Aus: Livia Loosen Deutsche Frauen in den Südsee-Kolonien des Kaiserreichs Alltag und Beziehungen zur indigenen Bevölkerung, 1884-1919 Oktober 2014, 678 Seiten, kart., zahlr. Abb., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-2836-4 Gestützt auf einen umfangreichen Quellenkorpus aus Briefen und Tagebüchern, kolonialen Publikationen und Archivakten untersucht Livia Loosen den Alltag deutscher Frauen in den so genannten »Südsee-Kolonien« des Kaiserreichs. Dabei legt sie besonderen Wert auf die Analyse der Beziehungen zur indigenen Bevölkerung sowie auf Fragen zum Geschlechterverhältnis und möglichen Emanzipationsspielräumen. Die Studie zeigt, dass sich die Situation in der Südsee in vielerlei Hinsicht von der im bisher deutlich besser untersuchten ehemaligen »Deutsch-Südwestafrika« unterschied, und bereichert den Forschungsstand zu Frauen im Kolonialismus um eine interessante Facette. Livia Loosen (Dr. phil.) promovierte am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt und lebt in Mainz. Weitere Informationen und Bestellung unter: www.transcript-verlag.de/978-3-8376-2836-4 © 2014 transcript Verlag, Bielefeld 2014-09-30 15-02-45 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 020f378494881850|(S. 1 ) VOR2836.p 378494881858 Inhalt Danksagung | 9 I. E INLEITUNG 1. Forschungshintergrund | 15 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 Fragestellung und Forschungsziel | 15 Forschungsstand | 19 Quellenlage | 29 Das Problem der fehlenden indigenen Perspektive | 39 Theoretische Rahmung und Aufbau der Arbeit | 42 2. Thematischer Hintergrund: Die Südsee und die deutsche Kolonialpolitik | 51 2.1 Die Südseegebiete und ihre indigene Bevölkerung | 51 2.2 Erwerb der Kolonialgebiete in der Südsee | 64 2.3 Grundzüge der deutschen Verwaltung der Südsee-Kolonien | 69 II. V OM KAISERREICH IN DIE KOLONIEN 3. Frauen und Frauenbewegung im Deutschen Kaiserreich | 87 Wege in die Kolonien und Ausreisemotive | 97 4.1 Institutionell geförderte Ausreisen | 98 4.1.1 Der Frauenbund der Deutschen Kolonialgesellschaft | 98 4.1.2 Der Deutsche Frauenverein vom Roten Kreuz für die Kolonien | 107 4.1.3 Christliche Missionsgesellschaften in den Kolonien | 114 4.2 Individuelle Ausreisen | 132 4.2.1 Ehe und Arbeitssuche als Ausreisemotive | 132 4.2.2 Sinnsuche in der Südsee: Frauen als „Aussteigerinnen“ | 136 4.2.3 Sonderfall: (Forschungs-)Reisende Frauen | 142 4. 5. Gesellschafts- und Bildungsstand der ausreisenden Frauen | 151 6. Das Rollenbild der „Deutschen Kolonialfrau“ | 175 III. ALLTAG AM ANDEREN E NDE DER WELT 7. Ankunft und erste Eindrücke | 185 8. Die Wohnsituation | 199 Berufsbilder und Alltagsgestaltung | 217 9.1 Missionsangehörige | 218 9.1.1 Evangelische Missionarsfrauen, Missionsgehilfinnen und -schwestern | 219 9.1.2 Katholische Missionsschwestern | 234 9.2 Ehefrauen von Pflanzern und anderen Privatleuten | 239 9.3 Ehefrauen von Beamten | 248 9.4 Krankenschwestern | 257 9.5 Lehrerinnen und weitere alleinstehende Frauen | 266 9.6 (Forschungs-)Reisende | 273 9. 10. Kein Paradies – Schwierigkeiten des Lebensalltages in der Fremde | 279 10.1 Einsamkeit, Heimweh und Anpassung | 280 10.2 Klima und Krankheiten | 288 11. Die soziale Stellung der deutschen Frauen innerhalb der weißen Kolonialbevölkerung | 301 11.1 Beziehungen zu anderen deutschen Frauen und der übrigen weißen Bevölkerung | 301 11.2 Das Verhältnis zum anderen Geschlecht: Die Südsee-Kolonien als Ort der Emanzipation? | 328 IV. STEREOTYPE UND BEGEGNUNGEN 12. „Rassen“-Stereotype und „Rassenmischung“ | 353 12.1 12.2 12.3 12.4 „Südsee-Mythos“ und „Menschenfresser-Inseln“ | 353 Der Zusammenhang von Kolonialismus und Rassismus | 361 Indigene Frauen und weiße Männer | 367 Die Position der Frauen in der sogenannten „Mischehen-Debatte“ | 379 13. Die Beziehungen zwischen deutschen Frauen und indigener Bevölkerung | 415 13.1 Beobachtung und Beschreibung | 416 13.2 Interaktion | 429 13.3 Das besondere Verhältnis zwischen Missionsangehörigen und indigener Bevölkerung | 450 