamerikanische Kooperation, die in den 1990er-Jahren
im MERCOSUR institutionalisiert wurde. Birle macht allerdings deutlich, dass eine endgültige Überwindung des lateinamerikanischen Partikularismus noch in weiter Ferne liegt. Brasilien tut sich schwer damit,
Entscheidungskompetenzen abzutreten, während im restlichen Lateinamerika weiterhin
die Angst vor einem Subimperialismus besteht. Die Grenzen, die Brasilien in der Hemisphäre zieht, bleiben verschwommen, insbesondere in Bezug auf Mittel- und Nordamerika. Insgesamt zeichnet Birle die Geschichte
der außenpolitischen Beziehungen Brasiliens
als Nullsummenspiel, in dem sich eine Kooperation mit den USA oder Lateinamerika
stets diametral gegenüberstanden. Die neuerliche Zuwendung Brasiliens zu seinen Nachbarn birgt demnach ein hemisphärisches Dilemma, für das auch Birle keine Lösung sieht.
Für eine hemisphärische Betrachtung lesen
sich seine Ausführungen allerdings mitunter
zu Brasilien-zentrisch. Speziell die Fremdbilder Brasiliens, die eingangs als ein Grundpfeiler der Außenpolitik erwähnt werden, finden
für die Gegenwart wenig Beachtung. Dennoch bietet Birle eine hervorragende Skizze
eines Landes, das noch immer seinen Platz in
der Hemisphäre sucht.
Alles in allem wird der Anspruch des
Sammelbandes, die Facetten hemisphärischer
Konstruktionen zu beleuchten, erfüllt. Der Leser muss zwar besonders bei Birles Abschnitt
mit der Lupe nach dem Begriff hemisphärisch
suchen, aber die Belege, dass die Literaturund Politikwissenschaften von den Betrachtungen der Dynamik dieser Konstruktionen
profitieren, bieten einen roten Faden. Darüber
hinaus ist der Band aber auch als ein Appell
an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
anderer Fachrichtungen zu verstehen, die sich
mit einigen der zahlreichen Konstruktionen
Amerikas befassen. Nur durch Wissensaustausch und Kooperation kann die angestreb-
2007-3-019
te Verbundforschung ihre multidisziplinäre
Perspektive erreichen. Gerade Wissenschaftler aus Lateinamerika könnten hier beitragen
und auch profitieren. Das Bewusstsein, dass
die westliche Hemisphäre ein vielschichtiges
Gebilde mit zahlreichen Grenzziehungen ist,
dürfte auch ein Beitrag zur Globalisierungsforschung sein, da statische Kategorisierungen abgelegt und Pluralitäten in den Vordergrund gestellt werden. Die im Band vorgestellte Herangehensweise erinnert daher zu
Recht an den multi-fokalen und integrativen
Ansatz der Globalgeschichte und in der Tat
bleibt der Leser am Ende unsicher, ob der hemisphärische Ansatz nicht doch vor allem Teil
einer global-lokalen Perspektive ist.
HistLit 2007-3-089 / Frank Mattheis über Birle, Peter; Braig, Marianne; Ette, Ottmar; Ingenschay, Dieter (Hrsg.): Hemisphärische Konstruktionen der Amerikas. Frankfurt 2006. In: HSoz-u-Kult 03.08.2007.
Böttcher, Nikolaus; Galaor, Isabel; Hausberger, Bernd (Hrsg.): Los buenos, los malos y
los feos. Poder y resistencia en América Latina. Frankfurt am Main: Vervuert Verlag 2005.
ISBN: 84-8489-191-7; 512 S.
Rezensiert von: Jan Suter, Basel
Der spanische Titel des Sammelbandes ist
natürlich eine Anspielung auf Sergio Leones Western „The Good, the Bad and the
Ugly“ und verweist so darauf, dass es hier
nicht allein um das Referieren verschiedener
Macht- und Konfliktverhältnisse geht, sondern ebenso auch um ihre Einordnung in
einen gesellschafts- und mentalitätsgeschichtlichen Kontext: etwa die Gegenüberstellung
Zivilisation – Barbarei, die für den gesellschaftlichen Diskurs zu Rebellionen, Revolutionen und Widerstandsbewegungen in Lateinamerika häufig den Bezugsrahmen gebildet hat. Der Band ist das Ergebnis eines
schon 2002 in Berlin abgehaltenen Symposiums zum – sehr weit gefassten – Thema
Macht und Widerstand in Lateinamerika. Er
vereinigt Beiträge der, wie die Herausgeber
schreiben, „jungen und weniger jungen TeilnehmerInnen“ des Symposiums. Neben der
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Außereuropäische Geschichte
deutschen ist die jüngere Lateinamerikanistik der Schweiz sehr gut vertreten, aber auch
einige internationale „celebrities“ des Faches,
etwa der Mexiko-Historiker Friedrich Katz
aus Chicago. Hinzu kommen Beiträger aus Israel, Frankreich und Kolumbien. HistorikerInnen, EthnologInnen und SoziologInnen beleuchten die Problemstellung aus den Blickwinkeln ihrer verschiedenen Disziplinen variantenreich und mit viel Detailwissen zu ihrem teilweise für Nicht-Lateinamerikanisten
exotisch anmutenden jeweiligen Forschungsgegenständen. Die Einführung der Herausgeber hebt auf das Problem der Suche nach
Kontexten von Macht und Widerstand ab und
argumentiert also auch methodenkritisch. In
den folgenden Beiträgen werden Fragen nach
Macht und Machtausübung in beachtlicher
thematischer, chronologischer und geographischer Breite gestellt, wobei Mexiko einen
Schwerpunkt bildet.
Die einleitende Sektion „Widerstehen, um
zu erobern“ wird angeführt von einem Beitrag von Miriam Lang, die sich mit dem Feminismus in Mexiko in jüngster Zeit befasst. Ihr
folgt Ingrid Kummels mit einem Aufsatz über
den Einfluss von Ärzten und Missionaren auf
Peyote-Heilungszeremonien bei den Rarámuri der mexikanischen Tarahumara-Wüste. Die
zweite Abteilung „Erinnerung und Diskurs“
bringt unter anderem Essays zur peruanischen und mexikanischen Kolonialgeschichte im 16. Jahrhundert (Karoline Noack bzw.
Amos Megged) sowie Untersuchungen politischer Widerstandsbewegungen in Brasilien zu Ende des 19. Jahrhunderts (Dawid Danilo Bartelt). „Ethnizität und Identität“, so
die Bezeichnung des dritten Teils des Bandes,
vereinigt Stücke vor allem zu indigenistisch
orientierten Widerstandsbewegungen, etwa
bei den Kruso’b Yukatans (Wolfgang Gabbert) im 19. Jahrhundert oder der zapotekischen Potestbewegung COCEI in Oaxaca in
den 1980er-Jahren (Stephan Scheuzger). Den
Schluss bildet der Abschnitt „Repression, Revolution und täglicher Widerstand“, unter anderem mit einem Beitrag zum Alltagswiderstand im kolonialen Lateinamerika zwischen
1500 und 1810 (Hermes Tovar Pinzón) und eine Betrachtung der neuesten politischen Geschichte Perus und der Guerillaorganisation
Sendero Luminoso („Leuchtender Pfad“) von
438
Ulrich Mücke.
Mit diesem kurzen Überblick ist die thematische Breite angedeutet, die der im Übrigen ansprechend gestaltete und sorgfältig redigierte Sammelband abzudecken versucht.
Offensichtlich wendet er sich in erster Linie an ein sehr interessiertes Fachpublikum
– nicht zuletzt auch, weil den fünf Beiträgen in englischer Sprache 16 auf spanisch verfasste (inklusive der Einleitung) gegenüberstehen. Man kann diese Publikation damit also auch als einen Versuch des Dialogs mit der
internationalen, das heißt der nord- und südamerikanischen Lateinamerikaforschung sehen, der durch vielerlei institutionelle Hindernisse, aber auch häufig vorhandenes gegenseitiges Desinteresse stark eingeschränkt
wird. Gerade für die Lateinamerikanistik des
deutschsprachigen Europa sind solche Anstrengungen unverzichtbar und deshalb sehr
zu begrüßen. Man nimmt dabei allerdings
billigend in Kauf, dass die wissenschaftliche
Produktion zu Lateinamerika in solche „internationalistische“ Publikationen und eher
„binnenwissenschaftliche“, das heißt zwangsweise auf deutsch verfasste Monographien
und Sammelbände (Dissertationen aufgrund
universitärer Vorschriften, bzw. andere Publikationen infolge Vorgaben durch Förderungsinstitutionen) auseinander fällt. Ebenso ergibt sich durch die Zusammenstellung
von derart verschiedenartigen Ansätzen, Themen, geographischen Spezialisierungen und
Methoden im Zeichen von Interdisziplinarität und dem Anspruch, Verallgemeinerungen und Ungenauigkeiten möglichst zu vermeiden, eine methodische Schwierigkeit: Entweder, man verzichtet für Publikationen wie
die vorliegende auf ein Oberthema, um die
spezialisierte Forschung der BeiträgerInnen
nicht unnötig thematisch zu beugen. Oder
aber, und dieser Weg wurde hier gewählt,
das Oberthema wird sehr allgemein gefasst.
Doch damit ist die Gefahr verbunden, dass
allgemeine Erkenntnisse im Hinblick auf das
Oberthema durch die Beiträge nicht wirklich
zu gewinnen sind. Ein derart globales Thema
wie „Macht und Widerstand in Lateinamerika“, so der Untertitel des Bandes, kann vielleicht in der Diskussion eines Symposiums
vor dem Hintergrund der präsentierten Forschung angegangen werden; im Sammelband
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S. Carreras u.a. (Hrsg.): Preußen und Lateinamerika
müsste jedoch zumindest durch die Herausgeber der Versuch einer Synthese unternommen werden, die die Fäden der einzelnen Beiträge zu einem Muster verknüpft und noch
einmal auf die in der Einleitung geäußerten
Erkenntnisinteressen abhebt. In „Los buenos,
los malos y los feos“ bleibt dieser Versuch einer Synthese aus, es gibt kein zusammenfassendes oder abschließendes Kapitel. Trotz dieser Schwäche bleibt der Band nichtsdestoweniger eine lesenswerte Sammlung, aber eben
nur eine Sammlung, von Schlaglichtern auf
einzelne Aspekte des Komplexes Macht / Widerstand in Lateinamerika, die notgedrungen
etwas disparat erscheinen muss.
HistLit 2007-3-019 / Jan Suter über Böttcher,
Nikolaus; Galaor, Isabel; Hausberger, Bernd
(Hrsg.): Los buenos, los malos y los feos. Poder
y resistencia en América Latina. Frankfurt am
Main 2005. In: H-Soz-u-Kult 09.07.2007.
Carreras, Sandra; Maihold, Günther (Hrsg.):
Preußen und Lateinamerika. Im Spannungsfeld
von Kommerz, Macht und Kultur. Münster: LIT
Verlag 2004. ISBN: 3-8258-6306-9; 328 S.
Rezensiert von: Barbara Vogel, Historisches
Seminar, Universität Hamburg
Das Buch veröffentlicht die Ergebnisse eines
Kolloquiums im Ibero-Amerikanischen Institut Preußischer Kulturbesitz Berlin aus dem
Jahre 2003, das – wie es im Vorwort treffend heißt – „Schlaglichter“ (S. 8) auf die Beziehungen zwischen Preußen und verschiedenen lateinamerikanischen Staaten und Regionen (Karibik, Argentinien, Chile, Brasilien, Mexiko) wirft. „Kommerz, Macht und
Kultur“ können dabei als Stichworte verstanden werden, unter denen sich die verschiedenen Aspekte und Themenfelder der Beiträge addieren lassen. Das avisierte „Spannungsfeld“ zwischen diesen Wirklichkeit konstituierenden Bereichen bleibt allerdings mehr Andeutung als Perspektive der Analysen – kein
Wunder beim heutigen Stand der vergleichenden Geschichtsforschung zu diesem Gegenstand. Da auf dem Kolloquium fast ausschließlich Lateinamerika-Spezialisten versammelt waren, richtete sich deren Interesse
2007-3-163
stark auf den Referenzpartner Preußen; über
„die Verhaltensmuster in Lateinamerika“ erfahren die Leser weniger.
Die Themenvielfalt sowie die einzelnen
Beiträge weisen über bloße bilaterale Beziehungsgeschichte hinaus. Zeitlich reicht das
Spektrum vom späten 17. Jahrhundert, als
die Kurmark Brandenburg unter dem Großen
Kurfürsten handels- und kolonialpolitisch in
der Karibik Fuß zu fassen versuchte, bis
zum späten 20. Jahrhundert, das im Beitrag über preußisch-deutsche Militärberater
in Chile gestreift wird. Das bedeutendste Beziehungsfeld bildet offensichtlich der „Kommerz“, was gewiss dem Forschungsstand geschuldet ist. Das Interesse von Kaufleuten
und Wirtschaftsexperten gab wichtige Impulse für die Kontaktaufnahme. Vier von zehn
Beiträgen und fast die Hälfte des Seitenumfangs widmen sich den Handels- und Wirtschaftsbeziehungen von Preußen ausgehend
zu verschiedenen lateinamerikanischen Staaten und Regionen. Gernot Lennert schildert
das Kolonialexperiment des Großen Kurfürsten in der Karibik, das heute fast als Kuriosum erscheint, wenn man es nicht als
Beispiel für die Aufbruchstimmung in Europa nach dem desaströsen Dreißigjährigen
Krieg deuten will. Dass in Preußen dann der
Verzicht auf eine Zuckerinsel leichter verschmerzt werden konnte, weil hier zwei Generationen später (1747) die Zuckergewinnung aus Rüben entdeckt wurde, verführt dazu, den Bogen zu interkulturellen Begegnungen zu schlagen. Bernd Schröters Beitrag über
die Anfänge der preußischen Diplomatie in
Südamerika, insbesondere in Brasilien, zeigt
ebenfalls die wachsende Bedeutung der Handelsinteressen für die europäischen Staaten,
ging es doch um die Etablierung von Konsulaten. Der geringe Erfolg dieser frühen Bemühungen am Anfang des 19. Jahrhunderts
sagt offenbar mehr über die Rivalität der europäischen Mächte aus denn über Defizite der
Kommunikation zwischen Preußen und den
Lateinamerikanern. Michael Zeuskes Aufsatz
über preußische Handels- und Konsularbeziehungen zu „Westindien“ sprengt mit über
siebzig Seiten alle einem Kolloquiumsbeitrag
angemessenen Formate. Zeuskes Darstellung
der Organisierung des Atlantikhandels, besonders wichtig die „Rheinisch-Westindische
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Außereuropäische Geschichte
Compagnie“ von 1821, berücksichtigt kenntnisreich die wirtschaftliche Umbruchssituation in Preußen, das mit den 1815 hinzugewonnenen Rheinprovinzen eine große wirtschaftliche und gesellschaftliche Heterogenität zu
bewältigen hatte. Seine These, dass die Industrialisierung in Preußen ohne den transnationalen Handel, der auf Textil-, das heißt
vornehmlich Leinenexporten basierte, nicht
zu verstehen sei (S. 150), verdient allerdings
eine Relativierung. Zeuske schildert die divergierende Entwicklung im protoindustriellen Leinengewerbe zwischen Deindustrialisierung und Industrialisierung überzeugend
und anschaulich. Aber die Industrialisierung
in Preußen ist nicht durch das Textilgewerbe induziert, sondern durch Kohle und Eisen. Sein Fazit lautet, Preußen sei eine „sekundäre Großmacht in Westindien“, gewesen,
die durch pragmatische Wirtschaftspolitik Erfolge erzielt habe. Zu betonen wäre, dass es
schwere Verwerfungen zwischen den liberalen Beamten in den Wirtschaftsressorts und
der überwiegend strikt konservativen Bürokratie gab (S. 214f.). Walther L. Bernecker, der
ebenfalls die Handelspolitik untersucht, vornehmlich auf Mexiko orientiert, kommt zu
ganz ähnlichen Ergebnissen: Auch er zeigt die
Vorreiterrolle des preußischen Westens, hebt
die Bedeutung der Textilprodukte und die unaufhaltsame Verdrängung des Leinens durch
die Baumwolle hervor. Und auch bei ihm
wird die Auseinandersetzung zwischen der
legitimistischen Außenpolitik und dem handelspolitischen Liberalismus deutlich (S. 221).
Zwei Beiträge gehören in den militärischen
Bereich: Gerhard Wiechmann schildert die
ersten Flottenexpeditionen unter Leitung des
preußischen Prinzen Adalbert nach Westindien. Die von Nationalgefühl inspirierte Flottenbegeisterung während der Revolution von
1848/49, Abenteuerlust nach der großen weiten Welt und preußische Handelsinteressen
wirkten dabei zusammen. Preußische Segelschiffe beteiligten sich auch an den lateinamerikanischen Kriegen kurz nach der Jahrhundertmitte. Ob man den Ausdruck der „Kanonenbootpolitik“, der gewöhnlich mit dem
politisch gefährlichen und dramatischen Panthersprung nach Agadir vom Juli 1911 assoziiert wird, für diese Expeditionen verwenden
sollte, ist fragwürdig. Stefan Rinke verfolgt
440
die Geschichte und die Nachgeschichte der
preußischen Militärberater in Chile im späten Kaiserreich. Die direkte Kooperation beendete der Erste Weltkrieg; nur kurz wiederbelebt in den späten 1920er-Jahren. Rinke geht
seinen militärpolitischen Gegenstand als ein
Beispiel für Kulturtransfer an, und insofern
legt er Wert auf die habituellen Auswirkungen preußischer Beratung auf das chilenische
Militär, auf dessen Professionalisierung und
Militärkultur. Zugleich warnt er vor zu leichtfertigen Parallelen: „Eine Pickelhaube macht
noch keinen Preußen“ (S. 262).
Vier Beiträge lassen sich dem Stichwort
Kultur zuordnen. Marcelo Caruso fragt nach
dem Einfluss des preußischen Schulwesens,
insbesondere der Volksschule, auf argentinische Schulreformen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, vor allem dann aber unter Saavedra
Lamas um 1916. Er kommt allerdings zu einem eher negativen Befund. Den Vorbildcharakter Preußens propagierten nämlich gerade die politischen Kräfte in Argentinien, die
im Begriff standen, ihre Macht zu verlieren
(S. 303). Insgesamt wurde für Argentinien der
Einfluss Frankreichs wichtiger (S. 289). Ulrike Schmieder untersucht die Lateinamerikabilder in der preußischen und deutschen Publizistik vom späten 18. bis zur Mitte des 19.
Jahrhunderts. Sie gibt für die Leser des Bandes als erste den Anstoß, über die sich wandelnde Namensgebung für den lateinamerikanischen Kontinent in der deutschen Wahrnehmung nachzudenken. Zugleich kann sie
zeigen, wie sehr die Zunahme an Informationen dazu beitrug, von Ahnungslosigkeit und
Ressentiment geprägte Bilder zu revidieren.
Eine merkliche Zäsur setzten in dieser Hinsicht die Berichte Alexander von Humboldts.
Freundlichere Bilder schufen dann die Handelsbeziehungen; vermehrt publizierte Reiseberichte trugen ebenfalls zu größerer Differenzierung bei. Die politischen Gegensätze in
den deutschen Bundesstaaten färbten die Urteile über Lateinamerika ein. Denn die dortigen Unabhängigkeitsbewegungen entzweiten in Deutschland die Verfechter des Legitimitätsprinzips der Heiligen Allianz und
ihre liberalen Gegner, die Freiheitsbewegungen in und außerhalb Europas begrüßten.
Die Beiträge von Ette und Carreras exemplifizieren jeweils an einer Person Entstehung,
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Sammelrez: Geschichte Indiens und seiner Historiografie(n)
Formen und Fernwirkungen kultureller Annäherung: Otmar Ette zeichnet das Wirken
Alexander von Humboldts und seiner Forschungsexpertise in Preußen nach, während
sich die Herausgeberin des Bandes Sandra
Carreras dem argentinischen Stifter der Quesada Bibliothek als Gründungskern des Berliner Ibero-Amerikanischen Institut widmet,
um den Hintergründen der Schenkung nachzugehen – der Preuße von Humboldt als Kosmopolit ein Vermittler der lateinamerikanischen Kultur in Europa um 1800 und der Argentinier Quesada als ein Bewunderer deutscher Wissenschaft und deutschen Gelehrtentums im ausgehenden 19. Jahrhundert. In der
preußischen Geschichtsschreibung ist der Name Humboldt vornehmlich mit Wilhelm verbunden, dem preußischen Beamten, Diplomaten und treibender Kraft bei der Gründung der Berliner Universität im Jahre 1810.
Alexander ist Wilhelms jüngerer Bruder, der
überall außerhalb Preußens größeren Ruhm
genießt, der in seiner Heimat und, wie Ette zeigt, bei seinem Bruder dagegen im Verdacht stand, mehr Weltbürger als Deutscher
zu sein, was in der spezifischen Ausformung
des deutschen Nationalismus an Vaterlandsverrat grenzte. Die 82.000 Bände umfassende Quesada Bibliothek mit sozial- und geisteswissenschaftlicher Ausrichtung, nach dem
Ersten Weltkrieg nach Berlin transferiert, entstand aus der Sammelleidenschaft Ernesto
Quesadas, geboren 1858, und zuvor seines
Vaters. Quesada, studierter Jurist und vorübergehend auch in der Justiz tätig, verstand
sich als Akademiker. Nach der Entpflichtung
von seinem Lehrstuhl für Soziologie im Jahre 1921 lebte er bis zu seinem Tode in der
Schweiz. Die Liebe zu Preußen als der deutschen Führungsmacht datiert schon aus seinem kurzzeitigen Schulbesuch in Dresden. Er
war ein Verehrer Bismarcks. Der Vortrag, den
Quesada 1898 über Bismarck hielt und aus
dem Sandra Carreras zitiert, gibt ein kleines
eindrucksvolles Beispiel für den Erkenntniswert von Kulturvergleichen. Quesada beobachtete aus der Schweiz mit Ingrimm die Namensgebung für das 1930 eingeweihte IberoAmerikanische Institut, weil er dadurch die
lateinamerikanischen Republiken in die „Gefolgschaft“ Spaniens und Portugals herabgewürdigt sah (S. 319).
2007-3-039
Den Veranstaltern des Kolloquiums ging
es darum, das Spektrum aufzuzeigen, „das
die Referenz auf Preußen zur Legitimation
von Verhaltensmustern in Lateinamerika ausmacht“ (S. 8). Angesichts des Forschungsstands kann es sich nur um einen Zwischenbericht handeln. Wie von den Herausgebern
erhofft kann der Band zu weiterem Forschen
einladen. Bedauerlich ist, dass dem Band keine problemorientierte Einführung vorangestellt ist, in der die Erkenntnisfortschritte, die
in der Beziehungsgeschichte oder dem Kulturtransfer zwischen ausgerechnet Preußen
und Lateinamerika liegen, erörtert werden.
HistLit 2007-3-163 / Barbara Vogel über Carreras, Sandra; Maihold, Günther (Hrsg.): Preußen und Lateinamerika. Im Spannungsfeld von
Kommerz, Macht und Kultur. Münster 2004. In:
H-Soz-u-Kult 03.09.2007.
Sammelrez: Geschichte Indiens und
seiner Historiografie(n)
Conermann, Stephan: Das Mogulreich. Geschichte und Kultur des muslimischen Indien.
München: C.H. Beck Verlag 2006. ISBN: 3-40653603-4; 128 S.
Conermann, Stephan (Hrsg.): Die muslimische
Sicht (13. bis 18. Jahrhundert). Frankfurt: Humanities Online 2002. ISBN: 3-934157-22-X;
350 S.
Gottlob, Michael (Hrsg.): Historisches Denken
im modernen Südasien (1876 bis heute). Frankfurt: Humanities Online 2002. ISBN: 3-93415723-8; 474 S.
Rezensiert von: Michael Mann, FernUniversität Hagen
Ausdruck eines seit geraumer Zeit wachsenden Eindrucks der Globalisierung in den
europäischen und nordamerikanischen Geschichtswissenschaften ist das zunehmende
Interesse an außereuropäischen Regionen, ihren Gesellschaften und ihrer Geschichte. Global History als jüngstes Interessengebiet von
HistorikerInnen dürfte sicherlich der deutlichste Niederschlag sein. Doch auch auf dem
Gebiet der Historiografiegeschichte tut sich
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
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441
Außereuropäische Geschichte
jüngst etwas. Galt Geschichte und ihre Schreibung bisher als eine Domäne des Westens,
so wurde im Verlauf der letzten beiden Jahrzehnte zur Kenntnis genommen, dass es in
vielen anderen Weltregionen eine teilweise
beachtliche historiografische Tradition gegeben hat und bis heute gibt. Das gilt insbesondere für Südasien bzw. den indischen Subkontinent. Gerade an ihm hatten europäische Historiker das kulturell-zivilisatorische Andere
schon im 18. Jahrhundert mit Hilfe einer angeblich fehlenden Geschichtsschreibung ausfindig gemacht. Generell – so die Auffassung bis in die jüngste Vergangenheit und bei
manch einem Indologen bis in die Gegenwart
– mangele es Indern an historischem Bewusstsein, weshalb sie auch nicht historisch denken
können.
Dem orientalistischen Konstrukt (im Sinne Edward Saids) versucht seit den späten
1990er-Jahren ein engagierter Kreis deutscher
Südasien-Historiker entgegen zu wirken, eingebunden in eine Reihe, die den ambitionierten Titel „Geschichtsdenken der Kulturen
– Eine kommentierte Dokumentation“ trägt.
Abgedeckt werden sollen Südasien, China
und die islamischen Kernländer. Von den
drei Bänden zu Südasien liegen bislang zwei
vor, die hier besprochen werden. Den ersten Band der chronologischen Ordnung soll
Georg Berkemer zu der hinduistischen, jainistischen und buddhistischen Historiografie
noch liefern. Dem schließt sich als zweiter der
Band zur „muslimischen Sicht“ an, gemeint
ist die Historiografie aus der Feder muslimischer Geschichtsschreiber, gefolgt vom dritten Band zur Geschichtsschreibung im „modernen Südasien“, genau von 1786 bis in die
Gegenwart. Besonderes Verdienst der Reihe
ist es, dass sie zahlreiche zentrale Texte der
südasiatischen Historiografie und ihre Autoren in einer umfangreichen Einleitung nicht
nur historisch verortet, sondern sie in Auszügen übersetzt und damit einem breiteren,
gleichwohl akademischen Lesepublikum zugänglich macht.
In seiner Einleitung zum Band „Die muslimische Sicht“ (S. 9-87) hebt Stephan Conermann auf das „normative muslimische
’Historische Denken’“ ab. Gemeint ist ein
historisch-ideologischer Überbau, der durch
den Islam religiös vorgegeben ist und Ge-
442
schichte damit in einen heilsgeschichtlichen
Interpretationskontext stellt. Dieser ist Reform orientiert im Sinne einer Rückbesinnung auf die ideale Gemeinschaft aller Muslime (umma) zu Zeiten des Propheten Muhammad. Aus diesem Grund wird Geschichte
zu einer moralischen Instanz, die Sinn stiftend
im Dienste von Religion und Recht steht. Geschichte, vor allem als das vorbildliche Leben
historischer Helden, wird zu einer Leitlinie,
an der sich Herrscher im Guten orientieren
sollen. In seinem Herrschaftsgebiet hat ein guter Herrscher den Wohlstand der Gesellschaft
zu mehren, Schaden von ihr zu wenden und
freigiebig zu sein. Geschichte beziehungsweise der Geschichtsschreibung kommt folglich
eine didaktische Funktion zu, wenn idealisierte Herrschergestalten zum moralischen Maßstab politisch korrekten Handelns werden.
Und der Historiker ist der Gelehrte, der aus
den Beispielen, die die Geschichte bereit hält,
die beste und relevante Auswahl trifft.
Conermann macht in der muslimischen
Perspektive fünf verschiedene historiografische Diskurse aus (S. 26-31): 1. die imperiale Sicht des Delhi-Sultanats (1206-1526), gefolgt vom Mogul-Reich (1526-1858), 2. den
britischen Kolonialismus (1858-1947), 3. den
indologischen Orientalismus, der eigentlich
ein Bestandteil des Kolonialismus ist, freilich in Europa seine Blüten triebt, 4. indische Erneuerungsbewegungen und beginnende nationale Geschichtsschreibung sowie 5.
den Kommunalismus. In der Tat scheint sich
dieses Raster für die Geschichte der Historiografie in Südasien zu etablieren, auch wenn
mancherlei Kritik daran zu üben ist. Anfangen kann man beim „Kommunalismus“, der
unglücklichen Übersetzung von „communalism“. Der Begriff bezieht sich auf die Gemeinschaften von Hindus und Muslimen (gelegentlich werden auch die Sikhs bedacht)
und die Konflikt(potenzial)e, die zwischen
den einzelnen Religionsgemeinschaften auftreten können. Historiografisch vielleicht ungewollt, wird hiermit indes ein Erbe der kolonialen Vergangenheit fortgeführt, nämlich
die Gesellschaften Südasiens primär nach religiösen Kategorien zu ordnen und sie allein
als religiöse Gemeinschaften definiert zu sehen. „Communalism“ scheint jedoch eher ein
(instrumentalisierbares) Politikum zu sein, als
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
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Sammelrez: Geschichte Indiens und seiner Historiografie(n)
dass er den Alltag im gegenwärtigen Südasien bestimmt.
Im nächsten Abschnitt der Einleitung
nimmt Conermann eine sinnvolle historische Kontextualisierung vor. Ein wichtiger
Aspekt ist hierbei die gegenseitige Beeinflussung sanskritisch-brahmanischer Historiografie und der indo-persischen Geschichtsschreibung. Keinesfalls hat die Historiografie zwei parallele Entwicklungen genommen,
wie Conermann anhand des aktuellen Stands
der Forschung aufzeigen kann. Freilich steckt
diese noch in den Anfängen, und vor allem gälte es eine stärkere Vernetzung und
Verzahnung indologischer und islamwissenschaftlicher Kompetenz zu erwirken, mit entsprechend neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Die Probleme der Islamisierung der
Randzonen Südasiens (Panjab und Bengalen) stellt Conermann anhand Bengalens dar
und betont die inklusivistischen wie interaktiven Momente bei den Konversionen zum
Islam. Ab dem 15. Jahrhundert entstanden
neue Formen unterschiedlicher lokaler Traditionen, die sich zunehmend von der großen
Tradition des arabischen und von der Scharia
geprägten Islam entfernten, so Conermann.
Reformen im Islam des 17. Jahrhundert sowie
seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert waren
in Südasien daher stets auf die Reinigung von
synkretistischen Elementen und neuer Einheitlichkeit ausgerichtet, die sich freilich an
dem alten Konzept von der ehemaligen Einheit der Muslime orientierte.
Bevor die südasiatisch-muslimische Historiografie behandelt wird, erörtert Conermann
ausführlich die arabische sowie die persische
Historiografietradition (S. 45-67). War die erste als sprachliche Trägerin des offenbarten
Wortes auf ein religiöses Prokrustes-Bett gefesselt, war die zweite, bald komplementär
zum Arabischen, von dieser „Bürde“ befreit
und konnte daher auch andere, säkulare Formen der Historiografie entwickeln. Auf den
verbleibenden 16 Seiten werden schließlich
die Zeugnisse der südasiatisch-muslimischen
Historiografie vorgestellt. Abgesehen davon,
dass der Umfang angesichts des Themas sicherlich sehr knapp bemessen ist, fällt auf,
dass es sich vielfach um eine literaturgeschichtliche und weniger um eine historiografiegeschichtliche Analyse handelt. Biswei-
2007-3-039
len ist beides nicht recht auseinander zu halten. Zudem wird die Darstellung in das Korsett des „normativen muslimischen ’historischen Denkens’“ geschnürt, das sämtliche
Geschichtsschreibung und ihre literarischen
Genres als statisch erscheinen lässt – vom 13.
bis zum 19. Jahrhundert stets die selben Produkte, die kaum Neuerungen aufweisen. Vielleicht wäre es dem Thema angemessen gewesen, hier stärker die Abweichungen und Brüche zu betonen, als vielleicht unbeabsichtigt
die Unveränderlichkeit hervorzustreichen.
Ähnliche Kritik ist auch an dem kleinen
Bändchen zum Mogul-Reich zu äußern. Zum
einen ist es ein unmittelbares Derivat des eben
besprochenen Bandes, was sich unter anderem an bisweilen identischen Formulierungen zeigt, aber auch an der stark literaturgeschichtlichen Darstellung erkennbar ist. Von
der Geschichte des Mogul-Reiches erfährt das
Lesepublikum relativ wenig. Die wirtschaftliche Entwicklung von dreihundert Jahren wird
auf gerade einmal acht Seiten abgehandelt
und dabei nehmen die sicherlich bis Mitte
des 18. Jahrhunderts peripheren europäischen
Handelsgesellschaften eine prominente Stellung ein. Überhaupt verwundert, dass die
Geschichte des Mogul-Reiches mit der britischen Kolonialherrschaft fortgesetzt wird, beginnend mit Robert Clive und der Schlacht
bei Plassey 1757 und endend mit dem 1877
ausgerufenen „Kaiserreich Indien“, als ob die
Geschichte des imperialen Indien als Einheitsstaat erst unter der britischen Krone seine
Vollendung gefunden hätte und, polemisch
zugespitzt, das gegenwärtige Indien nur eine weitere degenerative Erscheinung partikularistischer Interessen ist. Sicherlich unbeabsichtigt setzt Conermann damit die Tradition kolonialer Historiografie fort, die eben genau dieses Legitimationskonstrukt historisch
herleitete und zur allein gültigen Geschichtsschreibung Südasiens erklärte.
In die gleiche Richtung geht auch die Kritik, die an Gottlobs Band und seiner Periodisierung geübt werden muss. Warum
das „moderne Südasien“ ausgerechnet mit
den historiografischen Aktivitäten der Briten einsetzt, ist nicht nachzuvollziehen, ebenso wenig, warum die „Moderne“ überhaupt
mit der britischen Kolonialherrschaft synchron gesetzt wird. Gottlob wird ebenfalls
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
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443
Außereuropäische Geschichte
zum unfreiwilligen Opfer britischer Kolonialgeschichtsschreibung, die die Periodisierung von der „klassischen“ (hinduistischen)
Geschichte, der „mittelalterlichen“ (muslimischen) Geschichte und der „modernen“ (britischen) Geschichte überhaupt erst postuliert
hat. Zu fragen wäre hier, wann und wie
wirkungsmächtig die britisch-europäischen
Geschichtswissenschaften auf die indische
Geschichtsschreibung war und ob dies an
allen Orten des Subkontinents respektive
Britisch-Indiens spürbar war, kurz: ob in Zeit
und Raum eine omnipräsente Historiografie britisch-akademischer Provenienz anzutreffen war bzw. ob die Erzeugnisse indischer Geschichtsschreibung stets einen „nationalen“ Charakter besaßen. Wenn dem nicht
so ist, dann schließt sich die Frage nach anderen historiografischen Traditionen an und
nicht nur einzelnen Zeugnissen (vgl. S. 98107), die parallel existierten, abgedrängt und
überdeckt waren. In diesem wie auch im Band
von Conermann macht sich das Fehlen des
ersten Bandes von Berkemer schmerzlich bemerkbar, hätte er doch solch offene Fragen zumindest teilweise klären helfen können.
Abgesehen von dieser Kritik legt Gottlob eine überaus kenntnisreiche und wohl recherchierte Einleitung vor (S. 19-145), die alle
wichtigen Stationen, Texte und Autoren der
südasiatischen Historiografie seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert mit sprachlicher und
stilistischer Eleganz vorstellt. Die Mehrheit
der Autoren waren indes keine Historiker im
Sinne von Geschichtswissenschaftlern. Viele
religiöse Reformer und politische Agitatoren,
Schriftsteller und Zeitungsreporter, Nationalisten und Politiker stellten, seit der Mitte des
19. Jahrhunderts zunehmend, eine Agenda
für eine indische Geschichtsschreibung auf.
Britisch-kolonialer Historiografie, die das Geschichtsbild vom Verfall und Zerfall konstruiert hatte, setzten hindu-nationalistische Autoren bald das Konstrukt einer glanzvollen alten Kultur und ihrer Wiederbelebung entgegen, während muslimische Literaten und Philosophen nach den 1920er-Jahren Geschichte
als Ressource für einen islamisch begründeten Nationalstaat entdeckten. Der Geschichtsschreibung in den Nachfolgestaaten BritischIndiens ist ein eigener großer Abschnitt gewidmet (S. 110-145), in dem aktuelle Fragen
444
und Probleme wie Geschichte als Nationalgeschichtsschreibung, das geerbte und internalisierte koloniale Geschichtsparadigma und die
Fragmentierung der südasiatischen Geschichte thematisiert werden.
Beide Bände besitzen die gemeinsame
Schwäche, dass sie, in bester Absicht, einen
Beitrag zum besseren Verständnis außereuropäischer Länder und Kulturen leisten wollen, doch mit der Periodisierung einerseits
und der Aufteilung in eine religiös definierte
„indische“ Gesellschaft andererseits eher stereotype Bilder weiter transportieren, als sie
zu dekonstruieren. Daran ändert wenig, dass
Conermann auf das Problem hinweist und
die gegenseitige historiografische Beeinflussung gelegentlich betont. Nach Foucault und
Said sind die Autoren freilich nur Opfer des
„orientalistischen Diskurses“, aus dem auszubrechen, wie zu lesen, fast unmöglich erscheint. Andererseits muss freimütig zugestanden werden, dass beide Werke nicht nur
eine Menge Literatur verarbeiten und aufbereiten und das Lesepublikum in ein unbekanntes und höchst schwieriges Feld einführen, sondern auch mit einer ganz wesentlichen Stereotype aufräumen, nämlich der,
Südasien habe kein historisches Bewusstsein,
was an seinen entweder fehlenden (auf Seiten der Hindus) oder kaum vorhandenen
(auf Seiten der Muslime) historiografischen
Zeugnissen ablesbar sei. Unbestreitbar liegt
in dieser Dekonstruktion das größte Verdienst
der beiden voluminösen Bücher. Ein Anfang
ist folglich gemacht, bleibt abzuwarten, was
die künftige Forschung zur Historiografiegeschichte zum indischen Subkontinent leisten
wird.
HistLit 2007-3-039 / Michael Mann über Conermann, Stephan: Das Mogulreich. Geschichte
und Kultur des muslimischen Indien. München
2006. In: H-Soz-u-Kult 16.07.2007.
HistLit 2007-3-039 / Michael Mann über Conermann, Stephan (Hrsg.): Die muslimische
Sicht (13. bis 18. Jahrhundert). Frankfurt 2002.
In: H-Soz-u-Kult 16.07.2007.
HistLit 2007-3-039 / Michael Mann über Gottlob, Michael (Hrsg.): Historisches Denken im
modernen Südasien (1876 bis heute). Frankfurt
2002. In: H-Soz-u-Kult 16.07.2007.
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
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D.T. Courtwright: Sky as frontier
Courtwright, David T.: Sky as Frontier. Adventure, Aviation, and Empire. College Station: Texas A&M University Press 2006. ISBN:
1-58544-384-0; 284 S.
Rezensiert von: Anke Ortlepp, Deutsches
Historisches Institut, Washington
In seinem jüngsten Buch „Sky as Frontier“
erzählt der Historiker David T. Courtwright
die Geschichte der amerikanischen Luft- und
Raumfahrt als Aufbruch zu neuen Grenzen,
als Beginn eines Zeitalters der Dreidimensionalität. Während das von Frederick Jackson
Turner entwickelte frontier-Paradigma in anderen Teilbereichen der amerikanischen Geschichte längst an Faszination verloren hat,
ja vor allem von Vertretern der New Western History als anglozentrische Verklärung
der Besiedlungsgeschichte des Westens entlarvt worden ist, macht Courtwright den Begriff unverhofft fruchtbar.1 Seine Untersuchung der Ambitionen, Mechanismen und
Ziele einer himmelwärts gerichteten amerikanischen Expansionspolitik bettet er ein in
technik-, kultur- und wirtschaftshistorische
Diskussionen und knüpft an Überlegungen
an, die Geschichte der Vereinigten Staaten im
20. Jahrhundert als die Herausbildung eines
modernen Imperiums zu verstehen.2 Damit
bietet Courtwright eine erfrischend neue Lesart von amerikanischer Luft- und Raumfahrtgeschichte.
Den ersten Teil seines Buches („The Age of
Pioneers“) gliedert Courtwright in fünf Kapitel. Im ersten legt er sein Verständnis von
frontier dar. Er nutzt den Begriff „as an organizational idea for the history of aviation and
1 Vgl.
Faragher, John Mack; Turner, Frederick Jackson,
Rereading Frederick Jackson Turner. „The Significance
of the Frontier in American History“ and Other Essays,
New Haven 1999; Faragher, John Mack; Hine, Robert
V., The American West. A New Interpretive History,
New Haven 2000; Limerick, Patricia N., Something in
the Soil. Legacies and Reckonings in the New West,
New York 2000.
2 Maier,
Charles S., Among Empires. American Ascendancy and Its Predecessors, Cambridge
2006
(rezensiert
von
Anne
Friedrichs:
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de
/rezensionen/type=rezbuecher&id=8121>); de Grazia, Victoria, Irresistible Empire. America’s Advance
Through Twentieth-Century Europe, Cambridge 2005
(rezensiert von Kaspar Maase: <http://hsozkult.
geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-4-144>).
2007-3-165
space“, wobei es ihm um die Beschreibung
sozialer Prozesses geht (S. 8). Im Folgenden
unterscheidet er verschiedene frontier-Typen,
lotet die Vergleichbarkeit von Raum und Zeit
als frontier-Dimensionen sowie die Synergieeffekte aus, die sich aus der gleichzeitigen Erschließung verschiedener Siedlungsgrenzen
ergeben: So habe vor allem die Vehemenz,
mit der auch im 20. Jahrhundert Landerschließung und -entwicklung in einem Land von
der Größe der USA vorangetrieben worden
seien, zu den herausragenden technischen Errungenschaften in der Luftfahrtindustrie geführt und eine vollständige Erschließung des
amerikanischen Luftraums nach sich gezogen, da allein das Flugzeug jeden Winkel des
Landes erreichbar machte. Kapitel 2 rekapituliert die Erfolge und Misserfolge der Flugpioniere Wilbur und Orville Wright sowie ihrer Konkurrenten Glenn Curtiss und Tony
Fokker, bevor Courtwright im dritten Kapitel die Bedeutung des Ersten Weltkrieges für
die Entwicklung amerikanischer (und europäischer) Flugzeugtechnologien umreißt. In
diesem Krieg, der über weite Strecken ein
Stellungskrieg gewesen sei, habe die Verfügbarkeit einer hochgerüsteten Luftwaffe, die
sich die USA erst zulegen mussten, entscheidende strategische Vorteile gebracht. Zudem
habe der Krieg ein internationales Nachdenken darüber ausgelöst, wem Luftraum gehöre und wie auf internationaler und nationaler
Ebene der Zugang dazu zu regeln sei.
Courtwright zeigt auch, dass der Entwicklungsschub, den die amerikanische Flugzeugindustrie während des Krieges vollzog,
bei Kriegsende ein abruptes Ende nahm,
da Regierungsaufträge ausblieben, die Forschung weiterhin ermöglich hätten. Da alternative Finanzierungsquellen fehlten, ging
die Flugzeugproduktion binnen dreier Jahre von 21.000 im Herbst 1918 auf 263 Flugzeuge im Frühjahr 1922 zurück (S. 46). Mehr
Glück schienen viele Piloten zu haben, die
auf Karrieren als Kunstflieger umsattelten
und mit Flugshows zu einer wachsenden
Flugbegeisterung in der Bevölkerung beitrugen. Erst die Nutzbarmachung des Flugzeugs
zum Transport von Post in den 1920er-Jahren,
um die es im vierten Kapitel geht, führte
zur wirtschaftlichen Erholung der Flugzeug-
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
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445
Außereuropäische Geschichte
industrie.3 Fluggesellschaften wie United Airlines und Pan American Airways (Pan Am)
entstanden, die neben Post auch zunehmend
zahlende Passagiere beförderten. Einen entscheidenden Anstoß, so argumentiert Courtwright im fünften Kapitel, habe die zivile
Passagierluftfahrt schließlich durch die Atlantiküberquerung Charles Lindberghs im Jahr
1927 erfahren. Er habe in allen Teilen der
USA erfolgreich Werbung für das Flugzeug
als Transportmittel gemacht und gleichzeitig
mit seinen und Anne Morrow Lindberghs Erkundungsreisen für Pan Am den Grundstein
für ein Netz von Flugstrecken gelegt, das weit
über die Vereinigten Staaten hinausreichte.
Auch der zweite Teil des Buches („The Age
of Mass Experience“) gliedert sich in fünf Unterkapitel. In Kapitel sechs skizziert Courtwright die Entwicklung der Flugreiseindustrie
und ihrer kulturellen Erscheinungsformen bis
zum Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg. Während Ende der 1920er-Jahre viele Amerikaner der zivilen Passagierluftfahrt
weiterhin skeptisch gegenüberstanden, überwanden im Verlauf der 1930er-Jahre vor allem Besserverdienende und Geschäftsreisende ihre Flugangst und nutzten das sich schnell
vergrößernde Angebot an Linienflügen. Gefördert durch eine amerikanische Bundesregierung, die Subventionen und Exklusivnutzungsrechte für Streckenabschnitte vergab,
bauten amerikanische Fluggesellschaften ihre Streckennetze aus, investierten in neueste
Technologie und entwickelten ihr Angebot an
Serviceleistungen. American Airlines präsentierte 1929 erstmalig einen Spielfilm während
eines Fluges, United Airlines stellte als erste
Fluggesellschaft Stewardessen zur Betreuung
ihrer Fluggäste ein.
Der Zweite Weltkrieg, um den es in Kapitel 7 geht, habe diese Entwicklung nur
für wenige Jahre unterbrochen, so Courtwright. Zugleich sei die Expansion der Nachkriegsjahre ohne diesen Krieg nicht vorstellbar, der einen weiteren technischen Entwicklungsschub gebracht, zum Ausbau der inneramerikanischen Infrastruktur geführt sowie Millionen Amerikaner an Einsatzzielen
oder auf dem Weg dorthin mit dem Flugzeug vertraut gemacht habe. Deshalb sei das
3 Die
erste Luftpostverbindung zwischen Washington
und New York wurde am 15. Mai 1918 eingerichtet.
446
Fliegen in den Nachkriegsjahrzehnten (Kap.
8 und 9) zum „routine stuff“ geworden (S.
132), die frontier-Gesellschaft der frühen Jahre zu einer heterogenen Masse von Vielfliegern. Courtwright beleuchtet die Professionalisierung der Ausbildung von Piloten und
Flugbegleitern sowie neue Kommunikationsformen zwischen Piloten und Fluglotsen als
Voraussetzungen, ohne die ein erhöhtes Flugund Passagieraufkommen nicht zu bewältigen waren. Zudem reißt er an, wie sich mit
Einführung der Düsenflugzeuge das Flugreiseerlebnis veränderte: Druckregulierte Kabinen, kleine Fenster und größere Reisehöhen schafften Distanz zum überflogenen Territorium und generierten Langeweile, worauf
die Fluggesellschaften mit Unterhaltungsprogrammen reagierten. Courtwright zeigt, dass
der Ausbau der Beförderungskapazitäten, vor
allem durch die Einführung der Boeing 747 in
den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren,
sinkende Preise sowie die Erweiterung der internationalen Streckennetze mit einem enormen Anstieg der Passagierzahlen einhergingen.4 Menschen der unterschiedlichsten sozialen und ökonomischen Hintergründe nutzten das Flugzeug nun ebenso wie alte und
junge Amerikaner, Männer und Frauen. Diese Entwicklung sei erst durch die Energiekrise und vor allem die Deregulierungsmaßnahmen des Jahres 1978 vorübergehend ins Stocken geraten. Courtwright beschließt diesen
Teil seines Buches mit einer Betrachtung amerikanischer Raumfahrtprogramme (Kap. 10),
die sich nach der Eroberung des amerikanischen Luftraums durch das Flugzeug der Erkundung des Weltraums als „final frontier“
zuwandten.
Im letzten Teil („The Significance of Air and
Space in American History“) geht Courtwright schließlich der Frage nach, welche Bedeutung einer „sky frontier expansion, defined broadly as the growing activity in
and above the atmosphere“, beizumessen sei,
wenn man „the nation’s character and development“ verstehen wolle (S. 196). Zum einen
habe diese Form der Expansion die amerikanische Nation schneller zusammenwachsen
lassen, als Eisenbahn und Auto dies per Land4 Während
im Jahr 1950 17,3 Millionen Passagiere mit
dem Flugzeug reisten, waren es 1970 bereits 153,2 Millionen, und im Jahr 1990 lag ihre Zahl bei 456,7 Millionen.
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
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M. Davis: Planet der Slums
weg vermocht hätten; sie habe zudem zum
wirtschaftlichen Boom amerikanischer Regionen wie des sunbelt beigetragen. Zum anderen, so Courtwright, bewirkte die räumliche Expansion die Entstehung eines virtuellen Imperiums, das die weltweite Zirkulation
von Menschen und Waren ohne die Last einer
kolonialen Infrastruktur möglich machte. Als
Schattenseiten erhöhter Mobilität und wirtschaftlicher Kontakte hätten allerdings Menschenhandel, Drogenschmuggel sowie die negativen Auswirkungen auf die Umwelt zu
gelten. Courtwright schließt seine Ausführungen mit einem vergleichenden Blick auf
die Bedeutung von air power in den militärischen Konflikten der Nachkriegszeit sowie einigen Bemerkungen zur Bedeutung von Terrorakten für die Entwicklung der zivilen Luftfahrt im 21. Jahrhundert.
David T. Courtwright stellt viele bekannte Entwicklungen in spannende neue Zusammenhänge und legt mit „Sky as Frontier“ ein
Buch vor, dessen Lektüre wärmstens zu empfehlen ist.
HistLit 2007-3-165 / Anke Ortlepp über
Courtwright, David T.: Sky as Frontier. Adventure, Aviation, and Empire. College Station
2006. In: H-Soz-u-Kult 03.09.2007.
Davis, Mike: Planet der Slums. Aus dem Englischen von Ingrid Scherf. Berlin: Assoziation A
2007. ISBN: 978-3-935936-56-9; 248 S.
Rezensiert von: Christof Parnreiter, Institut
für Geographie, Universität Hamburg
Mike Davis, Professor für Geschichte an
der University of California, Irvine, hat mit
„Planet der Slums“ ein Buch vorgelegt, in
dem er mehrere Themen seiner bisherigen
Veröffentlichungen zusammenführt. „Planet
der Slums“ handelt von Städten und ihren
BewohnerInnen, von Unterentwicklung und
Ausbeutung sowie von katastrophalen Zuständen aller Art. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung ist insofern gut gewählt, als der
weltweite Verstädterungsgrad gerade um die
50 Prozent oszilliert – was es Davis erlaubt,
eine „urbane Wende“ zu konstatieren, die in
ihrer historischen Bedeutung vergleichbar sei
2007-3-079
mit der neolithischen Wende oder der industriellen Revolution.
Das Buch ist in neun Kapitel gegliedert, die
sich allerdings einer klaren Inhaltsbeschreibung entziehen, weil Davis nicht um eine
systematische Aufarbeitung bestimmter Themenblöcke bemüht ist. Vielmehr hat er, inspiriert durch den UN-Report „The Challenge of Slums – Global Report on Human
Settlements 2003“1 , eine politisch engagierte Streitschrift vorgelegt, in der er dagegen
anschreibt, dass die Welt zunehmend „verslumt“. Damit meint Davis zwei ineinandergreifende Prozesse: dass erstens das gesamte zukünftige Wachstum der Menschheit in
Städten des globalen Südens stattfinden wird,
und dass zweitens diese Städte „weitgehend
ohne Industrialisierung, schlimmer noch, ohne jegliche Entwicklung“ wachsen werden
(Klappentext). Der Slum, das ist für Davis
die Endstation, für eine Milliarde oder mehr
Menschen ein realer Ort des Lebens und Sterbens und zugleich Sinnbild für die durch Kolonialismus, Kapitalismus und jüngst Strukturanpassungsprogramme ausgelöste Verarmung weiter Teile der Welt. Der Slum, das ist
„eine Zone der Verbannung, ein neues Babylon“ (S. 210).
Davis wird von seinen LeserInnen geschätzt, weil er gerade kein distanzierter und
allzu differenzierender Beobachter ist, sondern ein wortgewaltiger, parteiischer Ankläger von Unrecht. Mit „Planet der Slums“ bestätigt er diesen Ruf. Auf Basis einer beachtlichen Menge an wissenschaftlicher Literatur, die für das Buch verarbeitet wurde, dokumentiert Davis den „Verrat des Staates“
an den Armen. Nirgendwo (außer vielleicht
in China) kümmerten sich die untersuchten
Staaten um sozialen Wohnbau oder städtische
Infrastrukturen. Schuld am staatlichen Rückzug tragen, und auch hier kann sich Davis
auf eine breite Literaturbasis berufen, Internationaler Währungsfonds (IWF) und Weltbank,
die mit Strukturanpassungsprogrammen dafür sorgten, dass „Slums zur unausweichlichen Zukunft nicht nur für arme Migranten
vom Land wurden, sondern auch für Millionen alteingesessener Stadtbewohner“ (S. 160).
1 <http://www.unhabitat.org/pmss
/getElectronicVersion.asp?nr=1156&alt=1>
(25.7.2007).
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
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Außereuropäische Geschichte
Kenntnisreich entlarvt er die bei linken Architekten, NGOs und Weltbank gleichermaßen beliebte Vorstellung, Slums seien Orte der
Selbsthilfe und der Beginn einer sozialen Aufwärtsmobilität. Zu verlangen, dass sich die
Armen am eigenen Schopf aus dem Sumpf
ziehen, sei nicht nur zynisch. Obendrein blieben die Selbsthilfeprogramme Illusion, denn:
„Immobilienmärkte haben [. . . ] die Slums zurückerobert, und obwohl sich der Mythos von
heroischen Besetzern und kostenlosem Land
hartnäckig hält, werden die städtischen Armen immer mehr zu Vasallen der Landbesitzer und Immobilienmakler.“ (S. 69)
Davis geißelt die Politik der Slumräumungen als Klassenkampf von oben und zeigt
an zahlreichen Beispielen die dahinter stehende Ansicht der Regierenden, Slumbewohner2 seien „Schmutz“ und „menschlicher Ballast“ (S. 111). Und schließlich räumt Davis,
gestützt auf zahlreiche Studien, auf mit den
„Mythen der Informalität“. In der Empfehlung des peruanischen Geschäftsmannes Hernando de Soto, Informalität zur Norm des Arbeitslebens zu machen3 , sieht Davis „schlicht
das Schmiermittel auf der Fahrt in die Hobbes’sche Hölle“ (S. 193).
Das Eigenartige an Davis’ Buch ist, dass es
trotz seines Engagements und der Detailliertheit nicht überzeugt. Das liegt nicht daran,
dass das Buch außer der sehr dichten Kompilation von Daten und Fallbeispielen kaum
Neues bietet – wissenschaftliche Studien gekonnt für ein Massenpublikum aufzubereiten
ist ein durchaus ehrenwertes Vorhaben.4 Das
Problem an Davis’ Buch ist erstens die geringe analytische Schärfe, der allzu grobe Kamm,
über den seine Geschichten geschoren werden. Die Fallbeispiele sind anekdotisch aneinandergereiht, ein Potpourri von Missständen und Grausamkeiten aus aller Welt, de2 Die
deutsche Übersetzung kennt ausschließlich die
männliche Form der in den Slums wohnenden Menschen.
3 De Soto, Hernando, The Other Path. The Invisible Revolution in the Third World, London 1989 (und öfter).
4 Aus dem Spektrum der wissenschaftlichen Arbeiten
sei hier nur verwiesen auf: Roberts, Bryan, The Making of Citizens. Cities of Peasant Revisited, London
1995; Ribbeck, Eckhart, Die informelle Moderne. Spontanes Bauen in Mexiko-Stadt, Heidelberg 2002; Parnreiter, Christof, Historische Geographien, verräumlichte
Geschichte. Mexico City und das mexikanische Städtenetz von der Industrialisierung bis zur Globalisierung,
Stuttgart 2007 (erscheint Ende September).
448
ren Zweck es nicht ist, ein abwägendes und
gerade deshalb überzeugendes Argument zu
entwickeln. Davis’ Empirie dient der bloßen
Untermalung seiner apokalyptischen Darstellung der Städte des Südens. Nur selten findet man einen relativierenden Einwurf – etwa
dahingehend, dass Mexico City und Lima, Johannesburg und Lagos, Manila und Shanghai
nicht so einfach in eine Aufzählung gepresst
werden können. Häufig wird hingegen die
Differenziertheit dem Bedürfnis nach plakativen Superlativen geopfert. So lässt Davis in
seiner Übersichtstabelle zu den größten „Megaslums“ (!) der Welt in Mexico City einen solchen „Megaslum“ mit vier Millionen EinwohnerInnen entstehen, den er aus 18 (!) Bezirken
formt. Manche davon, wie Nezahualcóyotl,
sind in den 1950er-Jahren als informelle Siedlung entstanden und gelten heute zu Recht
als konsolidiert (beispielsweise haben 95 Prozent der 1,4 Millionen BewohnerInnen Nezas sowohl Kanalanschluss als auch Fließwasser in der Wohnung oder am Grundstück),
während andere erst ab den 1980er-Jahren errichtet wurden. Aber selbst hier passt Davis’ von der UN übernommene Definition von
Slum nicht – immerhin haben beispielsweise in Chalco über 80 Prozent der BewohnerInnen unmittelbaren Zugang zu Kanalisation
und Fließwasser.
Der zweite Grund, warum das Buch einen
äußert schalen Eindruck hinterlässt, ist Davis’
Sprache. War er immer schon ein Grenzgänger zum Journalismus, so bedient sich Davis
in „Planet der Slums“ gern der negativen und
gewalttätigen Superlative. Vom vorangestellten Motto („Slum, Semi-Slum und Superslum
[. . . ] dazu haben sich die Städte entwickelt“)
bis zum letzten Absatz („Nacht für Nacht rattern Kampfhubschrauber [. . . ] über den engen Gassen der Slumviertel. [. . . ] Jeden Morgen antworten die Slums mit Selbstmordattentaten.“) zieht sich das Skandalisieren der
Slums, und gleich manchen JournalistInnen,
die nicht an Aufklärung oder Analyse interessiert sind, sondern an der Sensationslüsternheit, bezeichnet Davis Bombay oder Nairobi
als „stinkende Kotberge“ (S. 145). Er lässt Bevölkerung und Städte ebenso häufig „explodieren“ wie die Bomben in Bagdad, spricht
vom „Urknall der städtischen Armut“ und
malt die „Invasion der armen Leute“ oder
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
© Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart
B. Díaz del Castillo u.a. (Hrsg.): Historia verdadera de la conquista
die „Anstürme der Armut“ an die Wand (S.
161, S. 106, S. 159). Schlimmer noch, Davis
setzt häufig biologistische Metaphern ein, beispielsweise wenn er von der „riesige[n] Amöbe Mexiko-Stadt“ schreibt, „die sich schon Toluca einverleibt hat“ (S. 11). Als Naturgewalt
scheinen ihm auch die vom Land kommenden MigrantInnen zu gelten – sie werden als
„Bauernflut“ und „Sintflut“ bezeichnet (S. 16,
S. 60).
Weil Sprache Wirklichkeiten nicht nur abbildet, sondern auch schafft, steht Davis’
Sprache seinem emanzipatorischen Anliegen
diametral gegenüber. Ungeachtet der inhaltlichen Anklage, die Kolonialismus und Kapitalismus, IWF und Weltbank trifft, erzeugt
und reproduziert Davis mit seiner Sprache
Bilder, die dem rechten Diskurs über „ungesunde Verstädterung“ und städtische Pathologien gleichen. Ja, etwas flüchtigen LeserInnen des Buches mag nicht in Erinnerung
bleiben, dass Davis zahlreiche wissenschaftliche Studien und aktuelle Daten zitiert, um
zu zeigen, dass die (neue) städtische Armut
von den „brutalen Verwerfungen der neoliberalen Globalisierung“ (S. 183) herrührt, sondern bloß das Bild der „wuchernden Städte“
(S. 13). So besteht die Gefahr, dass der malthusianische Pessimismus, den Davis an anderen kritisiert, durch sein eigenes Buch befördert wird. Dass die SlumbewohnerInnen bei
allem Elend und aller Ausbeutung, die Davis
zu Recht attackiert, auch handelnde Subjekte
sind, die Strategien zum Umgang mit der Not
entwickeln, welche sich nicht mit „Kriminalität“, „Prostitution“ oder „religiöse[m] Wahn“
abtun lassen, davon schreibt Davis kaum.
Und so ertappt man sich bei der Frage, ob Davis das Fragezeichen in einer der Kapitelüberschriften („Eine überschüssige Menschheit?“)
bloß aus rhetorischen Gründen gesetzt hat.
HistLit 2007-3-079 / Christof Parnreiter über
Davis, Mike: Planet der Slums. Aus dem Englischen von Ingrid Scherf. Berlin 2007. In: H-Sozu-Kult 01.08.2007.
2007-3-032
Díaz del Castillo, Bernal; Barbón Rodríguez,
José Antonio (Hrsg.): Historia verdadera de la
conquista de la Nueva España. Manuscrito Guatemala. México, D.F.: El Colegio de México 2005.
ISBN: 968-12-1196-0; IX, 864, 1084 S.
Rezensiert von: Felix Hinz, Institut für Iberische und Lateinamerikanische Geschichte,
Universität zu Köln
Das vermutlich bedeutendste Einzelereignis
der europäischen Expansion in Amerika war
die Eroberung der Stadt Tenochtitlán-Mexiko
unter der Führung von Hernán Cortés in
den Jahren 1519-21, denn es markiert den
Schnittpunkt zweier Welten und Epochen. In
diesem langjährigen Krieg gegen die Mexica (Azteken) verstand es Cortés, sich der
Unterstützung zahlreicher indianischer Verbündeter (Totonaken, Tlaxcaltecen und andere) zu versichern, ohne die er seine militärischen und politischen Ziele nicht hätte erreichen können. Dank umfassender Bemühungen während der letzten Jahrzehnte verfügen wir inzwischen über eine große Bandbreite an Quellen für die Erforschung dieser Ereignisse. Aber die Chronik des Bernal
Díaz del Castillo, die „Wahrhaftige Geschichte der Eroberung Neu-Spaniens“ gilt neben
den Cortés-Berichten an Kaiser Karl V. und
dem 12. Buch der „Allgemeinen Geschichte
der Dinge Neu-Spaniens“ von Sahagún weithin als die wichtigste erzählende Einzelquelle zu diesen Geschehnissen. Trotz ihrer Bedeutung lag sie aber bisher nicht in einer
Form vor, die den Anforderungen an eine moderne kritische Edition entspricht. Dass diese
Lücke nun durch José Antonio Barbón Rodríguez geschlossen wurde, ist eine kleine wissenschaftliche Sensation. Die Ausgabe wurde in lebenslanger Kleinarbeit vorbereitet und
konnte in diesem Umfang nur dadurch zur
Veröffentlichung gebracht werden, dass die
beiden wichtigsten mexikanischen Bildungsinstitutionen, nämlich der Colegio de México (Colmex) und die Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM), wie auch
der Deutsche Akademische Austauschdienst
(DAAD) hierbei kooperierten.
Als Cortés seine Unternehmung mit der
Landung an der mittelamerikanischen Küste begann, sagte er sich vom königlichen
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
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449
Außereuropäische Geschichte
Statthalter auf Kuba los und handelte damit praktisch auf eigene Rechnung. Andere
Conquistadorenführer waren schon für weniger hingerichtet worden.1 Cortés stand also unter erheblichem Erfolgs- und Rechtfertigungsdruck, von dem seine schon erwähnten Berichte an Karl V., die schon während des
Kriegszuges entstanden, ein beredtes Zeugnis
ablegen. Doch seine Version des Geschehens
blieb nicht unwidersprochen: Insbesondere
Fray Bartolomé de Las Casas erhob schwerste Vorwürfe. Die Eroberungen in Las Indias (Amerika) und also auch diejenige Mexikos, so der Dominikaner, seien „niederträchtig, tyrannisch und hinsichtlich jeden Rechts
– natürlich, göttlich und menschlich – verdammt, abscheulich und verflucht“.2 Um ihren Ruf am spanischen Hof hiergegen zu verteidigen und sich ihren Anteil an der Beute zu sichern3 , schrieben außer Cortés noch
einige weitere Conquistadoren Mexikos ihre
„Erinnerungen“ nieder: Erhalten haben sich
die kurzen Schriften der Hauptleute Bernardino Vázquez de Tapia, Andrés de Tapia sowie
des später in den geistlichen Stand getretenen
Fray Francisco de Aguilar OP.
Die Chronik des Bernal Díaz del Castillo stellt in diesem Rahmen einen besonderen
Fall dar. Zum einen übertrifft sie die übrigen
Conquistadoren-Berichte bei Weitem an Umfang und Anschaulichkeit. Zum anderen und
für die Beurteilung des Quellenwertes erheblicher: Sie ist zugleich die Augenzeugenchronik, die mit dem größten zeitlichen Abstand
zum Geschehen entstand, nämlich erst 57 Jahre später. Erst im hohen Alter von über 70 Jahren – als kaum einer der Conquistadoren Mexikos mehr lebte - entschloss sich Díaz del Castillo zu schreiben und erschuf ein geradezu
„homerisches“ Werk über menschliche Größe und Schwäche.4 Als er die Feder nieder1 Beispielsweise 1514 Exekution Vasco Núñez de Balboas
durch Pedrarias Dávila, dem Statthalter von Tierra Firme, mit dessen Flotte vermutlich auch Bernal Díaz del
Castillo in die Neue Welt kam.
2 Las Casas, Bartolomé de, Obras completas, hrsg. von
Ramón Hernández, Lorenzo Galmés u.a., Madrid 198898 (14 Bd.e), Bd. 10: „Tratados de 1552“, 1992, S. 32
(Übersetzung FH).
3 Meist erhofften sie sich eine Encomienda, d.h. die Verfügungsgewalt über eine festgelegte Anzahl Indianer
bestimmter Orte.
4 Ramíres Cabañas, Introducción, in: Díaz del Castillo, Bernal: Historia verdadera de la Nueva España,
hrsg. von Joaquín Ramíres Cabañas, México 1939 (2
450
legte, lebten nur noch vier seiner ehemaligen
Kameraden. War dies ein Zufall, oder wollte Díaz del Castillo es ausnutzen, dass seiner
Darstellung nun kaum noch jemand würde
widersprechen können? Keiner der anderen
Berichte erwähnt je seinen Namen, während
er wiederum behauptet, bei allen wichtigen
(und vielen unwichtigen) Ereignissen dabeigewesen zu sein. Ähnliche Merkwürdigkeiten
kulminieren letztlich in der spannenden Frage: War Bernal Díaz der, für den er sich ausgibt? Ist seine Historia verdadera tatsächlich
so wahrhaftig – oder ein geniales Konglomerat aus Geschichte und autobiografischer Fiktion?
Als Bernal Díaz seine Chronik 1568 beendet
hatte, herrschten unter König Philipp II. Zeiten publizistischer Repression. Er selbst gibt
vor, den Bericht nur für seine unmittelbaren
Nachkommen verfasst zu haben. Der erste
Druck erschien jedenfalls erst 1632, also lange nach dem Tod des greisen Autors. Erhalten haben sich aus der Zeit bis dahin mehrere Manuskripte seines Werks, von denen
das Ms. Remón durch gewisse Interpolationen von Merzedariermönchen die Bedeutung
des Feldpriesters Olmedo aufwertet, der dem
selben Orden angehörte. Das Ms. Guatemala
hingegen gilt allgemein als das authentischste und scheint weitgehend von Bernal Díaz´
eigener Hand geschrieben. Es ist daher eben
dieses Ms. Guatemala, auf das sich die meisten neueren Ausgaben aus gutem Grund stützen.
Ein großes Publikationsproblem bestand
von Anfang an im Umfang der Historia
verdadera: Obwohl aufgrund der fesselnden Schreibweise und des packenden Gegenstands zahlreiche populäre Editionen erschienen (sogar auf deutsch5 ), sind diese meist gekürzt. Die letzten wissenschaftlich nennenswerten waren diejenige von Joaquín Ramíres
Cabañas (México, Editorial Pedro Robredo,
Bd.e), Bd. 1, 1939, 24. Facsimile unter (abgerufen am
09.06.2007):
Band 1: http://www.cervantesvirtual.com/servlet
/SirveObras/01715418982365098550035/index.htm
und
Band 2: http://www.cervantesvirtual.com/servlet
/SirveObras/05819511922437539832268/index.htm.
5 Die neueste Übersetzung ist: Díaz del Castillo, Bernal:
Die Eroberung von Mexiko, hrsg. u. bearbeitet von Georg A. Narciß, Frankfurt am Main, 6. Auflage 1988.
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
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B. Díaz del Castillo u.a. (Hrsg.): Historia verdadera de la conquista
19396 ) und Carmelo Sáenz de Santa María
(Madrid, CSIC, 19827 ), die sich bereits „edición crítica“ nennt, es aber eigentlich nicht ist.
Sie hat gleichwohl eine Stärke: Sie bietet nämlich zweispaltig einerseits eine „wiederhergestellte“ Urfassung des Ms. Remón und andererseits das Ms. Guatemala. Weicht letzteres
von ersterem ab, so ist die entsprechende Passage kursiv gedruckt. Ferner ist die Vorstudie
dieser Ausgabe zu loben, die sehr übersichtlich, knapp und klar die Geschichte der verschiedenen Manuskripte und Editionen darlegt. Aber es gibt eben auch noch weitere Manuskripte, und eine wirklich kritische Ausgabe dieses zentralen Werks zur Eroberung Mexikos in einem Band stand bisher noch aus.
Diese schmerzliche Lücke vermochte Barbón Rodríguez mit seiner meisterlichen Neuausgabe auf der Grundlage des Ms. Guatemala nun endlich zu schließen. Was die vorherigen Editionen trotz ihrer sonstigen Vorzüge an wissenschaftlicher Akribie zu wünschen übrig ließen, macht Barbón nun mehr
als wett. Er bietet nicht nur den bisher fehlenden kritischen Apparat auf Grundlage des
Ms. Guatemala (S. 1-848), sondern auch eine Studie zur Biografie des Bernal Díaz del
Castillo (S. 3-41), eine sehr ausführliche zu
den Manuskripten inklusive Facsimileproben
(S. 43-111), zur Grammatik (113-141), zur Einordnung in den historiografischen Kontext (S.
143-230) und zu Indigenismen in der Sprache
des Díaz del Castillo (S. 231-251). Doch damit
nicht genug: Das anschließende Glossar (S.
253-489) mit ausführlichen Erklärungen und
Verweisen sucht auch in kritischen Ausgaben seinesgleichen. Dasselbe gilt für das folgende umfangreiche Personen- (S. 493-724)
und Ortsregister (S. 725-814). Da Bernal Díaz
in seiner Darstellung vor allem die Leistungen der Mannschaften betont, ist seine Historia verdadera die erste Adresse, wenn man
Einzelschicksale und Details über sonst fast
nirgends erwähnte Teilnehmer der Conquista
Mexikos sucht – eine regelrechte Fundgrube.
Barbón nennt stets Kapitelangaben wie Seiten und gibt unbeeindruckt von dem teilweise erheblichen Mehraufwand die Zusammenfassung der unter den Verweisen zu finden6 Vgl.
Anmerkung 4.
7 Díaz del Castillo, Bernal: Historia verdadera de la Nue-
va España, hrsg. von Carmelo Sáenz de Santa María,
Madrid 1982.
2007-3-032
den Informationen.8 Indianer werden gesondert aufgeführt, was bei entsprechenden Fragestellungen sehr hilfreich sein kann, da ihre Namen nach der christlichen Taufe oft denen der Conquistadoren verwirrend ähnelten
oder sogar völlig glichen.
Anschließend bietet Barbón im vorliegenden Band noch die Transkriptionen von Dokumenten zu Bernal Díaz del Castillo und
seinen Nachkommen (S. 815-1064). All diese durch eine einem Lebenswerk gleichkommende Fleißarbeit geschaffenen Zusammenstellungen werden zweifellos den folgenden
Historikergenerationen zur Conquista Mexikos eine reichhaltige und verlässlich erarbeitete Quelle sein.
In seiner Studie zur Lebensgeschichte des
Bernal Díaz del Castillo greift Barbón ein
umfangreiches und für das Verständnis des
Werks wichtiges Thema auf. Und hier gelingt
es ihm, Bernal Díaz erstmals eine wirklich
bedeutende biografische Lüge nachzuweisen:
Es stimmt nämlich nicht, dass er an der Expedition unter Grijalva 1518, die unmittelbar
vor Cortés die Küste Mexikos erkundete, teilgenommen hat (S. 12), wie er behauptet (cap.
VIII-XVI , S. 25-40). Das ist eine bedeutsame
Entdeckung, die beweist, dass der Historia
verdadera nicht so bedingungslos zu trauen
ist, wie Historiker dies bislang oft tun. Leider problematisiert Barbón diese Entdeckung
nicht weitergehend – was ihn freilich sehr gut
zu weiteren 500 (gewiss spannenden) Seiten
verführt haben könnte, die den Rahmen dieser bereits hochambitionierten Ausgabe vermutlich endgültig gesprengt hätten. Er lenkt
hiermit aber die Aufmerksamkeit wieder auf
alte, wichtige Forschungsfragen, z. B.: Warum
hat ausgerechnet Bernal den Brief der Truppe
an den Kaiser nicht unterschrieben wie praktisch alle anderen Conquistadoren, und behauptet trotzdem, es getan zu haben?9 Und
8 Eine
Kostprobe:
„Solís Casquete, Pedro
CLXXIV.............634-08
CLXXIX.............662-02
CCV....................780-02
Soldado de Cortés. En la expedición a las Hibueras se
le ahogó el caballo por lo cual ´hazía bramuras ... e maldeçía a Cortés e su viaje´. ´Era algo arrebataquistiones;
murió de su muerte en Guatimala´.“ (S. 671)
9 Carta del ejército de Cortés al emperador (Okt.1520),
in: Martínez, José Luis (Hg.), Documentos cortesianos,
México D.F. 1992-93 (3 Bd.e), Bd. 1, 1993, 156-163; Díaz
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
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451
Außereuropäische Geschichte
schließlich, provokant: War er überhaupt ein
Augenzeuge der Conquista?10
Fazit: Die umfassende aber dennoch peinlich genaue Arbeitsweise ebenso wie die
scharfsinnigen Studien der Neuausgabe
der Historia verdadera verlangen uneingeschränkten Respekt. Dass dieses Kompendium von insgesamt über 1900 Seiten, dank
Dünndruck in einem einzigen festen Band,
nur etwas mehr als 100 Euro kostet, muss für
den Interessierten als Glücksfall betrachtet
werden. Schade nur, dass die Distribution,
vermutlich als Resultat aus dem Gemeinschaftsunternehmen so vieler verschiedener
Institutionen, zu verhindern droht, dass dieses Werk die Verbreitung in den Universitätsund Privatbibliotheken findet, die sie ohne
jeden Zweifel verdient hat. Die zweispaltige
Präsentation von Sáenz de Santa María wird
weiterhin nützlich sein, doch die übrigen
Editionen der Historia verdadera sind nun
wissenschaftlich obsolet geworden. Hut ab
und danke für diese prachtvolle Ausgabe,
Herr Barbón!
HistLit 2007-3-032 / Felix Hinz über Díaz del
Castillo, Bernal; Barbón Rodríguez, José Antonio (Hrsg.): Historia verdadera de la conquista
de la Nueva España. Manuscrito Guatemala. México, D.F. 2005. In: H-Soz-u-Kult 12.07.2007.
García, María Elena: Making Indigenous Citizens. Identity, Education, and Multicultural Development in Peru. Stanford: Stanford University Press 2005. ISBN: 0-8047-5014-9; 213 S.
Rezensiert von: Ulrich Mücke, Historisches
Seminar, Universität Hamburg
del Castillo: Historia verdadera, cap. LIV, 2005, 132.)
del Castillo wäre nicht der Einzige, der sich eine Conquistadoren-Biografie angedichtet hat: Ein bekannter Fall ist der angebliche Augenzeugenbericht eines „anonymen Conquistadors“, der mit großer Wahrscheinlichkeit vom Venezianer Alonso de Ulloa geschrieben wurde, der nie in Mexiko gewesen ist. (Vgl.
Gómez de Orozco, Federico, in: ’Conquistador anónimo’, Relación de algunas cosas de la Nueva España,
hrsg. von Jorge Gurría Lacroix, México D.F. 1961 2431). - Viele der sich zu Díaz del Castillo ergebenen Fragen stellt: Brooks, Francis J., Motucuzoma Xocoyotl,
Hernán Cortés, and Bernal Díaz del Castillo: The construction of an arrest, in: Hispanic American Historical
Review 75, 2 (1995), 149-183.
10 Díaz
452
Ganz im Gegensatz zu den Träumen und
Hoffnungen der Modernisierungstheoretiker
der 1960er- und 1970er-Jahre ist das „Indianische“ nicht aus den Gesellschaften Mesoamerikas und der Anden verschwunden, sondern
spielt für die Artikulation politischer und sozialer Interessen eine wachsende Rolle. Dies
ist en détail für Mexiko, Guatemala, Ecuador
und Bolivien beschrieben worden. Peru dagegen scheint in diesem Kontext eine Ausnahme zu bilden. Hier haben sich lediglich auf lokaler Ebene starke Indianerorganisationen gebildet, während in der nationalen Politik solche ethnischen Bündnisse keine größere Rolle spielen. María Elena García nimmt in ihrem Buch diesen Sachverhalt zum Ausgangspunkt, um danach zu fragen, wie und ob sich
indianische Bewegungen in Peru finden lassen.
Das zentrale Argument ihres Buches lautet, dass sich die These von Perus Ausnahmestellung (insbesondere im Vergleich zu den
Nachbarländern Bolivien und Ekuador) nicht
aufrecht erhalten lässt, wenn man den Fokus von der nationalen Ebene auf die lokale und transnationale verlagert. Empirisch beschäftigt sich García vor allem mit der lokalen Ebene und hier speziell mit zwei Gemeinden in der Nähe von Cuzco, der alten
inkaischen Hauptstadt, welche heute vor allem vom Tourismus lebt. Auseinandersetzungen über Schulerziehung und Sprachunterricht dienen ihr als Beispiele, anhand derer sie
die Existenz indianischer Bewegungen auch
für Peru nachzuweisen versucht.
Sieht man von Einleitung und Zusammenfassung ab, gliedert sich das Buch in fünf
Kapitel. Die ersten beiden bieten historische
Abrisse mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Zum einen wird die Geschichte der Jahre seit 1980 beschrieben, in denen die indianische Bevölkerung in besonderer Weise
dem Terror des Staates und der Guerillaorganisation des „Leuchtenden Pfades“ ausgesetzt war. Gerade dieser Terror, so argumentieren einige Autoren, habe verhindert, dass
sich in Peru am Ende des 20. Jahrhunderts
eine starke indianische Bewegung habe formieren können. Das zweite einleitende Kapitel beschreibt die Geschichte vom „Indigenismo“ der 1920er-Jahre zur „Interculturalidad“ der 1990er-Jahre. Während mit „Indi-
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
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I. L. Garcia-Bryce: Lima’s Artisans and Nation Building in Peru
genismo“ der mittlerweile recht kritisch betrachtete städtische Diskurs über die Landbevölkerung bezeichnet wird, versteht Elena García unter „Interculturalidad“ nicht nur
das Nebeneinander verschiedener Kulturen,
sondern ihr Miteinander, das sich durch gegenseitigen Respekt und Unterstützung auszeichne. „Interculturalidad“ ist also die Utopie von einem besseren Peru, wobei nicht immer ganz klar ist, inwieweit García meint, dieses bessere Peru sei schon in Ansätzen vorhanden.
Die drei zentralen Kapitel des Buches umfassen zusammengenommen keine 80 Seiten. Hier wird zunächst die These des Widerstandes auf Gemeindeebene (Kap. 3),
dann die Auseinandersetzung von Indianern
mit Nichtregierungsorganisationen und dem
Staat (ebenfalls auf Gemeindeebene – Kap. 4)
und die Einbindung von Indianern auf transnationaler Ebene vor allem durch Intellektuelle (Kap. 5) diskutiert. Empirisch stark ist dabei vor allem die Beschreibung der lokalen
Ebene. Hier werden von lokalen Akteuren eigene Positionen in Auseinandersetzung mit
überlokalen Einrichtungen und Akteuren formuliert. Die transnationale Einbindung indianischer Bewegungen wird dagegen weniger
plausibel begründet, beschäftigt sich García
hier doch mit Personen, die nur bedingt als
„indianisch“ bezeichnet werden können bzw.
sich selbst so bezeichnen.
Garcías Überlegung, indianische Bewegungen nicht auf der nationalen, sondern der lokalen Ebene zu suchen, ist originell und kann
tatsächlich die These von der peruanischen
Ausnahme in Frage stellen. García gelingt es
allerdings kaum, ihr Hauptziel zu erreichen,
nämlich zu zeigen, dass solche lokalen indianischen Bewegungen existieren. Statt dessen verdeutlicht sie, dass auf Gemeindeebene
Interessen von Gemeindeangehörigen formuliert werden. Inwiefern sich diese aber als „Indianer“ definieren und dies tun, um ihre Interessen zu befördern, bleibt unklar. Es könnte sich sogar als unmöglich erweisen, einen
solchen Nachweis von lokalen indianischen
Bewegungen zu führen, weil die Vorstellung
von „Indianertum“ eben eine überlokale ist.
Der Versuch Garcías zu zeigen, dass Peru sich
in spezifischer Form in die Entwicklungen
einreihen lässt, welche in Mexiko, Guatemala,
2007-3-047
Ekuador und Bolivien der letzten Jahrzehnte
beobachtet werden können, ist daher nur teilweise gelungen.1 Der Ertrag des Buches besteht daher vor allem darin, am Beispiel Perus danach zu fragen, was denn überhaupt
unter indianischen Bewegungen verstanden
werden kann.
HistLit 2007-3-037 / Ulrich Mücke über García, María Elena: Making Indigenous Citizens.
Identity, Education, and Multicultural Development in Peru. Stanford 2005. In: H-Soz-u-Kult
16.07.2007.
Garcia-Bryce, Inigo L.: Crafting the Republic. Lima’s Artisans and Nation Building in Peru, 18211879. Albuquerque: University of New Mexico Press 2004. ISBN: 0-8263-3392-3; 220 S.
Rezensiert von: Thomas Krüggeler, Katholischer Akademischer Ausländer-Dienst
(KAAD), Bonn
This book on urban Lima during some critical decades of the nineteenth century represents another study that concentrates on the
development of civic society, political culture,
and nation building in early-republican Peru.
With his focus on artisans as part of a middle
sector of the urban society, Garcia-Bryce presents a valuable addition to the chain of books
published in recent years.1 The author describes the transformation Lima artisans experienced from the late-colonial period, when
1 Für
überzeugendere Antworten auf diese Frage vgl.:
Büschges, Christian; Pfaff-Czarnecka, Johanna (Hrsg.),
Die Ethnisierung des Politischen. Identitätspolitiken
in Lateinamerika, Asien und den USA, Frankfurt am
Main 2007.
1 Among others I should mention: Mc Evoy, Carmen, La
Utopia Republicana. Ideales y Realidades en la Formación de la Cultura Política Peruana (1871 – 1919), Lima
1997; Thurner, Mark, From Two Republics to One Divided. Contradictions of Postcolonial Nationmaking in
Andean Peru, Durham 1997; Parker, David, The Idea of
the Middle Class. White Collar Workers and Peruvian
Society, 1900-1950, University Park 1998; Chambers, Sarah C., From Subjects to Citizens. Honor, Gender, and
Politics in Arqeuipa, Peru 1780 – 1854, University Park
1999; Walker, Charles F., Smoldering Ashes. Cuzco and
the Creation of Republican Peru, Durham 1999; de Losada, Cristóbal Aljovín, Caudillos y Constituciones. Peru 1821 – 1845, Lima 2000, and Mücke, Ulrich, Political Culture in Nineteenth-century Peru. The Rise of the
Partido Civil, Pittsburgh 2004.
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
© Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart
453
Außereuropäische Geschichte
they were organized in guilds and – at least
more affluent masters – had a thorough corporate social identity, to political players of
the second half of the nineteenth century, who
had adapted to republican principles and the
liberal discourse. The presentation of this process of political and social transformation is
not entirely new, but the author does an excellent job in applying recently developed theoretical considerations and his own research on
the racially and economically rather diverse
artisan sector of a major Latin American city.
According to Garcia-Bryce by the 1870s Lima
artisans were organized in numerous mutualaid-societies and political associations, which
made them a key political player of the urban
society.
Traditionally labour historians paid little attention to artisans, and even less to master
craftsmen. For them labour history began only with industrialization and the emergence
of trade unions and it was closely linked to
class struggle. This book does not only bridge
the period between the times of pre-industrial
urban artisan production and the 1870s when
the industrial age emerged gradually in Latin America, it also makes a major contribution by linking labour history to more recent
trends in political and social history (emphasis on nation building, civil society, forms of
political participation, etc.) and by turning
artisans into influential political players of
post-colonial Latin American cities. GarciaBryce argues that artisans actively and forcefully adapted to post-colonial republican rule
and even to the liberal discourse that gained
strength in the early 1850s. Artisans did not
only manage to adapt to political and economic change, partially due to their organizational strength, they turned into a powerful
force in the political arena of Lima. For GarciaBryce Lima artisans show, how significant were what he calls „urban middle sectors“ for the
process of nineteenth-century nation building
in Peru.
Chapter one of this study concentrates on
Lima artisans during the late-colonial period, when they were organized in guilds and
brotherhoods. At that time the Bourbon Reforms brought more state control over their
organizations and a first light wave of liberal
threats to their corporate identity. Guilds did
454
not disappear with Independence. As shown
in chapter two, guilds lose their political and
economic significance only gradually and somewhat parallel to artisans’ unsuccessful protectionist demands. The first three decades of
the Republican period were particularly difficult for craftsmen, because the process of leaving behind corporate ideas and coming to
terms with the liberal discourse of the 1850s
meant a major challenge to them. The book
demonstrates this transition and shows how
craftsmen learnt to address Congress and to
appeal to public opinion. Craftsmen understood that at the peak of the guano boom, simple protectionist demands would hardly find
open ears in Lima.
In chapter three and four – in my view the
key chapters of this study – the author traces very nicely the transition of artisans into respectable citizens particularly since the
1850s. He argues that the liberal notion of turning the popular sector into productive workers and responsible citizens coincided with
the artisans’ demand for government support
and access to education. For that reason politicians did not only establish trade schools,
they even organized national trade exhibitions, of which artisans eagerly took advantage to demonstrate their skills and to underpin their respectability. Politicians were aware
of artisans’ important role as supporters and
craftsmen knew how to take advantage of that
power. Since the 1860s mainly master artisans
were organized in mutual aid societies, which
served as a place to strengthen their common
identity and as their platform of public representation at the same time. Still, artisan societies did only represent a certain part of the entire artisans’ sector. Poor craftsmen and journeymen clearly drifted towards the emerging
working class. In the fifth chapter the author
addresses the issue of Lima artisans and social
class. He argues that during the 1870s the artisans’ press starts to define artisans as part of
the working class. However, this class is by no
means revolutionary. On the contrary, artisans carefully avoid to create any sort of social
conflict, instead they portrayed themselves as
being prepared to contribute to the education
of the plebeian sector and to the progress of
the Peruvian nation.