13.3.1 Evangelische Missionarsfrauen, Missionsgehilfinnen und -schwestern | 456 13.3.2 Katholische Missionsschwestern | 493 13.4 Angst oder Anziehung? – Indigene Männer aus der Perspektive deutscher Frauen | 533 14. Folgen der Kulturbegegnungen – Gegenseitige Prägung? | 541 V. KRIEG UND ABSCHIED 15. Gründe für die Rückkehr vor Kriegsausbruch | 555 16. Der Erste Weltkrieg in der Südsee und die Folgen | 559 17. „Viel Geheul“: Emotionen bei der Abreise | 581 VI. FAZIT 18. Zusammenfassung der Ergebnisse | 589 19. Schlussfolgerungen und Ausblick | 613 ANHANG Quellen- und Literaturverzeichnis | 619 Verzeichnis der deutschen Frauen, die sich in den Südsee-Kolonien des Kaiserreichs aufhielten | 647 1. Forschungshintergrund 1.1 F RAGESTELLUNG UND F ORSCHUNGSZIEL Dass es im Pazifik, der bereits im 16. Jahrhundert als „Südsee“ bezeichnet wurde, früher einmal deutsche Kolonien gab, ist vielen Menschen heute nicht mehr bewusst.1 Doch vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg standen der nordöstliche Teil Neuguineas mit dem vorgelagerten Bismarck-Archipel, die nördlichen Salomonen, die Karolinen, die Palau-Inseln, die Marianen, die Marshallinseln, die Insel Nauru und die beiden Samoa-Inseln Upolu und Savai’i unter deutscher Verwaltung.2 Schon Zeitgenossen beklagten die geringe Popularität der deutschen Südseegebiete, hatten aber auch Erklärungen dafür zur Hand: „Wenn unsere Besitzungen im Stillen Ozean trotz ihrer großen Naturschönheiten so sehr viel weniger das Interesse der Allgemeinheit besitzen als unsere afrikanischen Kolonien und selbst in sonst kolonial gut gebildeten Kreisen Deutschlands meist nur sehr oberflächlich bekannt sind, so hat das seine natürlichen Ursachen in der weiten Entfernung vom Mutterlande, der Schwierigkeit der Kommunikationen und der Erschließung und nicht zuletzt in einem gewissen Misstrauen hinsichtlich der gesundheitlichen Verhältnisse, über die in früheren Zeiten manch ungünstiges Urteil verbreitet worden ist.“3 1 2 3 Zu den Bezeichnungen „Pazifik“, „Südsee“ und „Ozeanien“ siehe Mückler, Hermann: Einführung in die Ethnologie Ozeaniens, Wien 2009, S. 15f. Zur Definition der Begriffe „Kolonie“, „Kolonisation“ und „Kolonialismus“ siehe: Reinhard, Wolfgang: Kleine Geschichte des Kolonialismus, Stuttgart 2008², S. 1-3; vgl. Ders.: Kolonialgeschichtliche Probleme und kolonialhistorische Konzepte, in: Kraft, Claudia / Lüdtke, Alf / Matschukat, Jürgen (Hrsg.): Kolonialgeschichten. Regionale Perspektiven auf ein globales Phänomen, Frankfurt a.M. 2010, S. 67-91, hier S. 79f. Zur geographischen Orientierung vgl. Abb. 1, 2 u. 6. Ein deutsches Gouverneursheim in der Südsee, (ohne Verf.), in: Kolonie und Heimat, 7. Jg. (1913/14), Nr. 38, S. 2. 16 | D EUTSCHE F RAUEN IN DEN S ÜDSEE -KOLONIEN DES K AISERREICHS Rund ein Jahrhundert nach der Veröffentlichung dieser Einschätzung stellt sich die Situation immer noch ähnlich dar: Wird heute die deutsche Kolonialzeit thematisiert, stehen wie ehedem die einst deutschen Besitzungen in Afrika im Fokus der Aufmerksamkeit, während die sogenannten „Südsee-Kolonien“ immer noch wenig Beachtung finden. Doch auch die Studien, die sich mit der deutschen Vergangenheit dieser Gebiete auseinandersetzen, vernachlässigen dabei eine Personengruppe stark: Die Frauen. Dabei bestand die deutsche Kolonialbevölkerung keinesfalls nur aus Männern, auch wenn die historische Aufarbeitung der Kolonialzeit zuweilen diesen Eindruck entstehen lassen könnte. Die Schicksale und Erfahrungen von deutschen Ehefrauen, Krankenschwestern, Lehrerinnen, weiblichen Missionsangehörigen und anderen Frauen, die sich in den Südsee-Gebieten niederließen, schlummern gebannt auf vergilbtem Papier, verborgen in Archiven, Bibliotheken oder auf privaten Dachböden und bergen eine Perspektive auf die Ereignisse, die bisher größtenteils ignoriert wurde. Mit der vorliegenden Untersuchung, die auf der unveröffentlichten Magisterarbeit der Verfasserin aufbaut, soll das geändert werden:4 Hier stehen die Schriftzeugnisse