Garcia-Bryce presents a thorough study
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
© Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart
W. O. Gardner: Avertising Tower
which is solidly based on archival evidence
and on clearly stated theoretical considerations. It is perfectly comprehensible and justified to finish this study in 1879 with the War of
the Pacific. The author succeeds in presenting
Lima artisans as important political players
particularly of the second half of the nineteenth century. The result of his research is
that in fact he does not only present the history of Lima artisans, instead he gives excellent insights into the urban political culture
of the Peruvian capital. However, in a sense,
it leaves the reader with a number of questions: What happens to the respectable artisans of Lima during the early-twentieth century? Do they turn into entrepreneurs? Do they
maintain their level of respectability? Perhaps
a future book will answer these questions and
continue where Garcia-Bryce left us with his
study.
HistLit 2007-3-047 / Thomas Krüggeler über
Garcia-Bryce, Inigo L.: Crafting the Republic.
Lima’s Artisans and Nation Building in Peru,
1821-1879. Albuquerque 2004. In: H-Soz-uKult 19.07.2007.
Gardner, William O.: Advertising Tower: Japanese Modernism and Modernity in the 1920s.
Cambridge: Harvard University Press 2006.
ISBN: 978-067402129-7; 349 S.
Rezensiert von: Marco Gerbig-Fabel
Der US-amerikanische Kulturwissenschaftler William O. Gardner legt mit seiner Arbeit „Advertising Tower. Japanese Modernism and Modernity in the 1920s“ eine beeindruckende, über die engen Fächergrenzen der
Japan- bzw. Ostasienwissenschaften hinaus
bedeutsame kulturgeschichtliche bzw. kulturwissenschaftliche Analyse der japanischen
Moderne vor. Gardner positioniert seine Arbeit dabei am Kreuzungspunkt dreier, einander überlagernder Forschungsfelder: der modernen japanischen (Kultur-)Geschichte, der
Mediengeschichte sowie der transnationalen
bzw. globalen Geschichte und spiegelt so zentrale gegenwärtig in der Diskussion befindliche kulturwissenschaftliche Themen- und
Fragestellungen. Dadurch gelingt es ihm, sei-
2007-3-143
ne ansonsten eher oder möglicherweise sogar ausschließlich der modernen japanischen
Geschichtsschreibung zugeordneten Analyse
der japanischen Avantgarde bzw. des japanischen Modernismus – gemeint ist jene literarische „Schule“, welche die Subjektivität
der Wahrnehmung in den Mittelpunkt stellt –
über enge disziplinäre Grenzen hinaus interessant und anschlussfähig zu machen.
Im Mittelpunkt der gut zweihundert Seiten
umfassenden Analyse Gardners steht das literarische Werk des japanischen Avantgardisten Hagiwara Kyôjirô (1899-1938) sowie der
– von Gardner dem japanischen Modernismus zugerechneten –Dichterin Hayashi Fumiko (1903-1951). Ausgehend von der These, dass die Themen und formalen Strategien dieser beiden Autoren auf besondere Weise die sozialen und medialen Transformationsprozesse im Japan der 1920er-Jahre spiegeln, beschreibt und analysiert Gardner die
Arbeiten der beiden Künstler zugleich als
Produkt und Zeugnis einer spezifisch japanischen Modernität. Seine Analyse kreist dabei
um die Begriffe bzw. Denkfiguren des „Modernen“ (jap. modan) sowie jenen der „Massen“ (jap. taishû), deren (Be-)Deutungen seiner Meinung nach nicht nur die Arbeiten der
beiden erwähnten Autoren durchziehen, sondern zudem auf historisch spezifische Weise
die grundlegende Transformation Japans und
vor allem Tokyos nach dem großen KantôErdbeben vom 1. September 1923 beleuchten. Gardner deutet dieses verheerende Erdbeben, das weite Teile der japanischen Hauptstadt zerstörte und mehr als einhunderttausend Todesopfer forderte, dabei nicht als Zäsur, sondern vielmehr als einen Moment der
Beschleunigung und Verdichtung, durch den
zahlreiche Entwicklungen, die in den frühen
1920er-Jahre ihren Anfang nahmen massiv
forciert wurden.
Mit dieser Deutung distanziert sich Gardner auf wohltuende Weise von jenen in erster Linie nationalgeschichtlichen Interpretationsstrategien, welche die so genannte TaishôZeit (1912-1926) und mit ihr die Geschichte
der japanischen Moderne als die Geschichte einer – globalgeschichtlich singulären – japanischen Modernität entwerfen. Unter Bezug auf die Arbeiten von u.a. Dipesh Chakrabarty gelingt es Gardner auf diese Wei-
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
© Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart
455
Außereuropäische Geschichte
se nicht nur, seine exemplarische Untersuchung und Diskussion der japanischen Avantgarde bzw. des japanischen Modernismus
von den etablierten historiographischen Deutungsmustern abzusetzen. Durch den Verweis auf aktuelle Diskussionen aus dem
Umfeld der transnationalen Geschichtsschreibung, der Mediengeschichtsschreibung sowie
einer neuen ostasiatischen Geschichtsschreibung verortet Gardner seine Untersuchung
darüber hinaus in einem explizit globalen
bzw. transnationalen Bezugsrahmen. So ist
die Geschichte der japanischen Moderne für
ihn notwendigerweise als Teil transnational
konfigurierter Kommunikations- und Ereigniszusammenhängen zu denken und daher
auch ihre Erforschung und Diskussion mittels interpretativer Apparaturen zu leisten,
die nicht von vornherein den vermeintlichen
Ausnahmecharakter der japanischen Moderne behaupten bzw. festschreiben.
Ausgehend von dieser theoretischmethodischen Kontextualisierung positioniert Gardner seine Untersuchung innerhalb
eines internationalen kulturwissenschaftlichen Diskussionszusammenhangs, der seit
einiger Zeit das Verhältnis von Medialität
und Historizität oder die Beziehung von
Modernität und Transnationalität – und dies
häufig in einer interdisziplinären Perspektive – in den Blick zu nehmen versucht.
Er belegt damit auf eindrucksvolle Weise
nicht nur seine eingehende Kenntnis aktueller kulturwissenschaftlicher Theorien
und Methoden, sondern führt dem Leser
darüber hinaus die Anschlussfähigkeit einer
neuen – von vornherein am Kreuzungspunkt
verschiedener kulturwissenschaftlicher Diskussionen positionierten – ostasiatischen
Kulturgeschichtsschreibung vor Augen.
Einen weiteren Distinktionsgewinn erzielt
Gardner dadurch, dass er das seiner Untersuchung zugrunde liegende Materialsample nicht als historischen Beleg an sich, sondern als mediale Spur eines historisch spezifischen Kommunikations- und Transformationsprozesses beschreibt und analysiert. Vor
dem Hintergrund der medialen und (transport-)technischen Revolution des späten 19.
und des frühen 20. Jahrhunderts konzentriert
Gardner seine Untersuchung auf die Identifikation jener Techniken und Prozeduren, wel-
456
che die Transformation – vor allem der japanischen Hauptstadt – in den 1920er-Jahren realisierten und repräsentierten. Ausgehend von
einer Arbeit Hagiwaras aus dem Jahr 1925
richtet Gardner seinen Blick auf jene medialen
Apparaturen, diskursiven Formationen und
sozialen Verwerfungen, welche die Transformation Tokyos, vor allem nach den verheerenden Zerstörungen des Kantô-Erdbebens von
1923, prägten.
Gardner folgt dabei der Hypothese, dass
die avantgardistischen bzw. modernistischen
Arbeiten Hagiwaras und Hayashis nicht als
Nachahmungen westlicher Vorläufer oder
Vorbilder zu deuten sind, sondern als aktive Reaktion auf die massiven Veränderungen im Bereich der (Massen-)Medien und der
(Massen-)Kommunikation, des (öffentlichen)
Transports und der (urbanen) Architektur, sowie des (Massen-)Konsums und der (Massen-)Unterhaltung. Er interpretiert die Arbeiten Hagiwaras und Hayashis damit nicht als
literatur- bzw. kulturgeschichtlichen Beleg für
die Transformation der japanischen Hauptstadt als solches, sondern als kommunikationsgeschichtliche Indikatoren für die sich –
vor allem ab 1923 – in kürzester Zeit vollziehende soziale und (massen-)mediale Transformation Tokyos und dies nicht nur in Bezug auf Tokyo selbst, sondern ebenso in Bezug auf dessen urbane und koloniale Peripherie. Gardner rekonstruiert und analysiert
damit auf exemplarische Weise die Formen
und Funktionen eines zeitspezifischen Medienensembles, welches durch die Expansion der
Print-, Film- und Musikindustrie sowie dem
Auftreten des Radios als einem neuen (potenziellen Massen-)Medium gekennzeichnet
war.
Gardner ist mit seiner exemplarischen, kulturgeschichtlichen Analyse der japanischen
Avantgarde bzw. des japanischen Modernismus ein theoretisch und methodisch fundierter Beitrag zur Geschichte der japanischen
Moderne gelungen. Indem er sich und seine
Materialien von den etablierten historiographischen Deutungsmuster und Kategorien
der Taishô-Zeit distanziert und sich weigert,
die japanische Moderne als Modernisierung
bzw. Verwestlichung zu denken, gelingt ihm
eine emanzipierte und von eurozentrischen
Interpretationsstrategien abrückende Unter-
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
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Ph. Gassert u.a.: Kleine Geschichte der USA
2007-3-177
suchung und Diskussion japanischer Modernintät. Durch die Berücksichtigung und
Bezugnahme auf aktuelle kulturwissenschaftliche Methoden, Theorien und Diskussionen
gelingt es ihm jene – wie sich mit Bezug auf
Ernst Bloch argumentieren ließe – Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in den Blick zu
nehmen, welche das Phänomen der Modernität in ihrem Kern und damit über regionale,
kulturelle und nationale Grenzen hinweg auszeichnet und auf diese Weise – jenseits nationalgeschichtlicher Normierungen – die Möglichkeit zur Eröffnung interdisziplinärer Perspektiven schafft.
Geschichtswissenschaft unterrepräsentiert ist,
kann man den neuen Band nur begrüßen.
Die Autoren wollen auch explizit „historische
Orientierung“ (S. 11) für ein Gegenwartsinteresse an den USA bieten.
Der Band ist sehr einleuchtend in vier Teile
gegliedert: die Epoche von der ersten permanenten Besiedlung durch die Engländer 1607
bis zur Verschärfung der Konflikte zwischen
Mutterland und Kolonien 1763, die Revolutionszeit 1763 bis 1800, das 19. Jahrhundert sowie das 20. und 21. Jahrhundert. Die ersten
beiden Teile stammen aus der Feder von Mark
Häberlein, das 19. Jahrhundert von Michael
Wala und die Zeit bis zur Gegenwart von Philipp Gassert. Damit sind alle Teile von Spezialisten verfasst. Sehr begrüßenswert ist, dass
der Zeit von 1607 bis 1800 genauso viel Platz
eingeräumt wurde wie den beiden späteren
Epochen, da in der Zeit der Besiedlung und
der Gründung der amerikanischen Republik
viele Weichen für die Entwicklung der USA
gestellt wurden.
Der Schwerpunkt des Bandes liegt im Allgemeinen auf der (Außen)Politik. Es sind jedoch leichte Unterschiede zwischen den Autoren festzustellen. Mark Häberlein legt viel
Wert auf Sozial- und Regionalgeschichte sowie die Einwanderung, Michael Wala betont
die Außenpolitik, während Philipp Gassert
ein Drittel seiner Unterkapitel der Kulturgeschichte im weiteren Sinne widmet. Dennoch
handelt es sich um einen sehr einheitlichen
Text, bei dessen Lektüre man sich der unterschiedlichen Autoren kaum bewusst ist. In
den Übergängen zwischen den Teilen zum
17./18., zum 19. und zum 20./21. Jahrhundert
gibt es zwar einige kleinere Wiederholungen,
diese ermöglichen aber ein separates Lesen
der einzelnen Teile.
Bei der „Kleinen Geschichte der USA“ handelt es sich um eine rundum gelungene Interpretation, die, obwohl sie ein breiteres Publikum anvisiert, an kritischen Stellen Forschungskontroversen erwähnt. Die Autoren
kennen die neueste Literatur in allen Bereichen und scheuen sich nicht, immer wieder
vorsichtig Stellung zu beziehen. Wenn man
etwas bemängeln kann, so ist es, dass ethnische Geschichte und Frauengeschichte etwas zu kurz kommen. Das Werk beginnt mit
der Besiedlung durch die Engländer, die in-
HistLit 2007-3-143 / Marco Gerbig-Fabel über
Gardner, William O.: Advertising Tower: Japanese Modernism and Modernity in the 1920s.
Cambridge 2006. In: H-Soz-u-Kult 24.08.2007.
Gassert, Philipp; Häberlein, Mark; Wala, Michael: Kleine Geschichte der USA. Stuttgart: Reclam 2007. ISBN: 978-3-150-10629-7; 550 S.
Rezensiert von: Heike Bungert, Universität
Köln
Mit der „Kleinen Geschichte der USA“ legt
auch der Reclam-Verlag eine Überblicksdarstellung der Geschichte der Vereinigten Staaten vor – nach der revidierten Neuauflage von
Kröner, dem schmalen Band bei Beck-Wissen,
dem Klassiker von Jürgen Heideking bei UTB,
den eher für Studierende konzipierten zwei
Bänden in der Reihe Oldenbourg Grundriss
der Geschichte und dem achtbändigen, detailreichen Werk beim Lit-Verlag sowie geplanten Bänden bei Kohlhammer und Böhlau.1 Da
die Geschichte der USA aber trotz der überragenden politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Rolle der Vereinigten Staaten kaum
in der Schule gelehrt wird und mit 15 Professuren bundesweit auch in der deutschen
1 Sautter,
Udo, Geschichte der Vereinigten Staaten von
Amerika, Stuttgart, 7. Aufl., 2006 [1976]; Dippel, Horst,
Geschichte der USA, München, 7. Aufl., 2005 [1996];
Jürgen Heideking, Geschichte der USA, Stuttgart, 5.
Aufl., 2007 [1996]; Adams, Willi Paul, Die USA vor
1900, München, 2000; Adams, Willi Paul, Die USA im
20. Jahrhundert, München, 2000; Wellenreuther, Hermann/Finzsch, Norbert/Lehmkuhl, Ulla, Geschichte
Nordamerikas in atlantischer Perspektive von den Anfängen bis zur Gegenwart, Münster, 2004.
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
© Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart
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Außereuropäische Geschichte
dianischen Bewohner wie auch die spanischen Eroberer im Südwesten und in Florida werden ausgelassen. Indianer finden jedoch bei der Besiedlung durch die Weißen,
bei der Eroberung des Westens und in der
Zwischenkriegszeit Erwähnung. Afroamerikaner spielen eine relativ große Rolle, Mexikaner und die Chicano-Bewegung hingegen nicht. Frauen werden in der Geschichte
des 19. und 20. Jahrhunderts immer mal wieder gestreift, aber beispielsweise nur zweimal in der Zeitleiste erwähnt; selbst der Verweis auf das erste Frauenrechts-Treffen in Seneca Falls 1848 fehlt. Wie bei jedem Überblickwerk werden Fachleute bei einzelnen Interpretationen oder Schwerpunktsetzungen anderer Meinung sein; so nimmt die Jacksonian
Democracy nur geringen Raum ein, und die
Sklaverei in den Nordstaaten gilt mit 1804 als
erloschen.
Im Gegensatz zum Vergleichsband, der Geschichte der USA von Jürgen Heideking,
zeichnet sich die „Kleine Geschichte der
USA“ in Reclam-Manier durch sehr nützliche
Epochenüberblicke aus, die den vier Hauptteilen vorausgehen. Auch die Zusammenfassung des Charakters der amerikanischen Revolution (S. 165-169) ist positiv hervorzuheben. Dafür gibt es nur drei Karten und keine Statistiken oder Graphiken über Bevölkerungswachstum, Urbanisierung usw. Neu gewählte Präsidenten werden jedoch mit wenigen Ausnahmen in der Zeitleiste erwähnt.
Für weitere Auflagen, die sicher folgen werden, wäre eine Erweiterung der Bibliographie zu erwägen, deren Auswahlkriterien –
mit Ausnahme einer einleuchtenden Bevorzugung deutschsprachiger Literatur – nicht
ganz einsichtig sind. Während der Band ein
Personen- und Ortsregister enthält, täte ein
Sachregister dringend not. Denn dieser Band
wird sicher nicht nur von Anfang bis Ende gelesen, sondern auch immer wieder zum Nachschlagen genutzt werden. Insgesamt richtet
sich die „Kleine Geschichte der USA“ sowohl
an ein allgemeines Publikum als auch an Studierende und interessierte KollegInnen anderer Fachrichtungen.
HistLit 2007-3-177 / Heike Bungert über Gassert, Philipp; Häberlein, Mark; Wala, Michael:
Kleine Geschichte der USA. Stuttgart 2007. In:
458
H-Soz-u-Kult 06.09.2007.
Guardino, Peter: The Time of Liberty. Popular
Political Culture in Oaxaca, 1750-1850. Durham:
Duke University Press 2005. ISBN: 0-82233520-4; 405 S.
Rezensiert von: Silke Hensel, Historisches
Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität
Münster
Recently interpretations of Latin American independence have changed dramatically. Understanding has moved from a merely anticolonial movement to a perspective wherein
political transformations in Latin America
form an integral part of the „age of revolutions“ which earlier had been considered to
be exclusively of European and US-American
character. Historians now argue that major
changes in the political system took place
from the end of the colonial period to the end
of the independence period. They emphasize
the impact of the Spanish monarchical crisis
in 1808 and the Spanish constitution of 1812.
Thus, independence did not only sever bonds
with Spain, but also brought about a profound
political change leading to the establishment
of sovereign states in the first decades of the
19th century based on new forms of political representation. In addition the impulse of
subaltern studies stimulated new approaches
among historians of Latin America in order
to better understand Latin American societies
and their history from bottom up.
Peter Guardino aptly interweaves both tendencies. The author interprets the time from
1808 onwards as a period of rapid change. He
stresses the impact of the constitution of Cádiz on political culture as being even more important than independence from Spain. These
transformations were set in motion by the elite. But Guardino is not only interested in how
this elite influenced subalterns in Mexico, but
as well how subalterns reacted to and took advantage of these changes to meet their own
ends. The study compares urban plebeians of
Antequera, the capital of the province of Oaxaca in Mexico and the only major Spanish
settlement in the province on the one hand,
and the indigenous peasants of Villa Alta, a
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
© Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart
P. Guardino: The Time of Liberty. Popular Political Culture in Oaxaca
remote district in the north eastern part of Oaxaca on the other.
Political culture in the eighteenth century in
both, city and countryside, shared some characteristics, as for example the important role
religion and patriarchy played in the everyday lives of the Oaxaqueños. Political authority derived from proximity to the king. But
there existed some differences as well, especially in the communal institutions. While only
members of the elite held positions in the „cabildo“ (city council) of Antequera the cargo
system in the indigenous „repúblicas“ of Villa
Alta obliged all male inhabitants to community service. Nevertheless, the cargo system was
far from egalitarian. Indian nobles insisted on
their privileges and used the colonial judicial
system to have their noble status confirmed.
Even though the Bourbon reformers intended to implement a new „authoritarianism“
in the second half of the 18th century, Guardino comes to the conclusion that they ultimately failed to do so, because they were more concerned about the increase of royal revenues
than in other long-term goals. In addition, the
Bourbon reforms had only a limited impact
on the everyday political routines of ordinary people, because the rulers did not consider
the lower social groups as possible contributors to the intended transformations.
With the monarchical crisis in 1808 a period of dramatic changes started. The rising notion of national sovereignty was connected to
an almost universal male suffrage installed by
the Constitution of Cádiz. Contrary to the interpretation of scholars like François X. Guerra for whom the new political methods were
incompatible with the traditional social structure in Mexico, Guardino argues that urban
plebeians for the first time could participate
in the elections and furthermore actually did
so. They were not moved by clientelism, but
because elections offered new opportunities.
But, urban politics became dominated by the
conflict between the two emergent parties in
Oaxaca, the „vinagres“ (later becoming liberals) and the „aceites“ (later becoming conservatives). Their existence did not fit into the
political culture, because political pluralism
and competition were not accepted. Furthermore, national politics intervened and thus
sharpened conflicts.
2007-3-123
In his discussion of urban politics Guardino can rectify earlier assumptions. While the
„vinagres“, earlier equated with liberals of the
second half of the nineteenth century, did not
act against religion and the church as liberals
would do later, the conservative „aceites“ did
not opt for centralism in the 1820s but favoured federalism. The analysis of urban politics
is in large part a discussion of these emerging
political groups and their most important representatives. The latter were in their majority members of prominent families of the city.
I agree with Guardino that social origin alone does not explain the ideological orientation of a person (p. 186s.), but still think that
it might give some clues to better understand
political affinities. In spite of his denial the author himself does support such a view. For instance when he describes the „vinagres“ as a
group composed of members of the middle
class (p. 205), or when he is not surprised of
the conservative orientation of a member of
one of the principal families of Antequera (p.
216). Guardino’s emphasis on the biographies
of some important political leaders in urban
Oaxaca in the end fails to explain the background of political orientations. Urban plebeian political culture remains obscure to a certain extent, which is due to the lack of sources,
as Guardino admits.
The most convincing parts of the book are
those on Villa Alta. Within the communities
the new political impulses helped to change
the internal power structure. When egalitarian discourse and popular elections gained importance since 1808 these were successfully
used by part of the community to challenge
the cargo system. In addition, after independence, a new form of leadership, „caciquismo“, arose due to outside interference, even
though it was not the main form of powerholding during the time under study. With
respect to the autonomy of the communities Guardino stresses continuity rather than
change. Contrary to authors who interpret the
municipalisation of the colonial „repúblicas
de indios“ after independence as a dramatic loss of autonomy, he argues that the indigenous population could retain its autonomy with respect to internal affairs, because
of the willingness of state politicians to make compromises. In exchange for considerable
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
© Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart
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Außereuropäische Geschichte
tax contributions autonomy was granted to
the indigenous communities. Guardino makes a convincing point in showing the interconnectedness and interdependence of indigenous peasants with the outer world and
their aptness to employ norms and institutions of larger society to bring about changes in
their communities, too. Even though the main
interest of the rural indigenous population lay
in the internal conditions of their communities this did not mean that they had no vision
of the larger framework.
Guardino draws the conclusion that urban
plebeians and the rural indigenous population did not promote these changes. They nevertheless, not only had to cope with them but
seized the opportunities offered by new laws
and procedures to follow their own goals. But
the urban masses had lesser chances to do so
than the members of indigenous communities. In sum, Guardino has provided a beautifully written and inspiring study that provokes further research, especially on the question, why the „time of liberty“ did not last longer and Mexican political history took a route that lead to restrictions of political liberty.
Guardino’s book should find a wide readership among scholars and students alike.
HistLit 2007-3-123 / Silke Hensel über Guardino, Peter: The Time of Liberty. Popular Political
Culture in Oaxaca, 1750-1850. Durham 2005. In:
H-Soz-u-Kult 16.08.2007.
Jenkins Schwartz, Marie: Birthing a Slave. Motherhood and Medicine in the Antebellum South.
Cambridge: Harvard University Press 2006.
ISBN: 0-674-02202-5; 401 S.
Rezensiert von: Julia Kramer, GIGA German
Institute of Global and Area Studies, Hamburg
Marie Jenkins Schwartz erschließt mit ihrer
Studie „Birthing a Slave“ einen neuen Aspekt
der Geschichte der Sklaverei in den USA.
Durch die Verknüpfung von Medizin- und Sozialgeschichte eröffnen sich Einblicke, welche
die Machtgefüge der Sklaven haltenden Südstaatengesellschaft neu ausleuchten. 1808 hatte der Kongress die Beteiligung der USA am
460
internationalen Sklavenhandel beendet. Unter dieser Voraussetzung war die Sklaverei
nur aufrechtzuerhalten, wenn nicht nur die
produktiven, sondern auch die reproduktiven
Fähigkeiten von Sklavinnen ausgebeutet wurden. Jenkins Schwartz zeigt auf, wie master
und mistress in das Intimste von versklavten Personen eingriffen und wie SklavInnen
es dennoch schafften, sich gewisse Freiräume
zu erhalten. Dabei verortet sie Mediziner, medizinische Versorgung und medizinische Forschung zwischen diesen beiden Parteien. Der
Arzt wurde nur gerufen, wenn keine andere Lösung gesehen wurde. Für Ärzte im Süden war die Behandlung von SklavInnen eine
wichtige Einnahmequelle und eine wertvolle Gelegenheit, sich zu erproben. Durch diese Erfahrung konnten sie hoffen, als angesehener Arzt auch Weiße behandeln zu dürfen
oder gar in die hohe Sklavenhaltergesellschaft
aufgenommen zu werden. Auf den Plantagen
waren sie auch der mistress untergeordnet.
Jenkins Schwartz’ Quellen sind hauptsächlich Aufzeichnungen und veröffentlichte Bücher von Ärzten sowie medizinische Zeitschriften und Ratgeber. Zusätzlich wertet sie
allgemeinere Zeitschriften aus, in denen auch
Plantagenbesitzer ihre Erfahrungen darlegten. Durch diese Literatur informierten sich
Sklavenhalter, um ihre Betriebe optimieren zu
können. Es wird deutlich, dass es als erklärtes Ziel galt, eine Farm so autark wie möglich
zu führen. Dieses schloss die medizinische
Versorgung ihrer Bewohner ein. Darüber hinaus lässt Jenkins Schwartz ehemalige SklavInnen durch Interviews zu Wort kommen, die
in den 1930er-Jahren von der US-Regierung
mit noch lebenden ZeitzeugInnen durchgeführt wurden. Die folgenden Bereiche reproduktiver Gesundheit werden in vielen Einzelbeispielen angeführt: Fortpflanzung, Fruchtbarkeit, Schwangerschaft, Geburt, postnatale Komplikationen, gynäkologische Chirurgie, Krebs und andere Tumore. Ein abschließendes Kapitel ist der Situation nach der Befreiung der SklavInnen gewidmet. Da Sklavenhalter durch die Emanzipation ihren Besitzanspruch auf African-Americans verloren,
gaben sie auch ihr Interesse auf, diese gesund
und leistungsfähig zu halten. Zugang zu Gesundheitsversorgung wurde ihnen aus finanziellen und rassistischen Gründen zusätzlich
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
© Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart
M. Jenkins Schwartz: Birthing a Slave
erschwert. Die vorher von der weißen Gesellschaft so vehement vorangetriebene Fruchtbarkeit wurde unter den neuen Arbeitsverhältnissen als hinderlich eingestuft.
Auch während der Sklaverei war die Medizin der weißen Gesellschaft nicht um das
Wohlergehen der Sklavinnen und Sklaven bemüht, sondern richtete sich nach den Vorgaben ihrer Besitzer. In der rassistischen Vorstellung der weißen Gesellschaft galten schwarze Frauen als besonders fruchtbar und zusätzlich als besonders schmerzresistent (analog dazu führte die vermeintlich „höhere Zivilisiertheit“ weißer Frauen zu deren gesteigerter Empfindlichkeit). SklavInnen wurden
zur Arbeit gezwungen, ihnen konnte Nahrung verweigert werden, sie konnten ungestraft gezüchtigt und vergewaltigt werden.
Jenkins Schwartz konstatiert (obsoleterweise), dass SklavInnen keine uneingeschränkte
Kontrolle über ihre Körper hatten, da als wertvoll und damit schützenswert nur jene angesehen wurden, die besonders hart arbeiten
konnten oder schnell viele Kinder bekamen.
Eine gute „Gebärmaschine“ konnte auf dem
Sklavenmarkt hohe Preise erzielen. Unfruchtbarkeit dagegen wurde mit Verkauf oder zusätzlicher Arbeit geahndet. Um auch den
höchst intimen Lebensbereich der Fortpflanzung zu kontrollieren, arrangierten Sklavenbesitzer mehr oder weniger freiwillige Paarungen. Manche verfolgten dabei regelrechte
„Zuchtkonzepte“. Für SklavInnen waren diese vermittelten Lebensgemeinschaften unter
Umständen die einzige Gelegenheit, eine Familie zu gründen und so etwas Eigenes und
Privates zu haben – auch daher ließen sie sich
darauf ein. „Not all slaves accepted planter
matchmaking docilely, but the willingness of
some couples to mate under such circumstances is not hard to understand given that the
majority of enslaved people wanted to marry and have families. The constraints that enslavement placed upon a man’s or woman’s
ability to choose a spouse rendered marriage
difficult.” (S. 16) Erzwungener Sex durch weiße Männer wird als Thema nur vage angedeutet, obwohl es eng mit der systematischen Unterwerfung der SklavInnen zusammenhängt.
Die Medizin entwickelte im 19. Jahrhundert
neue Vorstellungen über Frauen und „entdeckte“ sie dabei geradezu als Forschungs-
2007-3-094
objekt. Mediziner wollten sich als Experten
auf dem Gebiet weiblicher Körper und Gesundheit profilieren. Schwangerschaften wurden zu einem biologischen Zustand, der von
Männern der Wissenschaft reguliert werden
musste. Der Stand der Medizin und der medizinischen Ausbildung, wie er in „Birthing a
Slave“ dargestellt wird, öffnet den Blick auf
das damalige Verständnis von Krankheit und
Tod und von der Aufgabe, eine Bevölkerung
gesund zu halten. Im Falle von Sklavinnen
waren es allerdings ihre Besitzer, die als Klienten angesehen wurden, nicht die Patientinnen. An ihnen konnten auch ungeübte Ärzte
Erfahrungen sammeln, oder es wurde an ihnen experimentiert, um das Ansehen und das
Vertrauen der weißen Gesellschaft zu erreichen. Über die Köpfe der schwarzen Frauen
hinweg wurde ihr „Schicksal“ zwischen dem
Geltungsbedürfnis und der Neugierde weißer
Ärzte und der Sorge um die Profite ihrer weißen Besitzer entschieden. Sie selbst hatten nur
wenige Möglichkeiten, sich diesen oft brutalen und experimentellen Eingriffen zu entziehen. Sie schafften dies nur, wenn sie ihren
Gesundheitszustand verbergen oder durch eigene Heilmethoden verbessern konnten. Dies
galt auch für Versuche, Familienplanung im
Rahmen des Möglichen selbst zu steuern.
Viele Thesen der Sklavereiforschung finden hier Anklang, so die doppelte körperliche Ausbeutung der versklavten Frau und
das paternalistisch fürsorgende Bild, das auch
durch die medizinische Versorgung der SklavInnen von ihren Besitzern vermittelt wurde. Neu ist, wie weit die reproduktive Ausbeutung ging, dass schwarze Frauen als Versuchsobjekte medizinischer Forschung herhalten mussten und so die weiße Gesellschaft
erneut von deren entmenschlichender Unterwerfung profitierte, und dass auch Mediziner
keinerlei Respekt vor den Körpern und Wertvorstellungen der SklavInnen hatten, die ihnen anvertraut wurden. Auch ihre Toten wurden von Erforschung nicht verschont, obwohl
sich African-Americans häufig gegen eine Obduktion aussprachen. Den Lebenden wurde
meist keine ärztliche Verschwiegenheit zuteil,
obwohl diese bei weißen Patienten selbstverständlich war. Ihre Geschichten wurden zum
Teil detailliert veröffentlicht. So ist das vorliegende Buch mehr eine Studie über Entwick-
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
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461
Außereuropäische Geschichte
lungen und Vorstellungen in der weißen Medizin, als über die der SklavInnen. Sicherlich
ist dies auch der Quellenlage geschuldet. Mary Jenkins Schwartz berichtet von ärztlichem
Verhalten, das nach heutigen Maßstäben entrüstet; sie versäumt aber meist, die ethischen
Vorgaben der Zeitgenossen zu benennen. Ihre
Erzählung bleibt beispielhaft (durch den Fokus auf medizinische Problemfälle wirkt das
Berichtete häufig kurios) und ist beschreibender als analytisch. Leider bleibt die Analyse der sich offenbarenden machtvollen Verstrickungen und Abhängigkeiten dabei auf
der Strecke. Einige spannende Überlegungen
werden zwar aufgeworfen, dann aber nicht
weiter diskutiert. Dessen ungeachtet ist dieses
Buch ein Vorstoß in einem enorm aufschlussreichen Aspekt des im 19. Jahrhundert vorherrschenden Menschenbildes: eine Grundlagenarbeit, die viele weitere Studien nach sich
ziehen sollte.
HistLit 2007-3-094 / Julia Kramer über Jenkins Schwartz, Marie: Birthing a Slave. Motherhood and Medicine in the Antebellum South.
Cambridge 2006. In: H-Soz-u-Kult 06.08.2007.
König, Hans-Joachim: Kleine Geschichte Lateinamerikas. Stuttgart: Reclam 2006. ISBN: 3-15010612-5; 815 S.
Rezensiert von: Ulrich Mücke, Historisches
Seminar, Universität Hamburg
Endlich! – „Endlich“ könnte man sagen
„gibt es eine Geschichte Lateinamerikas auf
Deutsch.“ Zwar liegen eine ganze Reihe
von deutschsprachigen Büchern vor, die im
Titel einen Überblick über die „Geschichte Lateinamerikas“ versprechen, doch keines dieser Bücher hat den Anspruch, eine geschichtswissenschaftlich fundierte Gesamtdarstellung der Geschichte dieses riesigen Subkontinents zu liefern.1 Genau das ist
aber das Vorhaben des vorliegenden Reclam1 Zu
nennen sind hier insbesondere vier Titel. Die „Geschichte Lateinamerikas. Von der Unabhängigkeit bis
zur Gegenwart“ von Halperin Donghi (Suhrkamp Verlag), welche auf einer italienischen Ausgabe von 1968
basiert. Die im Rowohlt-Verlag 2005 erschienene „Lateinamerikanische Geschichte“, welche von einem Romanisten, Norbert Rehrmann, verfasst wurde, so dass
man nicht erwarten darf, dass die vielen in dem Buch
462
Bandes. Hier soll die gesamte Geschichte des
ganzen Subkontinents erzählt werden. Dass
dies trotz der beeindruckenden 815 Seiten ein
ganz und gar unmögliches Unterfangen ist,
räumt Hans-Joachim König allerdings gleich
auf der ersten Seite der Einleitung ein. Er
macht daher die Einschränkung, dass er „als
roten Faden den historischen Prozess der
Staats- und Nationsbildung gewählt“ hat (S.
7). Diesen Prozess zu verstehen und zu erklären, ist das vornehmliche Ziel des Buches.
Der Aufbau des Buches entspricht diesem
Vorhaben. Das 19. Jahrhundert (1808-1900),
„welches in gewissem Sinn die Mitte“ der
Darstellung bildet (S. 8), macht fast die Hälfte des Gesamttextes aus. Den beiden Kapiteln
zum 19. Jahrhundert ist ein Kapitel vorangestellt, welches die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts schon im Blick auf die später einsetzenden Unabhängigkeitsbewegungen analysiert. Hier wird verständlich, dass die späteren Nationalstaaten nicht als ein Zufallsprodukt der napoleonischen Kriege verstanden werden dürfen. Entdeckung und Eroberung, die Strukturen der Kolonialzeit (S. 11103) und die Zeit seit 1900 (S. 575-759) werden dagegen recht knapp behandelt. Ihnen ist
etwa 40 Prozent des Textes gewidmet. Zu dieser sich aus Königs Fragestellung ergebenden
Gesamtstruktur des Bandes tritt eine Binnengliederung der Kapitel, die sich durch das bewährte Reclam-Format auszeichnet, demnach
die einzelnen Kapitel mit kurzen Zusammenfassungen und tabellarischen Übersichten eröffnet werden. Der pädagogische Impetus ist
auch bei der notgedrungen sehr kurzen Bibliographie gut zu erkennen, sind die angegebenen Titel hier doch thematisch sehr feingliedrig geordnet, so dass der Literatur suchende Leser sehr genau zu den für seine Frage bedeutsamen Titel geführt wird. Das Personenregister besticht dann wiederum durch
behandelten Themen und Fragen immer anhand der
neuesten historischen Literatur diskutiert werden. Die
sehr differenzierte politikwissenschaftliche Einführung
zu Lateinamerika, welche Nikolaus Werz 2005 bei Nomos veröffentlicht hat und die ihren Schwerpunkt
in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat. Und
die „Einführung in das Studium der iberischen und
lateinamerikanischen Geschichte“ von Karin Schüller
(Aschendorff, 2000), welche nicht den Anspruch hat,
einen Überblick über die Geschichte Lateinamerikas zu
geben, sondern vielmehr Hinweise und Empfehlungen
zum Studium der lateinamerikanischen Geschichte liefern will.
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
© Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart
A. Köth u.a. (Hrsg.): Building America
die kurze Erläuterung zu jedem der dort genannten Namen.
Die Stärke des Buches liegt aber nicht einfach in der guten didaktischen Gestaltung.
Viel mehr zu loben ist der Versuch HansJoachim Königs, die vielen Länder des Subkontinents im Auge zu behalten. Dies kann
in den relativ kurzen Kapiteln zur Kolonialzeit und zum 20. Jahrhundert natürlich nicht
umgesetzt werden. Diese Kapitel sind daher
thematisch strukturiert, so dass ein Land in
der Darstellung nur erscheint, insofern es als
spezifisches Beispiel für das entsprechende
Thema betrachtet wird. Bei der langen Abhandlung über das 19. Jahrhundert bietet König dagegen eine Geschichte Lateinamerikas,
die sich aus vielen – zum Teil miteinander
verbundenen, zum Teil sich ähnelnden – Geschichten zusammensetzt. Der Vielfältigkeit
des Kontinents wird eine solche Darstellung
selbstredend eher gerecht, als eine thematische Ordnung, die zwangsläufig zur Vernachlässigung einer Reihe von Ländern führen
muss.
Was ist an der „Kleinen Geschichte Lateinamerikas“ zu kritisieren? Vor allem die Einleitung. König schreibt hier, dass sich sein Buch
weniger an Lateinamerikaner und an Fachkollegen als vielmehr an „deutsche Leserinnen und Leser“ richtet und dass er mit seinem
Buch „Interesse für die Geschichte Lateinamerikas bei ihnen wecken“ will (S. 8f.). Diese
von König anvisierte Leserschaft hat vermutlich relativ wenig Vorkenntnisse von der Geschichte Lateinamerikas. Gerade deshalb wäre es hilfreich, wenn in der Einleitung genauer erläutert würde, was Gegenstand und was
nicht Gegenstand dieser kleinen Geschichte
ist. Ein Fachkollege versteht, dass der „rote Faden“ Staats- und Nationsbildung bedeutet, dass viele Felder der lateinamerikanischen Geschichte ausgeklammert werden. So
beginnt Königs Geschichte mit der europäischen Ankunft und Landnahme. Die Zeit vor
1492 nimmt er nicht in den Blick. Und auch
später erscheinen Indianer und Afroamerikaner (und übrigens auch Frauen) in erster Linie als Objekte der Geschichte. Die von König
gewählte Perspektive macht dies verständlich. Aber ein unbedarfter Leser wird dies aufgrund der knappen Bemerkungen in der Einleitung nicht verstehen. Für ihn wird der Ti-
2007-3-038
tel („Kleine Geschichte Lateinamerikas“) vielmehr bedeuten, dass alle wichtigen Aspekte abgedeckt sind. Für eine zweite Auflage
würde es der Einleitung also gut tun, wenn
klar umrissen würde, welche Felder das Buch
nicht behandelt.
Dass es eine solche zweite Auflage geben
wird, daran kann kaum ein Zweifel bestehen.
Denn das Buch wird sich schnell als eine zentrale Referenz für all jene erweisen, die sich
in Studium oder Beruf mit Lateinamerika beschäftigen. Sein Wert ergibt sich dabei gerade
aus der detaillierten Zusammenstellung von
Daten, den langen tabellarischen Übersichten
und den konzisen Zusammenfassungen zentraler Themen. In mancher Hinsicht nähert
sich diese „Kleine Geschichte Lateinamerikas“ damit dem „Lateinamerika-Ploetz“, dem
leider (bisher?) keine Neuauflage beschieden
war. Mit Königs „Kleiner Geschichte Lateinamerikas“ hat sich eine solche Neuauflage
wohl auch erledigt.
HistLit 2007-3-055 / Ulrich Mücke über König, Hans-Joachim: Kleine Geschichte Lateinamerikas. Stuttgart 2006. In: H-Soz-u-Kult
23.07.2007.
Köth, Anke; Minta, Anna; Schwarting, Andreas (Hrsg.): Building America. Die Erschaffung einer neuen Welt. Dresden: Thelem 2005. ISBN:
3-937672-45-1; 356 S.
Rezensiert von: Sebastian Jobs, Historische
Anthropologie, Universität Erfurt
Mit dem „spatial turn“ hat sich in den
Kultur- und Sozialwissenschaften ein Konzept etabliert, das die Bedeutung von Vorstellungen vom Raum sowie dessen Aneignung als entscheidende Elemente menschlichen Handelns hervorhebt.1 In Anknüpfung daran versucht der vorliegende Sammelband „Building America – die Erschaffung
einer neuen Welt“, herausgegeben von Anke Köth, Anna Minta und Andreas Schwarting, Antworten auf die Frage zu finden,
„wie Identitäts- und Geschichtskonstruktio1 Bachmann-Medick,
Doris, Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei
Hamburg 2006.
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
© Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart
463
Außereuropäische Geschichte
nen, nationale Geltungsansprüche sowie gesellschaftliche Ordnungs- und Kontrollstrategien in Architektur, Städtebau und Denkmalpolitik zum Ausdruck gelangen“ (Klappentext). Dabei liegt der Schwerpunkt darauf, Ideen, Raumfantasien und Mythen sowie deren Umsetzung in der Schaffung neuer
Räume in Nordamerika vom 19. Jahrhundert
bis zur Gegenwart aus den Perspektiven von
Architektur-, Kultur-, Technik-, Konsum- und
Kunstgeschichte sowie der Literaturwissenschaft in den Blick zu nehmen. In seinem einführenden Beitrag umreißt Hans-Georg Lippert kurz die Entstehungsgeschichte des Bandes, der größtenteils die Vorträge dreier Symposien zusammenfasst, die 2003 und 2004 am
Sonderforschungsbereich 537 „Institutionalität und Geschichtlichkeit“ in Dresden stattfanden. Die Themen dieser Symposien geben
gleichzeitig auch die inhaltliche Ausrichtung
der drei Kapitel des Sammelbands vor. Darüber hinaus sollen die Ergebnisse zweier weiterer Symposien aus dem Jahr 2005 („Kultur
– Ästhetik – Wahrnehmung“ und „Eigenbilder – Fremdbilder“) in einem zweiten Sammelband publiziert werden.
Den ersten thematischen Schwerpunkt
setzt der Sammelband in der Trias von „Identität – Geschichte – Gedächtnis“. Michael
Hochgeschwenders eröffnender Beitrag verortet die aktuellen Diskussionen um Raum
und Identität in der US-amerikanischen
Geschichte sehr pointiert und informativ zwischen den wohlbekannten Theorieklassikern
von „Frontier“-These und „American Exceptionalism“. Dabei stellt er diese Debatten
einerseits in den theoretisch-methodischen
Kontext des „spatial turn“, weist jedoch
gleichzeitig darauf hin, dass Reinhart Koselleck schon 1986 die Bedeutung räumlicher
Perspektiven für historisches Arbeiten betont
hat.2 Caroline Rosenthal erweitert dieses
Methodenensemble aus literaturwissenschaftlicher Perspektive um postmoderne
Raumtheorien wie Michel Foucaults Heterotopiekonzept, um den städtischen Raum
als Kristallisationspunkt des nationalen
amerikanischen
Zivilisationsprojekts
zu
beschreiben. Gleichzeitig untersucht sie
2 Koselleck,
Reinhart, Raum und Geschichte, in: ders.,
Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt am Main
2000, S. 78-97.
464
Traditionen der literarischen Pastorale, die innerhalb eines zivilisationskritischen Projekts
„Natur“ als sehnsuchtsvoll aufgeladenen
dritten Raum jenseits von „wilderness“ und
Stadt formulierten. Jennifer Dickeys Text
„Historic Preservation and the Shaping of
National Identity in the United States“ hebt
die zunehmende Bedeutung einer „memory
infrastructure for the nation“ (S. 71) seit der
Mitte des 19. Jahrhunderts hervor. Dabei
betont sie die zentrale Bedeutung von Erinnerungsorten wie Mount Vernon oder Ellis
Island als Plätze amerikanischer Identitätsdebatten. An diesem Punkt setzen auch die
Beiträge von Jens Kabisch und Eduard Führ
an, die die Wirkungsweise verschiedener
Memorialisierungsdiskurse analysieren und
dabei vor allem die inszenatorische Qualität
des Erinnerns betonen.
Um die Inszenierung von Tradition und
Herrschaft geht es auch im zweiten Kapitel des Bandes: „Macht – Autorität – Moral“. Während Wolfgang Sonne hierbei die
Planungen um eine städtebauliche Überarbeitung der amerikanischen Hauptstadt zu Beginn des letzten Jahrhunderts untersucht, stehen in Anna Mintas Beitrag vor allem die Debatten über die Errichtung der National Cathedral in Washington D.C. im Mittelpunkt.
Dabei hebt sie vor allem auf die Überschneidungen von christlicher und ziviler Religion, religiösem und patriotischem Eifer hervor.
Ähnliche ideologische Berührungspunkte betont auch Harold Hammer-Schenk. Er findet
in Profanbauten wie kommerziellen Hochhäusern, Bibliotheken und auch Privatbauten stilistische Anlehnungen an kirchliche Sakralbauten und stellt damit einen Zusammenhang zu zivilreligiösen Missions- und Fortschrittsideen her. Klaus P. Hansens kurzer
Beitrag über den Weg „Vom Tellerwäscher
zum Millionär“ analysiert die Herkunft amerikanischer Mythen von Erfolg in verschiedenen literarischen Texten. Dabei beschreibt
er eine „Mentalität der Machbarkeit“ (S. 212),
die sich an Motiven protestantischer Ethik orientiert und Optimismus und Hoffnung auf
Fortschritt hervorhebt. Gleichzeitig betont er
jedoch auch die Mythoskritik, wie sie beispielsweise Arthur Millers „Death of a Salesman“ betreibt. In diesem Kapitel fällt vor
allem Laura Biegers Artikel „’Make no little
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
© Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart
A. Köth u.a. (Hrsg.): Building America
plans’ – der Modus des Spektakulären von
der White City bis Las Vegas“ methodisch
aus dem Rahmen. In ihrer Betrachtung der
Modellstadt „White City“ auf der Chicagoer
Weltausstellung (1893) und der architektonischen Entwicklung verschiedener Bauten in
Las Vegas macht sie sich den aus der Musik
stammenden Begriff des Modus zueigen. Unter anderem lässt sich der Modus des Spektakulären in „White City“ in seinem Charakter als städtische Utopie erkennen, der noch
dadurch unterstrichen wurde, dass es sich
um ein bautechnisches Provisorium handelte, dass teilweise schon während der eigentlichen Ausstellung zusammenbrach. Diese Inszenierung des Verfalls (S. 232f.) und des Abbruchs bezeichnet Bieger genau so als spektakulär wie die Architektur der Casinos und
Hotels in Las Vegas, die einer ständigen Überarbeitung und Aktualisierung unterworfen
seien. Gerade die Konstanz des bleibenden
Wandels eröffne Räume für Grenzüberschreitung und Utopien. Damit unterscheide sich
die spektakulär-utopische Architektur in Las
Vegas und „White City“ klar von eher monumentalen Bauweisen in Washington D.C.,
die gleich einem Museum vor allem Tradition
und Herkunft hervorhöben.
Das abschließende Kapitel fasst die Diskussion um „Fortschritt – Technik – Geschwindigkeit“ zusammen. Dabei analysiert Ellen
Kloft die Debatten um eine Nutzung des
New Yorker „Ground Zero“. Besonders in
den Hochhausentwürfen für den Wettbewerb
über die Neubebauung des Areals entdeckt
Kloft Elemente nostalgischer Rückbesinnung
wie auch visionärer Fortschrittshoffnung. Gerade auf den letzten Punkt hebt auch Anke Köths Beitrag über die Bedeutung des
amerikanischen Hochausbaus in den 1920erJahren ab. Sie zeigt, dass Wolkenkratzer, je
nach Verwendungszweck, als Zeichen von
Modernität, Fortschritt und Wohlstand gedeutet wurden, deren Herausforderung vor
allem im Ausloten der Grenzen und der technischen und finanziellen Machbarkeit lag.
Zwei weitere Texte dieses Abschnitts beschäftigen sich mit dem Einfluss des Autos auf
Formen amerikanischer Mobilität. Während
Christoph Asendorf in seinem Artikel „Verkehrsfluss und Gesellschaftsform“ Reichsautobahn und Highways einem konzeptionellen
2007-3-038
Vergleich unterzieht, betrachtet Liane Löwe
in ihrem Beitrag „’A Nation Built on Transport’. Das Auto und die US-amerikanische
Gesellschaft“ die Anfänge einer Auto- und
Fahrkultur in den USA in den 1920er- und
1930er-Jahren. Dabei hebt sie vor allem darauf ab, wie die zunehmende Verbreitung von
Autos die Möglichkeiten für die Aneignung
des Raums prägte: Stadt und Land wurden
enger miteinander verknüpft, Wohngegenden
in den Vorstädten wurden zunehmend attraktiver. Durch diese Art des Unterwegsseins,
so Löwe, veränderte sich gleichzeitig auch
die bauliche Infrastruktur des Verkehrsnetzes, angefangen von den Straßen über Motels, „drive-in restaurants“ und Tankstellen
bis hin zur heimischen Garage, die ab den
1930er-Jahren zum häuslichen Standard gehörte. Der Beitrag zeigt überzeugend, wie die
Möglichkeiten von Bewegung den Alltag von
Menschen veränderten. Eine benachbarte Perspektive greift auch Astrid Bögers Text über
„Die Zukunft der Vergangenheit“ über eine
städtebauliche Utopie auf der New Yorker
Weltausstellung 1939 auf. Sie stellt unter anderem fest, dass diese Vision einer umfassenden Städteerneuerung erhebliche Leerstellen produzierte, indem sie „auf die Präsenz
von Menschen weitestgehend verzichtet[e]”
(S. 300) und damit die alltäglichen Praktiken
der Menschen im Raum (Michel de Certeau)
ausblendete.
Zusammenfassend lässt sich feststellen,
dass der Sammelband dort am überzeugendsten ist, wo die Perspektive der einzelnen
Beiträge über die Konzeptionen, Planungen
und Ideen (meist urbaner) Räume hinausgeht und zusätzlich das sprichwörtliche „Gehen in der Stadt“ (de Certeau) in den Blick
der Autoren kommt. In ihrer starken Bezugnahme auf Klassiker und „Dauerbrenner“
US-amerikanischer Ideengeschichte bewegen
sich alle Beiträge auf solidem konzeptionellen
„common ground“ („frontier“, „American exceptionalism“, „manifest destiny“ et cetera),
antworten also auf die Fragen, die dem Sammelband zugrunde liegen. Durch diesen Fokus kommt jedoch gerade die Perspektive der
Aneignung der imaginierten und neu entstandenen Räume in den meisten Texten zu kurz.
Die Frage nach den Akteuren, beispielsweise
in Form städtischer Bewohner, wird zu selten
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
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465
Außereuropäische Geschichte
gestellt. Dabei stecken gerade im Abschreiten von Räumen genauso wie im „Benutzen“ von Denkmalen Momente der Produktion, der Deutung und Sinnstiftung, gleichzeitig aber auch des Scheiterns, der Veränderung
und der Brüche mit Vertrautem und Geplantem.3 Die meisten Beiträge betonen Traditionen und Kontinuitäten, folgen dabei Meistererzählungen von Fortschritt, Technisierung,
Demokratisierung und schreiben sie damit
fort, ohne ihre mythischen Qualitäten zu thematisieren. Vielleicht sind dies ja Perspektiven, die im zweiten Teil der Veröffentlichung
stärker zum Tragen kommen werden.
HistLit 2007-3-038 / Sebastian Jobs über Köth, Anke; Minta, Anna; Schwarting, Andreas
(Hrsg.): Building America. Die Erschaffung einer
neuen Welt. Dresden 2005. In: H-Soz-u-Kult
16.07.2007.
Lafi, Nora (Hrsg.): Municipalités méditerranéennes. Les réformes urbaines ottomanes au miroir
d’une histoire comparée (Moyen-Orient, Maghreb,
Europe méridionale). Berlin: Klaus-SchwarzVerlag 2006. ISBN: 3-87997-634-1; 373 S.
Rezensiert von: Astrid Meier, Historisches
Seminar, Universität Zürich
Um es gleich vorwegzunehmen: Dies ist ein
sehr anregendes Buch zu einem äußerst spannenden Thema, aber es ist leider auch ein
Buch verpasster Chancen. Im Zentrum des Interesses steht der beschleunigte Wandel der
Städte im östlichen und südlichen Mittelmeerraum im 19. Jahrhundert. Gerade für urbane Räume unter osmanischer Herrschaft
wird diese Periode oft als Transformation von
einer traditionellen „islamisch“ oder „orientalisch“ geprägten Stadt zur modernen Stadt
europäischen Zuschnitts angesehen. Auf den
ersten Blick scheint sich diese Entwicklung
bis heute in der augenfälligen Trennung zwischen islamisch geprägter Altstadt mit ihren
engen Sackgassen und den modernen Vierteln der kolonialen Städte mit ihren großzügigen Boulevards zu manifestieren. Doch
3 de
Certeau, Michel, Die Kunst des Handelns, Berlin
1988; Young, James E., The texture of memory – Holocaust memorials and meaning, New Haven, CT 1993.
466
der historische Wandel betraf nicht nur die
Gestaltung des gesamten städtischen Raums
und seine Nutzung in einer Zeit beträchtlichen demographischen und urbanen Wachstums, sondern nicht zuletzt auch die Arten,
wie städtischer Raum verwaltet wurde und
wer darin einbezogen war.
Der Band ist das Resultat einer kollektiven Unternehmung von etwa zwanzig Forscherinnen und Forschern, die sich mehrmals
zum Austausch trafen. Ausgangspunkt war
das Interesse an der Rolle munizipaler Räte in den osmanischen Städten der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dies war laut
Herausgeberin Nora Lafi ein kritischer Moment in der Geschichte der städtischen Gesellschaften: „Mais autour de la question du
passage d’institutions urbaines anciennes, ou
d’Ancien régime [...], à des institutions de
type municipal, on retrouve partout un des
points essentiels de l’histoire des sociétés urbaines.“ (S. 14) Demgemäß lag die Stadtverwaltung unter dem Ancien régime in den
Händen eines Rates von Notablen, der den
städtischen Raum (u. a. Märkte) und die gesellschaftliche Ordnung entlang berufsständischer und konfessioneller Linien kontrollierte. Unter dem neuen, „munizipalen“ Regime basierte die Mitgliedschaft im Rat auf
einem Zensuswahlrecht, das auf der Steuerkraft von Individuen aufbaute, insbesondere was Immobilbesitz betraf. Berufsständische Organisation und konfessionelle Gemeinschaft spielten nunmehr eine untergeordnete Rolle. Der Band versucht, diesen
Übergang von grundlegender Bedeutung für
die Entwicklung nahöstlicher Städte in verschiedene Richtungen hin zu kontextualisieren. Gegen simple Erklärungen wie die bloße
Imitierung eines europäischen Modells verspricht das Vorwort, sowohl nach den Vorläufern der neuen, „reformierten“ und „modernen“ Formen von Stadtverwaltung und
-planung zu suchen als auch parallele Entwicklungen in Europa in den Blick zu nehmen. Weiter interessieren die langfristigen
Auswirkungen dieser Reformen.
Diese hochgesteckten Ziele spiegeln sich
im etwas ungleichgewichtigen Aufbau des
Bandes wider. In einer ausführlichen Einleitung rekapituliert die Herausgeberin die Geschichte dieses Forschungsprojektes und ver-
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
© Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart
N. Lafi (Hrsg.): Municipalités méditerranéennes
sucht, Einwänden methodischer Art bereits
hier zu begegnen, indem sie stark die allmähliche Entwicklung einer gemeinsamen Fragestellung herausstreicht. Es schließt sich ein
erster Teil mit zwei Beiträgen an, der dem Vergleichspunkt „Italien“ gewidmet ist. Anhand
der munizipalen Reformen von 1780 in Livorno zeigt Samuel Fettah, wie unter dem System
eines aufgeklärten Absolutismus mit der Ausweitung der Wählerschaft und der Integration der jüdischen Gemeinschaft in den neuen Rat tendenziell eine neue städtische Elite
geschaffen wurde, obwohl alte, „adelige“ Privilegien durchaus weiter galten. Denis Bocquet zeichnet in einem überblicksartigen Artikel die Geschichte der Stadtverwaltung von
Rom vom 16. bis zur Inkorporation ins Königreich Italien im Jahr 1870 nach.
Der zweite Teil zu den osmanischen Reformen ist zweifellos das Kernstück des Bandes und thematisiert die oben beschriebene
Transformation an den Fällen Jerusalem, Beirut, Damaskus und Tunis. Dabei sticht besonders der weit ausholende Artikel von Yasemin Avci und Vincent Lemire mit einer ReEvaluation der osmanischen Munizipalität in
Jerusalem zwischen 1867 und 1917 hervor. Er
thematisiert das bewusste Vergessen dieser
Institution der städtischen Selbstverwaltung
unter kolonialen und post-kolonialen Vorzeichen. Es war darum ein Glücksfall, dass mit
siebzehn Bänden von osmanisch-türkischen
Protokollen (1870-1914) die Arbeit dieses Rates besonders gut dokumentiert ist. Insbesondere die innovative Diskussion von Instanzen der Stadtverwaltung unter dem „Ancien
régime“ bietet willkommene Anknüpfungspunkte für diejenigen Forschungsrichtungen,
die mit der Zeit vor den Tanzimat (1839-1876)
befasst sind. Sie fangen gerade an, sich eingehender damit zu beschäftigen, wie städtischer Raum verwaltet wurde und welche Instrumente zur Verfügung standen.1 Dies wird
sicher dazu führen, dass der Beginn der Moderne und das Ende des Ancien régime nicht
mehr so klar datiert werden können, wie es
1 So
zum Beispiel in den Arbeiten von Stefan Knost
zu Stadtviertelstiftungen u.a. in Aleppo, s. Knost, Stefan, Die Stadtviertelstiftungen in Aleppo von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Meier, Astrid; Pahlitzsch, Johannes; Reinfandt, Johannes
(Hrsg.), Für immer und ewig? Islamische Stiftungen im
historischen Wandel, Berlin, in Vorbereitung.
2007-3-204
an verschiedenen Orten dieses Bandes geschieht. Formen von „moderner“ Stadtverwaltung existierten bereits vor dem 19. Jahrhundert. So muss die Bautätigkeit in den osmanischen Städten schon vor der Einführung
der munizipalen Räte einer Art Planung unterworfen gewesen sein.
Jens Hanssen konzentriert sich in seinem
Beitrag auf die personelle Zusammensetzung
des Stadtrates von Beirut. Dabei betont er die
Bezüge der im Rat versammelten Personen
zum kulturellen und intellektuellen Umfeld
ihrer Zeit (1860-1908). Stefan Weber verweist
in seinem Artikel stärker auf die Aktivitäten des Rates und wie sich unter seiner Planung Infrastruktur und Plan von Damaskus
von 1864 bis 1918 veränderten. Der vierte Beitrag stammt von der Herausgeberin Nora Lafi
und zeigt am Beispiel von Tunis in einer sehr
interessanten und überzeugenden Langzeitperspektive Brüche und Kontinuitäten in der
Art auf, wie und von wem die Stadt verwaltet wurde. Auch sie verweist mit den Quartiervorstehern (shaykh al-balad) auf einen alten Funktionsträger der osmanischen Stadtverwaltung, von dem wir noch viel zu wenig
wissen.
Der dritte Teil umfasst zwei Beiträge, die
die Modalitäten der Stadtverwaltung unter
kolonialen Vorzeichen betrachten. Carla Edde
verweist am Beispiel von Beirut auf die ambivalente Umsetzung der modernisierenden
Diskurse der „mission civilisatrice“ in der Instrumentalisierung des Stadtrates, „puisque
la perte de pouvoir réel de la municipalité se
fait au moment où celle-ci est dotée de moyens corrects de fonctionnement“ (S. 285). Der
zweite Beitrag von Denis Boquet in diesem
Band zeichnet nach, wie in den Jahren um
1912 die Stadtverwaltung von Rhodos aus der
Perspektive der italienischen Besatzer aussah.
Im vierten Teil schließlich thematisiert Emna
Bchir El Aouani am Beispiel eines Erschließungsprojektes in der Stadt Tunis die Probleme gegenwärtiger Stadtplanung.
Warum also verpasste Chancen? Zum ersten frappiert der Umstand, dass in einem
kollektiven Forschungsunternehmen, in dem
man sich laut Vorwort in mehrmaligen Treffen
über methodische Fragen des Vergleichs und
gemeinsame Fragestellungen austauschte, die
Beiträge fast gänzlich auf sich selber bezogen
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
© Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart
467
Außereuropäische Geschichte
bleiben. Die Ergebnisse der Untersuchung zu
den einzelnen Fällen bleiben so isoliert und
werden nicht in einer Synthese gegeneinander abgewogen und diskutiert.
Zweitens ist die Funktion des Vergleichs
mit zwei, vielleicht mit Rhodos unter italienischer Herrschaft sogar drei Sonderfällen
aus der europäischen Geschichte nicht unmittelbar einsehbar. Zu unterschiedlich ist die
Qualität dieser Beiträge, die von einer Detailstudie (Livorno) über einen Forschungsüberblick (Rom) zu einer ersten Quellenskizze (Rhodos) reichen. Fast ganz aus dem Rahmen fällt der Überblicksbeitrag zu Tunis am
Ende des 20. Jahrhunderts, weil seine erste
Hälfte zum größten Teil wiederholt, was anderenorts schon detaillierter und genauer dargestellt wurde, und sein zweiter Teil in einen
sehr unterschiedlichen Kontext gehört. Auch
wenn, wie die Herausgeberin im Vorwort betont, die kollektive Arbeit vor allem in der
Ausarbeitung eines gemeinsamen Fragekatalogs bestand, hätte man sich von einem komparativen Ansatz mehr und vor allem anregendere Resultate erhofft. Das verhält sich
ebenso für Fragestellungen im Rahmen einer histoire croisée, die im Vorwort angesprochen, aber dann nirgends eingelöst werden.
Schließlich ist mir unverständlich, warum
in einem Band, der zu interdisziplinärem
Arbeiten aufrufen will, die Transkription
von häufig eingestreuten arabischen und
osmanisch-türkischen Begriffen so uneinheitlich ist, dass selbst SpezialistInnen über sie
stolpern. Diese unnötige Hürde lässt sich
nicht mit dem Hinweis entkräften, dass man
eine möglichst einfache Transkription den
einzelnen Autorinnen und Autoren überlassen hat (S. 9), denn zum einen werden selbst
dort, wo genau transkribiert wird, uneinheitliche Systeme angewandt (so z. B. gehäuft
S. 143, 148). Schwerer wiegt aber generell
die überaus unsorgfältige redaktionelle Bearbeitung der Beiträge, die den Lesefluss an
einigen Stellen empfindlich stört: So dürfte es nicht einfach sein, von der „jâmac ezzitûna“ (S. 340) auf den berühmten ZaytunaHochschulkomplex in Tunis zu schließen.
Trotz dieser Kritik ist der Band all jenen
wärmstens zu empfehlen, die etwas zur Geschichte von städtischen Gesellschaften unter
osmanischer Herrschaft seit dem 18. Jahrhun-
468
dert wissen möchten. Die Anregungen dieses
Bandes werden sicher die Forschungslandschaft zur Stadtgeschichte in den nächsten
Jahren mit gestalten. Auf eine Synthese der
Resultate warte nicht nur ich gespannt.
HistLit 2007-3-204 / Astrid Meier über Lafi,
Nora (Hrsg.): Municipalités méditerranéennes.
Les réformes urbaines ottomanes au miroir d’une
histoire comparée (Moyen-Orient, Maghreb, Europe méridionale). Berlin 2006. In: H-Soz-u-Kult
17.09.2007.
Laurinat, Marion: Kita Ikki (1883-1937) und
der Februarputsch 1936. Eine historische Untersuchung japanischer Quellen des Militärgerichtsverfahrens. Münster: LIT Verlag 2006. ISBN:
3-8258-9841-5; 328 S.
Rezensiert von: Maik Hendrik Sprotte, Institut für Japanologie, Zentrum für Ostasienwissenschaften (ZO), Universität Heidelberg
Die Diskussion, ob das Herrschaftssystem
des japanischen Kaiserreichs zu irgendeinem
Zeitpunkt in der Phase des so genannten
„Fünfzehnjährigen Krieges“ in China und
im Pazifik (1931-1945) als faschistisch klassifiziert werden kann, hält in der historischen Japanforschung seit Jahrzehnten an.1
Als „Kronzeuge“ der Befürworter dieser These einer japanischen Variante faschistischer
Herrschaft wird – neben dem Publizisten
und politischen Aktivisten Ôkawa Shûmei
(1896-1957)2 – oft Kita Ikki als mutmaßlicher
Chefideologe des japanischen Faschismus ge1 Siehe dazu: Schölz, Tino, Faschismuskonzepte in der ja-
panischen Zeitgeschichtsforschung, in: Krämer, Hans
Martin; Schölz, Tino; Conrad, Sebastian (Hrsg.), Geschichtswissenschaft in Japan, Göttingen 2006, S. 107134; Kasza, Gregory J., Fascism from above? Japan’s
kakushin right in comparative perspective, in: Larsen,
Stein Ugelvik (Hrsg.), Fascism outside Europe. The European Impulse against Domestic Conditions in the
Diffusion of Global Fascism. New York 2001, S. 183268; Krämer, Hans Martin, Faschismus in Japan. Anmerkungen zu einem für den internationalen Vergleich
tauglichen Faschismusbegriff, in: Sozial.Geschichte.
Zeitschrift für historische Analyse des 20. und 21. Jahrhunderts 2 (2005), S. 6-32; Martin, Bernd, Zur Tauglichkeit eines übergreifenden Faschismus-Begriffs. Ein
Vergleich zwischen Japan, Italien und Deutschland, in:
Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 29 (1981), S. 48-73.
2 Bei ostasiatischen Personennamen wird der Familienname dem persönlichen Namen vorangestellt.
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
© Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart
M. Laurinat: Kita Ikki (1883-1937) und der Februarputsch 1936
nannt. Marion Laurinat hat sich in ihrer 2004
an der Fakultät für Kulturwissenschaften der
Universität Tübingen eingereichten und 2006
in der renommierten Publikationsreihe der
Tübinger Ostasienwissenschaften erschienenen Dissertation seinem publizistischen Werk
und nicht zuletzt seinem politischen Handeln
zugewendet. Laurinat hat den Schwerpunkt
ihrer historisch-hermeneutischen Analyse dabei auf die Auswertung von Gerichtsakten
und Verhörprotokollen gelegt – Dokumenten,
in denen Kita, unter dem Vorwurf der Beteiligung am so genannten „Zweiten Putschversuch der Jungen Offiziere“ zur Schaffung
einer absoluten Tennô-Herrschaft, dem Februarputsch des Jahres 1936, verhaftet, Rechenschaft gegenüber den Sicherheitsbehörden, der Staatsanwaltschaft und einem Militärgericht abzulegen hatte.
Ein zentraler Begriff der Untersuchung
Laurinats ist der Terminus der „ShôwaRestauration“. Damit wird die politische Forderung nationalistischer Kreise nach einer
alle Bereiche des Gemeinwesens umfassenden Reform der politischen, wirtschaftlichen
und sozialen Strukturen Japans nach 1868 beschrieben. Mutmaßlicher Korruption, Insubordination gegenüber dem Tennô als quasigöttlichem Herrscher des Landes, sozialer
wie wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und einer daraus resultierenden Revolutionsgefahr
sollte mit der Errichtung einer unmittelbaren
Tennô-Herrschaft unter gleichzeitiger Aussetzung der seit 1889 bestehenden japanischen
Verfassung begegnet werden.
Auf der Basis der Aussagen Kita Ikkis und
von Putschisten nach ihrer Verhaftung 1936
geht Laurinat den Fragen nach, wie sich einerseits „die konkrete Einflussnahme Kita Ikkis
auf die Shôwa-Restauration“ gestaltete, und
welche Rolle ihm andererseits „innerhalb des
Februarputsches von 1936“ (S. 15) zukomme.
Dabei bezieht sich Laurinat auf verschiedene, mehr oder weniger vollständige Dokumentensammlungen, in denen Verhör- und
Gerichtsprotokolle sowie weitere Materialien
zum Verfahren gegen Kita Ikki als mutmaßlichem geistigem Vater des Februarputsches in
der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts publiziert wurden. Ein kenntnisreicher Überblick
über die Dokumentenlage und den Stand der
japanischen und westlichen Forschung zu Ki-
2007-3-210
ta (S. 18-22, S. 24-28) gibt einen Eindruck
von den Mühen, denen sich Laurinat bei der
Erschließung des Materials zu stellen hatte.
Dieses erste Kapitel endet mit einer Klärung
der für die vorliegende Arbeit fundamentalen Termini „Shôwa-Restauration“, „Ultranationalismus“ und „Faschismus“, wobei Laurinat die Anwendung des letzteren auf Japan
für problematisch hält.
Im Sinne des Erkenntnisinteresses Laurinats ein wenig zu monolithisch ist das zweite Kapitel zu den „historischen Grundlagen“
gestaltet. Neben einem Lebenslauf Kitas geht
Laurinat auf die Erscheinungsform des japanischen Staates und seiner Staatsideologie
ein, wobei sie es für erforderlich hält, bis in
die feudale Übergangsphase unmittelbar vor
dem Beginn der Moderne in Japan mit der
Meiji-Restauration des Jahres 1868 zurückzugehen. Bedauerlich sind hier begriffliche Ungenauigkeiten, die die Samurai beispielsweise mal als Stand, als Klasse oder gar Kaste
(S. 50) charakterisieren. Neben dem Einfluss
des Westens auf Japan berücksichtigt Laurinat in ihrer Darstellung ebenso die Konstitutionsbedingungen des Meiji-Staates (Verfassung, Erziehungsedikt und Staatsshintô) wie
die „nationalistische Entwicklung Japans und
ihre politischen Einflussfaktoren von 1920
bis 1936“ (S. 62ff.). Der Begriff der „TaishôDemokratie“ als Synonym für eine wachsende politische Bedeutung des Volkes und seiner erwachenden politischen Sensibilität findet allerdings keineswegs erst, wie Laurinat
schreibt, für die „ab Mitte der zwanziger Jahre
währende Regierungsform“ der Parteienkabinette (S. 62), sondern bereits für die Zeit nach
1905 Verwendung.3
Für eine Bewertung des Einflusses Kitas
auf den japanischen Ultranationalismus der
1920er- und 1930er-Jahre von zentraler Bedeutung sind seine Schriften, von denen Laurinat im dritten Kapitel die drei wichtigsten
Abhandlungen unter den Stichworten „Sozialismus“, „Panasiatismus“ und „Staatsreorganisation“ vorstellt. Mit diesen drei Kategorien sind auch zugleich die wichtigsten Elemente von Kitas politischem Denken identifiziert. Besonders die Schrift „Umriss eines
3 Vgl. Meyer, Harald, Die „Taishô-Demokratie“. Begriffs-
geschichtliche Studien zur Demokratierezeption in Japan von 1900 bis 1920, Bern 2005, S. 62.
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
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469
Außereuropäische Geschichte
Planes zur Reorganisation Japans“ von 1919
(S. 88ff.) mit einem starken anti-westlichen
Ressentiment und seiner Forderung nach
einem Staatstreich im Sinne der „ShôwaRestauration“ stützte den juristischen Vorwurf gegen Kita als möglicher geistiger Urheber des Februarputsches.
Der „Vita activa“ Kitas ab 1923 wendet
sich Laurinat in ihrem vierten Kapitel zu. Neben seine Funktion als einer der konzeptionellen Denker des japanischen Ultranationalismus trat bei Kita das konkrete politische
Engagement, indem er sich als Politikberater für seine politischen Überzeugungen aktiver einzusetzen und sich mit zahlreichen
ultranationalistischen Gruppen, Einzelpersonen und Wirtschaftsunternehmen zu verbinden begann. Laurinat analysiert in diesem
Kontext auf der Grundlage der Gerichtsakten den Einfluss Kitas auf die zwischen 1931
und 1936 vergeblich mehrere Putsche planende und gelegentlich ausführende „Bewegung
Junger Offiziere“, die mit seinen Vorstellungen zu sympathisieren schienen.
Die folgenden beiden umfangreichen Kapitel widmet Laurinat einerseits der Frage seiner persönlichen Verstrickung in den Februarputsch 1936 durch direkte Kontakte zu Putschisten vor und während des Aufstandes
und den intellektuellen Austausch mit ihnen,
andererseits vor allem der Problematik, inwieweit seine im Reorganisationsplan formulierten Gedanken und deren Wirkung, so sie
denn überhaupt einen spürbaren Einfluss auf
die Ziele der Putschisten hatten, einer richterlichen Entscheidung unterworfen werden
konnten.
Ihre Analyse führt Laurinat zu dem Fazit,
das gegen Kita ausgesprochene Todesurteil
entbehre einer juristischen Grundlage, da er
sich einerseits trotz Kenntnissen der Putschplanung nicht aktiv an dieser beteiligt habe, andererseits aber auch seine Schrift im
Kreise der Putschisten weitgehend unter dem
Generalverdacht sozialistischer Färbung gestanden und daher nicht den bisher angenommenen Einfluss gehabt habe. Eine Untersuchung und Evaluation des zeitgenössischen strafrechtlichen Hintergrundes des Urteils, die dem autoritären Charakter des japanischen Herrschaftssystems bis 1945 Rechnung tragen, unterbleibt allerdings.
470
Durch die vollständige Übersetzung des
Protokolls der eigentlichen Gerichtsverhandlung gegen Kita macht Laurinat außerdem
ein wichtiges Zeitdokument für die historische Forschung in deutscher Sprache zugänglich. Die Arbeit schließt mit einem Literaturverzeichnis und umfangreichen, deutschjapanischen Glossaren der „handelnden Personen“ (inklusive eines Abrisses ihrer Lebensläufe), nationalistischer Gruppen und wichtiger Fachtermini.
In stilistischer Hinsicht hätte dem Text
sicher eine Überarbeitung und Beseitigung
sprachlicher Unebenheiten gut getan. Gelegentlich verbinden sich zudem sprachliche
mit inhaltlichen Ungenauigkeiten: z.B. „terroristische Staatsstreiche“ (S. 13), als nur scheinbarer Pleonasmus, der die theoretischen Annahmen zu Differenzierungen der politikwissenschaftlichen Termini „Terror“ und „Staatsstreich“ verwischt, „Kriegsministerium“ (z.B.
S.14) statt „Heeresministerium“ als Pendant
zum gleichfalls existierenden Marineministerium. Zweifelsohne vom individuellen Leseverhalten abhängig hat sich die Entscheidung
Laurinats, auf Fußnoten zu verzichten und
den Kapiteln Endnoten hinzuzufügen, bei der
Lektüre gelegentlich als störend erwiesen. Erklärungen hätte man sich eher in unmittelbarer Nähe des erläuterten Sachverhalts gewünscht.
Es ist das Verdienst Laurinats, einen gehaltvollen und quellenreichen Überblick über
den jüngsten japanischen Forschungsstand
zur tatsächlichen Bedeutung Kita Ikkis innerhalb der ultranationalistischen Bewegung
im Japan der 1920er- und 1930er-Jahre vorgelegt zu haben. Ob diese Arbeit jenseits fremdsprachlicher Beschränkungen, die ihre Rezeption in Japan verständlicherweise erschweren, in Detailaspekten Fragen und Hinweise auf die japanische Forschung zurückwerfen kann, die dort einen weiteren, wenn vielleicht auch nur marginalen Perspektivwechsel ermöglichen, bleibt abzuwarten.
HistLit 2007-3-210 / Maik Hendrik Sprotte
über Laurinat, Marion: Kita Ikki (1883-1937)
und der Februarputsch 1936. Eine historische
Untersuchung japanischer Quellen des Militärgerichtsverfahrens. Münster 2006. In: H-Soz-uKult 18.09.2007.
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
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U. Leitner (Hrsg.): Alexander von Humboldt
Leitner, Ulrike (Hrsg.): Alexander von Humboldt. Von Mexiko-Stadt nach Veracruz. Tagebuch. Berlin: Akademie Verlag 2005. ISBN:
3-05-004136-6; 184 S.
Rezensiert von: Christoph Pause, Hannover
Alexander von Humboldt ist eine der beliebtesten Figuren der deutschen Wissenschaftsgeschichte. Seine Person ruft auch heute noch das Interesse von Wissenschaftlern
und Laienpublikum hervor. Die Neuedition der Hauptwerke in der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen „Anderen Bibliothek“ vor einigen Jahren hat
noch einmal deutlich gemacht, wie sehr
Humboldt die Leser fasziniert (und dass
damit Geld zu verdienen ist, wie nicht
zuletzt Daniel Kehlmann mit seinem Erfolgsroman belegt hat).1 Abseits dieser Publikumserfolge arbeitet die Alexander-vonHumboldt-Forschungsstelle an der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften seit Jahrzehnten daran, das Tagebuchwerk Humboldts zu edieren. Eine Herkulesaufgabe, wenn man bedenkt, dass dieses Werk tausende, in oft fast unleserlicher
Schrift in mehreren Sprachen eng beschriebene Seiten umfasst, die nach Humboldts
Rückkehr nach Berlin bis zu seinem Lebensende als Basis für die Abfassung seines so
genannten Reisewerks dienten. Zu diesem
Zweck hat Humboldt selbst die Tagebücher
durch nachträgliche Notizen und LektüreExzerpte ergänzt. Er hat die Schriften teilweise neu angeordnet und so die Tagebücher immer wieder neu gestaltet. Die vorliegende Edition eines Teils der Tagebücher,
die Humboldt während seines rund einjährigen Aufenthalts in Neu-Spanien/Mexiko geführt hat, reiht sich ein in diese Folge von
Tagebuch-Editionen, die die Alexander-vonHumboldt-Kommission, später Alexandervon-Humboldt-Forschungsstelle herausgegeben hat. Die Herausgeberin ordnet ihre Edition knapp, aber sehr präzise in die Geschichte der Herausgabe der Humboldt-Tagebücher
1 Humboldt,
Alexander von, Kosmos. Entwurf einer
physischen Weltbeschreibung. Ediert von Ottmar Ette und Oliver Lubrich, Frankfurt am Main 2004; Kehlmann, Daniel, Die Vermessung der Welt, Reinbek 2005.
2007-3-184
ein.
Das Tagebuch „Von Mexiko-Stadt nach Veracruz“ umfasst die Aufzeichnungen Humboldts in den knapp sieben Wochen, die er
benötigte, um von der Hauptstadt zum Hafen am Golf von Mexiko zu reisen. Eben weil
es sich nur um wenige Wochen handelt und
die Aufzeichnungen demnach nicht so umfangreich sind, sind die Eintragungen erstmals komplett ediert worden, das heißt mit
allen wissenschaftlichen Beobachtungen und
Messergebnissen, die Humboldt festgehalten
hat. Bei den bisherigen Editionen war dies aus
Zeit- und Kostengründen nicht möglich (S.
10).
Die vorliegende Tagebuch-Edition gibt
einen eindrucksvollen Einblick in die Arbeitsweise des reisenden Gelehrten Humboldt:
Er zeichnete fast alles auf, was ihm wichtig
erschien, ohne erkennbare Systematik. Die
Tagebücher dienen ihm offensichtlich einfach
als Sammelstelle für alle Eindrücke und
Reflexionen, für geologische, astronomische
und geodätische Messungen, für Exzerpte
und Zeichnungen. So nutzt Humboldt einen
Aufenthalt in Cholula, um von dort die Höhe
verschiedener Berge, etwa des Popocatépetl,
zu bestimmen. Zudem gibt er die mythischen
Erzählungen der Bevölkerung über die Entstehung der Pyramide von Cholula wieder,
unterbrochen von Berechnungen zu Höhe
und Umfang des Bauwerks. Eingefügt ist ein
Zettel, der sich mit einer Rezension auseinandersetzt, die Jahre später in einer deutschen
Zeitung über sein Buch „Vues des cordilleres“
erschienen ist (S. 57). Ein gutes Beispiel dafür,
wie Humboldt über die Jahre mit seinen
Aufzeichnungen gearbeitet hat, wie er sie für
seine wissenschaftliche Tätigkeit in Berlin
genutzt hat. Ergänzt werden diese Aufzeichnungen durch Randbemerkungen, die auf
andere Seiten in seinem Tagebuch verweisen,
die das Geschriebene zusammenfassen, mit
Gelesenem in Beziehung setzen.
Die vorliegende Edition der Aufzeichnungen Humboldts vom 20. Januar bis zum
7. März 1804 ist ausgesprochen aufschlussreich, denn sie zeigt eindrucksvoll, wie Humboldt seine unterschiedlichen wissenschaftlichen Interessen befriedigt hat und wie er die
verschiedenen Ergebnisse seiner Messungen
und Beobachtungen versucht hat zusammen-
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
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471
Außereuropäische Geschichte
zuführen. Stärker als in den bislang veröffentlichten Tagebüchern seiner Reise verdeutlicht diese Edition, wie ausführlich und umfangreich Humboldt gemessen hat, um etwa die untere Schneegrenze in der mexikanischen Sierra zu ermitteln. Unmittelbar darauf folgen dann Überlegungen zur Geologie,
anthropologisch-soziologische Betrachtungen
der Einwohner der Gegend, die abgelöst werden von botanischen Beobachtungen: Humboldt praktiziert in seinen Tagebüchern in nuce, was er später als Hauptaufgabe seines
Schreibens und Denkens bezeichnen wird –
die physische Weltbeschreibung.
Der Herausgeberin ist mit dieser Edition
ein großer Wurf gelungen. Ihre Bedeutung
liegt nicht nur darin, die Lücke in der Gesamtedition von Humboldts Tagebüchern zu verkleinern. Entscheidender ist, dass sie alle Eintragungen vollständig wiedergibt und dem
Leser somit ermöglicht, einen noch genaueren
Blick als bislang in die Werk- und Denkstatt
Alexander von Humboldts zu tun.
HistLit 2007-3-184 / Christoph Pause über
Leitner, Ulrike (Hrsg.): Alexander von Humboldt. Von Mexiko-Stadt nach Veracruz. Tagebuch. Berlin 2005. In: H-Soz-u-Kult 10.09.2007.
Levine, Elana: Wallowing in Sex. The New Sexual Culture of 1970s American Television. Durham, NC: Duke University Press 2007. ISBN:
978-0822339199; 336 S.
Rezensiert von: Felix Krämer, Hamburg
Wallowing – sich suhlen, wälzen, schwelgen
in. Das US-Fernsehen der 1970er-Jahre habe
sich im Sex gesuhlt, zitiert die Medienwissenschaftlerin Elana Levine im Titel ihres Buches einen anonymen Fernsehmacher aus jener Zeit (S. 2). Hinter dem reißerischen Titel
verbirgt sich eine ausgesprochen lesenswerte
Studie, in der Levine geschickt Kultur- und
Medientheorie verbindet sowie Ansätze aus
Gender und Queer Studies heranzieht, ohne
sich dabei im theoretischen Geflecht zu verfangen. Vielmehr zeigt sie auf, wie das Fernsehen in den 1970er-Jahren die so genannte
sexuelle Revolution der späten 1960er-Jahre
aufnahm und diese in wohldosierten Teilen in
472
den Mainstream der Gesellschaft transportierte.
Die Fernsehprodukte der 1970er-Jahre werden von Levine auf ihre gesellschaftspolitische Wirkung befragt und eingeordnet
vor dem zeithistorischen Hintergrund von
Frauen-, Jugend-, Schwulen- und Lesbenbewegung sowie auch der Bürgerrechtsbewegung, die bereits in den frühen 1960er-Jahren
in breiterer Front begonnen hatte, rassistische
Stereotype um ‚schwarze Sexualität’ zu attackieren (S. 9). Die Analyse fördert eine bemerkenswerte Ambivalenz zu Tage, die kennzeichnend ist für die Übertragung einiger
Impulse der neuen sexuellen Kultur in die
Wohnzimmer der US-AmerikanerInnen. Die
drei großen Fernsehanstalten ABC, NBC und
CBS bewirkten mit ihrer Kommerzialisierung
des Sexes via TV zweierlei: Einerseits verankerten sie eine breitere Palette von möglichen Rollenzuschreibungen in der US-Kultur,
andererseits wurden in den unzähligen TVProduktionen, die im weiteren Sinne sexuell
aufgeladene Körper präsentierten, systematisch radikalere Tendenzen aus der Subkultur der sexuellen Revolution gekappt. So subsumiert Levine in der Schlussfolgerung: „The
new sexual culture of 1970s television changed Americans’ relationship to the sexual revolution, securing some of its most significant
gains while minimizing some of its more radical impulses.“ (S. 253)
Levine behandelt die sexualisierten Filmund Fernsehwelten in sechs Kapiteln. Das
Buch ist nach thematischen Gesichtspunkten
untergliedert und orientiert sich nur gelegentlich an der Chronologie der 1970er-Jahre.
Unter dem Titel „Kiddie Porn Versus Adult
Porn“ fokussiert Levine im ersten Kapitel die
medienökonomischen Verhältnisse des Untersuchungszeitraums und führt den Wettbewerb der drei großen Medienkonzerne im
Fernsehgewerbe untereinander vor Augen.
Erstens ist in diesem Zusammenhang auffällig, dass das Aufkommen der neuen Thematik
‚Sex’ maßgeblich dazu beitrug, die Quotenanteile im Fernsehgeschäft neu zu verteilen.
So konnte beispielsweise ABC, ein bis dato
recht mäßig erfolgreiches Network, das aber
in den 1970er-Jahren besonders zielstrebig auf
Sex gesetzt hatte, von dem neuen Rückenwind profitieren. Zweitens hebt Levine her-
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
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E. Levine: Wallowing in Sex
vor, dass zur Mitte der 1970er-Jahre hin deutlich wurde, dass die Fernsehanstalten selbst
eine ‚sexy’ Identität brauchten und diese im
Zuschnitt ihrer jeweiligen Formate kreierten
(S. 20).
Die beiden folgenden Kapitel befassen sich
mit der Begrenzung von Sexualitätsdarstellungen im TV-Medium. „Not in my Living
Room“ heißt das zweite Kapitel, in dem
Levine Tabus und Versuche der Eindämmung des ‚Sexes’ in der Fernsehlandschaft
der 1970er-Jahre beschreibt. Neben Selbstregulierungsmechanismen innerhalb der TVIndustrie – hauptsächlich durch die Vereinigung NAB (National Association of Broadcasters) (S. 60ff.) – führt Levine das religiösmoralisierende Werk der Journalistin Mary
Lewis Coakley „Rated X: The Moral Case
Against TV“ von 1977 an – eine erbitterte
Anklage, die im Kern die moralischen Abgründe der neuen Fernsehformate anprangerte. Das Buch reihte sich ein in eine breitere Bewegung der christlichen Rechten, die gegen
Ende der 1970er-Jahre begann, auf verschiedenen politischen Ebenen gegen den angeblichen ‚Sittenverfall’ in der US-Gesellschaft
zu mobilisieren. Coakley beschwor in ihrem
Traktat die Gefahren expliziter Darstellung
verschiedener Sexualitätspraktiken im Fernsehen und der Titel ihres Buches gab den Zensurbestrebungen einen Namen: X-Rate (S. 48).