der betreffenden Frauen im Mittelpunkt, um dem Gesamtbild der Geschichte der „Deutschen Südsee“ ein weiteres Puzzlestück hinzuzufügen. Beleuchtet werden Alltag, Rollenbild und soziale Stellung deutscher Frauen in den SüdseeKolonien des Kaiserreichs, wobei besonderer Wert auf die Analyse des Verhältnisses zwischen deutschen Frauen und indigener Bevölkerung gelegt wird. Ziel dieser Arbeit ist es, durch Analyse des verfügbaren Quellenmaterials eine möglichst umfassende Untersuchung des Frauenlebens in den Südsee-Kolonien vorzulegen, so wie sie etwa für „Deutsch-Südwestafrika“, das heutige Namibia, längst existiert.5 Dabei soll die Frage beantwortet werden, aus welcher Situation heraus und aus welchen Motiven sich deutsche Frauen dazu entschlossen, ihre Heimat zu verlassen und sich in den Südsee-Gebieten niederzulassen. Wer waren diese Frauen, aus welchem Milieu stammten sie und wie bereiteten sie sich auf ihr neues Leben in den Kolonien vor? In diesem Zusammenhang wird auch darauf eingegangen, welches Rollenbild die sogenannte „deutsche Kolonialfrau“ gemäß den damaligen gesell- 4 5 Loosen, Livia: Das Rollenbild der deutschen Frau in den Südseekolonien des Kaiserreiches: Erfahrungen und Selbsterkenntnisse, unveröffentlichte Magisterarbeit, Historisches Seminar der Universität Leipzig, 2007. In der Magisterarbeit wurde bereits auf die meisten der in der vorliegenden Untersuchung behandelten Themenaspekte kurz eingegangen, allerdings deutlich weniger intensiv: Die Quellengrundlage bestand lediglich aus publizierten Texten, weder das umfangreiche Archivmaterial noch Tagebücher und Briefe aus Privatbesitz wurden damals einbezogen. Ausführlich: Smidt, Karen: „Germania führt die deutsche Frau nach Südwest“. Auswanderung, Leben und soziale Konflikte deutscher Frauen in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika 1884-1920. Eine sozial- und frauengeschichtliche Studie, Magdeburg 1995. 1. F ORSCHUNGSHINTERGRUND | 17 schaftlichen Erwartungen und der Agitation der kolonialen Frauenbewegung zu erfüllen hatte. Wie sollte der spezifisch weibliche Anteil an der Kolonisierung aussehen? In wie weit die Frauen den in sie gesetzten Erwartungen vor Ort tatsächlich gerecht wurden, wird anhand der Rekonstruktion ihres Alltagslebens in den SüdseeKolonien deutlich. Da bisher über das Leben der deutschen Frauen dort kaum etwas bekannt ist, wird hier ausführlich auf verschiedene Aspekte des Alltags eingegangen. Dabei soll die Frage beantwortet werden, in wie weit sich die Lage der deutschen Frauen in den Südsee-Kolonien von ihrer Situation in der Heimat unterschied, ob sich ihre Stellung in Gesellschaft und Paarbeziehung änderte und ob sich ihnen womöglich in den Kolonien größerer Spielraum zur Emanzipation bot. Schließlich versprach die koloniale Agitation den Frauen in den Kolonien eine geachtetere Stellung als in der Heimat, ein besonderes partnerschaftliches Verhältnis zwischen Eheleuten und die Möglichkeit zum Aufbau einer neuen Existenz.6 Bei der Untersuchung des Alltagslebens der deutschen Frauen in den Kolonien werden diese nach ihren verschiedenen Berufen, beziehungsweise nach Beruf ihres Ehemannes getrennt beleuchtet. Eine Besonderheit der vorliegenden Arbeit liegt darin, dass sowohl Krankenschwestern, Lehrerinnen und andere alleinstehende Frauen, Ehefrauen von Beamten und Privatleuten, als auch katholische und evangelische Missionsangehörige in die Untersuchung einbezogen werden. Zudem werden auch Reisende berücksichtigt, die sich nur vorübergehend in den Südsee-Kolonien aufhielten. Die meisten bisher zu Frauen in den ehemaligen deutschen Kolonialgebieten erschienen Studien widmen sich entweder nur den weiblichen Missionsangehörigen (meist einer bestimmten Mission) oder nur den übrigen Frauen. Da jedoch das Quellenmaterial zu den Südsee-Kolonien weniger umfangreich als beispielsweise zu „Deutsch-Südwestafrika“ ist, erschien es hier möglich, diese beiden Seiten einzubeziehen. So konnten die Erfahrungen unterschiedlichster Frauen in die Untersuchung einfließen, wobei auf die zahlreichen einzelnen Missionen selbstverständlich nicht so detailliert und tiefgehend eingegangen werden konnte wie in einer missionshistorischen Studie. Doch das ist auch gar nicht das Ziel der vorliegenden Arbeit. Vielmehr soll ein Gesamtbild des deutschen Frauenlebens in der Südsee entworfen werden, wozu nun einmal sowohl die Missionsangehörigen als auch die übrigen Frauen gehören, die überdies mancherorts in Beziehung zueinander traten und viele Erfahrungen miteinander teilten. Der Einbezug dieser beiden Seiten bringt zudem den großen Vorteil mit sich, dass zwischen ihnen bisher nicht möglich gewesene Vergleiche gezogen werden können. So kann das besondere Verhältnis zwischen den weiblichen Missionsangehörigen und der indigenen Bevölkerung analysiert und später den Beziehungen zwischen den übrigen deutschen Frauen und der indigenen Bevölkerung gegenüber gestellt werden. Die Untersuchung dieser Be6 Vgl. Kapitel 4.1.1 u. 11.2. 18 | D EUTSCHE F RAUEN IN DEN S ÜDSEE -KOLONIEN DES K AISERREICHS gegnungen, bei denen in unterschiedlichen Kontaktsituationen völlig verschiedene Kulturen aufeinander trafen, stellt das Herzstück der Arbeit dar. Besonderes Augenmerk wird in diesem Zusammenhang auch auf deutsch-indigene Paarbeziehungen und deren Auswirkung gelegt. Wo immer die Quellen diese Möglichkeit zulassen, soll auch die Perspektive der indigenen Bevölkerung einbezogen werden.7 An dieser Stelle muss deutlich darauf hingewiesen werden, dass die vorliegende Untersuchung eine lokale Differenzierung verlangt: In den thematisierten Gebieten lebte eine kaum überschaubare Zahl von verschiedenen Ethnien, die teilweise stark voneinander abweichende Sozialsysteme und Bräuche hatten und unterschiedlich auf die Kolonisierung und Missionierung reagierten. Daher können keine Erkenntnisse über die indigene Bevölkerung der Südsee-Kolonien im Allgemeinen gewonnen werden. Eine solche homogene Gesellschaft existierte dort nicht. Die Aussagekraft der Ergebnisse beschränkt sich daher nur auf das jeweils thematisierte Gebiet. Berücksichtigt werden konnten naturgemäß nur solche Regionen, in denen deutsche Frauen lebten, die darüber auch Bericht erstatteten. Es wurde also eine vom Quellenmaterial abhängige Konzentration auf Teilgebiete der Südsee-Kolonien und ihre Bewohner vorgenommen, wobei jeweils aus dem Text zu erkennen ist, um welche Region es sich handelt. Aus den Ergebnissen der Quellenanalyse soll hervorgehen, in wie weit das Urteil der deutschen Frauen über die jeweilige indigene Bevölkerung von den Stereotypen beeinflusst war, die den kolonialen Diskurs im Kaiserreich prägten. Führten die eigenen Erfahrungen, die die Frauen in den Kolonien machten, zu einer Revision von möglicherweise bestehenden Vorurteilen? Gaben sie pauschale Urteile über die damals sogenannten „Eingeborenen“ ab oder kamen sie zu individuellen Einschätzungen? Nicht zu Letzt stellte sich bei der Analyse der Beziehungen auch die Frage, ob und in wie fern beide Seiten von der Begegnung mit der jeweils anderen Kultur geprägt wurden. Fand eine gegenseitige Beeinflussung statt? Die vorliegende Arbeit möchte Antworten auf diese Fragen geben und so ein Gesamtbild vom Leben und Wirken deutscher Frauen in den Südsee-Kolonien des Kaiserreichs erstellen. Zusammenfassend lauteten die wichtigsten erkenntnisleitenden Forschungsfragen bei der Recherche und Quellenanalyse: 1. Aus welchen Motiven hielten sich deutsche Frauen in den Südsee-Kolonien des Kaiserreichs auf? 2. Welche Erwartungen wurden in die ausreisenden Frauen gesetzt und inwieweit erfüllten sie diese in den Kolonien tatsächlich? 3. Wie gestaltete sich der Alltag der deutschen Frauen in den Südsee-Kolonien und welchen Tätigkeiten gingen sie nach? 7 Auf die Problematik der dürftigen Quellenlage die indigene Perspektive betreffend wird in Kapitel 1.4 eingegangen. 1. F ORSCHUNGSHINTERGRUND | 19 4. Änderte sich die soziale Stellung der deutschen Frauen in den Südsee-Kolonien im Vergleich zum Mutterland? 