Allerdings erläutert Levine, dass sie, trotz aller möglichen Versuche (auch seitens der Regierung) auf die Inhalte des medial verbreiteten Materials einzuwirken, in ihrer Studie
von ‚Regulation’ und eben nicht von ‚Zensur’ sprechen will. (S. 266f., Anm. 2.2.) Hintergrund für den Vorbehalt gegenüber dem
Zensurbegriff ist Levines Verwendung eines
Machtbegriffs im Sinne Michel Foucaults, der
in seinen Untersuchungen zur modernen Sexualitätsgeschichte nicht davon ausgeht, dass
Macht lediglich repressiv und ‚von oben’ auf
die Darstellungen und Realitäten einwirken
kann, sondern bereits produktiver Teil des
Konstruktionsprozesses von Figuren und Zuschreibungen sexualisierter Körper ist.1 Das
bedeutet auch für Elana Levines Analyse,
dass für die Sexualisierung der Fernsehlandschaften vielschichtige Mechanismen in den
1 Foucault,
Michel, Sexualität und Wahrheit. Der Wille
zum Wissen, Bd.1, Frankfurt am Main 1983, S. 17ff.
2007-3-125
Blick geraten, die das Bild einer an die Oberfläche drängenden Subkultur, die offensiv für
‚die wahrhafte Befreiung der Sexualität’ stritt
und gegen eine prüde und unterdrückende Herrschafts-Kultur ankämpfte, fraglich erscheinen lassen.
Dies zeigt Levine bereits im dritten Kapitel,
wobei dieses unter dem Titel „The Sex Threat“ noch zwischen Begrenzungsforderungen
und der Faszination an der beginnenden ‚sexpanic’ hin und her changiert. Bei der Lektüre des Kapitels offenbart sich aber überzeugend die (produktive) Repräsentation einer von Sexualität geradezu gefährdeten Jugend im Fernsehmedium der 1970er-Jahre.
Die in diesem Kontext aufgeworfenen Bedrohungsszenarien sind eng verknüpft mit der
Furcht vor sich verflüchtigenden Familienwerten, wie sie auch in anderen Medien (beispielsweise Zeitschriften oder Ratgeberliteratur) jener Zeit Verhandlungsgegenstand waren. Besonders die Bedrohung jugendlicher
Konsumenten durch die Sexualitätsdarstellungen schien sich im Verlauf des Jahrzehnts
stetig zu erhöhen, betrachtet man die sich
steigernde Beschäftigungsintensität mit dem
Thema allein im Fernsehen. Das Fernsehen
selbst perpetuierte in Filmen über Runaways,
minderjährige Mädchen, die in die Prostitution gerieten oder Vergewaltigungen zum Opfer fielen, die paranoide Angst vor einer neuen sexuellen Freiheit und ihrem Mündungsdelta in Chaos und Gewalt (z.B. Born Innocent, NBC 1974). Levine stellt dazu fest: „Television movies often represented the fears expressed in regulatory discourse while instigating much regulatory angst about their own
effects on young viewers.“ (S. 13)
Im vierten Kapitel wendet sich das Blatt
endgültig von der Regulation zur Produktion sexueller Darstellungen. Levine zeigt auf,
wie trotz Begrenzungsbegehrlichkeiten und
‚sex-panic’ in den 1970er-Jahren neue Modi
sexueller Rollenzuschreibungen im Fernsehprogramm auszumachen sind. „Symbols of
Sex – Television’s Women and Sexual Difference“ lautet der Titel des Kapitels, in dem Levine unter anderem nachzeichnet, wie Mitte
der 1970er-Jahre eine Wonder Woman (ABC,
1974) geboren wurde und als Leitbild einer
aktiven Weiblichkeit neue Sphären im Bewegungsraum ‚der Frau’ erkämpfte. Auch
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
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473
Außereuropäische Geschichte
Charlie’s Angels begannen bereits zu dieser
Zeit Verbrecher zu jagen (ABC, 1976). Allerdings weist Levine darauf hin, dass diese
selbstbewussten weiblichen Sexsymbole der
1970er-Fernsehwelt jung, attraktiv (in der Regel weiß) und bis zu einem gewissen Grad
auch Objekt heterosexuell-männlicher Begehrensprojektion zu sein hatten. Somit standen
diese Figuren gewissermaßen im Gegensatz
zu den Forderungen der Frauenbewegung.
Zwar absorbierten solche Frauenkörper einen
Teil der sexuellen Kultur und eines neuen Typus Frau, repräsentierten die grundlegenden
Emanzipationsforderungen des Feminismus
jener Zeit aber in keiner Weise (S. 125ff.).
Im fünften Kapitel richtet Levine den Blick
auf unterschwellige, implizite Formen des Sexes im Fernsehen. „Sex with a Laugh Track“
ist es betitelt und legt dar, wie in ComedySendungen wie z.B. The Sonny and Cher Comedy Hour (CBS, 1971-74), Sitcoms wie Happy Days (ABC, ab 1974) oder Game Shows,
beispielsweise Match Game (CBS, 1973-79)
sexuelle Praktiken in Anspielungen thematisiert wurden, die in expliziter Darstellung
weitestgehend nicht zum Spektrum möglicher Äußerungen gehört hätten. So konnten
durch die ironisierende Distanz – teilweise
auch durch homophobe Untertöne – ‚Normabweichungen’ benannt werden, ohne dass
auf der symbolischen Ebene der Fernsehunterhaltung grundsätzlich die heteronormative
und an kleinfamiliären Strukturen orientierte Verfasstheit der US-Gesellschaft in Zweifel gezogen werden musste bzw. sollte (S.
207). In den späten 1970er-Jahren war zum
Beispiel die von ABC gesendete Serie The
Love Boat eine äußerst populäre Produktion.
Auf dem Love Boat verbanden sich sexuelle
Beziehungen und humoreske Anspielungen
auf Sex mit moralischen Abfederungen (S.
182). So konnten Geschichten um Promiskuität, schwule Beziehungen, lesbische Sexualität etc. in einer Weise präsentiert werden, dass
sie den Konsumenten erreichten, ohne jedoch
die gesellschaftspolitischen und -kritischen
Dimensionen zu transportieren. Levine beschreibt darüber hinaus einen bemerkenswerten Disput zwischen ABC und den Produzenten des Love Boats. ABC hatte 1979 gefordert, dass mehr schwarze Schauspieler in der
„overwhelmingly white show“, wie Levine
474
The Love Boat bezeichnet, eingesetzt werden
sollten. Daraufhin wurden afroamerikanische
Akteure in einigen Episoden in die Story eingeflochten. Es wurden aber im Plot jener Episoden sexuelle Anspielungen oder gar Beziehungen mit den weißen Figuren ausgeschlossen. Dieses Beispiel zeigt, wie (auch) auf der
symbolischen Ebene der Fernsehunterhaltung
die rassistische ‚colorline’ inszeniert und festgeschrieben wurde (S. 185f.).
Ein Thema, das in den 1970er-Jahren wie
kein zweites polarisierte, greift Levine im
sechsten und letzten Kapitel unter der Überschrift „From Romance to Rape“ auf. Die
mediale Rezeption des Themas ‚Vergewaltigung’ war gezeichnet durch ein von Widersprüchen bevölkertes Deutungsspektrum.
Dieses reichte beispielsweise vom Kampf der
feministischen Bewegung für die konsequente Verfolgung von Vergewaltigungen an Frauen als Straftatbestand bis hin zur Verharmlosung der Gewaltakte oder zu deren Romantisierung. Bereits zu Beginn der 1970erJahre hatte ein Abgeordneter des Staates New
York, den Levine eingangs des Kapitels zitiert,
die Vermutung geäußert: „The difference between rape and romance is a very thin line.“
(S. 208) Die obsessive Beschäftigung in verschiedenen Fernsehformaten mit Geschichten, die von Vergewaltigungen erzählten, steigerte sich während des Jahrzehnts und erreichte einen Höhepunkt in der populären
ABC Soap Opera General Hospital. An dieser Stelle wurden die über zehn Millionen
ZuschauerInnen der Serie 1979 Zeugen der
Vergewaltigung einer jungen Frau durch den
männlichen Protagonisten. Zwei Jahre darauf konnte das Publikum 1981 der Hochzeit
jener beiden Fernsehfiguren beiwohnen. Levine beschreibt ihre Analyse der Vergewaltigungsgeschichten im Fernsehen des fraglichen Jahrzehnts folgendermaßen: „Scarce to
nonexistent before the 1970s, rape stories became standard fare in daytime serials during
the decade, steadily building to the virtual explosion of rape plots at decade’s end.“ (S. 209)
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass
die 1970er-Jahre – und dabei kann durchaus ein übermäßig langes Jahrzehnt von
1968 bis 1981 gemeint sein – sich geradezu anbieten für eine kritische Medienanalyse im Kontext der Sexualisierung des Sym-
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
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D. Lowy: The Japanese New Woman
bolischen. Warum? – Die Dekade der 1970erJahre erscheint beim ersten Hinsehen wie eine Schaltstelle zwischen verschlepptem Aufbruch emanzipativer Kräfte und einer bereits
beginnenden Restauration seitens der Bewahrer von Tradition und Moral in den USA.
Das Fernsehen war zu dieser Zeit das Massenmedium schlechthin. Es ist demzufolge eine drängende Aufgabe der Kultur- und Geschichtswissenschaften, die medialen Diskurse um die neue Frau, den angeblich kriselnden Mann sowie die Stränge um die Sexualisierung der öffentlichen Sphäre körpergeschichtlich genau unter die Lupe zu nehmen – wie Elana Levine es in ihrer Betrachtung der Fernsehwelten tut. Dies ist nämlich ein wesentlicher Teil einer Geschichte
der Nach-1960er-Jahre, der gegenwärtig in
den Fokus von körpertheoretisch fundierten
Geschlechter-, Sexualitäts- und somit Gesellschaftsanalyse gerückt werden sollte.
In jedem Fall beleuchtet Elana Levines
Studie eine wichtige sowie raumgreifende
Schnittstelle zwischen Sexualitätsgeschichte
und Medienkultur. Spannend wäre darüber
hinaus zu untersuchen, wie die angeführten
TV-Produktionen auch als Exporteure einer
sexualisierten und vergeschlechtlichten USKultur verstanden werden können – nämlich
vor dem Hintergrund einer sich bereits in
den 1970er-Jahren globalisierenden Film- und
Fernsehwelt. Dies würde den Blick für kulturtransferierende Mechanismen weiten und
könnte den weltweiten Erfolg von US-Serien
und Filmformaten in einen machttheoretischen Kontext stellen. Aus historiographischer Sicht wäre es außerdem vielversprechend, wenn künftige Arbeiten ausgehend
von solch einer fruchtbaren Untersuchung
der geschlechtlich geprägten Medienkultur in
den USA der 1970er-Jahre die politische Bedeutung medial transportierter Diskurse noch
stärker historisch verorten würden. Auf diese Weise können Sexualitäts- und Geschlechtergeschichten zu einer umfassenden politischen Kulturgeschichte werden. Jüngste Debatten aus dem Feld der Geschichtstheorie
eröffnen solche Perspektiven im hochaktuellen Spannungsfeld zwischen Kultur, Medien,
Körper und Geschichte.2
2 Frevert,
Ute; Braungart, Wolfgang (Hrsg.), Sprachen
des Politischen. Medien und Medialität in der Ge-
2007-3-181
HistLit 2007-3-125 / Felix Krämer über Levine, Elana: Wallowing in Sex. The New Sexual
Culture of 1970s American Television. Durham,
NC 2007. In: H-Soz-u-Kult 16.08.2007.
Lowy, Dina: The Japanese New Woman. Images
of Gender and Modernity, 1910-1920. Piscataway, NJ: Rutgers University Press 2007. ISBN:
978-0813540450; 192 S.
Rezensiert von: Nadin Hee, SFB 700, Freie
Universität Berlin
Seit längerem versuchen kulturgeschichtliche Studien, die sich mit Japans „Moderne“ oder „Modernisierung“ beschäftigen,
von modernisierungstheoretischen Ansätzen
wegzukommen.1 Zudem finden alternative
Kategorien wie Gender – oft allerdings nach
wie vor als Geschlecht „Frau“ verstanden –
Berücksichtigung.2 In diese Forschungsrichtungen lässt sich Dina Lowys Buch über die
„Neuen Frauen“ in Japan einordnen. Es beruht auf einer 2001 an der Rutgers Universität
abgeschlossenen Dissertation.
Das Anfang des 20. Jahrhunderts in Japan breit diskutierte so genannte „Frauenproblem“ als Ausgangslage nehmend, untersucht die Autorin das Phänomen der „Neuen Frauen“. Dabei geht es ihr um diskursive
Bilder sowohl in den Medien und zeitgenössischer Intellektueller als auch um die eigenen Stimmen einer literarischen Gruppe namens Seitôsha. In ihre Studie einfließen lässt
sie auch biografische Hintergründe einzelner
dieser über ihren teilweise unkonventionellen Lebensstil als typische „Neue Frauen“ eingestuften Frauen. Dabei will sie einen Einblick in die Geschichte der japanischen „Neuen Frauen“ zwischen 1910 und 1920, insbeschichte, Göttingen 2004.
zum Beispiel: Hardacre, Helen; Kern, Adam
(Hrsg.), New Directions in the Study of Meiji Japan,
New York u.a. 1997; Harootunian, Harry, Overcome
by Modernity, Priceton 2000; Vlastos, Stephen (Hrsg.),
Mirror of Modernity. Invented Traditions of Japan, Berkeley u.a. 1998.
2 Siehe zum Beispiel: Garon, Sheldon, Molding Japanese
Minds: the State in Everyday Life, Princeton 1997; Sato,
Barbara Hamill, The New Japanese Women: Modernity, Media and Women in Interwar Japan, Durham 2003.
Andrea Germer, Ulrike Wöhr und Vera Mackie geben
voraussichtlich im Herbst 2007 einen Band mit dem Titel „Gender, Nation State in Modern Japan“ heraus.
1 Siehe
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
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475
Außereuropäische Geschichte
sondere aber deren Koppelung an das Narrativ der japanischen Modernisierung geben.
Diskurs definiert Lowy in Anlehnung an
Michel Foucault. Bei Gender zitiert sie Joan
Scott und geht nicht von biologischen Geschlechtern, sondern Konstruktion von Geschlecht aus. Sie distanziert sich von Modernisierungstheorien, findet aber die Kategorie
Moderne und Modernisierung im Sinne von
Sheldon Garon und Tetsuo Najita als Analyseinstrument verwendbar. Im Unterschied
zu Garon interessiert sie sich weniger für die
Kollaboration zwischen verschiedenen sozialen Gruppen und deren Interessen an der Idee
der Modernisierung Japans, sondern mehr für
Konflikt und Widerstand. Unter Widerstand
versteht sie Äußerungen der Seitô-Frauen, die
sich gegen staatliche unterstützte Meinungen
richteten. Lowy möchte dabei untersuchen,
wie diese Moderne und gender definierten.
Zu Beginn diskutiert sie, wie nach einer Phase der unkritischen Übernahme westlicher Gedanken und Institutionen in den
späten 1880er-Jahren eine Hinwendung zum
Shintoismus und zu konfuzianischem Gedankengut zu beobachten war. Dies ging einher
mit der Implementierung hierarchisierender
patriarchalischer Sozialstrukturen. 1890 wurden beispielsweise politische Versammlungen
von Frauen untersagt, 1898 im Zivilgesetz der
Frau eine untergeordnete Stellung im Haushaltssystem zugewiesen. Nur Männer waren
legale Personen, verheiratete Frauen hatten
keinen Besitz, außerehelicher sexueller Verkehr war nur bei Frauen strafbar. In den
1890er-Jahren tauchte zudem die Ideologie
der „guten Ehefrau, weisen Mutter“ (ryôsai
kenbô) auf, die auf konfuzianischen Ideen basierte, aber auch westliche Ideen inkorporierte. Einige konservative japanische Erzieherinnen sahen darin ein Zeichen für Fortschritt,
andere Frauen aber wiederum ein Mittel der
Regierung, die Rechte und Rolle der Frauen einzuschränken und auf ihren „Dienst an
der Nation“ zu reduzieren. Als repräsentative
Gruppe solcher Frauen sieht Lowy die 1911
gegründeten Seitôsha. Diese Gruppe grenzt
sie ab von Vorläuferinnen der „Neuen Frauen“ wie zum Beispiel Frauen, die sich im sozialistischen Milieu bewegten. Die Mitglieder
der Seitôsha waren die ersten, die als Frauen eine eigene Zeitschrift veröffentlichten und
476
sowohl von anderen als „Neue Frauen“ beschrieben wurden als auch sich selbst so bezeichneten.
Lowy beschreibt, wie in der späten MeijiZeit westliche Theaterstücke von Henrik Ibsen, George Bernard Shaw, Hermann Sudermann und anderen eingeführt und als Teil
eines neuen modernen Theaters aufgeführt
und breit diskutiert wurden. An den weiblichen Protagonisten dieser Stücke, die konventionelle Frauenrollen ablehnten, entzündete
sich in Japan die Diskussion über die „Neuen Frauen“. Dabei analysiert Lowy einerseits
die Reaktion der Medien, andererseits aber
auch die der Seitôsha am Beispiel der Protagonistin Nora aus Ibsens „Ein Puppenheim“. In
dieser frühen Phase der Seitô-Frauen unterschieden sich ihre Meinungen oft wenig von
denen der männlichen Kritiker. Als zweites
Beispiel zieht die Autorin das Stück „Magda“ von Sudermann und diskursive Reaktionen darauf heran. Dabei geht es auch um die
Frage der Zensur, da das Stück wegen „Verletzung der öffentlichen Moral“ verboten worden war. Auch eine Ausgabe der Zeitschrift
„Seitô“, des Sprachrohrs der Seitôsha, wurde
kurz nach der Einstellung des Stücks zensiert.
Nach den Auseinandersetzungen über die
„Neue Frau“ anhand des modernen Theaters
fokussierten laut Lowy die männlich dominierte Presse sowie einige Intellektuelle auf
den Lebensstil der Seitôsha-Mitglieder, die als
Paradebeispiele für die „Neuen Frauen“ und
als gefährlich, unseriös und unmoralisch denunziert wurden. Häufige Vorwürfe waren,
dass sie an Alkohol, Sex, gleichgeschlechtlicher Liebe, Bordellen und jüngeren Männern
interessiert seien.
Im Anschluss daran untersucht Lowy, wie
die Seitô-Frauen diesen Definitionen der
„Neuen Frau“ eigene entgegenstellten. Diese
sich teilweise stark voneinander unterscheidenden, aber meist positiv konnotierten neuen Bilder riefen wiederum eine vielschichtigere Diskussion über die „Neuen Frauen“
hervor, die sich nicht nur auf Aspekte des
Lebenswandels beschränkte, sondern häufig
um weibliches Selbstverständnis oder Fragen
nach legaler Gleichberechtigung drehte. In
diesem Kontext – so Lowy – ist auch die Entstehung einer zweiten Gruppe „Neuer Frauen“ zu sehen, der Shinshinfujinkai („Verei-
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
© Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart
L. Yingtai u.a.: Taiwans ’kulturelle Schizophrenie’
nigung der Wahren Neuen Frauen“). Diese
Gruppe offerierte eine alternative Vision der
„Neuen Frau“ – die der Verheirateten und
Mutter. Sie lehnte Japans traditionelle Werte und Moral nicht ab, trat aber doch für
Gleichberechtigung in bestimmten Bereichen
sowie für Monogamie ein. Meinungsverschiedenheiten zwischen den Seitôsha und dieser
Gruppe wurden von den Medien als Rivalität
konstruiert, trugen aber zu einer Erweiterung
der Debatte um die „Neuen Frauen“ bei.
Das Buch schließt mit einem kurzen vergleichenden Überblick über das Phänomen
der „Neuen Frauen“ in mehreren anderen
Ländern. Nach einer Analyse der Attribute
und Debatte im euroamerikanischen Kontext
streift Lowy Fallbeispiele aus Ägypten, China
und Korea. Damit sollen die Effekte der Moderne und die unterschiedlichen Reaktionen
auf sie in verschiedenen Ländern gezeigt werden. Im Anschluss daran kommt die Autorin
zurück auf die japanischen „Neuen Frauen“
und gibt einen kurzen Ausblick, wie sie sich
in den 1920er- und 1930er-Jahren weiterentwickelt hatten.
Dina Lowys gut geschriebenes Buch gibt
auf der Grundlage fundierten Quellenmaterials Einblick in vielschichtige Diskurse über
die „Neuen Frauen“ Japans zwischen 1910
und 1920. Die Autorin macht klar, dass diese Diskurse nicht losgelöst von Regierungsprogrammen wie „Zivilisierung und Aufklärung“ und Konzepten wie „gute Ehefrau,
weise Mutter“ zu denken sind und mehrere oft konkurrierende Vorstellungen von
gender-Rollen kursierten. Sie thematisiert damit einen bisher wenig beachteten Aspekt der
japanischen Modernisierungsdebatte in den
1910er-Jahren. Problematisch jedoch erscheint
ihr teilweise etwas freier Umgang mit Begrifflichkeiten. So erfahren Leserinnen und
Leser nichts davon, wie die einzelnen SeitôFrauen den Begriff „modern“ definierten, was
Lowy aber ausdrücklich als Desiderat ihrer
Arbeit postuliert. In den zitierten Stellen sprechen diese nie von „modern“, sondern Schlüsselbegriffe in den Quellen sind vielmehr eigenes „Erwachen“ (sameru) oder „selbstbewusst werden“ (jikaku suru) (z.B. S. 32). Genauso wenig lassen sich Aussagen von Lowy
zu der von ihr häufig postulierten Dichotomie
von „westlich“ und „japanisch“ (z.B. S. 11) in
2007-3-145
den Quellenzitaten wiederfinden. Dieser Umgang mit Quellen- und Methodenvokabular
spiegelt sich nicht zuletzt auch in der Bibliografie: Eine Aufteilung in Quellen und Sekundärliteratur hätte das Nachschlagen einzelner
Titel erleichtert.
HistLit 2007-3-181 / Nadin Hee über Lowy,
Dina: The Japanese New Woman. Images of Gender and Modernity, 1910-1920. Piscataway, NJ
2007. In: H-Soz-u-Kult 07.09.2007.
Lung, Yingtai; Meyer, Christian: Taiwans ’kulturelle Schizophrenie’. Drei Beiträge Lung Yingtais zur taiwanesischen Identitätsdiskussion. Mit
einem Anhang „Ein offener Brief an Herrn Hu Jintao“. Bochum u.a.: projekt verlag 2006. ISBN:
978-3-89733-136-5; 101 S.
Rezensiert von: Ann Heylen, Katholieke Universiteit Leuven
Essays zur taiwanesischen Identitätsdiskussion bilden eine wichtige Grundlage für ein
Verständnis Taiwans in seinen geopolitischen
Dimensionen. Leider ist chinesischsprachiges
Quellenmaterial vielen Forschern noch immer
unzugänglich. Daher ist diese Übersetzung
dreier Essays Lung Yingtais durch Christian Meyer sehr zu begrüßen. Ergänzt wird
Meyers Übersetzung von einer Einleitung, einem ausführlichen Fußnotenkommentar und
einem Literaturverzeichnis.
In Taiwan ist die Autorin Lung Yingtai bekannt als Wissenschaftlerin, Essayistin
und umstrittene Kulturpolitikerin. Von 1999
bis 2003 fungierte sie im Auftrag der Guomindang (GMD) als Direktorin des Kulturbüros der Hauptstadt Taibei. Zuvor sammelte sie während eines zehnjährigen Verbleibs
in Deutschland (verheiratet mit einem deutschen Mann) Lebenserfahrungen, die sich,
wie Meyer im Vorwort präzisiert, zum Teil
auch direkt in ihren Beiträgen niederschlagen
(S.7).
Das Buch gliedert sich in zwei Hauptkapitel, welche gleichermaßen den Hintergrund der Autorin und die Hauptthemen
der Artikel und der Übersetzungen reflektieren. Das erste Kapitel, „Einleitung“, besteht aus sieben Unterkapiteln. Das abschlie-
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
© Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart
477
Außereuropäische Geschichte
ßende Unterkapitel „Die fortgesetzte Debatte im Internetforum und andere Beiträge zur
Diskussion“ (S. 26-28), verleiht dem Buch
einen besonderen Mehrwert. Es ist lobenswert, dass Meyer den historisch-kulturellen
Hintergrund nicht im Kontext einer chronologisch dargestellten Geschichte und Kultur
Taiwans betrachtet. Im Gegenteil: Er fokussiert die drei Artikel auf die jüngste politische Geschichte Taiwans nach dem Regierungswechsel im Jahr 2000. Besondere Aufmerksamkeit erhalten auch der Ausgang der
Präsidentenwahl 2004 sowie innen- und kulturpolitische Unterschiede zwischen der Demokratischen Fortschrittspartei (Minzhu Jinbu Dang, DPP) und der moderaten Taiwanisierungspolitik des früheren Präsidenten Lee
Teng-hui.
Hauptteil des Buches sind drei Artikel, die
erstmals in vollständiger deutscher Übersetzung erscheinen, geschrieben im Vorwahlkampf des Jahres 2003/04 und zunächst in
der China Times (Zhongguo Shibao) veröffentlicht. Weitere Verbreitung dieser Artikel, die zweifelsohne wichtige Zeitdokumente darstellen, gab es im Zeitungen des
chinesisch¬sprachigen Auslands (Malaysia,
Hong Kong, VR China) und auch im Internet. Der erste Artikel, „Zwischen Teehaus Wistaria und Starbucks: Taiwans Selbstbezogenheit“ ist, wie Meyer argumentiert, vor dem
Hintergrund der forcierten „Internationalisierung“ zu betrachten (S. 22). Der Artikel, datiert vom 13. Juni 2003, entstand in einer
Zeit, in der im Zuge der Internationalisierung
verstärkt die Bedeutung des Englischen innerhalb des Bildungssystems betont wurde.
Einige Politiker forderten sogar die Etablierung des Englischen als offizielle Staatssprache. Lung Yingtai kritisiert, dass „Internationalisierung“ nicht die Übernahme ausländischer Feste, Gebräuche oder Sprachen bedeuten sollte. Sie benutzt ein kräftiges Vokabular:
„Auf den eigenen Nabel bezogene Selbstvernarrtheit [Taiwans] ist nicht nur ein Symbol
der Zurückgebliebenheit des Landes, sondern
sogar schon ein Zustand der krankhaften Degeneration der Kultur.“(S. 38) Was dies alles
mit dem im traditionellen Stil erbauten Teehaus „Wistaria“ in Taibei zu tun hat, klärt sich
am Ende des Artikels. Als Internationalisierung beschreibt Lung dort „die Art und Wei-
478
se, die andere verstehen können“. Dies, so die
Autorin, fängt a priori damit an, sich selbst
zu öffnen. Das amerikanische Starbucks-Café
ist Symbol des Anderen. Um es aufzunehmen,
benötigt man erst Wistaria als Symbol des Eigenen, so dass es von „mir“ erkannt werden
kann. Je mehr Starbucks es gibt, desto wichtiger ist ein Teehaus „Wistaria“ (S.39).
Im zweiten Artikel, „Heimat seit 50 Jahren: Taiwans ‚kulturelle Schizophrenie’“ (10.12. Juli 2003) reflektiert Lung Yingtai ebenfalls über die gegenwärtige Internationalisierungskrise Taiwans. Objekt der Kritik ist hier
die Taiwanisierung oder Indigenisierung, die
„schneller vonstatten geht als die Internationalisierung“ und Taiwan in seiner provinziellen und unveränderten Art gefangen hält
(S. 41). Es ist mit einer Subjektivität geschrieben, die die tiefe Spaltung der Inselbewohner
zwischen Einheimischen und Festländern typisiert. Lung Yingtai hat keinesfalls Unrecht,
wenn sie schreibt, dass „die hohe Unterstützung für die Taiwanisierung die Antipathie
gegenüber der Sinisierung übertrifft“ (S. 41).
Diese Polarisierung Taiwanisierung versus Sinisierung ist nicht nur eingebettet in den gesellschaftlichen Hintergrund der Kolonialgeschichte Taiwans, sondern speist sich auch
aus 50-jähriger Gewaltherrschaft und einer
nach wie vor unsicheren politischen Zukunft.
Bietet Lung Yingtai, wie es sich für eine
Kulturkritikerin gebührt, konstruktive Kritik?
Sie argumentiert philosophisch und benutzt
viele Vergleiche. Die tief in das Fleisch eingewachsene Narbe der Taiwaner ist ‚China’
(S. 55). Wie sollen die Taiwaner das Element
‚China’ innerhalb ihrer eigenen Identität und
ihres kulturellen Selbstverständnisses einordnen? Die Antwort Lung Yingtais ist keine weitere Tendenz zum „kulturellen Faschismus“
(S. 51) im Sinne einer Politik der „Taiwanisierung“1 , die „die Dämonisierung Chinas nur
vergrößert und verstärkt“ (S. 50), sondern die
notwendige Erkenntnis, dass die chinesische
Kultur ein wertvolles Kapital Taiwans ist.
Lung Yingtai argumentiert, dass Taiwan mit
seiner Zivilgesellschaft, seiner starken Wirt1 Ein
deutlicher Ausdruck der Taiwanisierungs-Politik
und Taiwanesischseins ist die offizielle Propagierung
des ‚Taiwanesischen’ oder der Süd-Fujian-Sprache
(Minnanhua), die während des Kriegesrechts unterdrückt und daher als negativer Identitätsindikator erfahren wurde.
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
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J. Meyer-Aurich: Entstehung der ersten politischen Parteien in Paraguay
schaft und dem hohen Bildungsniveau für
die chinesische Kultur „ein Leuchtturm in der
Dunkelheit“ und eine „in der Nacht leuchtende Perle der chinesischsprachigen Welt“ (S.
62, 66) sei. Das Konzept von Taiwan als Ort
dieser modernen „kulturellen Renaissance“
der chinesischsprachigen Kultur ist Schwerpunkt des dritten Artikels, „Dem Meere zugewandt“ (29. September 2003). Insgesamt äußert sich die Autorin darin pessimistisch über
den eigentlichen Geist der Kultur Taiwans.
Sie argumentiert, dass Werte wie Offenheit,
Akzeptanz, Toleranz und Pluralismus noch
nicht zum Kerninhalt der taiwanesischen Kultur gehörten und die innere Selbstisolationshaltung wie früher weiterbestehe (S. 80-81).
Lung Yingtai ist eine privilegierte Frau, die
im Ausland studieren konnte und auch längere Zeit an verschiedenen Orten außerhalb Taiwans gelebt hat. Sie hatte die Chance, sich Internationalisierung eigen zu machen, und gehört daher – wie sie selbst meint – der Generation an, die dem Meere den Rücken zugekehrt hat. Dass Lung Yingtais scharfe Kritik
an Taiwans Selbstbezogenheit äußert, kann
durchaus im Kontext der 1985 erschienenen
Essaysammlung Yehuoji (Wildes Feuer) gesehen werden. Darin fordert sie die Taiwaner noch vor Aufhebung des Kriegsrechts auf,
nicht mehr still zu halten, sondern gegen Ungerechtigkeiten und Unterdrückung offen mit
Zorn aufzubegehren (S. 19). In dieser Zeit
verrichtete sie Pionierarbeit, indem sie es als
Festländerin (waishengren) wagte, gegen die
GMD Staatspartei zu schreiben. Die Taiwanisierung nach der Aufhebung des Kriegsrechts
im Jahr 1987 ermöglichte es allen Bewohnern
Taiwans, insbesondere jedoch den Einheimischen (benturen), normative Werte für ihre
Stimme zur Geltung zu bringen.
Gleichzeitig entwickelte sich mit der Überbetonung der taiwanesischen Partikularität
eine ideologische Schizophrenie, mit der sich
Lung Yingtai nicht anfreunden konnte. Ihre
Antwort darauf ist eine Konzeption von Taiwan als Teil eines großchinesischen Kulturkreises. Diese Konzeption erschließt sich aus
einem Brief an den chinesischen Präsidenten
Hu Jintao, dessen Übersetzung „Ein offener
Brief an Herrn Hu Jintao“ (25. Januar 2006, S.
82-89) als Anhang zu den drei Essays aufgenommen wurde.
2007-3-203
Ein besonderes Augenmerk der Kommentare Meyers liegt auf dem Vergleich der in Büchern publizierten Essays mit den Erstveröffentlichungen in Tageszeitungen. Wortwahländerungen, Umformulierungen und Auslassungen werden akribisch dargestellt. Insgesamt ist das Buch ein „Taiwan-Konzentrat“.
Dennoch sollten die Leser wissen, dass es sich
bei den Argumenten Lung Yingtais um die
Standpunkte einer Person handelt. Das Buch
sollte nicht in der Erwartung gelesen werden,
dass es ein breites Spektrum des gegenwärtigen ideologischen Diskurses abdeckt. Hier
hätte Meyer vielleicht überzeugender und mit
mehr Abstand die Kontextualisierung der politischen Position Lung Yingtais darstellen
können.
HistLit 2007-3-145 / Ann Heylen über Lung,
Yingtai; Meyer, Christian: Taiwans ’kulturelle Schizophrenie’. Drei Beiträge Lung Yingtais
zur taiwanesischen Identitätsdiskussion. Mit einem Anhang „Ein offener Brief an Herrn Hu
Jintao“. Bochum u.a. 2006. In: H-Soz-u-Kult
27.08.2007.
Meyer-Aurich, Jens: Wahlen, Parlamente und
Elitenkonflikte: Die Entstehung der ersten politischen Parteien in Paraguay, 1869–1904. Ein Beitrag zur Geschichte politischer Organisation in
Lateinamerika. Stuttgart: Franz Steiner Verlag
2006. ISBN: 3-515-08838-5; 365 S.
Rezensiert von: Barbara Potthast, Historisches Seminar, Universität zu Köln
Obwohl sich fast alle lateinamerikanischen
Staaten nach Erlangung der Unabhängigkeit
zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Republiken und somit zumindest formale Demokratien konstituierten, galt eine Untersuchung von
Wahlen und Parteien lange Zeit als überflüssig, da die Verfassungen zumeist nicht beachtet wurden, Wahlen manipuliert und von
gewalttätigen Auseinandersetzungen begleitet waren. Neuere Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass Wahlen, trotz ihrer Defizite, einen wichtigen Beitrag zur Mobilisierung und Politisierung breiterer Bevölkerungsschichten geleistet haben. Für Paraguay
scheint diese These nicht zuzutreffen, denn
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
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479
Außereuropäische Geschichte
das Land wurde, trotz gelegentlicher Wahlen
im 19. Jahrhundert, weitgehend autoritär regiert, durch einen verheerenden Krieg gegen seine Nachbarn (1864-1870) politisch und
sozio-ökonomisch zerstört und erlebte dann
eine Phase politischer Liberalisierung, die ab
den 1940er-Jahren wiederum in diktatorische
Regime mündete. Allerdings existieren in Paraguay seit dem Ende des 19. Jahrhunderts
zwei Parteien, die bis heute das politische Leben bestimmen. Es stellt sich daher die Frage nach ihren Entstehungsbedingungen und
den Faktoren, die ihre Langlebigkeit und Bedeutung erklären. Diese zu beantworten, ist
das zentrale Anliegen der Dissertation von
Meyer-Aurich. Darüber hinaus bettet der Autor seine Untersuchung in die zumeist am
europäisch-nordamerikanischen Vorbild entwickelten Theorien zur Entstehung von Parteien ein. Der Autor arbeitet vor allem mit
dem klassischen Ansatz von Maurice Duverger, da sich dieser als besonders geeignet erwies, berücksichtigt aber auch andere Theorien.
Ein zentrales Ergebnis der Studie ist die Tatsache, dass sich die Entstehungsbedingungen
der beiden paraguayischen Parteien nicht von
denjenigen in Europa unterschieden, es sich
mithin um ein Zusammenspiel von parlamentarischen Gruppen und Wahlkomitees oder
-clubs handelte, die sich in einer bestimmten Situation zu einer dauerhaften und umfassenderen Einheit zusammenschlossen. Allerdings spielten bei den Wahlen in Paraguay,
anders als in Europa, inhaltliche Fragen kaum
eine Rolle. Gewählt wurde aufgrund persönlicher Loyalitäten, strategischer Allianzen oder
des Charismas eines Kandidaten, ein Aspekt,
der, wie der Autor zu Recht bemerkt, für die
Wahlforschung zu Europa und den USA bislang zu wenig beachtet wurde. Hier könnte
die lateinamerikanische Debatte für die europäische Forschung fruchtbringend einbezogen werden.
Die besonders große Bedeutung „caudillistischer“ Elemente in Paraguay liegt darin begründet, dass die Parteien hier keine
unterschiedlichen sozialen Gruppen repräsentierten, da die klassischen Konfliktlinien
zwischen Staat und Kirche, Kapital und Arbeit oder Agrar- und Industriewirtschaft hier
nicht vorhanden waren. In diesem Punkt un-
480
terscheidet sich Paraguay von den meisten
anderen lateinamerikanischen Staaten, nicht
jedoch in dem Umstand, dass auch hier der
Kreis der „mündigen Staatsbürger“, auf denen die liberalen Verfassungen basierten, sich
auf eine kleine städtische Elite beschränkte.
Allerdings war deren Anzahl aufgrund der
sozio-ökonomischen und demographischen
Zerstörungen des Krieges in Paraguay besonders klein. Trotz eines allgemeinen männlichen Wahlrechtes, das keinerlei Einschränkungen im Hinblick auf Besitz oder Alphabetisierung unterlag, blieb Politik eine Angelegenheit weniger gebildeter Männer, die darüber hinaus auch die Bereiche, die man heute als „Zivilgesellschaft“ bezeichnen würde,
dominierten. Die Gründung der Parteien, so
legt Meyer-Aurich überzeugend dar, erfolgte
in Paraguay daher nicht aufgrund des Drängens einer ausgeschlossenen Gruppe von Beherrschten, die an der Macht teilhaben wollten, sondern aufgrund eines Konfliktes innerhalb der Elite selbst.
Worin bestand nun dieser Konflikt? Die paraguayischen Parteien sehen immer wieder
die Haltung ihrer Mitglieder zu dem umstrittenen Präsidenten Francisco Solano López und ihre Rolle im Krieg als einen entscheidenden Faktor an. Dieser These zufolge hätten sich die „Nationalisten“, die an der Seite
des Diktators kämpften, vor allem in der Asociación Nacional Republicana (ANR, besser
bekannt als Colorados, das heißt die „Roten“)
gesammelt, wohingegen diejenigen, die auf
Seiten der Alliierten kämpften und zumeist
im argentinischen Exil gelebt hatten, sich in
dem Centro Democrático (CD oder Azules,
die „Blauen“) zusammengeschlossen hätten.
Diese These, die allerdings schon 1993 von
Paul H. Lewis eindeutig widerlegt worden ist,
hält sich in den politischen Auseinandersetzungen bis heute hartnäckig. Dieses Ergebnis
von Meyer-Aurich ist also nicht so neu, wie
er den Leser glauben macht, allerdings widerlegt er Lewis Erklärung der Spaltung der
Elite durch einen Generationenkonflikt. Und
Meyer-Aurich erläutert, warum sich die Vorstellung von den „nationalistischen“ Colorados und den „unpatriotischen“ Liberalen bis
heute so hartnäckig hält.
Der Konflikt innerhalb der insgesamt liberal gesinnten Oberschicht trat auf, als der
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
© Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart
G. Mund: Ostasien im Spiegel der deutschen Diplomatie
Kreis derjenigen, der zu der Elite zählen
konnte, aufgrund der allmählichen Erholung
von den Kriegsfolgen anwuchs, die zur Verfügung stehenden Ämter jedoch nicht, und
diese zudem von einer gut vernetzten Gruppe um Präsident Bernardino Caballero immer stärker monopolisiert wurden. Die ausgeschlossene Gruppe sah sich somit gezwungen, zur Erlangung von Ämtern – und damit Macht und Pfründen – ebenfalls ein stabiles und landesweit operierendes Netzwerk
aufzubauen. In einer ausführlichen Analyse
legt der Autor dar, dass sich die Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Partei weder auf einen ideologischen Konflikt, eine bestimmte Haltung zur nationalen Geschichte,
eine Generation oder einen Klassenkonflikt
zurückführen lässt, wohl aber eine Korrelation zwischen der Nähe zur Regierungspartei
und der Ausübung eines staatlichen Amtes
festzustellen ist. Wer schon über ein wichtiges politisches Amt verfügte, organisierte sich
vorwiegend in der Regierungspartei, wer sich
vom Zugang zu solchen Ämtern ausgeschlossen fühlte, im Centro Democrático. Die ideologischen Unterschiede beschränkten sich daher im Wesentlichen auf eine stärkere Betonung von staatlicher Autorität und innenpolitischer Ruhe als unerlässliche Basis für den
Fortschritt auf Seiten der Colorados und stärkerer Betonung von Freiheit und Demokratie
auf der anderen Seite.
Die Langlebigkeit und die starke Bedeutung der Parteien auch für breitere Kreise
der Bevölkerung entwickelte sich daher in
den folgenden Jahren nicht aufgrund sich
verschärfender ideologischer Konflikte, sondern aufgrund der Tatsache, dass die Parteien
patriarchalische Schutz- und Hilfsfunktionen
für ihre Mitglieder übernahmen und es schafften, die Loyalität durch emotionale Bindungen zu erhalten. Diese wurde durch eine gemeinsame Geschichte von Siegen und Niederlagen, Märtyrern und Symbolen geschaffen,
die bis zum Krieg und den Diktatoren des 19.
Jahrhunderts vorverlegt wurden. „Das Fundament der beiden traditionellen paraguayischen Parteien ist demnach in Wahrheit kein
politisches, es ist ein überwiegend pseudohistorisches. Abgesehen von den zahlreichen
sozialen Funktionen, die sie mit den Jahren
übernehmen, haben die beiden 1887 gegrün-
2007-3-217
deten Parteien wohl nur aus einem Grund so
lange überlebt und sind so stark geblieben:
weil sie sich über all die Jahre von ihren eigenen Legenden ernährten.“ (S. 310f.)
Die Arbeit von Jens Meyer-Aurich, die auf
einer umfassenden Bearbeitung bislang nicht
systematisch ausgewerteter Quellen basiert
und deren prosopografische Ergebnisse im
Anhang umfassend dokumentiert sind, stellt
nicht nur einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der politischen Geschichte eines Landes dar, das auch von der Historiographie zu
Lateinamerika zumeist kaum beachtet wird,
sie ist auch geeignet, unser Verständnis zur
Entstehung und Stabilisierung von Parteien
zu erweitern, indem strukturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede gerade am Beispiel
eines „außergewöhnlichen“ Falles klarer erfasst werden.
HistLit 2007-3-203 / Barbara Potthast über
Meyer-Aurich, Jens: Wahlen, Parlamente und
Elitenkonflikte: Die Entstehung der ersten politischen Parteien in Paraguay, 1869–1904. Ein Beitrag zur Geschichte politischer Organisation in
Lateinamerika. Stuttgart 2006. In: H-Soz-u-Kult
17.09.2007.