5. Inwieweit gestaltete sich das Geschlechterverhältnis zwischen deutschen Frauen und deutschen Männern in den Südsee-Kolonien anders als im Kaiserreich – bot sich den Frauen in der Fremde ein größerer Emanzipationsspielraum? 6. Wie gestaltete sich der Kontakt zwischen deutschen Frauen und indigener Bevölkerung und welche Beziehungen entwickelten sich? Welche Auswirkungen hatten diese Begegnungen? 1.2 F ORSCHUNGSSTAND Die akademische Aufarbeitung der deutschen Kolonialzeit in der Südsee begann erst in den 1970er Jahren, da sich bis dahin das Interesse der Forschung primär auf die großen Kolonialmächte England und Frankreich erstreckt hatte. Bezüglich der deutschen Kolonialgeschichte konzentrierte man sich lange ganz auf die Kolonien in Afrika. Die deutsche Vergangenheit der Südsee hingegen galt lange als „sträflich vernachlässigt“.8 Unter den Ende der 70er Jahre entstandenen Studien zur deutschen Südseegeschichte sind die Aufsatzsammlung Germany in the Pacific and the Far East von John Moses und Paul Kennedy aus dem Jahr 1977 und die Monografie von Peter Hempenstall Pacific Islanders under German Rule von 1978 hervorzuheben.9 An deutschsprachiger Literatur zu diesem Thema stand die Arbeit von Wolfgang Treue über Die Tätigkeit der Jaluit-Gesellschaft auf den Marshall-Inseln von 1976 lange alleine.10 Im Jahr 1982 wurde New Guinea under the Germans, eine allgemeine Geschichte Deutsch-Neuguineas, von Stewart Firth veröffentlicht.11 Vier Jahre später legte Malama Meleisea mit The Making of Modern Samoa eine Geschichte Samoas aus samoanischer Sicht vor.12 1990 erschien von Gerd Hardach eine Geschichte der Marianen unter deutscher Herrschaft, 1991 eine kolonialge- 8 Sack, Peter: Zum Vorwort der englischen Originalausgabe, in: Hahl, Albert: Gouverneursjahre in Neuguinea. Überarbeitete Neuauflage. Herausgegeben von Wagner, Wilfried, Hamburg 1997, S. VIII-XIII, hier S. VIII. 9 Moses, John A. / Kennedy, Paul M. (Hrsg.): Germany in the Pacific and Far East, 18701914, St. Lucia / Queensland 1977; Hempenstall, Peter: Pacific Islanders under German Rule. A study in the meaning of colonial resistance, Canberra 1978. 10 Treue, Wolfgang: Die Jaluit-Gesellschaft auf den Marshall-Inseln 1887-1914. Ein Beitrag zur Kolonial- und Verwaltungsgeschichte in der Epoche des Deutschen Kaiserreiches, Berlin 1976. 11 Firth, Stewart: New Guinea under the Germans, Carlton 1982. 12 Meleisea, Malama: The Making of Modern Samoa. Traditional authority and colonial administration in the history of Western Samoa, Suva 1987. 20 | D EUTSCHE F RAUEN IN DEN S ÜDSEE -KOLONIEN DES K AISERREICHS schichtliche Fallstudie über die Karolinen-Inseln in deutscher Zeit von Helmut Christmann, Peter Hempenstall und Dirk Ballendorf, 1995 Hermann Hierys Das Deutsche Reich in der Südsee.13 Im Jahr 2001 gab dieser ein Handbuch über die deutsche Südsee heraus, das ein unverzichtbares Nachschlagewerk für verschiedenste Aspekte der deutschen Vergangenheit der Südseegebiete ist.14 Momentan wird es für eine Neuauflage überarbeitet. Seit 2002 erscheinen in der ebenfalls von Hiery herausgegebenen Reihe Quellen und Forschungen zur Südsee wissenschaftliche Untersuchungen zu verschiedenen die Südsee betreffenden Themen und edierte Quellen, wie etwa die für die vorliegende Arbeit wichtigen Tagebücher der Missionarsfrauen Johanna Diehl und Johanna Fellmann, die 2005 und 2009 veröffentlicht wurden.15 2011 unternahm Johannes Voigt den Versuch, einen Überblick über die Geschichte Australiens und Ozeaniens zu geben, wobei er allerdings die deutsche Kolonialzeit auf nur wenigen Seiten abhandelte.16 In Hermann Mücklers 2012 erschienenem Buch Kolonialismus in Ozeanien stellen die deutschen Aktivitäten zwar ebenfalls nur ein Unterkapitel dar, werden aber ausführlicher als bei Voigt behandelt.17 Zudem werden sie hier in einem Zusammenhang mit anderen kolonialen Themen und dem Vorgehen der übrigen Kolonialmächte im Pazifik in Zusammenhang gestellt, was interessante Vergleichsmöglichkeiten eröffnet. Auch wenn insgesamt zu konstatieren ist, dass die historische Aufarbeitung der deutschen Präsenz in der Südsee zunimmt, so stehen die Veröffentlichungen zu diesem Thema doch immer noch weit hinter den Untersuchungen zur Kolonialzeit in 13 Hardach, Gerd: König Kopra. Die Marianen unter deutscher Herrschaft 1899-1914, Stuttgart 1990; Christmann, Helmut / Hempenstall, Peter / Ballendorf, Dirk A.: Die Karolinen-Inseln in deutscher Zeit. Eine kolonialgeschichtliche Fallstudie, Münster 1991; Hiery, Hermann J.: Das Deutsche Reich in der Südsee (1900-1921). Eine Annäherung an die Erfahrungen verschiedener Kulturen, Göttingen 1995. 14 Hiery, Hermann J.: Die deutsche Südsee 1884-1914. Ein Handbuch, Paderborn 2001. 15 Klein, Dieter (Hrsg.): Jehova se nami nami. Die Tagebücher der Johanna Diehl. Missionarin in Deutsch-Neuguinea 1907-1913, Wiesbaden 2005; Fellmann, Ulrich (Hrsg.): Von Schwaben in den Bismarckarchipel. Tagebücher der Missionarsfrau Johanna Fellmann aus Deutsch-Neuguinea 1896-1903, Wiesbaden 2009. 16 Im Personenregister tauchen nicht einmal die langjährigen deutschen Gouverneure Albert Hahl und Wilhelm Solf auf, wohingegen sowohl der Missionar Johann Flierl als auch der Maler Emil Nolde genannt werden. Generell ist die Auswahl und Gewichtung der Themen dieses Buches oft nicht nachvollziehbar. Dessen Gliederung ist zudem sehr verwirrend: Mal wird Ozeanien unterteilt in Melanesien, Neuseeland und Hawaii, mal in Melanesien, Polynesien, Hawaii und Mikronesien, mal nur in Melanesien und Polynesien, dann wieder ist „übriges Ozeanien“ ein Unterpunkt von Neuseeland; siehe Voigt, Johannes: Geschichte Australiens und Ozeaniens. Eine Einführung, Köln 2011. 17 Mückler, Hermann: Kolonialismus in Ozeanien. Kulturgeschichte Ozeaniens, Band 3, Wien 2012. 1. F ORSCHUNGSHINTERGRUND | 21 Afrika zurück. Zudem haben alle genannten Werke eines gemeinsam: Frauen tauchen darin entweder gar nicht auf oder werden nur flüchtig erwähnt. „Das deutsche Kolonialzeitalter erscheint in der wissenschaftlichen Diskussion vorwiegend als eine Geschichte, die von Männern bestimmt wurde. Der Anteil der Frauen an der kolonialen Sozialgeschichte wurde bisher von der deutschen Historiographie vernachlässigt“, schrieb die Historikerin Karen Smidt 1995.18 Fast zwanzig Jahre später ist immerhin festzustellen, dass das wissenschaftliche Interesse am weiblichen Anteil der deutschen Kolonialgeschichte unter dem Einfluss der Postcolonial Studies19 und im Zuge des Aufblühens der historischen Frauen- und Geschlechtergeschichte zugenommen hat. In den von den postkolonialen Theorien beeinflussten neueren Forschungsarbeiten zur Kolonialgeschichte ist die Relevanz der Geschlechterfrage mittlerweile weitestgehend anerkannt.20 Wird auf den weiblichen Anteil an der Kolonisation genauer eingegangen, handelt es sich jedoch um Einzelstudien, während Frauen in allgemeinen kolonialgeschichtlichen Abhandlungen immer noch höchstens marginal vertreten sind.21 Gründe für die späte und nach wie vor mangelhafte wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Thema sind zum einen in der Tatsache zu suchen, dass deutlich weniger Frauen als Männer in die Kolonien ausreisten, was besonders auf die Südseegebiete zutrifft. Dies verdeutlicht die folgende Übersicht: 18 Smidt, K.: „Germania führt die deutsche Frau nach Südwest“, S. 282; vgl. Dietrich, Anette: Weiße Weiblichkeiten. Konstruktionen von „Rasse“ und Geschlecht im deutschen Kolonialismus, Bielefeld 2007, S. 8: „Der Zusammenhang zwischen der ersten Frauenbewegung und dem Kolonialismus ist wenig erforscht, da die europäische Kolonialgeschichte bis vor kurzem als eine männliche Eroberungsgeschichte galt [...].“ Auch in einem Forschungsüberblick zu Frauen und Kolonialismus von 2009 heißt es: „Zudem ist die deutsche Kolonialgeschichte in erster Linie als Geschichte von weißen Männern konstruiert und geschrieben worden [...]