Mund, Gerald: Ostasien im Spiegel der deutschen Diplomatie. Die privatdienstliche Korrespondenz des Diplomaten Herbert v. Dirksen von
1933 bis 1938. Stuttgart: Franz Steiner Verlag
2006. ISBN: 351508732X; 343 S.
Rezensiert von: Susanne Kuß, Historisches
Seminar/Neuere und Neueste Geschichte,
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Auch die Diplomatiegeschichte, die in der Geschichtswissenschaft lange Zeit als gegenüber
jeglichen methodischen Modernisierungsversuchen besonders resistentes Ressort galt,
geht zwischenzeitlich neue Wege. Diplomaten werden nicht mehr nur als Handlanger
einer von der jeweiligen Zentrale vorgegebenen Politik betrachtet. Untersuchungen zu
ihrer sozialen Herkunft und politischen Prägung, ihren Weltbildern und ihrem Denken,
ihren Ambitionen und Einflussmöglichkeiten
sollen Erkenntnisse über die soziale Verankerung der Außenpolitik liefern und diplomati-
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
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481
Außereuropäische Geschichte
sches sowie außenpolitischen Handeln deutlicher als bisher voneinander trennen.1 Um diese Ebenen genauer auszuloten, bietet sich ein
Blick in die privatdienstliche Korrespondenz
eines Diplomaten an, denn in diesem nichtoffiziellen Briefwechsel mit Freunden und Arbeitskollegen war der Ton offener und freier
als in den amtlichen Berichten. Diese Briefe
wurden nach Möglichkeit durch Privatpersonen überbracht, um die Gefahren der Zensur
zu bannen. Allein durch die Auswahl solchen
Quellenmaterials eröffnet sich somit ein Blick,
der über das tagespolitische Geschehen hinausgeht.
Im Mittelpunkt der Edition von Gerald
Mund steht Herbert von Dirksen, einer der
„großen“ Diplomaten des Auswärtigen Amtes. Zunächst in Osteuropa eingesetzt, war
Dirksen zwischen 1933 und 1938 als deutscher
Botschafter in Japan tätig. Damit befand er
sich an einem „Brennpunkt der internationalen Politik“ (Hencke, Kiew, an Dirksen, Tokyo, 10. Juni 1934, S. 178), als die Verschärfung
des chinesisch-japanischen Gegensatzes und
die Herausbildung der Achse zwischen Berlin, Tokyo und Rom den Zweiten Weltkrieg
einleiteten. Zur richtigen Zeit am richtigen
Ort war Dirksen ein wichtiger Entscheidungsträger in der deutschen Ostasienpolitik, die
zwischen Japan und China lavierte und vor
allem daran interessiert war, die Sowjetunion in die Zange zu nehmen.2 Zur Drehschei1 Conze,
Eckhart, Zwischen Staatenwelt und Gesellschaftswelt. Die gesellschaftliche Dimension in der Internationalen Geschichte. In: Loth, Wilfried; Osterhammel, Jürgen (Hrsg.), Internationale Geschichte. Themen - Ergebnisse - Aussichten, München 2000, S. 117140, hier: S. 127. Sowie: Schwabe, Klaus (Hrsg.), Das
Diplomatische Korps 1871-1945, Boppard 1985; Sütterlin, Ingmar, „Russische Abteilung“ des Auswärtigen Amtes in der Weimarer Republik, Berlin 1994.
Sowie speziell zu Ostasien: Scheidemann, Christiane, Zwischen Tradition und Abkehr: Die Chinapolitik deutscher Diplomaten 1919-1938. In: Kuß, Susanne; Schwendemann, Heinrich, Der Zweite Weltkrieg in
Europa und Asien, Freiburg 2006, S. 143-160. Grundsätzlich auch: Biographisches Handbuch des Auswärtigen Dienstes 1871-1945, hrsg. vom Auswärtigen Amt,
2 Bände, Paderborn 2000 und 2005.
2 Fox, John P., Germany and the Far Eastern Crisis
1931-1938. A Study in Diplomacy and Ideology, Oxford 1982; Ratenhof, Udo, Die Chinapolitik des Deutschen Reiches 1871 bis 1945. Wirtschaft -Rüstung
-Militär, Boppard 1987; ADAP, Serie C und D.; Martin,
Bernd (Hrsg.), Deutsch-chinesische Beziehungen 192837. „Gleiche“ Partner unter „ungleichen“ Bedingungen, Berlin 2003; Leutner, Mechthild (Hrsg.), Deutsch-
482
be entwickelte sich hierbei die Mandschurei, welche die Japaner 1931 besetzt hatten.
Dort trafen chinesische, japanische und russische Interessen aufeinander. Dirksen nahm in
diesen Konflikten stets eine ostentativ japanfreundliche Position ein und forderte nachdrücklich die deutsche Anerkennung des japanischen Marionettenregimes in Manzhouguo. Bekanntlich brachte ihn dies in einen
starken Gegensatz zum deutschen Gesandten
und späteren Botschafter in Nanjing, Oskar
Trautmann.
Zu Dirksens Korrespondenzpartnern zählten vor allem seine deutschen Kollegen in
China und der Sowjetunion. Da seine privatdienstliche Korrespondenz, die sich im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes befindet, jedoch nur die Jahre zwischen 1933 und
1936 umfasst, der vorliegende Quellenband
aber den gesamten Zeitraum seiner diplomatischen Tätigkeit in Tokyo abdecken sollte, ist
die Edition mit Schreiben aus anderen Nachlässen der Adressaten oder aus dienstlichen
Akten erweitert worden. Die Briefe an und
von Dirksen betrachtet Mund als Ergänzung
zu bisher veröffentlichten und unveröffentlichten Quellen der deutschen Ostasienpolitik. Denn in ihnen werden - so der Autor etwas vage - „viele außenpolitische Sachverhalte zu Ostasien thematisiert, die so bislang
noch nicht zusammengestellt wurden.” (S. 21)
Damit wird bereits darauf hingewiesen, dass
das Buch weniger den Leser anleiten, als vielmehr Material zur Verfügung stellen möchte, auf dessen Grundlage geforscht werden
kann. Dieser unspezifische Zugang mag darauf zurückzuführen sein, dass der Herausgeber im Bereich der Wirtschaft tätig ist, worauf er in Vorwort und Einleitung ausdrücklich
hinweist (S. 13).
Das Buch ist deutlich zweigeteilt in einen
Text- und einen Dokumententeil. Den Dokumenten vorangestellt sind zwei längere Hinführungen - die erste gibt Einblick in Herbert
von Dirksens Leben, die andere beschreibt die
politische Situation in Ostasien in den 1930erJahren aus japanischer, chinesischer und russischer Sicht. In dem sehr ausführlichen biographischen Teil werden Dirksens verschiedene Lebensstationen beschrieben, ohne jeland und China 1937-1949. Politik, Militär, Wirtschaft,
Kultur, Berlin 1998.
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
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H. Nitschack (Hrsg.): Brasilien im amerikanischen Kontext
doch die wesentlichen Punkte seiner Prägung
und seines Denkens zusammenzufassen. Welche Spuren hat seine Sozialisierung hinterlassen? Wie schätzte er seine Gebundenheit an
das Auswärtige Amt ein? Wo sah er seine
Freiräume? Wie veränderten sich seine Prioritäten durch seine langjährige Tätigkeit in
der Sowjetunion? - Hier hätte eine Essenz aus
den umfangreichen Informationen gezogen
werden müssen. Auch die einleitende Übersicht zu Ostasien in den 1930er-Jahren ist sehr
faktenlastig und berücksichtigt nicht immer
die neueste Forschungsliteratur. Zudem fragt
sich der Leser verwundert, warum die Hintergründe des Antikominternpaktes 1936 so
breit beschrieben werden, obwohl Dirksen an
dessen Zustandekommen nicht beteiligt gewesen ist. Insgesamt leidet das Buch darunter,
dass die drei Teile - die zwei Hinführungen
und die Dokumente - nicht stärker verzahnt
worden sind.
Eine nützliche Übersicht und Zusammenfassung der Briefe ist dem Dokumententeil
vorangestellt. Einen solchen Überblick und
die an dieser Stelle eingefügten technischen
Informationen hätte sich der interessierte Leser gleich zu Anfang des Buches gewünscht.
Die edierten Briefe sind den jeweiligen Korrespondenzpartnern zugeordnet, chronologisch
aufgeführt und sorgfältig kommentiert. Hierbei werden vor allem Zusatzinformationen
gegeben, ohne auf weiterführende Sekundärliteratur zu verweisen.
Die Briefe an und von Herbert von Dirksen spiegeln erwartungsgemäß ein buntes
Bild wider und beschreiben zunächst den
Alltag eines Diplomaten. Bereits ein flüchtiger Blick zeigt, dass sie meistens einem
strengen thematischen Schema folgen: Familie, Gesundheit und Krankheiten, Heimaturlaub und Personalfragen sind angesprochen,
bevor auf politische Sachverhalte eingegangen wird. Auffallend oft werden Krankheiten
thematisiert, auch Nervenkrankheiten. Besonders nachdrücklich aber demonstrieren die
Briefe, wie sehr die Diplomaten von Informationsschöpfung abhängig waren. Hierunter fallen einheimische Informanten vor Ort,
aber eben auch die jeweiligen Kollegen: Von
Fritz von Twardowski und Andor Hencke
(Moskau und Kiew) erhielt Dirksen Informationen zu den japanisch-russischen bzw.
2007-3-072
deutsch-russischen Beziehungen, von Hermann Kriebel (Shanghai) Informationen zu
den chinesisch-japanischen bzw. den deutschchinesischen Beziehungen. Somit liegt der
Wert der Briefe weniger darin, dass bereits
bekannte Punkte der deutschen Ostasienpolitik in einzelnen Details ergänzt werden - so
etwa die Heye-Mission 1934, das japanische
Interesse an der Inneren Mongolei oder die
deutsche Vermittlungsaktion im chinesischjapanischen Krieg 1937/38 -, als vielmehr in
der Offenlegung von Kommunikation und
Interaktion einer kleinen Gemeinschaft, die
weitab von der Heimat bei einander feindlich gegenüberstehenden Regierungen akkreditiert war und miteinander kommunizieren
musste, um ihren Auftrag überhaupt erfüllen
zu können. Dieser Umstand wird im Übrigen
durch den Terminus der „privatdienstlichen“
Korrespondenz auffallend gut erfasst.
Abschließend lässt sich festhalten, dass die
Veröffentlichung der nichtamtlichen Briefe
des Diplomaten Herbert von Dirksen nicht
nur eine nuanciertere Bewertung der deutschen Ostasienpolitik ermöglicht, sondern
auch Materialien zu einer Rekonstruktion der
Netzwerke und damit zu den Entscheidungsfindungsprozessen eines in Übersee tätigen
Diplomaten liefert. Die Edition erlaubt, einen
neuen Blick auf die Geschichte der deutschen
Diplomatie in Ostasien zu werfen, auch wenn
sich der Leser gerade dabei mehr Orientierungshilfen gewünscht hätte.
HistLit 2007-3-217 / Susanne Kuß über Mund,
Gerald: Ostasien im Spiegel der deutschen Diplomatie. Die privatdienstliche Korrespondenz des
Diplomaten Herbert v. Dirksen von 1933 bis 1938.
Stuttgart 2006. In: H-Soz-u-Kult 20.09.2007.
Nitschack, Horst (Hrsg.): Brasilien im amerikanischen Kontext. Vom Kaiserreich zur Republik: Kultur, Gesellschaft, Politik. Frankfurt am
Main: TFM - Zentrum für Bücher und Schallplatten in portugiesischer Sprache 2005. ISBN:
3-925203-94-X; 303 S.
Rezensiert
von:
Matthias
Humboldt-Universität zu Berlin
Harbeck,
Brasilien ist das einzige lateinamerikanische
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
© Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart
483
Außereuropäische Geschichte
Land, das nach erreichter Unabhängigkeit zu
Beginn des 19. Jahrhunderts zunächst den
Weg der konstitutionellen Monarchie wählte,
dauerhaft beibehielt und sich erst vergleichsweise spät in eine Republik verwandelte
(1889/91). Dieser verfassungsgeschichtlichpolitische Hintergrund ist aber nur einer der
Aspekte, die im vorliegenden Tagungsband
behandelt werden. Es geht vielmehr um eine
breite Einbettung in ein ganzes Spektrum von
Transformationsprozessen, die sich in den Dekaden um die Jahrhundertwende vollzogen
und die hier in insgesamt 14 Einzelbeiträgen
und der knappen Herausgebereinleitung aus
verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet werden. Besonders hervorzuheben ist dabei das
Bemühen, durch explizite und implizite Vergleiche mit unter anderen Argentinien, Cuba und den USA brasilianische Spezifika zu
profilieren. Der Band bietet die seltene Möglichkeit, sich in deutscher Sprache über eine ganze Vielzahl von Forschungsfeldern der
„Brasilianistik“ zu informieren. Schwerpunkte bilden hierbei neben der politischen Transition, die Siedlungspolitik, die Situation der
Farbigen sowie die Haltung von Intellektuellen und Literaten zur Nation und zu Amerika.
Die ersten drei Aufsätze kreisen um den politischen Übergang vom Kaiserreich zur Republik und die Rollen, die die Verfassung
bzw. das Militär hierbei spielten. Wolf Paul
arbeitet heraus, dass die Nähe der brasilianischen Verfassung zum US-amerikanischen
Modell vor allem darin begründet lag, dass
der in der breiten Bevölkerung und in Teilen
der Eliten abgelehnte Putsch der Republikaner gegen das Kaiserreich rasch eine neue Legitimationsbasis zur Begründung politischer
Herrschaft erforderte. Die US-amerikanische
Verfassung wurde als die Grundlage für den
beispiellosen und auch von brasilianischen
Eliten ersehnten Aufstieg der USA und ihre
„Fortschrittlichkeit“ angesehen. Paul spricht
allerdings auch die sich hier bereits abzeichnende Kluft zwischen Verfassungstheorie und
Verfassungswirklichkeit an. Wolfgang Heinz
knüpft teilweise direkt an den vorangehenden Aufsatz an, indem er zeigt, dass das Militär die in der Verfassung verankerte „moderierende“ Rolle des abgelösten Kaisers (poder moderador) für sich in Anspruch nahm
– auch ohne explizite Verfassungsgrundla-
484
ge. Ausländische Einflüsse auf die republikanische Armee waren in dieser Phase eher
struktureller und nicht so sehr politischer Natur. Jens Hentschkes Analyse des brasilianischen Transitions- und Konsolidierungsprozesses stellt überzeugend dar, dass es sich
nicht um eine Revolution, sondern vielmehr
um eine „Mischung aus Verschwörung, Militärputsch und Reform ‚von oben’“ (mit deutlichen Kontinuitäten zum Kaiserreich) gehandelt habe. Erst seit den 1920er-Jahren sei es
verstärkt zu einer Ausweitung demokratischer Ansprüche und zu einer partiellen Abkehr vom Modell der „konservativen Modernisierung“ (S. 68) gekommen.
Gerson Roberto Neumann behandelt die
Einwanderungspolitik. Seine wichtigsten Beobachtungen beziehen sich auf ihre Verknüpfung mit den Interessen der Landaristokratie und mit der Sklaverei-Debatte. Im Vergleich mit den USA und Argentinien war
Brasilien durch die größere Entfernung bzw.
die den Arbeitsmarkt „blockierende“ Sklaverei im Nachteil und „nur“ an dritter Stelle der Haupteinwanderungsländer Amerikas. Ergänzend hierzu stellt Beatrice Zieglers Artikel Kolonisationsprojekte seit der Ankunft des portugiesischen Hofes in Brasilien (1808) vor. Sie hätten sich aufgrund mangelnder oder schädlicher staatlicher Regulierung meist nur in den Regionen durchsetzen
können, die nicht durch die Plantagenwirtschaft dominiert wurden bzw. in denen sie in
frontier-Situationen als Puffer dienlich waren.
Argentiniens effizientere Kolonisationspolitik
habe eine größere Attraktion auf Auswanderer ausgeübt, weil sie weitgehend ohne gesetzliche Beschränkungen auskam und durch
Landverkäufe gegenfinanziert war.
Jochen Kemner und Katharina Bosl von
Papp setzen sich mit Aspekten afrobrasilianischer und afrokubanischer Kultur auseinander. Kemner vergleicht soziale Aufstiegsmöglichkeiten für freie Farbige in Recife und
Santiago de Cuba. In Brasilien stand theoretisch jedem freien Mann seit der Verfassung
von 1824 der Zugang zu Bildung und Besitz offen. In Kuba bot sich ihnen bis zur Zäsur des Unabhängigkeitskrieges 1868-78 ausschließlich der ökonomische Aufstieg. Allerdings sind auch in Brasilien Theorie und Praxis der Anerkennung zu unterscheiden. Die
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
© Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart
H. Nitschack (Hrsg.): Brasilien im amerikanischen Kontext
Zahl farbiger Aufsteiger blieb begrenzt. Die
verschiedenen Gruppen bildeten kein übergreifendes Selbstverständnis als „farbige Brasilianer“ aus. Papp verweist in ihrem knappen Beitrag zu Religion und Sklaverei in
Brasilien und auf Kuba auf die interessante
Stellung der Laienbruderschaften. Diese boten den Afrikanern und ihren Nachkommen
einen Freiraum, in dem sie sich selbst organisieren und somit aktiv und passiv Widerstand gegen die Sklavenhaltergesellschaft
leisten konnten. Der Vergleich mit Kuba fällt
jedoch dünn aus und ihre interessantesten
Feststellungen zum Ausbleiben einer Integration der Sklavinnen und Befreiten nach der
Abschaffung der Sklaverei und dem Übergang zur Republik handelt sie nur in Stichpunkten ab.
Der Aufsatz von Karen Lisboa leitet
in einen großen eher kulturgeschichtlichliterarischen Block über. Sie untersucht den
kulturellen Vergleich, den Brasilianer der
frühen Republik zwischen ihrer Heimat und
den USA anstellten. In ihrer Auswertung ausgewählter Reiseberichte meist brasilianischer
Intellektueller, stellt sie das Vorherrschen
eines positiven Bildes der Vereinigten Staaten
fest: Gleichberechtigung, Leistungswillen
und Fortschritt wurden von der Mehrheit der
Autoren teils begeistert hervorgehoben. Nur
Wenige differenzieren dagegen stärker oder
orientieren sich eher an Europa. Deutlich
wird hier aber auch die Meinungsvielfalt
der Umbruchsphase und das ambivalente
Verhältnis zu den USA. Susanne Klengel behandelt den interkulturellen Dialog zwischen
Brasilien und Argentinien anhand des 1900
erschienenen Werkes „O Brasil intelectual“
des argentinischen Diplomaten Martín García
Merou. Mit diesem Werk habe er eine erste
kritisch-wohlwollende Betrachtung der literarischen Produktion Brasiliens vorgelegt, die
aber sowohl von der brasilianischen als auch
von der einheimischen Literaturkritik lange
Zeit missachtet wurde. Der Herausgeber
Horst Nitschack wendet sich Sílvio Romeros
Sicht auf die brasilianischen Nationalliteratur
zu. Vom Positivismus geprägt habe Romero
sich, im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen,
weniger mit der literarischen Produktion
der Nachbarstaaten und dem politischen
Verhältnis zu ihnen auseinander gesetzt.
2007-3-072
Die Herausbildung einer Nationalliteratur
sei für Romero geradezu die Voraussetzung
für die angestrebte Internationalisierung
Brasiliens im Zeichen der vorherrschenden
Fortschrittsideologie gewesen (S. 244). Trotz
seiner positivistisch-darwinistischen Ansätze
sei Romero gleichzeitig ein großer Verfechter
der „mestizagem“, also der Vermischung
verschiedener Völker und Ethnien gewesen.
Sabine Schlickers widmet sich Azevedos „O
cortiço“. Am Vergleich mit Zolas Werken
demonstriert sie, dass es sich um ein ParadeBeispiel des brasilianischen Naturalismus
handelt. Ligia Chiappini schließlich lenkt das
Augenmerk auf grenzüberschreitende Regionalkulturen am Beispiel der Gaucho-Literatur
Südbrasiliens und Uruguays. Anhand der
Autoren Javier de Viana und João Simões
Lopes stellt sie Parallelen und Unterschiede
kultureller Akteure dar und zeigt anschaulich, dass die kulturelle Tordesilhas-Linie
längst überschritten und dieser Umstand nur
allzu lange ignoriert wurde.
Mit dem Sammelband liegt ein gelungener Überblick über diverse Facetten des (frühen) republikanischen Brasiliens vor. Gerade im ersten Teil gehen die Themenkomplexe der Einzelaufsätze fließend ineinander
über. Der rote Faden ist deutlich zu spüren. Im eher kulturbezogenen Teil hätten diese Zusammenhänge vielleicht stärker herausgestellt werden müssen, allerdings verdeutlichen sie die kulturelle und regionale Diversität Brasiliens. Auch die thematisch isolierter stehenden Beiträge Martina Neuburgers über den Aufstieg und Niedergang der
Kautschukproduktion in Amazonien und Ute
Hermanns zur frühen Kinoproduktion in Brasilien durch Immigranten stützen dieses Bild.
Als Handbuch, das kohärent alle Aspekte des
Übergangs vom Kaiserreich zur Republik beleuchtet, wie die ersten drei Aufsätze vielleicht erwarten lassen, eignet sich der Band
– leider – nicht, als Nachschlagewerk, um
einen schnellen Überblick zu Einzelthemen
zu gewinnen, oder als Grundlagenlektüre für
Einführungskurse ist er dagegen gut einsetzbar. Auf jeden Fall aber veranschaulicht er,
dass es nicht ausreicht, Brasilien mit seinen kontinentalen Ausmaßen isoliert zu betrachten, sondern dass sich durch die Einbeziehung amerikanisch-vergleichender Aspek-
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
© Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart
485
Außereuropäische Geschichte
te neue Einblicke gewinnen lassen.
HistLit 2007-3-072 / Matthias Harbeck über
Nitschack, Horst (Hrsg.): Brasilien im amerikanischen Kontext. Vom Kaiserreich zur Republik:
Kultur, Gesellschaft, Politik. Frankfurt am Main
2005. In: H-Soz-u-Kult 30.07.2007.
Oren, Michael B.: Power, Faith, and Fantasy.
America in the Middle East: 1776 to the Present.
New York: W.W. Norton & Company 2007.
ISBN: 978-0-393-05826-0; 672 S.
Rezensiert von: Manfred Berg, CurtEngelhorn Lehrstuhl für Amerikanische
Geschichte, Historisches Seminar der Universität Heidelberg
Spätestens seit Beginn des gegenwärtigen
Jahrzehnts stehen die Beziehungen zwischen
den USA und der arabisch-islamischen Welt
im Mittelpunkt der internationalen Politik.
Entsprechend ist auch das Interesse an der
Geschichte dieses überaus schwierigen Verhältnisses gewachsen. Allerdings konzentrieren sich die meisten einschlägigen Publikationen auf die unmittelbare Gegenwart oder
allenfalls auf die Zeitgeschichte seit 1945.
Mit dem hier zu besprechenden Werk beansprucht der amerikanisch-israelische Historiker Michael B. Oren nun, die erste Synthese
vorzulegen, die den gesamten Zeitraum seit
der Gründung der Vereinigten Staaten bis in
die Gegenwart behandelt. In der Tat nehmen
die mehr als eineinhalb Jahrhunderte von den
ersten Reisen amerikanischer Abenteurer in
den „Orient“ bis zum Zweiten Weltkrieg den
weitaus größten Raum ein. Die Geschichte
nach 1945, so der Autor, sei dagegen gut erforscht und vielfach abgehandelt worden und
werde deshalb nur noch kurz und zusammenfassend dargestellt. Orens Buch wendet
sich sowohl an die Geschichtswissenschaft
als auch an ein allgemeines Lesepublikum.
Wie der Titel des Buches anzeigt, strukturieren drei große Themen die Darstellung: die
machtpolitischen und wirtschaftlichen Konflikte und Interessen, die religiösen und ideologischen Ziele der USA und die kulturellen
Wahrnehmungsmuster und Stereotypen der
Amerikaner. Der Autor betont, es gehe ihm
486
nicht darum, in den aktuellen Kontroversen
Partei zu ergreifen oder gar spezifische politische Vorschläge zu machen, sondern mit seinem Buch die Grundlage für ein tieferes historisches Verständnis zu schaffen.
Orens sachlich-deskriptiver Stil kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass sein
Buch sehr wohl eine unmissverständliche
politische Botschaft hat, die der Autor auf
der letzten Seite auch offen ausspricht. Um
sich Respekt zu verschaffen und seine Vision friedlicher und fruchtbarer Beziehungen
zum Mittleren Osten zu verwirklichen, müsse Amerika seine Macht klug und verantwortlich demonstrieren und seine normativen Prinzipien konsequent, aber zugleich geduldig durchsetzen (S. 604). Oren gehört also keinesfalls zu den „demokratischen Imperialisten“, die den Irakkrieg ideologisch
vorzubereiten halfen, sondern plädiert für
einen machtgestützten, illusionslosen Realismus, der sich von den romantischen Fantasien vom „Orient“ ebenso verabschiedet
wie vom Versuch allzu aufdringlicher religiöser oder weltanschaulicher Missionierung.
Für Oren haben die so genannten „Barbary Wars“, die die USA zu Beginn des 19.
Jahrhunderts gegen die Maghrebstaaten führten, paradigmatischen Charakter. Schwäche,
Nachgeben und die Zahlung von Tributen
an erpresserische Piraten und Tyrannen zogen lediglich immer neue Demütigungen und
höhere Forderungen nach sich, während militärische Macht und Wagemut den Amerikanern Respekt verschafften. Mit seiner Entscheidung für den Kampf – anstatt die Piraten
nach dem europäischen Vorbild zu „verhätscheln“ – habe sich Amerika gegenüber sich
selbst und der Welt seines nationalen Charakters versichert (S. 78). Vor allem im Zusammenhang mit der Herausforderung durch
den Terrorismus seit den 1970er-Jahren bemüht der Autor immer wieder dieses historische Lehrstück, kritisiert die verschiedenen US-Administrationen aber gerade für ihren nach seiner Auffassung erratischen und
illusorischen Kurs gegenüber den Terroristen
und die sie stützenden Regime.
Im Hinblick auf das Thema „Faith“ behandelt Oren ausführlich die missionarischen Aktivitäten amerikanischer Protestanten, die ihren Anfang in der ersten Hälfte des 19. Jahr-
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
© Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart
M. B. Oren: Power, Faith, and Fantasy
hunderts nahmen, aber erst ab den 1880erJahren größere Ausmaße erreichten. Die protestantische Mission unterlag natürlich strengen Restriktionen und fand bei der Masse der
muslimischen Bevölkerung kaum Resonanz.
Allerdings trugen amerikanische Schulen und
Universitäten nicht unwesentlich zur Verbreitung säkular-nationalistischer Ideen unter
den Eliten bei. Im Zusammenhang mit der religiösen Dimension ist besonders interessant,
dass Oren die lange Tradition des evangelikalen „Restaurationsglaubens“ aufzeigt, der
in letzter Zeit einige Aufmerksamkeit erregt
hat, also die biblisch begründete Überzeugung, dass die Rückgabe des „Heiligen Landes“ an die Juden die Voraussetzung für die
Wiederkehr Christi sei. Doch obwohl evangelikale Christen auf dieser Grundlage immer
wieder für eine prozionistische und proisraelische Politik der USA eintraten, war ihr
Einfluss selbst bei Präsidenten, die evangelikalen Denominationen angehörten, sehr gering. Auch Oren hat offenkundig für religiöse
Israel-Schwärmerei wenig übrig, sein Plädoyer für eine enge amerikanisch-israelische Allianz gründet sich vielmehr auf die Definition
gemeinsamer strategischer Interessen und demokratischer Werte.
Breiten Raum nimmt das dritte Motiv des
Buches ein, die Orient-Faszination der Amerikaner, die unablässig zwischen Fantasien
von nomadischer Freiheit, Exotik und geheimnisvoller Erotik aus Tausendundeiner
Nacht einerseits und abgrundtiefer Verachtung für die vermeintliche Dekadenz, Brutalität und Primitivität der „Orientalen“ andererseits oszillierte. Der Islam wurde dabei zum Inbegriff des „Fremden“, ohne dass
sich die amerikanischen Abenteurer, Kaufleute, Söldner, Diplomaten, Forschungsreisenden und Missionare, die das Bild des Mittleren Ostens im 19. Jahrhundert prägten, je
ein tieferes Verständnis des Islam und der
mittelöstlichen Kulturen erschlossen hätten.
Allerdings distanziert sich Oren ausdrücklich vom Orientalismus-Paradigma Edward
Saids. Die Orient-Fantasien der Amerikaner
sieht er nicht als Ausdruck kolonialistischer
Ideologie, sondern als ärgerliches Hindernis
für eine realistische Beurteilung der amerikanischen Interessen und Optionen in der Region. Gleichwohl bleibt der Autor über weite
2007-3-090
Strecken seines Buches selbst einer recht einseitigen und bisweilen durchaus stereotypen
Darstellung verhaftet. Das Bild, das er etwa
von den maghrebinischen Herrschern zu Zeiten der „Barbary Wars“ zeichnet, unterscheidet sich kaum von dem der amerikanischen
Militärs, die gegen die Piratenstaaten ins Feld
zogen.
Überhaupt interessiert sich Oren nur wenig für die Perspektive der Osmanen, Türken, Araber und Iraner, für ihre Amerikabilder und ihre Interessen gegenüber den USA,
die spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg
eine immer wichtigere Rolle in der Region
spielten. Das implizite Grundmotiv seiner kritischen Interpretation der US-Mittelostpolitik
seit 1945 ist die notorische Undankbarkeit der
arabischen Führer gegenüber der amerikanischen Unterstützung des arabischen Nationalismus gegen die europäischen Kolonialmächte und der fortgesetzten Bemühungen um eine Vermittlung im Konflikt mit Israel. Sein Fazit, dass die Amerikaner dem Mittleren Osten
und seinen Bevölkerungen ganz überwiegend
mit guten Absichten und Wohltätigkeit begegnet seien und historisch bedeutend mehr
Nutzen als Schaden gestiftet hätten, werden
die meisten amerikanischen Leser gewiss mit
Genugtuung zur Kenntnis nehmen (S. 603).
In der arabisch-islamischen Welt wird diesem Urteil allerdings bekanntlich vehement
widersprochen. Auch wenn man die gegenteilige Vorstellung, Amerika und der Westen seien für alle Probleme des Mittleren Ostens verantwortlich, nicht teilt, kann der Topos von den fehlgeleiteten guten Absichten
als Hauptproblem amerikanischer Mittelostpolitik nicht überzeugen und dementiert in
gewisser Hinsicht auch die realistischen Prämissen des Autors. Mehr denn je stehen die
USA heute vor dem Dilemma, dass sie ihre wirtschaftlichen und strategischen Interessen in der Region notfalls mit militärischer
Gewalt sichern müssen, dass ihre politischkulturelle Akzeptanz jedoch nirgendwo auf
der Welt so gering ist und sie so gut wie
keine prowestlichen und demokratisch legitimierten Bündnispartner finden. Die grandiosen Demokratisierungsvisionen der Washingtoner „Neocons“ haben sich als destruktive
Machtfantasien erwiesen. Um diese Einsicht
drückt sich Oren am Schluss herum und trös-
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
© Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart
487
Außereuropäische Geschichte
tet seine Leser stattdessen mit der einigermaßen voluntaristischen Hoffnung, dass die Völker der arabisch-islamischen Welt doch noch
Amerikas guten Willen erkennen mögen.
HistLit 2007-3-090 / Manfred Berg über Oren,
Michael B.: Power, Faith, and Fantasy. America in the Middle East: 1776 to the Present. New
York 2007. In: H-Soz-u-Kult 03.08.2007.
Staden, Hans: Warhaftige Historia. Zwei Reisen
nach Brasilien (1548-1555) - História de duas viagens ao Brasil. Kritische Ausgabe: Franz Obermeier; Übertragung ins heutige Deutsch: Joachim Tiemann; Tradução ao português: Guiomar Carvalho Franco. Kiel: Westensee-Verlag 2007. ISBN:
3-931368-70-X; 410 S.
Rezensiert von: Horst Pietschmann, Historisches Seminar, Universität Hamburg
In der Fülle überlieferter zeitgenössischer
Prosatexte und teils sogar gereimter Überlieferungen aus dem thematischen Umfeld der
iberischen Expansion finden sich zahlreiche
Editionen, die sich als kritische Ausgaben bezeichnen. Davon können aber nur die Wenigsten für sich in Anspruch nehmen, in der
deutschen Tradition historisch-philologischkritischer Editionen zu stehen. Meist handelt
es sich um Ausgaben mit mehr oder weniger
ausführlichen Einleitungen der Herausgeber,
die die Entstehungsgeschichte nachzeichnen.
Oft rekonstruieren sie die handschriftliche(n)
Überlieferung(en) noch nicht einmal. Selbst
dann, wenn die Texteditionen mit Fußnoten
versehen sind, beschränken sie sich überwiegend auf Sacherklärungen. Es verwundert daher auch nicht, dass diese Überlieferungen
unterschiedslos der Gattung der Chronistik
zugeschrieben werden, gleichgültig ob sie in
lateinisch oder volkssprachlich verfasst wurden, gleichgültig auch, ob sie von Zeitzeugen
oder von dem Geschehen fernen, sich ihrerseits auf Quellen stützenden Autoren stammen. Welcher Historiker erinnert sich schon
daran, dass die berühmte „Historia verdadera. . . “ des Bernal Díaz del Castillo von
der Eroberung Mexikos als ohne Überschrift
überliefertes Manuskript ihren Namen erst
in einem späteren Jahrhundert erhielt. Dage-
488
gen ist das hier vorzustellende Werk tatsächlich bereits 1557 unter dem Titel „Warhaftig
Historia und beschreibung eyner Landtschaft
der Wilden/Nacketen/Grimmigen MenschfresserLeuthen/in der Newenwelt America
gelegen/vor und nach Christi geburt im Land
zu Hessen unbekant/bis uff dieses nechst vergangene jar/Da sie Hans Staden von Homberg auß Hessen durch sein eygne erfahrung
erkant/und yetzo durch den truck an tag
gibt. . . .“ erschienen. Ebenso wie viele ähnliche spanische Titel lässt auch diese deutsche
Überschrift erkennen, dass ihre Edition philologischer und historischer Kritik dringend bedarf, ja, dass die Gattung insgesamt genauer
historiografiegeschichtlich erforscht und eingeordnet werden muss. Mit entsprechender
Erwartung nimmt man die vorliegende Edition zur Hand.
Das im Verlag des Kieler Romanisten
und Guaraní-Forschers Thun erschienene, gemeinsam mit dem brasilianischen Instituto
Martius-Staden publizierte Werk wurde im
Rahmen einer im März 2007 im hessischen
Wolfhagen abgehaltenen internationalen Tagung vorgestellt. Veranstaltet hatte sie das
dortige Regionalmuseum, das auch eine Ausstellung über Staden organisierte, die noch
in Korbach und danach in Brasilien gezeigt
werden soll.1 Der äußere Anlass war das 450.
Jubiläum des Erscheinens von Stadens Buch
in Marburg, über dessen Verfasser wir ansonsten nur wenig gesichert wissen. Überliefert sind der Geburtsort Homburg an der
Efze, die Lebensspanne von circa 1520 bis
nach 1558, seine Funktion als Büchsenschütze während zweier Brasilienreisen zwischen
1548 und 1555, von denen er eine in portugiesischen und eine in spanischen Diensten antrat, die Aufenthaltsorte Wolfhagen und Korbach nach seinem Brasilienabenteuer sowie
der ebenfalls nach Rückkehr erlernte Beruf eines Salpetersieders. Das Buch verdankt seine Entstehung wesentlich Stadens Beziehung
zu dem Marburger Medizin- und Mathematikprofessor Johannes Dryander, der offen1 Vgl.
zu Tagung und Ausstellung: Tópicos. Deutschbrasilianische Gesellschaft e.V. – LateinamerikaZentrum e.V. 46/2 (2007), S. 30-31. Obermeier erwähnt
in seiner Edition, S. XXX, ohne nähere Angaben
eine Staden-Sammlung des Ehepaars Bezzenberger
und eine Hans-Staden-Stiftung Wolfhagen, die das
Andenken an Staden dort lebendig halten.
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
© Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart
H. Staden: Warhaftige Historia
bar aus dem gleichen Geburtsort wie Stadens
Vater, nämlich Wetter, stammte. Eine Pfändungsandrohung aus dem Jahre 1558 gilt als
letzter dokumentarischer Beleg von Stadens
Leben.
Der Herausgeber der Edition, Franz Obermeier, ist Fachreferent an der Kieler Universitätsbibliothek und durch zahlreiche Publikationen zu Staden und den frühen französischen Brasilienberichten ausgewiesen. Obermeier gibt die vorgenannten Informationen
zu Stadens Biografie bereits auf den ersten
drei seiner insgesamt 31 Seiten umfassenden Einleitung. Danach wendet er sich anderen Brasilienwerken der Epoche, Fragen nach
Charakter und Struktur des Werkes sowie der
Illustrationen zu. Ergänzt wird diese Einleitung durch eine 34 Seiten umfassende Bibliographie. Es folgt unpaginiert der reich bebilderte Faksimilenachdruck von Stadens Werk.
Es ist in zwei Widmungsschreiben (je eines
von Staden und von Dryander an Landgraf
Philipp von Hessen) und zwei Bücher gegliedert. Das Erste schildert in chronologischer
Folge Stadens Erlebnisse, während das Zweite den Sitten und Gewohnheiten der Tupinambá gewidmet ist, die den Verfasser mehr
als ein halbes Jahr gefangen hielten. Auf den
Seiten 179 bis 212 liefert der Bearbeiter knappe Kommentare zu den einzelnen Seiten bzw.
Abschnitten von Stadens Text gefolgt von einer Auflistung der in den Kommentaren zitierten Quellentexte. Eine Liste der genannten
Stammesbezeichnungen, Indizes von Personennamen und geographischen Bezeichnungen, Erläuterungen von Tupiwörtern und Verzeichnisse von Namen aus Fauna und Flora
einmal in Übersetzung aus dem Tupi und sodann mit deren modernen taxonomischen Bezeichnungen sollen die Erschließung des Textes erleichtern. Auf den Seiten 229 bis 288
findet sich dann die von Joachim Tiemann
besorgte Übersetzung des Werkes in modernes Deutsch und anschließend die Übersetzung von Obermeiers Einleitung und Stadens
Werk ins Portugiesische, besorgt von Guiomar Carvalho Franco und durchgesehen von
Augusto Rodrigues. Eine Zeittafel zu Stadens
Leben und Werk, die Danksagung an unterstützende Personen und Institutionen sowie
das zweisprachige Inhaltsverzeichnis schließen den Band ab.
2007-3-225
Wie die knappe Beschreibung der Edition bereits verdeutlicht, konzentrieren sich die
editorischen Teile auf die buchgeschichtliche
Bedeutung von Stadens Text und Illustrationen, seine Wirkung und Verbreitung, seine Verortung in der frühen Überlieferung zu
Brasilien, vor allem im Vergleich zu Thevet,
Léry, Abbeville und anderen und auf seine
ethnographische Bedeutung. Das Fehlen einer die Kriterien der Bearbeitung und Kommentierung verdeutlichenden Einleitung erweckt bei einem der Thematik ferner stehenden Benutzer der Edition den Eindruck,
dass es sich um ein Buch von Spezialisten
für Spezialisten handelt, ein Eindruck, der
dadurch verstärkt wird, dass der Bearbeiter
in seiner spartanischen Einleitung den Leser allzu oft auf diverse seiner 49 eigenen,
unter „Forschungsliteratur“ aufgelisteten Titel verweist. Unter dieser „Forschungsliteratur“ fehlen zentrale Titel (wie Jürgen Pohle, Deutschland und die überseeische Expansion Portugals im 15. und 16. Jahrhundert.
Münster 2000), die hätten erklären können,
wie ein hessischer Büchsenschütze nach Brasilien gelangte. Auch wenn die Fragen des
Historikers an eine solche Edition unbeantwortet bleiben und das Werk nicht den Anforderungen an eine philologisch-historischkritische Edition, wie sie einleitend angerissen wurden, entspricht, bildet es doch einen
unverzichtbaren Baustein zu einer solchen,
noch zu leistenden Edition. Von dieser ist unter anderem der Versuch zu verlangen, herauszufinden, inwieweit der Text auf Staden
selbst oder überwiegend auf Dryander zurückgeht, von dem mehrere Veröffentlichungen bekannt sind. Vieles an Stadens Werk
erinnert mehr an die Vertrautheit des Universitätslehrers mit den zeitgenössischen wissenschaftlichen und politischen Debatten und
Konstellationen als an einen abenteuernden
Büchsenschützen, vor allem wenn man an
zeitgenössische Korrespondenz von gebildeteren Schreibern, wie etwa Kaufleuten, denkt.
Woher mag Staden den Namen „America“ gehabt haben? Sicher nicht von der Iberischen
Halbinsel oder aus Brasilien, wo er zu der
Zeit jedenfalls nicht in Gebrauch war. Man
wird der Edition freilich zugute halten müssen, dass zu viel auf zu knappem Raum beabsichtigt war: Ein solches Werk in einem Band
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
© Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart
489
Außereuropäische Geschichte
für zwei große Märkte, den brasilianischen
und den deutschen, gleichzeitig erschließen
zu wollen, ist kein realistisches Unterfangen.
Vielleicht helfen da die Akten der Tagung von
Wolfhagen im letzten März weiter.
HistLit 2007-3-225 / Horst Pietschmann über
Staden, Hans: Warhaftige Historia. Zwei Reisen
nach Brasilien (1548-1555) - História de duas viagens ao Brasil. Kritische Ausgabe: Franz Obermeier; Übertragung ins heutige Deutsch: Joachim Tiemann; Tradução ao português: Guiomar Carvalho
Franco. Kiel 2007. In: H-Soz-u-Kult 24.09.2007.
Steen, Andreas: Zwischen Unterhaltung und Revolution. Grammophone, Schallplatten und die
Anfänge der Musikindustrie in Shanghai, 18781937. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2006.
ISBN: 978-3-447-05355-6; 525 S.
Rezensiert von: Lena Henningsen, Institut für
Sinologie, Universität Heidelberg
Ausgehend vom Medium Schallplatte zeichnet Andreas Steen in seiner 2006 veröffentlichten Dissertation die Entstehung und Entwicklung der chinesischen Musikindustrie in
Shanghai nach. Eingebettet in den weiteren
historischen Kontext entwirft er dabei ein lebendiges Bild der musikalischen Szene und
ihrer Akteure. Durch die Fokussierung auf ein
in der sinologischen Forschung bislang wenig
untersuchtes Medium beleuchtet der Autor
die vermeintlich gegensätzlichen Phänomene Tradition und Moderne, fremde und eigene kulturelle Errungenschaften, Konsum und
Propaganda. Produktion, Verkauf und Rezeption der Schallplatte zeigen, dass es sich bei
diesen keineswegs um einander ausschließende Konzepte handelt. Vielmehr spiegeln sich
in sämtlichen Anwendungen der Schallplatte
Mischformen wider – und damit die Hybridität Shanghais im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert.
Zwar kam die Grammophon-, und Schallplattenindustrie als eine westliche Industrie
im Dienste westlicher imperialistischer und
kommerzieller Interessen nach China. Doch
ihr Erfolg beruhte nicht nur auf westlichem
Kapital und Know-how, sondern auf der Integration chinesischer Experten und auf der
490
Nutzbarmachung des chinesischen musikalischen Repertoires. Schließlich wurde nicht
nur westliche Musik nach China eingeführt.
Vielmehr wurde chinesische Musik in China aufgenommen, in Europa oder Amerika auf Schallplatten gepresst und dann zum
Verkauf an ein chinesisches Publikum wieder nach China eingeführt. Entsprechend waren die westlichen Konzerne auf chinesische
Künstler ebenso angewiesen wie auf chinesische Mittelsmänner, die Kontakte zu diesen
herstellten, Verträge aushandelten und Aufnahmesitzungen arrangierten. Hierbei zeigt
sich, dass diese Mittelsmänner nicht willenlose Handlanger westlicher Unternehmen waren. Im Gegenteil, sie setzten den Produkten ihren eigenen Stempel auf. In der Frühzeit waren dies Liebhaber der Pekingoper, die
das aufgenommene Repertoire prägten. Später gelang es Musikern wie Ren Guang und
Nie Er, bei EMI sozialkritische Lieder zu platzieren, die ihren politischen Überzeugungen
entsprachen (S. 425f). Auch erkannten die politischen Parteien das propagandistische Potential des neuen Mediums und schickten sich
an, dieses auszunutzen.