“, siehe: Gippert, Wolfgang: Frauen und Kolonialismus. Einblicke in deutschsprachige Forschungsfelder, in: Ariadne. Forum für Frauenund Geschlechtergeschichte, Heft 56, Nov. 2009, S. 6-13, hier S. 6. 19 Zu Inhalten und Wirkungen der Postcolonial Studies siehe Kerner, Ida: Postkoloniale Theorien zur Einführung, Hamburg 2012; Castro Varela, Maria do Mar / Dhawan, Nikita: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 2009; Dietrich, A.: Weiße Weiblichkeiten, S. 25-39. 20 vgl. Dietrich, A.: Weiße Weiblichkeiten, S. 13; vgl. Gippert, W.: Frauen und Kolonialismus, S. 6. 21 So tauchen etwa in dem jüngst erschienenen, oben genannten Buch Kolonialismus in Ozeanien von Hermann Mückler die weiblichen Vertreter der Kolonialmächte nicht auf. 22 | D EUTSCHE F RAUEN IN DEN S ÜDSEE -KOLONIEN DES K AISERREICHS Tab. 1: Anzahl der Deutschen über 15 Jahre in den Südsee-Kolonien des Deutschen Reiches (Stand: 1. Januar 1913)22 Deutsch-Neuguinea (altes Schutzgebiet) Mikronesien Samoa Deutsche Südsee Männer 514 Frauen 164 Gesamt 678 192 222 928 53 63 280 245 285 1208 Insgesamt gab es also selbst in der Schlussphase der deutschen Herrschaft nur 280 deutsche Frauen in den Südsee-Kolonien, denen mehr als dreimal so viele Männer gegenüberstanden. Zum anderen wurden Frauen zur damaligen Zeit in eine passive, häusliche Rolle gedrängt, so dass sie sehr selten als Entscheidungsträger und selbstständig Agierende in den Quellen auftauchen. Frauen hatten keinen Einfluss auf die Kolonialpolitik, errangen keine militärischen Siege, leiteten bis auf sehr wenige Ausnahmen weder Pflanzungen noch Expeditionen und beteiligten sich nicht am Phosphatabbau. Hinzu kommt, dass Frauen wesentlich seltener als Männer ihre Erlebnisse und Erfahrungen in der Fremde zu Papier gebracht haben.23 Der sich aus diesen Gründen ergebene Mangel an Quellen ist ein weit verbreitetes Problem bei der Erforschung von Frauengeschichte.24 Allerdings kommt bei genaueren Nachforschungen oft noch einiges Quellenmaterial von und über Frauen ans Licht, das bisher einfach übergangen wurde, wie auch bei der Recherche zur vorliegenden Arbeit deutlich wurde.25 Mit der Rolle der deutschen Frauen in den Kolonien des Kaiserreichs setzte sich in Deutschland als eine der ersten Martha Mamozai 1982 in ihrem Buch Herrenmenschen. Frauen im deutschen Kolonialismus auseinander, das 1989 unter dem Titel Schwarze Frau, weiße Herrin erschien.26 Sie legte den regionalen Schwer22 Die deutschen Schutzgebiete in Afrika und in der Südsee 1912/13, Amtliche Jahresberichte, Berlin 1914, Statistischer Teil, S. 30-35. 23 Vgl. Pytlik, Anna: Die schöne Fremde – Frauen entdecken die Welt, Stuttgart 1991, S. 96; Hagemann, Karen: „Ich glaub’ nicht, daß ich Wichtiges zu erzählen hab’...“. Oral History und historische Frauenforschung, in: Vorländer, Herwart (Hrsg.): Oral History. Mündlich erfragte Geschichte, Göttingen 1990, S. 29-48, hier S. 33. 24 Vgl. Mamozai, Martha: Schwarze Frau, weiße Herrin. Frauenleben in den deutschen Kolonien, Reinbek bei Hamburg, 1989, S. 170. 25 Vgl. Kapitel 1.3. 26 Mamozai, Martha: Herrenmenschen. Frauen im deutschen Kolonialismus, Reinbek bei Hamburg 1982; vgl. auch Dies.: Einheimische und „koloniale“ Frauen, in: BechhausGerst, Marianne / Leutner, Mechthild (Hrsg.): Frauen in den deutschen Kolonien, Berlin 2009, S. 14-30. 1. F ORSCHUNGSHINTERGRUND | 23 punkt auf die Kolonien in Afrika und widmete sich thematisch vor allem dem Verhältnis zwischen deutschen Frauen und indigener Bevölkerung. Dabei argumentierte sie mitunter sehr einseitig, um zu belegen, dass sich weiße Frauen sowohl als „Komplizinnen“ ihrer gewalttätigen Männer als auch eigenverantwortlich der rassistischen (Mit-)Täterschaft bei Misshandlungen der indigenen Bevölkerung schuldig machten. In ähnlich ausgerichteten Untersuchungen wurde Mamozais Buch trotz dessen eher polemischen als wissenschaftlichen Charakters immer wieder aufgegriffen.27 Deutlich gewinnbringender für die vorliegende Arbeit war die Auseinandersetzung mit Karen Smidts Dissertation „Germania führt die deutsche Frau nach Südwest“ von 1995.28 