Da die westlichen Firmen darauf zielten,
Musik für ein chinesisches Publikum zu produzieren, waren nicht nur chinesische Akteure zentral für die frühen Schritte dieser Industrie, sondern auch der Klang der chinesischen Musik. Das chinesische musikalische
Repertoire fand seinen Weg auf das neue Medium, und wurde in seiner weiteren Entwicklung von diesem stark geprägt, insbesondere
gilt dies für die chinesische Oper sowie populäre chinesische Lieder.
Aufnahmen
berühmter
Opernsänger
dienten Laien oder dem Nachwuchs als Unterrichtsmaterial. Damit brachte die Schallplatte den Klang der chinesischen Oper nicht
nur – potentiell – in jedes Wohnzimmer, sondern leistete der Professionalisierung ebenso
wie einer nationalen Vereinheitlichung
des Stils Vorschub. Ohne die kommerziell
motivierten Bemühungen der Schallplattenindustrie wäre dies nicht denkbar gewesen.
Erfolgreiche Opern-Künstler wie Tan Xinpei
– „unbestritten der erste ‚Schallplattenstar’
in China“ (S. 134) – oder Mei Lanfang konnten ihren Ruhm und ihre überragenden
Interpretationen für die Nachwelt sichern.
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
© Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart
A. Steen: Zwischen Unterhaltung und Revolution
Gleichzeitig begründete ihre akustische Präsenz ihre Medienwirksamkeit – und im Falle
Mei Lanfangs seinen Erfolg als Werbeikone.
Neben der Oper verhalf die Schallplatte
auch anderen populären Formen zu Gehör,
wie dem „Lied seiner Zeit“ (Shidaiqu, S.
245ff.). An der Verbreitung dieses Genres und
dem Erfolg des Musikers Li Junhui wird deutlich, wie traditionelle und moderne Elemente erfolgreich eingesetzt wurden, um kommerzielle wie politische Interessen umzusetzen: in den Shidaiqu werden Elemente westlicher Schlagermusik und Jazz mit volkstümlichen Melodien und überlieferten Volksliedern
kombiniert. Stärker noch als bei der Pekingoper ist die Popularität dieses Genres an das
neue Medium gebunden. Damit wird deutlich, dass die neuen künstlerischen Entwicklungen zwar sehr wohl geistige Strömungen
der Zeit widerspiegelten, in denen es um Erneuerung der chinesischen Kultur ging durch
eine Rückbesinnung auf Wurzeln in der eigenen Tradition ebenso wie durch eine Nutzbarmachung neuer, westlicher Techniken. Darüber hinaus kann aber ein Vorrang kommerzieller Interessen vor politischen konstatiert
werden.
Das Spannungsfeld „zwischen Revolution
und Unterhaltung“ durchzieht die Studie wie
ein roter Faden. Neben den oben geschilderten unterhaltenden Musikformen diente die
Schallplatte auch als Medium zur Verbreitung
politischer Ideen. Die Erkenntnis des propagandistischen Werts der Schallplatte schlug
sich z.B. in Aufnahmen von Reden Sun Yatsens (S. 182) oder von politischen Liedern
nieder, in den Bestrebungen, eine nationale
chinesische Schallplattenindustrie zu fördern,
aber auch in Bemühungen seitens der nationalistischen GMD-Regierung, die Produkte
zu zensieren.
Das Buch basiert auf akribischer Quellenrecherche in diversen Archiven in China und
Europa. Um die Entwicklung der Schallplattenindustrie möglichst genau nachzuzeichnen, greift der Autor neben diesem Archivmaterial auf Statistiken und Unterlagen der
Schallplattenindustrie zurück. Darüber hinaus wertet er Berichte und Werbeanzeigen
in zeitgenössischen chinesischen Tageszeitungen und Magazinen aus und zieht schlaglichtartig literarische Texte aus dem frühen 20.
2007-3-080
Jahrhundert hinzu, in denen berühmte chinesische Autoren wie Lu Xun, Mao Dun oder
Ding Ling das Grammophon oder die Schallplatte thematisieren. Der Autor benennt dabei
klar die Grenzen der Quellenlage und markiert nachvollziehbar, welche Thesen sich auf
empirische Daten stützen lassen und welche
Thesen auf spekulativen Indizien und gut begründeten Vermutungen beruhen.
Klare Zusammenfassungen am Anfang
und Ende der Arbeit, sowie in den einzelnen Abschnitten erleichtern die Lektüre. Darüber hinaus wird der analytische Teil der Arbeit ergänzt durch einen umfangreichen Bildteil sowie Übersichtstafeln zur Schallplattenproduktion in China. Ein Personenindex findet sich am Ende des Buches. Ein Sachregister sowie der chinesische Wortlaut übersetzter
Passagen fehlen leider.
Die Abwesenheit der klanglichen Komponente stellt ein weiteres – und bedeutenderes – Manko der Arbeit dar. Der Autor
benennt zwar wiederholt die unterschiedlichen Traditionen, aus denen sich die Produkte der Schallplattenindustrie sowie der „hybride Klang Shanghais“ speisen. Doch in den
Analysen exemplarischer Schallplatten liegt
der Fokus auf den Liedtexten. Die akustischen
Merkmale (melodische, rhythmische und harmonische Gestaltung, Instrumentierung, Verhältnis von Text und Musik) werden bestenfalls gestreift, nicht jedoch in die Analyse mit einbezogen. Eine klarere Beschreibung
und Analyse dieses Aspekts hätte dem Leser des Buchs geholfen, den „Klang Shanghais“ nicht nur anhand abstrakter Kategorien (Jazz, klassische Orchestermusik, Pekingoper), sondern auf konkreten Klangerlebnissen nachzuvollziehen. Wie hat die Kombination unterschiedlicher Musikstile geklungen?
Wie hat sie möglicherweise auf einen zeitgenössischen Hörer gewirkt, dem nicht nur
die Schallplatte, sondern auch die darauf erklingenden musikalischen Inhalte völlig neu
waren? Wie hybrid war der Klang tatsächlich? Ohne eine Antwort auf diese Fragen erscheint der „hybride Klang“ lediglich als eine konstatierte Kategorie. Dies ist umso bedauerlicher, als Steen die Hybridität in den
übrigen Bereichen der Schallplattenproduktion sehr differenziert nachgezeichnet hat: in
der für beide Seiten ertragreichen Koopera-
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
© Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart
491
Außereuropäische Geschichte
tion zwischen westlichen und chinesischen
Akteuren, zwischen westlichem technischen
Know-how und chinesischem künstlerischen
Input auf der Seite der Produktion, in der
Interaktion zwischen Hörern und Produzenten, ebenso wie in der innovativen Kombination chinesischer und westlicher Elemente
und in der kommerziell erfolgreichen Nutzbarmachung politischer Inhalte.
Mit seinem Buch zu den Anfängen der chinesischen Musikindustrie hat Andreas Steen
eine fundierte, lesenswerte und gut lesbare
Studie vorgelegt, die unser Bild von Shanghai
in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende
um einige Facetten erweitert und die Entstehung der chinesischen Schallplattenindustrie
nachvollziehbar analysiert.
HistLit 2007-3-080 / Lena Henningsen über
Steen, Andreas: Zwischen Unterhaltung und
Revolution. Grammophone, Schallplatten und
die Anfänge der Musikindustrie in Shanghai,
1878-1937. Wiesbaden 2006. In: H-Soz-u-Kult
01.08.2007.
Steffelbauer, Ilja; Hakami, Khaled (Hrsg.):
Vom Alten Orient zum Nahen Osten. Essen:
Magnus-Verlag 2006. ISBN: 3-88400-602-9;
272 S.
Rezensiert von: Elisabeth Kübler, Universität
Wien / Lauder Business School, Wien
Die Anzahl an Publikationen und Veranstaltungen zum komplexen Verhältnis „des Westens“ und der arabischen bzw. islamischen
Welt ist unüberschaubar geworden, vermag
jedoch letztlich wenig zu erklären. Dieser Befund ist ein zentrales Anliegen des Vorworts
zum interdisziplinären Sammelband „Vom
Alten Orient zum Nahen Osten“, herausgegeben von Ilja Steffelbauer und Khaled Hakami. Außerdem geht es um eine Dekonstruktion jener europäischen Perspektive, die die
arabische bzw. die islamische Welt hauptsächlich entlang von drei Zäsuren wahrnimmt:
„Die Wiege der Zivilisation steht im Alten
Orient. Die Kreuzfahrer ziehen ins Heilige
Land. Der aktuelle Krisenherd schwelt im Nahen Osten.” (S. 9) Die Auflösung verzerrender
und verzerrter europäischer „Orientperzep-
492
tionen“ bildet eine Klammer um die Beiträge
der an der Universität Wien lehrenden HistorikerInnen, AnthropologInnen, OrientalistInnen, ByzantinistInnen, GeografInnen und PolitikwissenschafterInnen.
Im Folgenden sollen die inhaltlichen, regionalen und epochalen Schwerpunktsetzungen des Sammelbandes kursorisch angerissen werden, ehe dann eine Bewertung vor
der Folie der eingangs dargestellten Kritik
stattfindet. Der Geograf Heinz Nissel zeigt
in seiner disziplinhistorischen Aufarbeitung
die Schwierigkeit den betreffenden „Kulturerdteil“ begrifflich zu fassen. In Folge des von
Edward Said – dem Nissel kritisch gegenübersteht – ab den späten 1970er-Jahren vorgebrachten Orientalismus-Vorwurfes setzten
sich die Bezeichnungen „arabische Welt“ und
„islamische Welt“ durch. Nissel führt aus,
dass auch diese Benennungen viele chronologische und regionale Unterschiede einebnen
und insofern Verwirrung stiften, als zum Beispiel die größten muslimischen Bevölkerungen (Indonesien, Indien, Iran, Bangladesh, Pakistan) gerade nicht in arabischen Ländern leben, wobei letztere allerdings das historische
und religiöse Zentrum des Islam bilden. Auch
die innerislamische Abgrenzung des „Dar alIslam“ (Haus des Islam) bietet letztlich nur
dann wissenschaftliches Erklärungspotential,
wenn die muslimische Welt „als Netzwerk
sozialer Interaktionen, symbolischer Systeme
und bestimmter Alltagspraktiken“ (S. 24) aufgefasst wird. Claudia Kickinger und Gabriele Rasuly-Paleczek beschäftigen sich in ihren
Beiträgen mit Aspekten nomadischer Lebensweise. Rasuly-Paleczek rückt dabei Zentralasien, das in der populären eurozentrischen
„Orientwahrnehmung“ häufig völlig ausgeblendet wird, in den Fokus.
Khaled Hakami zeigt in seinem Beitrag
zur Wahrnehmung der antiken Zivilisationen
Ägyptens und Mesopotamiens, dass „[m]it
Theorien, die eher unschöne Dinge wie ökologische Zwänge, Bevölkerungsdruck und
Krieg als eigentlichen Motor der gesellschaftlichen Entwicklung sehen, [...] natürlich kein
Schulbuch zu machen [ist]. [...] Viel lieber
sehen wir Ägypten als das ‚Geschenk des
Nils’ (Herodots Worte) und die großen Entwicklungen als die ‚großartigen Leistungen
der Menschheit‘, die natürlich in direkter Li-
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
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I. Steffelbauer u.a. (Hrsg.): Vom alten Orient zum Nahen Osten
nie zu uns modernen Europäern reichen.”
(S. 53) Dass selbst in der einschlägigen mediävistischen Forschung die Darstellung der
Kreuzzüge vielfach zu eindimensional gerät,
können Peter Feldbauer und Michael Mitterauer nachweisen. Indem sie das innereuropäische Vorgehen gegen die „Feinde der
Christenheit“ (z. B. gegen Albigenser und
Hussiten) und nicht-religiös inspirierte kriegerische Auseinandersetzungen mit den Sarazenen (Araber) hervorheben, machen sie
deutlich, dass die „Konvention der ‚gezählten Kreuzzüge‘ [...] eine verengte Perspektive [schafft]”. (S. 140) Die zwischen den Einflusssphären mehrerer Machtzentren gespaltene islamische Welt erfuhr auch unabhängig von den Kreuzzügen oft strukturbedingte und teils krisenhafte Veränderungen, wobei es partiell auch zu Kooperationen mit den
„Franken“ kam.
Im Zuge eines möglichen EU-Beitritts der
Türkei gewinnen Beiträge, die sich jenseits klischeebehafteter Vorstellungen von
„Abendland“ und „Morgenland“ mit dieser
imaginierten Grenze Europas auseinandersetzen, an besonderer Relevanz. Ilja Steffelbauer
liefert in „Hellenismus und Orient“ eine spannende Darstellung zu hellenistischen Städteund Staatsgründungen bzw. zum „Hellenismus als ein[em] globale[n] – natürlich nur im
Sinne der antiken Ökumene – soziökonomische[n] wie auch kulturelle[n] Wandlungsprozess“. (S. 80) Damit werden jene Bilder von
den heroischen Eroberungsfeldzügen Alexander des Großen, mit denen jedes europäische
Schulkind sozialisiert wird, zumindest erweitert. Wolfgang Felix‘ herrscherzentrierte Abhandlung über mehr als ein halbes Jahrtausend römisch-persischer Beziehungen („Pompeius bis Herakleios“) passt hingegen eher in
ein enzyklopädisches Nachschlagewerk zur
Antike als in einen interdisziplinären Sammelband. Kartenmaterial und chronologische
Auflistungen der Regentschaftszeiten wären
auf alle Fälle notwendig gewesen, um den
Beitrag anschaulicher und nachvollziehbarer
zu gestalten. Das komplexe Herrschafts- und
Verwaltungssystem des Osmanischen Reiches
steht schließlich im Mittelpunkt des detailreichen Aufsatzes von Marlene Kurz, der auch
in die osmanische Terminologie einführt.1
1 In
diesem Zusammenhang muss Kritik bezüglich un-
2007-3-050
Herbert Eisenstein und Thomas Schmidinger konstatieren, dass die Gesellschaften der
islamischen Welt ebenso wenig statisch sind
wie jene Europas und Amerikas und leiten
damit in die unmittelbare Gegenwart über.
Während Eisenstein die Periode vom Zerfall des Osmanischen Reiches, der europäischen Kolonisierung und der Dekolonisierung unter die Lupe nimmt und neben Länderbeispielen auch Aspekte der Parteienentwicklung (Wafd-Partei in Ägypten und Ba‘thPartei im Irak und in Syrien) sowie abrissartig bewaffnete internationale Konflikte unter
die Lupe nimmt, fokussiert Schmidinger auf
die rezentesten Ereignisse in der Region. Neben den äußerst informativen Ausführungen
zum Irak-Krieg, zum Libanonkrieg 2006, zum
Nahostkonflikt und zum Islamismus bearbeitet er auch Themenbereiche wie Feminismus
und Lesben- und Schwulenbewegungen in
arabischen Gesellschaften. Ebenfalls erwähnt
wird die zunehmende Implementierung neoliberaler Wirtschaftsmodelle nicht nur in den
meisten Golfstaaten, sondern auch in Jordanien und im Libanon und die damit verbundenen sozialen Probleme.
Den Herausgebern gelingt es in „Vom Alten Orient zum Nahen Osten“ eine breite Themenpalette unterzubringen. Wiewohl
kein Anspruch auf eine erschöpfende Darstellung von jahrtausendelangen Entwicklungen
besteht, werden zahlreiche Momente irreführender europäischer „Orientwahrnehmungen“ aufgezeigt. Trotzdem muss unterschieden werden, ob Versatzstücke oberflächlicher
Schulbuchgeschichtsschreibung und klischeehafter Nachrichtenbilder einer allgemeinen
Öffentlichkeit zur Disposition stehen oder ob
sich die Kritik an die jeweilige fachwissenschaftliche Beschäftigung mit der Region richeinheitlicher Schreibweisen vor allem an die Herausgeber adressiert werden. Sie betonen zwar, dass die Transkription arabischer Wörter nach den Regeln der Deutschen Orientgesellschaft erfolgt, wobei im Text vielfach
die diakritischen Zeichen ausgelassen werden oder
auch ägyptische Schreibweisen vorkommen. Während
sich auch philologisch nicht bewanderte LeserInnen
bei Jihad – Dschihad – Gihad noch orientieren können,
wird es schwieriger, wenn Marlene Kurz die irakische
Stadt Nacaf in türkischer Orthografie schreibt oder JüdInnen und ChristInnen als Schutzbefohlene des Islam gemäß der persisch-türkischen Aussprachetradition als „zimmi“ bezeichnet, während in deutschsprachigen Publikation die arabische Schreibung „dhimmi“
üblich ist (vgl. S. 203).
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
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493
Außereuropäische Geschichte
tet. In dieser Hinsicht differieren die Beiträge mithin beträchtlich. Durchaus als Imperativ an beide AdressatInnenkreise kann
Thomas Schmidingers Schlussstatement verstanden werden, in dem er am Beispiel des
Nahostkonfliktes, der in den Medien und vielen wissenschaftlichen Debatten im Vergleich
mit anderen Krisenherden überrepräsentiert
ist, mehr Distanz und (Selbst-)Reflexion moniert: „Nachrichten aus dem Nahen Osten
dringen so immer auch in unser Unbewusstes
ein, sind nicht nur Nachricht, sondern berühren uns auf seltsame Weise mehr als ebenso
lang andauernde Konflikte, sei es in Sri Lanka
oder Westpapua. [...] Vielleicht ist dies einer
der Gründe, warum nur sehr wenige europäische Beobachter – seien es Politiker, Journalisten oder Intellektuelle – versuchen, ernsthaft
den Konflikt als solchen zu verstehen und den
Fokus auf die Akteure und Betroffenen in der
Region zu legen, ohne sich sofort in jeder Frage reflexhaft als Kriegspartei zu imaginieren.”
(S. 269)
HistLit 2007-3-050 / Elisabeth Kübler über
Steffelbauer, Ilja; Hakami, Khaled (Hrsg.):
Vom Alten Orient zum Nahen Osten. Essen 2006.
In: H-Soz-u-Kult 20.07.2007.
Tyrrell, Ian: Historians in Public. The Practice
of American History, 1890-1970. Chicago: University of Chicago Press 2005. ISBN: 0-22682194-3; 312 S.
Rezensiert von: Katja Naumann, Zentrum für
Höhere Studien, Universität Leipzig
Die Auseinandersetzung mit der Geschichte
des eigenen Faches rückt nicht allzu oft in
das Zentrum des Forschungsinteresses von
Historikern, obwohl sie sich längst professionalisiert hat und jüngst von der Konjunktur erinnerungskultureller wie imperiengeschichtlicher Fragestellungen profitierte. Dies
gilt auch für die US-amerikanische Fachgeschichte, unabhängig davon, ob dabei von innen oder außen geschaut wird. Um so größere Aufmerksamkeit sollte der Studie von
Ian Tyrrell über „Historians in Public“ zuteil werden, zumal Tyrrell, Professor für amerikanische Geschichte an der University of
494
New South Wales in Sydney, schon mehrfach kenntnisreich zur Disziplinengeschichte
in den USA publiziert hat. In seinem jüngsten Beitrag wendet er sich in einem bislang
kaum beachteten Aspekt der Historiographiegeschichte zu: den Beziehungen professioneller, das heißt universitär angebundener Historiker, zu jenen, die außerhalb von Universitäten Geschichte betrieben haben, sowie zu
ihrem Publikum jenseits der eigenen Fachöffentlichkeit.
Als Ausgangspunkt nimmt er die gegenwärtig in den USA innerhalb des Faches erhobene Klage über den Relevanzverlust wissenschaftlicher Vergangenheitsdeutung in der
öffentlich-politischen Aushandlung von Geschichtsbildern und hält ihr entgegen: „I will
argue, that the threat to history is a recurrent, exaggerated, and often misunderstood
one and that history has adapted to and influenced its changing publics more than the
profession is given credit for.“ (S. 2) USamerikanische Historiker haben vielmehr eine traditionsreiche Praxis der Intervention in
öffentliche Debatten entwickelt (S. 4). Die vielschichtige Geschichte dieses Eingreifens in
gesellschaftliche Herausforderungen, die sich
wandelnde Position wissenschaftlicher Geschichtsschreibung ebenso wie die fachinternen Auseinandersetzungen um Politisierung
versus Wissenschaftlichkeit präsentiert Tyrrell auf etwas mehr als 300 Seiten in dichter
empirischer Beschreibung.
Seine Ausführungen beginnt der Autor in
den 1890er-Jahren und führt sie bis in die
1960er-Jahre. Denn erst in der Mitte des
20. Jahrhunderts sei es zu einer Distanzierung zwischen Öffentlichkeit und Geschichtswissenschaft gekommen, während die Professionalisierung der Geschichtsschreibung
ab dem Ende des 19. Jahrhunderts keineswegs mit dem Rückzug aus dem öffentlichen Raum und dem Zurückweisen von gesellschaftlicher Verantwortlichkeit verbunden
war. Nach dem Zweiten Weltkrieg hingegen
erhielten nichtakademische Leserkreise zunehmend weniger Beachtung, verschwand öffentliches Engagement aus dem professionellen Selbstverständnis, und zwar mit Verweis
auf Kriterien der Wissenschaftlichkeit, und
geriet die Arbeit in Regierungsbehörden in
Verruf. In dieser Zeit entstand auch die heu-
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I. Tyrrell: Historians in Public
te so vertraute Polarisierung zwischen spezialisiertem Experten und öffentlichem Kritiker, wobei Tyrrell den entscheidenden Grund
in dem schwindenden Einfluss der „progressive historians“ innerhalb der eigenen Disziplin ausmacht, die für eine „democratization of learning“ und die „utility of history
for civic responsibility“ eingetreten waren (S.
6). Jene Teile der akademischen Historikerschaft, die gegenüber dem Anliegen der „progressive historians“ skeptisch geblieben waren („conservatives“), verschrieben sich unter
dem Druck einer „New Left“, die sich in den
sechziger Jahren formierte, nun umso mehr
den Kriterien von Objektivität sowie politischer Neutralität und leiteten einen „consolidated cult of detachment“ (ebd.) ein. Zwar
konnte sich ‚public history’ am Rande des Faches zu einer Subdisziplin verfestigen (S. 249),
die vielfältigen Traditionen des Einbringens
historischen Wissens in zeitgenössische Konstellationen gerieten jedoch in Vergessenheit.
In einem einführenden ersten Teil setzt
sich Tyrrell mit jenen Diskussionen seit den
1990er-Jahren auseinander, die um Fragen der
„political correctness“ historischer Deutungen geführt werden. Drei Aspekte seien dabei
verhandelt worden, nämlich „the dangers of
multiculturalism and cultural fragmentation,
the problem of academic specialization, and
the professionalization of history and a concomitant academic distance from the public“(S.
12). Für jeden dieser Debattenstränge werden
beispielhaft Wortführer, Positionen und Konfliktpunkte skizziert, so dass sich eine gute
Einführung in jüngste erinnerungskulturelle
Debatten ergibt.
Daran anschließend führt Tyrrell in die
Auseinandersetzung um die zunehmende
Spezialisierung ein und verweist auf zweierlei: Erstens sei die Rede über Spezialisierung schnell zu einer Chiffre geworden,
mit der verschiedene Aspekte historiographischen Schaffens – wie die Spannung zwischen
Fachsprache und Lesbarkeit oder der Grad
narrativer Kohärenz – thematisiert werden
konnten. Zudem ließen sich mit ihr auch eine Reihe ganz anderer Ziele verfolgen, „such
as the popularization of history, attacks on the
nature of training for university research and
attempts to incorporate new themes in the
discourse of history“ (S. 26).
2007-3-110
Zweitens durchliefen die Auseinandersetzungen über Spezialisierung und öffentliche
Präsenz des Faches unterschiedliche Phasen:
Während zunächst die Vereinbarkeit von Detailforschung und „general history“ keineswegs bezweifelt worden war, sei seit den
1930er-Jahren eine deutliche Tendenz der Profession hin zu Spezialisierung und Konzentration auf Einzelstudien festzustellen. Darauf
reagierte eine immer stärkere Kritik, die für
eine historisch interessierte Leserschaft außerhalb der Universitäten Partei ergriff, da man
besorgt war über „the lack of influence over
public policy, civic debate, and popular culture“ (S. 39).
Zudem lagen dieser Konfrontation zwei
weitere Entwicklungen zugrunde: Die Große
Depression hatte auch unter Historikern zu
hoher Arbeitslosigkeit geführt. Daher versuchten einige die Promotionsausbildung hin
zu mehr Allgemeinwissen zu reformieren,
um die Arbeitsmarktchancen zu erhöhen (S.
33). Ferner stand die Geschichtswissenschaft
in einem Konkurrenzverhältnis mit den neuen Sozialwissenschaften. Auch hierfür versprach ein breiteres Verständnis Vorteile: „history had the potential to explain the other social sciences and to situate human development more intelligibly by its commitment to
including all of the human past in its stories.“
(S. 39)
Für die drei an diese Einführung anschließenden historischen Teile des Buches, die sich
jeweils anderen Sphären öffentlichen Engagements und verschiedenen Adressatenkreisen zuwenden, hat der Autor umfangreiche Bestände aus institutionellen Überlieferungen und individuellen Nachlässe ausgewertet und dabei von vornherein zwei Eingrenzungen vorgenommen: Erstens betrachtete er nur jene Historiker, die sich mit
US-amerikanischer Geschichte befassten und
ließ demnach die Historiographie zu anderen
Weltregionen, einschließlich Europas, außen
vor. Zweitens beschränkte er sich auf nationale Bedingungsfaktoren, wenngleich er eingangs darauf hinweist, dass Wissenstransfer
und internationale Entwicklungen in der Historiographie Einfluss ausgeübt hätten.
Der zweite Abschnitt des Buches („Historians and the Masses, 1890-1960“) widmet sich dem Verhältnis akademischer Ge-
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495
Außereuropäische Geschichte
schichtsschreibung zu einem Massenpublikum, also den „general readers“, Kinogängern, Fernsehkonsumenten sowie Radiohörern. Grundsätzlich hält Tyrrell fest,
dass trotz fortschreitender Professionalisierung und Spezialisierung historischer Forschung ein beachtlicher Teil der Historikerschaft beständig ein breites Publikum zu erreichen bemüht war. Obwohl unter anderem
1938 innerhalb des Historikerverbandes, der
American Historical Association (AHA), eine Initiative zur Herausgabe einer populärwissenschaftlichen Zeitschrift gescheitert war,
kooperierten seit den 1920er-Jahren Journalisten, Intellektuelle, Fachhistoriker und Verlagshäuser in vielfältigen Projekten. Sie reagierten damit auf ein gesellschaftliches Interesse an US-amerikanischer Geschichte in
der Folge des Ersten Weltkrieges sowie auf
den Bedarf an einer Vergewisserung der eigenen Traditionen im Zuge der Reformen des
New Deals. Allerdings erwies sich diese Zusammenarbeit im Verlauf der 1940er-Jahre als
immer schwieriger und kam in der folgenden Dekade ganz zum Erliegen. Tyrrell sieht
dies im Wesentlichen in einer veränderten
Erwartungshaltung gegenüber Vergangenem
begründet: „Rather than history as explanation for the present, people in the age of the
bomb and American world power sought the
less critical terrain of ‘heritage’.“ (S. 71) Das
Aufkommen neuer Medien änderte zwangsläufig die Formen und Wege des Ansprechens
und Erreichens eines breiten Publikums. Im
Umgang mit neuen Medien wie Radio und
Fernsehen fiel es offensichtlich um einiges
leichter, historisch-wissenschaftliche Inhalte
über Hörfunksendungen zu vermitteln, als
Einfluss auf kommerzielle Spielfilme zu nehmen oder gar eigenständige Fernsehsendungen zu produzieren. Die Aktivitäten reichten
vom Betreiben universitätseigener Rundfunkstationen über die Ausstrahlung von Vorlesungen und ganzen Kursen auf kommerziellen Radiowellen bis hin zu einem Hörprogramm der AHA, welches ab 1937 zehn Jahre
lang gestaltete wurde.
Dem Einfluss akademischer Geschichtswissenschaft auf Schulen und Colleges wendet sich Tyrrell im nächsten Teil („The Problem of Schools“) zu. Tyrrell macht zum
einen auf vielfältige Initiativen der AHA hin-
496
sichtlich der Gestaltung des Geschichtsunterrichtes seit den 1890er-Jahren aufmerksam
und interpretiert sie überzeugend als Reaktion auf die andauernde öffentliche Forderung nach einer verbesserten Geschichtsvermittlung, die von ganz unterschiedlichen Akteuren mit noch unterschiedlicheren Interessen artikuliert wurde: „From the 1910s onward politicians, newpaper editors, and interest groups lobbied to boost U.S. history [...]
and force American school history to conform
with patriotic ideals. This drive began during
the hypernationalist phase of World War I. In
the 1920s it took a new twist as Irish Americans and Catholics strove to defeat what they
saw as Anglo bias in university-authored history texts [...]. In the mid 1930s the focus sharpened into anti-Communist pressure to explore Marxist influence on textbooks.“ (S. 115)
Die Haltung von Fachhistorikern gegenüber diesen Erwartungen wandelte sich mit
dem Beginn des zweiten Weltkrieges auffallend: Hatte man bis dahin professionelle Distanz zu politisch motivierten Forderungen
zu wahren gesucht, verschrieb sich nun die
Mehrzahl bereitwillig dem Plädoyer für die
Konzentration auf die Nationalgeschichte in
Dienste des Vaterlandes. Zwar wurde anfangs
noch überlegt, ob amerikanische Geschichte
„in terms of a broader international context“
(S. 136) gelehrt werden sollte, doch verloren
sich solche Ansätze je länger der Krieg andauerte. Die Einschätzung Tyrrells, dass die Geschichte anderer Länder zunehmend aus dem
disziplinären Kanon verdrängt wurde, bedarf
allerdings weiterer Begründung: Denn weder
zeigt er quantitativ auf, dass die Geschichte
anderer Länder in den Lehrplänen und Textbüchern tatsächlich abgenommen hätte, noch
geht er dem Aufschwung der „area studies“
und deren Integration in die historische Lehre (zumindest) am College nach. Überzeugend beschreibt er hingegen die Herausforderung, die das in den 1920er-Jahren entstehende Fach der „social studies“ bedeutet haben musste, aus der sich schließlich auch das
– bislang in der Forschung unbeachtet gebliebene – Ringen der AHA mit neuen bildungspolitischen Institutionen, wie der „National Education Association“, dem „National Council for the Social Studies“ oder der
„Progressive Education Association“, ergab.
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
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Susannah Walker: Style and Status
Wichtig ist ferner der Hinweis, das Verhältnis universitär angebundener Historiker zum
Unterricht an den Schulen erkläre sich wesentlich aus zwei strukturellen Bedingungen
des US-amerikanischen Bildungssystem: Als
ein „product of cultural diversity und mass
education“ (S. 142) ohne landesweite Lehrplanvorgaben seien Reformen nur schrittweise und mühsam durchzusetzen. Erschwerend
sei zudem die fehlende Basis institutioneller
Kooperation zwischen Geschichtslehrern und
Fachhistorikern.
Im letzten Teil des Buches („Public Historians“) untersucht Tyrrell die Integration
von professionellen Historikern in Arbeiten
für die Regierung und staatliche Behörden.
Auch hier widerspricht er der fachinternen
Wahrnehmung und unterstreicht, „they did
intervene in the production of public knowledge and allied their efforts closely to those of the nation-state“ (S. 153). Diese Interventionen seien am nachhaltigsten zwischen
den 1930er- und 1950er-Jahren gewesen. Der
Schlüssel zum Verständnis dieses Verhältnisses läge in der Rolle des Staates: „All aspects
of the state’s history-making functions were
fragmented and ineffective“ (S. 155), und daher bedurfte es besonderer Formen des Zusammengehens, anderer zumindest als der
europäischen Anbindung an den Nationalstaat, worauf Tyrrell explizit hinweist. Während zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts akademische Historiker zunächst vereinzelt in „local historical societies, city administrations and state governments“ arbeiteten, setzte in den 1930er-Jahren eine viel intensiveres Einbindung in staatliche Strukturen ein (unter anderem dem „U.S. Departmet of Agriculture“, dem „National Park Service“ oder den „National Archives“). Die
geschichtspolitischen Aktivitäten der Regierung nahmen vor allem während des Zweiten
Weltkriegs zu und banden immer mehr Fachhistoriker ein: „by 1945, at least 50% of professional historians aged twenty-five to forty had
engaged in some type of war-history activity“
(S. 187). Schließlich wird noch ein weiterer Bereich der Kooperation mit staatlicher historischer Forschung aufgezeigt: das „state und local history movement“. Dabei wird deutlich,
wie sich diese ‚grass-root’-Bewegung zunehmend nach Standards der akademischen His-
2007-3-092
toriographie professionalisierte und damit in
Konkurrenz zu ihr trat sowie zugleich ‚amateur historians’ aus dem professionellen Feld
verdrängte. Dieser Prozess war zudem von einer stetigen Nationalisierung der Lokal- und
Regionalgeschichtsschreibung begleitet.
Mit dieser Studie liegt ein eindrucksvolles
Buch vor, das nicht nur eine Leerstelle in der
Forschungslandschaft füllt, sondern auch mit
Hilfe einer konsequenten Historisierung gegenwärtige Selbstbeschreibungen des Faches
hinterfragt. Dass der Vergleich mit Großbritannien und Frankreich am Ende einiger Kapitel unbefriedigend bleibt, ist dabei zu verschmerzen. Dieser Verortung der Historiographiegeschichte in ihrem gesellschaftlichen
und politischen Kontext, und zwar als Handlungsraum und nicht nur Bedingungsgefüge, kann man nur viele Leser/innen zu wünschen, auch weil das Buch über die engere Problemstellung hinaus gleichsam ein Gesamtbild der Profession in den USA entwirft.
HistLit 2007-3-110 / Katja Naumann über Tyrrell, Ian: Historians in Public. The Practice of
American History, 1890-1970. Chicago 2005. In:
H-Soz-u-Kult 10.08.2007.
Walker, Susannah: Style and Status. Selling Beauty to African American Women, 1920-1975. Lexington: University Press of Kentucky 2007.
ISBN: 978-0-8131-2433-9; 264 S.
Rezensiert von: Silke Hackenesch, Universität zu Köln, Historisches Seminar, AngloAmerikanische Abteilung
„African American beauty culture was distinctive because it explicitly reflected and articulated twentieth-century racial politics in
the United States“ (S. 3), konstatiert Susannah Walker in der Einleitung zu „Style
and Status. Selling Beauty to African American Women, 1920-1975“. Mit ihrer Arbeit
über die Entstehung und Entwicklung der
afrikanisch-amerikanischen Schönheitsindustrie lässt sie sich in eine relativ junge Forschungslandschaft einordnen, die sich mit
der Konzeption und Bedeutung von Schönheitsidealen für African-Americans auseinandersetzt. Wie verschiedene Autorinnen ge-
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Außereuropäische Geschichte
zeigt haben, lassen sich anhand von Haarfrisuren und Kosmetikartikeln, beziehungsweise deren Bewerbung, distinkte Vorstellungen von „race“, „class“, und „gender“ ablesen. Diese konstituieren sich innerhalb eines Spannungsfeldes, in dem sich vor allem afrikanisch-amerikanische Frauen in einer weißen Mehrheitsgesellschaft, die ihnen
ihre Schönheitsideale zu diktieren versucht,
bewegen und in der sie sich Handlungsspielräume erkämpfen.1
In „Style and Status“ wählt Walker einen
konsumgeschichtlichen Zugang, der einer
chronologischen Ordnung folgt. Ziel ihrer
Arbeit ist es, die afrikanisch-amerikanische
„Schönheitskultur“ („beauty culture“) zu untersuchen, indem sie zum einen Werbeanzeigen von Kosmetikartikeln in Printmedien analysiert, und zum anderen die Entstehung und Entwicklung der Kosmetikindustrie für Afroamerikanerinnen nachzeichnet (S. 7). Walker betrachtet „beauty culture“, verstanden hier als Schönheitspflege
und -industrie, als den zentralen Bereich, in
dem African-Americans aktiv an der amerikanischen Konsumkultur partizipierten. Nicht
nur, dass sie trotz oft geringerer Einkommen verhältnismäßig mehr Geld für Kosmetika ausgaben, mehr noch, „beauty culture was
one industry that flourished in black communities, and it was an industry dominated by
black businesswomen“ (S. 7).
Walker zeigt gleich zu Beginn das Spannungsverhältnis zwischen „consumer citizenship“ und „black business nationalism“ auf
(S. 7). Letzterer resultierte aus der bis Mitte des 20. Jahrhunderts praktizierten Segregation, die African-Americans dazu zwang,
eine eigene Schönheitsindustrie zu etablieren, die sich als äußerst lukrative ökonomische Nische erwies (S. 21). Folglich wurde versucht, obgleich mit schwindendem Erfolg, „weiße“ Firmen aus diesem profitablen
Geschäftszweig heraus zu halten. Ein Artikel von 1935 in dem Branchenblatt „Apex
1 Vgl.
Banks, Ingrid, Hair Matters. Beauty, Power, and
Black Women’s Consciousness, New York 2000; Blackwelder, Julia K., Styling Jim Crow. African American
Beauty Training During Segregation, College Station,
TX 2003; Craig, Maxine, Ain’t I a Beauty Queen? Black
Women, Beauty, and the Politics of Race, Oxford, New
York 2002; Rooks, Noliwe M., Hair Raising. Beauty,
Culture, and African American Women, Piscataway, NJ
1996.
498
News“ beispielsweise verglich den Vorstoß
euro-amerikanischer Unternehmen mit Mussolinis Invasion in Äthiopien (S. 22). „Consumer citizenship“ implizierte auf der anderen Seite jedoch, dass African-Americans
als gleichwertig finanzstarke Konsumenten
wahrgenommen und in der Werbung adressiert werden wollten, auch und gerade von
großen marktführenden Unternehmen. In der
Nachkriegszeit schließlich rückten AfricanAmericans, von denen inzwischen 60 Prozent
in den Städten des Nordens lebten und höhere Einkommen erzielten (S. 121), stärker
in das Blickfeld „weißer“ Firmen. Gleichzeitig etablierten sich Hochglanzmagazine wie
zum Beispiel „Ebony“ mit hohen, landesweiten Auflagen, in denen große, überregionale
Unternehmen, die meist über größere finanzielle Mittel verfügten, Anzeigen für ihre Produkte schalteten (S. 95). Dabei bedienten sie
sich oft einer Rhetorik, die suggerierte, dass
es sich um afrikanisch-amerikanische Firmen
handelte (S. 24f., 43f.). Ein weiterer Eckpfeiler
der Expansion dieses Marktes waren Kosmetiksalons. Kamen Kosmetikerinnen und Friseurinnen in den 1920er- und 1930er-Jahren
noch zu ihren Kundinnen nach Hause oder
betrieben kleine Salons in ihren Nachbarschaften, so entstanden in den späten 1940erund 1950er-Jahren in allen großen Städten des
Nordens Kosmetiksalons, die in erster Linie
mittelständische Kundinnen anzogen (S. 115117).
In ihrer Analyse der Bewerbung von Schönheitsprodukten für Haut und Haare zeichnet
Walker überzeugend deren rhetorischen Wandel nach. In den 20er- und 30er-Jahren, in denen die Schönheitskultur zusehend kommerzialisiert wurde, bewarben Pioniere wie Madam C. J. Walker und Annie Turbo Malone
Produkte wie „hair straighteners“ und „skin
bleaching creams“ als Mittel, die weibliche
Attraktivität zu maximieren und somit mehr
Respektabilität und ökonomische Unabhängigkeit zu erlangen, wobei sie stets den Nutzen für die gesamte „schwarze“ Community unterstrichen (S. 66). In der Nachkriegszeit hingegen lag der Fokus stärker auf einem glamourösen, femininen Erscheinungsbild, um den Wert auf dem Heiratsmarkt zu
steigern (S. 109). Die Produkte selber waren keinesfalls unumstritten und führten in-
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
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H. Walravens: Joseph Franz Rock (1884-1962)
nerhalb der afrikanisch-amerikanischen Communities zu hitzigen Debatten, die die Autorin in ihrer ganzen Komplexität skizziert.
Zum einen brauchte es eine Weile, bis Kosmetika als „modern“ galten und keinen „verruchten“ Beigeschmack mehr hatten (S. 32);
zum anderen sahen sich Madam Walker und
Malone dem Vorwurf ausgesetzt, sie würden
mit ihren Produkten ein „weißes“ Schönheitsideal propagieren, dass „schwarze“ Frauen
von vornherein als unattraktiv konstruiere.
Dem entgegneten sie, dass „hair straightening“ keineswegs als Versuch, „weiß zu werden“ interpretiert werden, sondern vielmehr
der Pflege und Handhabbarkeit dienen sollte. In den folgenden zwanzig Jahren wurden
die Techniken des „straightening“ immer weiter entwickelt und die Praktik als solche nicht
mehr hinterfragt (S. 124).
Vor dem Hintergrund der Bürgerrechtsbewegung in den 1940er- und 1950er-Jahren „integrierten“ afrikanisch-amerikanische Firmen
ihre Anzeigen, indem sie nicht nur „schwarze“, sondern auch „weiße“ Models abbildeten (S. 145). Dies mag verwunderlich erscheinen, richteten sich die beworbenen Produkte
doch ausschließlich an Afroamerikanerinnen.
Walker argumentiert jedoch, dass damit vielmehr eine multikulturelle Vision kommuniziert wurde, ein Ideal der Gleichheit, was den
politischen Wunsch der Zeit reflektieren sollte
(S. 160).
Schließlich widmet sich die Autorin der
Neudefinition von „schwarzer“ Schönheit,
die unter dem Einfluss des „Black Power Movement“ popularisiert worden ist. Obwohl
geglättetes Haar zu jedem Zeitpunkt die favorisierte Frisur bei Afroamerikanerinnen war,
galt der Afro, der eigentlich in einem Modetrend im New York der späten 50er-Jahre
wurzelte2 , als „natürlicher“ style, der wie
kein anderer „schwarze“ nationalistische Politik ausdrückte (S. 182). Gleichzeitig wurde der Afro als Rückgewinnung der eigenen Körperlichkeit deklariert und brach mit
gängigen Vorstellungen von Femininität (S.
179f.). Das Vermarktungs- und Verkaufspotenzial des Afros schnell erkennend, überfluteten Produkte den Markt, die sich einer
„black pride“-Rhetorik bedienten (S. 171f.,
2007-3-170
186). Die afrikanisch-amerikanische Schönheitsindustrie war jedoch nicht ausschließlich
enthusiastisch. Skeptiker befürchteten, dass
der Stil, entgegen seiner politischen Konnotation, den „schwarzen“ Communities schaden
würde, da den Friseursalons die Kundschaft
ausblieb, wenn Frauen ihre Haare „natürlich
wachsen“ ließen (S. 189).
Durch die chronologische Vorgehensweise Walkers ergeben sich an manchen Stellen
Redundanzen, und bei der – im ganzen recht
„theoriearmen“ – Lektüre wird aufgrund
mangelnder Verweise stellenweise nicht klar,
aus welchen Quellen die Autorin ihre Informationen bezieht. Zudem schenkt Walker bei
ihrer Diskussion von „straightened hairstyles“ dem „gender“-Aspekt nicht immer die
nötige Aufmerksamkeit, beispielsweise wenn
sie den „conk“ mit „straightening“-Techniken
für Frauen gleichsetzt (S. 106, 141). Der
„conk“ muss vielmehr als eine Mimikry von
„weißem“, männlichen Haar gelesen werden,
der in den 1940er-Jahren vor allem von „hustlern“ getragen wurde und sämtlichen Konventionen trotzte, die vorgaben, wie bürgerliche, respektable Männer, gleich ob „schwarz“
oder „weiß“, auszusehen hatten. Dahingegen
stand geglättetes Haar bei Afroamerikanerinnen in Übereinstimmung mit MittelklasseNormen.3
Dennoch gelingt es Walker anschaulich,
das Paradoxon aufzuzeigen, in dem sich die
„schwarze“ Schönheitsindustrie permanent
bewegte. Mit ihrem Fokus auf die Kommerzialisierung und Expansion der afrikanischamerikanischen Schönheitskultur leistet sie
einen originären Beitrag zu diesem Forschungsgebiet.
HistLit 2007-3-092 / Silke Hackenesch über
Walker, Susannah: Style and Status. Selling Beauty to African American Women, 1920-1975. Lexington 2007. In: H-Soz-u-Kult 06.08.2007.
3 Mercer,
2 Kelley,
Robin D. G., Nap Time. Historicizing the Afro,
in: Fashion Theory, 1, 4 (1997), S. 339-352, hier S. 341.
Kobena, Black Hair/Style Politics, in: Gelder,
Ken; Thornton, Sarah (Hrsg.), The Subcultures Reader,
London, New York 1997, S. 420-435, hier S. 432.
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
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499
Außereuropäische Geschichte
Walravens, Hartmut: Joseph Franz Rock (18841962). Tagebuch der Reise von Chieng Mai nach
Yünnan, 1921-1922. Briefwechsel mit C. S. Sargent, University of Washington, Johnannes Schubert und Robert Koc. Wien: Verlag der österreichischen Akademie der Wissenschaften 2007.
ISBN: 978-3-7001-3830-3; 580 S.
Rezensiert von: Evelyn Gottschlich, Frühe
Neuzeit, LMU München
Joseph Franz Rock war ein Geograph, Sprachwissenschaftler und Botaniker, der sich mit
seinen Studien über die Flora Hawaiis und
Chinas einen Namen machte. Von 1922 bis
1949 lebte er im Südwesten Chinas in der
Nähe von Lijiang und erforschte die Kultur
der Naxi, später eine der anerkannten Minderheiten in der Volksrepublik China. Seine
letzten Jahre verbrachte er auf Reisen in den
USA, Europa, der Himalayaregion und Hawaii. Sein umfangreicher Nachlass wird von
Hartmut Walravens ausgewertet, der bereits
mehrere Quelleneditionen1 zu Rock herausgegeben hat. Vermutlich aus diesem Grund
fehlen in dem vorliegenden Band umfangreiche biographische Angaben zu Rock. Walravens weist lediglich auf die bereits zu seiner
Person erschienene Literatur hin. Den chinesischen Titeln fügt er eine kurze Inhaltsangabe
bei.
In dem vorliegenden Band werden die Zusammenarbeit und die persönlichen Verbindungen Rocks zu den führenden Fachwissenschaftlern seiner Zeit sichtbar. Die Briefwechsel und das Tagebuch Rocks sind aussagekräftige Quellen zur Erforschung der internationalen Wissenschaftsgeschichte.
So nahm die institutionelle Tibetologie in
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts langsam Gestalt an und Rock korrespondierte mit
1 Walravens,
Hartmut (Hrsg.), Joseph Franz Rock. Briefwechsel mit Egbert H. Walker, 1938-1961 (=Österreichische Akademie der Wissenschaften, philosophischhistorische Klasse Sitzungsberichte, 738. Band), Wien
2005; ders. (Hrsg.), Joseph Franz Rock (1884-1962). Berichte, Briefe und Dokumente des Botanikers, Sinologen und Nakhi-Forschers. Mit einem Schriftenverzeichnis (= VOHD Supplement 36), Stuttgart 2002;
ders. (Hrsg.), Joseph Franz Rock. Expedition zum
Amnye Machhen in Südwest-China im Jahre 1926. Im
Spiegel von Briefen und Tagebüchern (= Orientalistik
Bibliographien und Dokumentationen 19), Wiesbaden
2003.
500
ihren wichtigsten Vertretern: zum Beispiel Giuseppe Tucci, dessen Quelleneditionen bis
heute relevant sind, Turrell Wylie, der die
heute gebräuchlichste Transliterationsschrift
für Tibetisch verfasste und Johannes Schubert,
der in Leipzig den ersten deutschen Lehrstuhl für Tibetologie inne hatte. Die Tibetologie wurde oft über den religiösen Aspekt
mit der Indologie verknüpft – die hier deutliche Kooperation von Sinologen und Tibetologen korrigiert dieses Bild und weist auch auf
manchmal ganz pragmatische Gründe für die
Zusammenarbeit hin. Die Quellen bieten viel
für eine Geschichte der Tibetologie und Sinologie, auch für die einzelnen Forscherbiographien. Arbeiten zu diesen Themen sind wünschenswert, da sich bisher nur vereinzelte Publikationen damit beschäftigen.2
Walravens will mit dem vorliegenden Werk
auf folgende Aspekte von Rocks Leben hinweisen: a) die Rezeption seiner Arbeit in
den USA, b) seine spätere Schaffensphase,
c) sein persönliches Handeln und Fühlen,
d) weitere Details zum Verlauf der AmnyeMachhen-Expedition3 , e) Rocks Bereitschaft
zur Teamarbeit, f) Rocks Reiseroute (1926) im
Vergleich zu der von Major Davies (1909).
Im weiteren Verlauf der Einleitung spricht
Walravens unter den Überschriften „Biographisches“, „Persönliches Leben“, „Neffen“,
„Amerika“, „Deutschland“, „Veröffentlichungen“, „Wissenschaftliche Beziehungen“ und
„Bibliothek“ die Interpretation einzelner Textstellen an (S. 10–18). Diese Hinweise auf mögliche Lesarten der Quellen sind aufschlussreich und interessant. Die Deutungen können
als Einladung verstanden werden, sich unter
den von Walravens angesprochenen Perspektiven mit der Person Rocks zu beschäftigen.
Der Herausgeber selbst liefert keine weitergehende Analyse.
In der Edition folgt der eher knappen Einführung der Abdruck einiger amerikanischer
Zeitungsartikel zu Rocks Reisen und Arbeiten
zwischen 1921 und 1934 sowie ein Leserbrief
Rocks von 1955 (S. 19–34). Die Artikel berich2 Z.B.
Martin, Helmut; Hammer, Christiane (Hrsg.),
Chinawissenschaften. Deutschsprachige Entwicklungen. Geschichte. Personen. Perspektiven. (=Mitteilungen des Instituts für Asienkunde Hamburg 303), Hamburg 1999.
3 Vgl. Walravens (Hrsg.), Joseph Franz Rock. Expedition
zum Amnye Machhen (wie Anm. 1).
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
© Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart
H. Walravens: Joseph Franz Rock (1884-1962)
ten meist enthusiastisch über die Reisen und
Entdeckungen Rocks und sind für die Untersuchung der öffentlichen Resonanz auf Rock
und seine Arbeit relevant.
Anschließend werden mehrere Briefwechsel von Rock mit Fachkollegen und Freunden sowie mit seinem Neffen ediert. Zunächst werden die Briefe von Rock und Wissenschaftlern der University of Washington
in den Jahren 1950 bis 1962 zusammengefasst (S. 35–132), in welchen vor allem die
Übergabe von Rocks Bibliothek und weitere
Kooperationen verhandelt wurden. Der Austausch Rocks mit Fachkollegen spiegelt sich
auch in den Korrespondenzen von Rock mit
Charles Sprague Sargent in den Jahren 1924
bis 1927 (S. 225–300) und dem Leipziger Tibetologen Johannes Schubert von 1935 bis 1961
(S. 301–364). Die Briefe bieten einen kontinuierlichen Einblick in die Arbeit Rocks – angesprochen werden unter anderem die Expedition Rocks in das Innere Chinas, konkrete Quellenfunde, Übersetzungen und Treffen mit anderen Kollegen. Teilweise gibt der Schriftverkehr die Meinungen und Urteile Rocks und
der anderen Verfasser in sehr persönlicher
Weise wieder. Die Briefe der Gelehrten sind
nach den ersten Kontakten oft keine offiziellen Schreiben mehr, sondern berichten auch
über das Privatleben, gemeinsame Freunde,
Krankheiten und geplante Reisen. Insgesamt
werden weitaus mehr an Rock adressierte
Schreiben wiedergegeben, als von ihm verfasste. Eine sinnvolle Ergänzung wäre, auf
andere schon veröffentlichte Briefe hinzuweisen. Die Briefe an seinen Neffen Robert Koc
zwischen 1957 und 1962 geben nun Rocks genuine Aussagen wieder. Hier finden sich wiederum nur wenige Antworten Kocs. In diesen Briefen schrieb Rock oft über seine Gefühle und seinen Gesundheitszustand. Diesem
Kapitel beigeordnet ist ein Briefwechsel zwischen Koc und Giuseppe Tucci (S. 133–224).
Auf seiner Reise 1921 bis 1922 von Chieng
Mai nach Yünnan führte Rock das Titel gebende Reisetagebuch (S. 365–533). Neben seiner Reiseroute beschrieb der Botaniker Rock
in langen Absätzen die regionale Pflanzenwelt. Sehr ergiebig sind in diesem Teil die Erzählungen von Begegnungen mit den einheimischen Völkern und ihren Kulten. Auch die
Schilderung der Situationen, in denen Rock
2007-3-170
fotografiert oder versucht, zu fotografieren,
sowie die Berichte über seine fotografischen
Motive sind für die Begegnung der Europäer mit den chinesischen Völkern äußerst aufschlussreich.
Die Veröffentlichung dieser Briefe und Texte, die in verschiedenen Archiven zwischen
Hawaii und Berlin liegen, ist sehr lobenswert. Die chronologische Übersicht über die
Briefe vor jedem Abschnitt und die Register
sind hilfreich, um Textsstellen schnell zu finden. Beim Lesen wird klar, wie vielschichtig und wie eng der Kontakt innerhalb der
Tibetologen- und Sinologenwelt war. Es steckt
noch weitaus mehr in diesen Quellen als die
Punkte, die Walravens aufwirft. Die Verfasser äußerten sich zur politischen Lage in China, zu ihren Arbeiten und Verbindungen. Daneben lassen sich Hinweise zum Beispiel auf
die Sammlungen tibetischer und chinesischer
Quellen oder etwa auf die Reisemöglichkeiten finden. Einen Einblick in die Gefühlswelt
und Motivation Rocks lässt sich natürlich erst
nach einer umfassenden Analyse all seiner
Äußerungen und auch dann nur mit Vorsicht
gewinnen.
Dennoch wäre aus der Edition mehr zu machen gewesen. Bei den meisten Texten vermisst man einen ausführlichen Kommentar.
Es fehlen Anmerkungen zu den Originalquellen. Bei den Zeitungsartikeln wären Informationen zu Layout, Rubrik, Bebilderung etc. interessant; bei den Briefen neben diesen Beschreibungen Kommentare zu dem Verhältnis
von Rock und seinen Briefpartnern, wie sie
Walravens bei der Einführung zu dem Schriftverkehr mit Schubert (S. 301–302) oder vor
den letzten beiden Briefen (S. 535–539) bietet.
Weiterhin fehlen Bemerkungen zur Quellenlage und -auswahl. Gerade weil die veröffentlichten Briefe oft auf Seiten eines Korrespondenzpartners liegen, wäre es wichtig, zu wissen, ob andere Briefe nicht eingesehen werden konnten, anderweitig veröffentlicht wurden oder verloren gegangen sind. Die Anmerkungen zum Inhalt der Briefe sind sehr spärlich, beim Tagebuch fehlen sie ganz. Die Einführung der erwähnten Personen ist im Allgemeinen sehr knapp. Die biographischen Informationen zu seinen Korrespondenzpartnern
Sargent und Schubert muss man in den Fußnoten des ersten Abschnitts suchen (Sargent
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
© Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart
501
Außereuropäische Geschichte
auf S. 50, Schubert S. 80). Unverzeihlich ist
jedoch, dass die Biographie von Rocks Neffen Robert Koc an keiner Stelle erwähnt wird.
Zum besseren Verständnis wäre ein kurzer
Überblick über die Familienverhältnisse, etwa
in der Einleitung unter „Neffen“ (S. 13), sinnvoll gewesen. Die Gliederung des Bandes und
das Inhaltsverzeichnis könnten klarer strukturiert sein. Eine Bibliographie der verwendeten Literatur würde die Edition gut ergänzen.
Insgesamt ist es jedoch ein großes Verdienst
von Walravens, diese handschriftlichen Quellen ediert zu haben. Sie sind für die Wissenschaftsgeschichte wertvoll und auf diese Weise in einer sinnvollen Zusammenstellung zugänglich.
HistLit 2007-3-170 / Evelyn Gottschlich über
Walravens, Hartmut: Joseph Franz Rock (18841962). Tagebuch der Reise von Chieng Mai nach
Yünnan, 1921-1922. Briefwechsel mit C. S. Sargent, University of Washington, Johnannes Schubert und Robert Koc. Wien 2007. In: H-Soz-uKult 04.09.2007.
Walter, Richard J.: Politics and Urban Growth in
Santiago, Chile, 1891-1941. Stanford: Stanford
University Press 2005. ISBN: 0-8047-4982-5;
319 S.
Rezensiert von: Christof Parnreiter, Institut
für Geographie, Universität Hamburg
Chile ist heute mit einem Verstädterungsgrad
von fast 90 Prozent nicht nur eines der Länder
mit dem weltweit höchsten Anteil an Stadtbevölkerung, sondern auch einer der Staaten Lateinamerikas, in dem sich ein sehr hoher – und steigender – Anteil von Bevölkerung, Wirtschaft und sozialer Infrastruktur in
der Hauptstadt Santiago zusammenballt. Wie
wurde Santiago zu einer Stadt, die in Chile alle anderen hinter sich ließ? Diese Frage beantwortet Walter in einer Studie über
die Stadtentwicklung in den fünf Jahrzehnten zwischen 1891, als zum ersten Mal eine Stadtregierung gewählt wurde, und 1941,
als die erste Mitte-Links-Regierung Chiles mit
dem Tod des gewählten Präsidenten Pedro
Aguirre Cerda zu Ende ging. Walter zeichnet
entscheidende Abschnitte von Stadtwachs-
502
tum und –politik auf Basis einer großen Zahl
von Primärquellen nach. Das Buch stellt, so
viel sei vorweg genommen, eine Bereicherung
der Literatur zur lateinamerikanischen Stadt
dar: es ist faktenreich; es richtet sich an HistorikerInnen ebenso wie an StadtgeografInnen oder PlanerInnen; es ist gut lesbar, ohne
den Verlockungen einer populärwissenschaftlichen Darstellung zu erliegen.
Walters Studie ist in 13 Abschnitte gegliedert. Drei sind der Zeit von 1891 bis 1920
gewidmet, vier den 1920er-Jahren, fünf den
1930er-Jahren und ein abschließendes Kapitel den frühen 1940er-Jahren. Zu jedem Jahrzehnt gibt es einen einführenden Überblick,
auf den detailliertere Abschnitte folgen, deren Periodisierung sich an der politischen Geschichte der Stadt orientiert. Ein Schwerpunkt
liegt auf dem öffentlichen Verkehr, weil, so
Walter, dieses Thema nicht nur von großer Bedeutung für die Stadt, ihre BewohnerInnen
und ihre jeweiligen Regierungen war, sondern auch, weil sich hier die Dynamiken lokalen Regierens besonders deutlich herausarbeiten lassen. Im – recht kurzen – Abschlusskapitel stellt Walter der Geschichte Santiagos
die der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires gegenüber (einer Stadt, über die er vor wenigen Jahren ein ähnliches Buch verfasst hat),
um insgesamt mehr Ähnlichkeiten als Divergenzen festzustellen.
Das Buch stellt für Interessierte an lateinamerikanischer Stadtentwicklung einen guten Einstieg dar. Für LeserInnen, die mit aktuellen Debatten der Stadtforschung vertraut
sind, bietet es darüber hinaus eine interessante Blickerweiterung, die sich aus der historischen Betrachtungsweise ergibt. Die Erweiterung um die longue durée zeigt die Beständigkeit bestimmter stadtpolitischer Themen,
was sich gut an den Problemen des öffentlichen Verkehrs erkennen lässt, die in den letzten Monaten ja auch von europäischen Medien berichtet wurden. Konflikte zwischen
der Stadtverwaltung, der Straßenbahngesellschaft und deren Arbeitern ziehen sich durch
die Geschichte Santiagos. Hauptstreitpunkte
waren einerseits die von den Betreibergesellschaften gewünschten Fahrpreiserhöhungen,
die diese mit den Lohnforderungen der Arbeiter rechtfertigten, und andererseits „conflicts, congestion, and confusion as they (Be-
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
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A. Windus: Afroargentinier und Nation
treibergesellschaften von Taxis, Bussen und
Straßenbahn) fought for the same passengers over many of the same routes“ (S. 209).
Wer würde bei dieser Schilderung der 1930erJahre nicht an die heutigen „Wettrennen“ beispielsweise auf der O’Higgins denken?
Die Konflikte um den öffentlichen Verkehr in Santiago enthüllen aber auch ein
weiteres Element der Geschichte der Stadt
(und des Landes), nämlich den sogenannten
„ökonomischen Nationalismus“, der in Chile
auch heute eine im lateinamerikanischen Vergleich relativ große Rolle spielt. In den frühen 1920er-Jahren versuchte etwa die in britischen Besitz stehende „Chilean Tramway and
Light Company“, durch eine Fusion mit einem neu gegründeten chilenischen Unternehmen, durch eine Umbenennung und durch
die Berufung namhafter Chilenen in wichtige
Positionen ihren (schlechten) Ruf als ausländischer Monopolist loszuwerden, um danach
Fahrpreiserhöhungen besser durchsetzen zu
können. Das misslang zwar; in einer Besprechung des Bandes fand die Business History
Review aber in solchen Manövern Beispiele
für die „origins of Chilean hostility to foreignowned businesses“.
Walters Ausführungen zur residenziellen
Segregation bieten ein Beispiel dafür, dass
der historische Blick hilfreich für die aktuelle Stadtforschung ist. Lange dominierte in
der (stadtgeografischen) Forschung das Bild,
Santiago sei, wie andere lateinamerikanische
Städte auch, eine sozialräumlich gespaltene
Stadt, in der Reiche und Arme klar voneinander getrennt seien. Jüngere Arbeiten, die
diesen Befund in Frage stellen, erhalten nun
Schützenhilfe von Walter, der bereits für die
Zeit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert
feststellt, dass „some of the worst housing
[. . . ] could be found close to some of the best“
(S. 10). Das Bild wandelt sich bis zum Ende
der in dem Band behandelten Zeit nicht: Avenida Independencia, eine der Straßen, in denen sich das Stadtwachstum der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts materialisierte,
wird in den 1930er-Jahren in einem zeitgenössischen Bericht als eine sehr heterogene Gegend dargestellt. Ein anderer Beobachter beschreibt in den 1940er-Jahren eine Armensiedlung an den Ufern des Mapocho, die sich in
unmittelbarer Nachbarschaft zum Reichenbe-
2007-3-103
zirk El Golf befindet.
Auch die heute in Santiago geführte Debatte um die Amerikanisierung der Stadt(gestalt)
stellt keine Neuheit dar: In den 1920er-Jahren
und 1930er-Jahren wurden an mehreren Stellen so genannte Wolkenkratzer errichtet, die
von den einen als Ausdruck von Modernität
gefeiert, von den anderen aber wegen ihrer
Monströsität abgelehnt wurden. Beide Seiten,
und das ist hier der springende Punkt, sahen
in den neuen Hochhäusern die Globalisierung
dessen, was sie als US-amerikanische Architektur bezeichneten. So heißt es zustimmend
in einem Bericht der Zeitschrift Zig-Zag, die
Wolkenkratzer zeigten „the advance of North
America towards the extreme south of South
America“ (S. 149), während ein kritischer Bericht in der gleichen Zeitschrift monierte, dass
die aus „Yankilandia“ (S. 148) importierten
Gebäude Santiago von seiner Kultur und seiner Tradition entfremden würden.
Abschließend seien noch zwei kritische
Punkte angeführt. Zum einen ergibt sich aus
der Themenstellung des Buches – „Politics
and Urban Growth“ – eine starke Schwerpunktsetzung auf die politische Ereignisgeschichte. Diese verliert sich zwar nur selten
in langatmigen Aufzählungen; die Verflechtungen zwischen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen aber werden zu wenig herausgearbeitet. Auch die Verbindungen
zwischen der lokalen und der nationalen Ebene, und das ist ein zweiter Schwachpunkt des
Buches, werden nur oberflächlich angesprochen. Mit Schilderungen, dass Stadtpolitik in
Santiago für zahlreiche Politiker sowohl Training als auch Sprungbrett für eine Karriere
auf nationaler Ebene war, oder mit der etwas lapidaren Feststellung, dass Entwicklungen auf lokaler Ebene nationale Trends „spiegelten“ (S. 199), schöpft Walter das Potenzial,
das in einer systematischen Mehrebenenanalyse liegen würde, leider nicht aus.
HistLit 2007-3-160 / Christof Parnreiter über
Walter, Richard J.: Politics and Urban Growth
in Santiago, Chile, 1891-1941. Stanford 2005. In:
H-Soz-u-Kult 31.08.2007.
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
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503
Außereuropäische Geschichte
Windus, Astrid: Afroargentinier und Nation.
Konstruktionsweisen afroargentinischer Identität
im Buenos Aires des 19. Jahrhunderts. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2005. ISBN:
3-86583-004-8; 317 S.
Rezensiert von: Ulrike Bock, SFB 496: Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme, Westfälische WilhelmsUniversität Münster
Die Gruppe der Afroargentinier, so der Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit, wurde
im Laufe des 19. Jahrhunderts aus der argentinischen Nationalgeschichte und der argentinischen Erinnerungskultur konsequent ausgeblendet. So konsequent, dass sie auch heutzutage noch damit rechnen muss, nicht als
Angehörige der argentinischen Nation anerkannt zu werden, wie Astrid Windus in der
Einleitung ihres Buches unter Verweisen auf
jüngere Meldungen der argentinischen Tageszeitung „El Clarín“ aufzeigt. Die herkömmlichen Erklärungen für die Unsichtbarkeit der
Afroargentinier bewegen sich dabei vor allem im Bereich eines vermeintlichen demographischen Rückgangs dieser Bevölkerungsgruppe insbesondere im Zusammenhang mit
dem Einsatz schwarzer Soldaten in den Kriegen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Demgegenüber geht Astrid Windus in ihrer
Arbeit davon aus, dass es sich bei derartigen Wahrnehmungen zu einem großen Teil
um Resultate einer Konstruktion Argentiniens als primär europäisch geprägter, kulturell homogener Nation handelt, die mit dem
Herausschreiben nicht-weißer Gruppen aus
der argentinischen Erinnerungskultur einherging. Der Mythos des Todes auf dem Schlachtfeld gehört somit neben der Reduktion der
Wahrnehmung von Schwarzen als Sklaven
während der Kolonialzeit zu den Elementen, die den Anteil der Afroargentinier an
der Konstruktion Argentiniens auf die Zeit
vor der Konstituierung des Nationalstaats beschränkt.
Genau dieses Spannungsfeld zwischen hegemonialen Konstruktionsweisen von Nation sowie den damit verbundenen Alterisierungsstrategien und den eigenen afroargentinischen Identitätsentwürfen innerhalb der argentinischen Nation bildet die zentrale Fra-
504
gestellung dieser Publikation. Dabei bedient
die Autorin sich, ausgehend vor allem von
Stuart Halls Ansatz von nationaler Identität als einem System kultureller Repräsentationen, eines diskurstheoretischen Zugriffs.
Identität wird hierbei als stetiger Aushandlungsprozess zwischen Selbstpositionierungen und Fremdzuschreibungen betrachtet,
woraus sich die Notwendigkeit ergibt, innerhalb der Untersuchung zur afroargentinischen Identität nicht nur die Repräsentationen von Seiten der afroargentinischen Gemeinschaft, sondern auch die hegemonialen
Diskurse von „Argentinität“ sowie die hegemoniale Sichtweise auf die Afroargentinier zu
untersuchen.
Im Mittelpunkt des ersten Teils der Arbeit
steht die Analyse hegemonialer Konstruktionsweisen der nationalen Identität. Die Entwicklung der herrschenden Zugehörigkeitsmuster im Laufe des 19. Jahrhunderts wird
zunächst über die Untersuchung der Bedeutungen von zentralen Begrifflichkeiten wie
„patria“, „nación“, „pueblo“, „soberanía“,
der Konstruktion eines amerikanischen Kollektivs sowie schließlich von „Argentina“ als
Identität stiftenden Bezugspunkt nachgegangen. Dabei postuliert Astrid Windus eine zunehmende Homogenisierung, die von einer
graduellen Verschiebung von primär lokalen
Bezugspunkten von Identität hin zu einer abstrakteren Vorstellung von Nation als einer
politischen Gemeinschaft während der ersten Hälfte und schließlich der Vorstellung einer auch kulturell begründeten nationalen Bezugsgröße in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geprägt ist. Die Analyse der Konstruktionsweise dieser als kulturell homogen
gedachten Nation erfolgt anhand der innerhalb dieses Diskurses zentralen Felder „Zivilisation und Barbarei“, „Fortschritt“ sowie
„Rasse“. Während schon innerhalb der Wahrnehmung der Nation als politischer Gemeinschaft gesellschaftliche Gruppen wie Frauen
und Unterschichten ausgeschlossen wurden,
zeichneten sich die Konstruktionsweisen der
zweiten Jahrhunderthälfte nicht nur durch die
Herausstellung von nationalen Gemeinsamkeiten, sondern vor allem auch durch konsequente Alterisierungsstrategien aus. So wurden beispielsweise Indigene als dem Fortschritt entgegen stehend konzeptualisiert und
Historische Literatur, 5. Band · 2007 · Heft 3
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A. Windus: Afroargentinier und Nation
in Diskurs und Praxis auf einen marginalen
Status innerhalb der Nation reduziert. Von besonderer Bedeutung für die weitere Untersuchung ist das dritte diskursive Feld mit dem
ihm inhärenten Gedanken einer Hierarchie
menschlicher „Rassen“, die zu einer diskursiven Exklusion der Afroargentinier und der
Erzeugung bestimmter, wiederum mit den
Vorstellungen von Zivilisation, Barbarei und
Fortschritt verknüpften, Stereotypen führte.
Den Repräsentationen afroargentinischer
Identität nähert sich die Verfasserin im besonders gelungenen zweiten Teil der Arbeit
an. Ausgehend von dem schon oben erwähnten Konzept von Identität als Wechselspiel
zwischen Selbst- und Fremdzuschreibungen
stellt Astrid Windus dabei zunächst jeweils
die innerhalb der weißen Mehrheitsgesellschaft präsenten afroargentinischen Stereotypen dar und analysiert den Kontext ihrer
Entstehung. In einem weiteren Schritt erfolgt
die Dekonstruktion dieser Stereotypen durch
die Gegenüberstellung der entsprechenden
afroargentinischen Positionierungen bzw. Gegendiskurse. Insgesamt werden in diesem
Kapitel diskursiv erzeugte Figuren wie der
„gute“ schwarze Soldat, der „negro federal“
bzw. die „negra rosina“, zwei vermutlich seitens der liberalen Historiografie konstruierte Stereotypen der Afroargentinier als bedingungslose Unterstützer des Rosas-Regimes,
sowie stereotype Vorstellungen afroargentinischer Weiblichkeit (sexualisierte Mulattinnen, schwarze Hexen) untersucht. Ein besonders interessanter Befund, der die Bedeutung
der Analysekategorie „Gender“ hervorhebt,
besteht hier in den hegemonialen Konstruktionsweisen einer Feminisierung schwarzer
Männer bei einer gleichzeitig vermännlichten
Konzeptualisierung afroargentinischer Frauen. Gegen diese Konstruktionen wandte sich
der afroargentinische Gegendiskurs unter anderem durch Umdeutungen der diskursiven
Elemente sowie durch Positionierungen in
Anlehnung an die bürgerliche Geschlechterordnung der Mehrheitsgesellschaft. Dass sich
Diskursanalyse nicht auf rein textuell hervorgebrachte Phänomene beschränken muss,
zeigt Astrid Windus in ihrer Behandlung
afroargentinischer Selbstentwürfe, in der sich
die Autorin ausführlich Aspekten der afroargentinischen kollektiven kulturellen Prakti-
2007-3-103
ken widmet, die ihren Ausdruck in Organisationsformen wie den „cofradías“ (Bruderschaften), den „sociedades africanas“ (afrikanischen Gesellschaften), den karnevalistischen „comparsas“ oder den „candombes“
fanden. Dabei betont die Autorin einerseits
deren transethnischen Charakter sowie andererseits die Sichtweise dieser kollektiven
Praktiken als kulturelle Aneignungen im Gegensatz zu einer in der Historiografie immer
noch verbreiteten Perspektive einer Perpetuierung mehr oder weniger „authentischer“
afrikanischer Elemente. Zu dem letzten Feld
der afroargentinischen Selbstentwürfe zählt
auch das Idealbild des schwarzen Bürgers,
dessen Aufgabe in der Erfüllung eines zivilisatorischen Auftrags gegenüber der afroargentinischen Gemeinschaft gesehen wurde.
Dieser Typus stellte die vielleicht sichtbarste Bemühung um Partizipation innerhalb der
Zivilgesellschaft dar. Allerdings ist hier festzustellen, dass auch diese Einforderungen einer aktiven Staatsbürgerschaft trotz weitgehender Übernahme hegemonialer Diskurselemente an den exkludierenden gesellschaftlichen Bedingungen scheiterten. Insgesamt
kommt in diesem Kapitel die Reichhaltigkeit des hier herangezogenen Quellenmaterials zum Tragen, welches in erster Linie afroargentinische Zeitungen der zweiten Jahrhunderthälfte umfasst. So werden anhand der
verschiedenen Positionen nicht nur übereinstimmende Tendenzen des afroargentinischen
Diskurses, sondern auch die Heterogenität
der entsprechenden Entwürfe deutlich.
Ein abschließender dritter Teil führt die Erträge der ersten beiden Kapitel noch einmal
unter den beiden Gesichtspunkten des kontinuierlichen Ausschlusses der Afroargentinier
durch die gesellschaftlich hegemonialen Alterisierungssstrategien einerseits sowie der Unsicherheit und Heterogenität der schwarzen
Selbstentwürfe andererseits zusammen. Hierbei wird besonders im ersten Teil nochmals
die Chronologie des Ausschlusses aus den
Identitätskonstruktionen der weißen Mehrheitsgesellschaft klargestellt und betont, dass
die afroargentinischen Selbstpositionierungen nicht in der Lage waren, die Macht dieser hegemonialen Diskurse zu durchbrechen.
Gleichzeitig stellt Astrid Windus aber auch
die fehlende Homogenität innerhalb eben die-
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Außereuropäische Geschichte
ser Selbstentwürfe heraus, die zudem oftmals
stark von der Übernahme hegemonialer Konzepte geprägt waren.
In einem kurzen Ausblick stellt die Autorin den afroargentinischen Fall in einen
weiteren Zusammenhang. Das von Paul Gilroy wesentlich geprägte Konzept eines „Black
Atlantic“ als System gegenseitiger kultureller Durchdringungen bildet hierbei den Bezugsrahmen. Astrid Windus stellt sich damit den gängigen Sichtweisen eines argentinischen Sonderfalls entgegen. Die schon früher im Text immer wieder herangezogenen
Vergleiche mit ähnlichen Phänomenen vor allem aus Brasilien und den USA werden so
systematisch in ein transnational konzipiertes
Bild einer gesamtafroamerikanischen Kulturgeschichte eingefügt und diese als integraler
Bestandteil der Moderne postuliert.
Astrid Windus hat ein äußerst vielschichtiges Buch geschrieben, welches durch intensive Auseinandersetzung mit den zugrunde liegenden theoretischen Konzepten
wie auch durch einen flüssigen Schreibstil
überzeugt. Nicht umsonst handelt es sich
hierbei um eine zweifach prämierte Arbeit,
die 2003 den Walter-Markov-Preis der KarlLamprecht-Gesellschaft/ Institut für Kulturund Universalgeschichte e.V. (Leipzig) und
2006 den zweiten Preis der interdisziplinären
Arbeitsgemeinschaft Deutsche Lateinamerikaforschung (ADLAF) gewann. Da es ein erklärtes Ziel der Autorin ist, den Afroargentiniern eine stärkere Präsenz im kollektiven Bewusstsein zu geben und ihnen so einen Platz
in der argentinischen Erinnerungskultur einzuräumen, bleibt es nur zu hoffen, dass diese durch eine Übersetzung ins Spanische bald
auch dem argentinischen Publikum zugänglich gemacht wird.
HistLit 2007-3-103 / Ulrike Bock über Windus, Astrid: Afroargentinier und Nation. Konstruktionsweisen afroargentinischer Identität im
Buenos Aires des 19. Jahrhunderts. Leipzig 2005.
In: H-Soz-u-Kult 09.08.2007.
Wüstenbecker, Katja: Deutsch-Amerikaner im
Ersten Weltkrieg. US-Politik und nationale Identitäten im Mittleren Westen. Stuttgart: Franz
Steiner Verlag 2007. ISBN: 978-3-515-08975-3;
428 S.
Rezensiert von: Melanie Henne, Philosophische Fakultät, Lehrbereich Nordamerikanische Geschichte, Universität Erfurt
Die Fragen nach Assimilierung, Akkulturation und Integration bestimmen die Forschung
zu ImmigrantInnen in den USA seit Jahrzehnten. Es ist dabei unter anderem von
besonderem Interesse zu fragen, wie ImmigrantInnen in den USA leben, mit ihrer Herkunft umgehen, von AmerikanerInnen wahrgenommen werden und sich selbst
definieren. Katja Wüstenbeckers Studie zu
Deutsch-Amerikanern1 im Ersten Weltkrieg
beschäftigt sich zum einen mit der Frage,
welche Auswirkungen der Erste Weltkrieg
auf die Selbstwahrnehmung der DeutschAmerikanerInnen hatte. Damit knüpft Wüstenbecker an zwei gegensätzliche Thesen in
der Forschung an: Eine Strömung konstatiert einen durch den Ersten Weltkrieg ausgelösten Assimilationsschub, während andere bei Deutsch-AmerikanerInnen eine Stärkung ihrer ethnischen Identität als Deutschstämmige ausmachen. Wüstenbeckers differenzierte Analyse liefert überzeugende Belege für beide Thesen, wobei eine der Stärken
der Arbeit darin besteht, die Heterogenität
der Gruppe der Deutsch-AmerikanerInnen
herauszustellen. Als weiteren Schwerpunkt
thematisiert Wüstenbecker die Einstellungen
der amerikanischen Bevölkerung zu DeutschAmerikanerInnen im Ersten Weltkrieg und
die damit interagierenden politischen Konsequenzen bezüglich ihres Rechtsstatus.
Als Analysekategorien dienen Wüstenbecker die „drei Bereiche Staat, Gesellschaft und
die Gruppe der Deutsch-Amerikaner“ (S. 14).
Durch die Auswertung vielfältiger Materia1 Mit
diesem Begriff bezeichnet Wüstenbecker AmerikanerInnen deutscher Herkunft, die auf rechtlicher Ebene
die amerikanische Staatsbürgerschaft besaßen und sich
damit von „feindlichen Ausländern“ in ihrem rechtlichen Status unterschieden. Als letztere wurden nach
Kriegseintritt Deutsche bezeichnet, die in den USA lebten ohne eingebürgert zu sein. Sie standen in besonderem Maße unter dem Verdacht der Spionage.
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K. Wüstenbecker: Deutsch-Amerikaner im Ersten Weltkrieg
lien gelingt es ihr dabei, die Erfahrungen
von Deutsch-AmerikanernInnen in einen politischen und gesellschaftlichen Kontext zu
stellen. Sie verwendet einerseits Selbstzeugnisse von Deutsch-AmerikanerInnen sowie
Schriften von deutsch-amerikanischen Vereinen, Kirchengemeinden oder Schulen. Andererseits fließt auch statistisches Datenmaterial in die Untersuchung ein. Auf staatlicher Ebene werden unter anderem Akten des
Justizministeriums, „des Committee on Public Information, des Bureau of Immigration and Naturalization, des Bureau of Investigation und des United States Secret Service“ (S. 18) herangezogen. Den Bereich Gesellschaft erschließt Wüstenbecker mit Material von nicht-staatlichen Organisationen, die
sich zur Stärkung der Heimatfront im Ersten Weltkrieg bildeten. Des Weiteren verwendet Wüstenbecker Zeitungen und Karikaturen, um Rückschlüsse auf die amerikanische
Gesellschaft ziehen zu können. Dabei hätten die Karikaturen jedoch detaillierter untersucht werden können. Teilweise werden sie
lediglich zu Illustrationszwecken verwendet,
so dass ihr Potential nicht ausgeschöpft wird.
Die chronologische Studie betrachtet zunächst den Mittleren Westen der USA als
Region, die in besonderer Weise von deutschen ImmigrantInnen geprägt wurde. Dabei
ist Wüstenbeckers Arbeit als vergleichende
Regionalstudie angelegt. Die Städte Milwaukee (Wisconsin), Chicago (Illinois), St. Louis
(Missouri) und Cincinatti (Ohio) bilden einen
Untersuchungsraum, der in einem einführenden Kapitel mit einem Fokus auf deutsche
ImmigrantInnen sowie der Einwanderungspolitik vor 1914 dargestellt wird. Dieser Ansatz bietet die Möglichkeit zur differenzierten Analyse deutsch-amerikanischer Lebensweisen in den USA, dem Wüstenbecker durch
die Betrachtung zahlreicher Einzelfälle gerecht wird.
Im folgenden Kapitel steht die Neutralitätsphase Amerikas im Ersten Weltkrieg
im Mittelpunkt der Betrachtung. Gefragt
wird nach der Stellungnahme von DeutschAmerikanerInnen zur Kriegsführung des
Deutschen Reiches sowie den amerikanischen Reaktionen darauf. Wüstenbecker
arbeitet überzeugend heraus, dass DeutschAmerikanerInnen keine einheitliche Position
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bezogen. Sie unterscheidet vier Gruppen,
„die Pro-Deutschen, die Pro-Amerikaner, die
Neutralisten (die den Krieg aus politischen
oder pazifistischen Gründen ablehnten) und
die große Mehrheit derjenigen, die nicht auffallen wollten.“ (S. 307) Wüstenbecker zeigt
auf, dass diese Gruppen in der Öffentlichkeit jedoch unterschiedlich präsent waren:
Pro-Deutsche und Neutralisten erweckten
gerade in der (deutschsprachigen) Presse den
Anschein, alle Deutsch-AmerikanerInnen zu
repräsentieren, da sie sich am lautesten Gehör
zu verschaffen wussten und zur Boykottierung beispielsweise von Banken aufriefen,
die den Alliierten Kriegskredite gewährten.
Dies führte nach Wüstenbecker dazu, dass
die Deutsch-AmerikanerInnen insgesamt
im Hinblick auf ihr politisches Engagement
von der amerikanischen Öffentlichkeit mit
Misstrauen betrachtet wurden. Für viele der
assimilierten Deutsch-AmerikanerInnen hatte
der Kriegsausbruch ein Rückbesinnen auf ihre deutsche Herkunft zur Folge, was sich auch
in dem verstärkten Interesse an deutschsprachigen Zeitungen ausdrückte. Wüstenbecker
betont, dass Deutsch-AmerikanerInnen in
ihren pro-deutschen Aktivitäten (beispielsweise Spendensammlungen für Familie
und Bekannte im Deutschen Reich) keinen
Widerspruch zu ihrem Amerikanischsein
wahrnahmen, während dieses Verhalten für
viele AmerikanerInnen einen Verrat an der
amerikanischen Nation bedeutete.
Im letzten, umfangreichsten Analysekapitel stellt Wüstenbecker heraus, wie sich
durch den Kriegseintritt der USA die Wahrnehmung der Deutsch-AmerikanerInnen sowie deren Verhalten maßgeblich veränderten und welche politischen Auswirkungen
dies für die Deutsch-AmerikanerInnen hatte. Mit dem Kriegseintritt der USA änderten
viele Deutsch-AmerikanerInnen ihre Haltung
zum Deutschen Reich und die überwiegende Mehrheit betonte ihre Loyalität zur amerikanischen Nation. Dies konnte jedoch nicht
verhindern, dass sie vom Großteil der amerikanischen Bevölkerung negativ wahrgenommen wurden. Gerüchte über deutsche Spione in den USA verstärkten die feindliche Haltung gegenüber Deutsch-AmerikanerInnen
und führte dazu, dass sich die amerikanische
Bevölkerung auch von in den USA lebenden
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Deutschen – die als „alien enemies“ (S. 12,
Anm. 6) bezeichnet wurden – sowie AmerikanerInnen deutscher Herkunft bedroht fühlte, was sich auf mehreren Ebenen auswirkte:
Die Existenz nicht-staatlicher Organisationen
mit dem Ziel der Amerikanisierung von ImmigrantInnen sowie die verschärfte Gesetzgebung gegenüber „feindlichen Ausländern“(
S. 208-214) führten zu weit verbreiteten Denunziationen und zahlreichen tätlichen Übergriffen auf Deutsch-AmerikanerInnen. Letztere sahen sich dem Druck ausgesetzt, ihre
Loyalität gegenüber den USA unter Beweis zu
stellen, was sie beispielsweise durch den Kauf
von Liberty Loans, das Singen der amerikanischen Nationalhymne in Situationen, wo
ihre Loyalität öffentlich angezweifelt wurde
oder das Zurschaustellen der amerikanischen
Flagge an ihren Häusern versuchten. Die
anti-deutsche Stimmung hatte zudem massive Auswirkungen auf deutsch-amerikanische
Institutionen: Zahlreiche Maßnahmen gegen
die Verwendung der deutschen Sprache wirkten sich äußert negativ auf das Fortbestehen
der deutsch-amerikanischen Kultur aus. Wüstenbecker argumentiert, dass dies sich unter anderem am Niedergang von deutschen
Bildungsinstitutionen in den USA, dem Vereinswesen, der deutschsprachigen Presse sowie kirchlichen Einrichtungen, deren Gottesdienste in deutscher Sprache abgehalten wurden, zeigte.
In Wüstenbeckers Darstellung der unterschiedlichen Reaktionen von DeutschAmerikanerInnen auf den Ausbruch des
Ersten Weltkrieges betonte sie insbesondere
die Heterogenität dieser Gruppe. Dabei
hätte die zusätzliche Berücksichtigung der
Analysekategorie Gender zu einer weiteren,
produktiven Differenzierung beigetragen. Bei
der Analyse des Komplexes „Gesellschaft“
scheint diese zum Teil als homogener Gegenblock zu den Deutsch-AmerikanerInnen
betrachtet zu werden. Unterschiedliche
Positionen zu Deutsch-AmerikanerInnen
innerhalb der amerikanischen Bevölkerung
werden nur ansatzweise berücksichtigt.
Hier wäre es spannend zu fragen, wie sich
beispielsweise andere Migrantengruppen
zu Deutsch-AmerikanerInnen positionierten
oder in welchem Verhältnis sie zu African Americans standen, um auch in dieser
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Analysekategorie die Heterogenität und
Vielschichtigkeit von Gesellschaftsstrukturen
zu berücksichtigen. Trotz dieser Einwände
bietet Katja Wüstenbeckers Arbeit eine differenzierte Analyse deutsch-amerikanischer
Erfahrungen im Ersten Weltkrieg. Sie ist
besonders lesenswert für alle HistorikerInnen, die sich mit ImmigrantInnen in den
USA beschäftigen und dabei insbesondere
an gesellschaftspolitischen Fragestellungen
interessiert sind.
HistLit 2007-3-144 / Melanie Henne über
Wüstenbecker, Katja: Deutsch-Amerikaner im
Ersten Weltkrieg. US-Politik und nationale Identitäten im Mittleren Westen. Stuttgart 2007. In:
H-Soz-u-Kult 24.08.2007.
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