Auf umfangreicher Quellenanalyse beruhend wurde hier erstmals ausführlich die Geschichte der deutschen Frauen nachgezeichnet, die sich in der Kolonie „Deutsch-Südwestafrika“ niederließen, wobei auf der Suche nach den Ausreisemotiven auch die koloniale Frauenbewegung im Kaiserreich aufgearbeitet wurde. Mit dieser setzte sich auch Lora Wildentahl in German Women for Empire auseinander.29 Sie geht auf verschiedene Strömungen und Ziele innerhalb der kolonialen Frauenbewegung ein und spannt dabei den Bogen von den 1880er Jahren bis zur Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus. Die Südsee-Kolonien spielen dabei auch bei ihr kaum eine Rolle. Unter dem Einfluss der aus der angloamerikanischen Wissenschaft kommenden Gender Studies und Critical Whiteness Studies30 rückte in den letzten Jahren das Themenfeld „Rasse und Geschlecht“ stärker ins Interesse der Forschung, was auch für die Aufarbeitung des Kolonialismus wichtige Impulse lieferte.31 Birthe Kundrus bereicherte die Auseinandersetzung mit der Geschlechterdimension der deutschen 27 Beispielsweise Gränzer, Sieglinde: Die deutsche Frau in den Kolonien. Erzieherin der heidnischen Frauenwelt und Trägerin deutscher Zucht und Sitte, in: Hinz, Manfred / Patemann, Heldgard / Meier, Arnim (Hrsg.): Weiss auf schwarz. Kolonialismus, Apartheid und afrikanischer Widerstand, Berlin 1986², S. 110-113; Engelhardt, Kerstin: Weiße deutsche Frauen. Kolonialistinnen in der Vergangenheit, Rassistinnen in der Gegenwart. Das Beispiel Namibias, in: Hügel, Ika u.a. (Hrsg.): Entfernte Verbindungen. Rassismus, Antisemitismus, Klassenunterdrückung, Berlin 1993, S. 118-137. 28 Smidt, K.: „Germania führt die deutsche Frau nach Südwest“. 29 Wildenthal, Lora: German Women for Empire, 1884-1945, Durham / London 2001. 30 Zu Inhalten und Wirkung der Critical Whiteness Studies siehe: Dietrich, A.: Weiße Weiblichkeiten, S. 40-49. 31 Vgl. beispielsweise Gouda, Frances: Das „unterlegene“ Geschlecht der „überlegenen“ Rasse. Kolonialgeschichte und Geschlechterverhältnisse, in: Schissler, Hanna (Hrsg.): Geschlechterverhältnisse im historischen Wandel, Frankfurt a.M. 1993, S. 185-203; Walgenbach, Katharina: „Die weiße Frau als Trägerin deutscher Kultur“. Koloniale Diskurse über Geschlecht, „Rasse“ und Klasse im Kaiserreich, Frankfurt a.M. 2005; Dietrich, A.: Weiße Weiblichkeiten. 24 | D EUTSCHE F RAUEN IN DEN S ÜDSEE -KOLONIEN DES K AISERREICHS Kolonialgeschichte seit Ende der 1990er Jahre mit mehreren wichtigen Beiträgen, wobei sie einen Schwerpunkt auf kulturgeschichtliche und rassenpolitischen Fragen legte.32 Katharina Walgenbach übertrug in ihrer 2005 erschienenen Untersuchung „Die weiße Frau als Trägerin deutscher Kultur“ den Forschungsansatz der Critical Whiteness Studies auf die kolonialen Diskurse über Geschlecht, „Rasse“ und Klasse im Kaiserreich.33 Die Zeitschrift Kolonie und Heimat, die auch für die vorliegende Arbeit eine wichtige Quelle darstellt, bildet dabei Walgenbachs wichtigste Textbasis für die Diskursanalyse. Ebenfalls mit den Kategorien Whiteness und Gender im Kolonialismus befasst sich Anette Dietrichs Arbeit Weiße Weiblichkeiten von 2007, die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass sie die Schnittstellen und argumentativen Verbindungen von kolonialer und frauenrechtlicher Politik herausarbeitet und die Verknüpfungen von Emanzipationskonzepten und Geschichte des Rassismus aufzeigt.34 Inhaltlich bietet die Studie indes wenig Neues. Zudem werden auch hier fast ausschließlich die deutschen Kolonien in Afrika einbezogen, ohne dass dies bei verallgemeinernden Aussagen über „Frauen in den Kolonien“ immer deutlich gemacht würde. Dass in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem weiblichen Anteil an der Kolonialgeschichte die Südseegebiete nach wie vor kaum berücksichtigt werden, hat auch der 2009 erschienene Sammelband Frauen in den deutschen Kolonien gezeigt, der sich vorwiegend mit der Geschichte von Frauen in China und Afrika befasst.35 32 Vgl. beispielsweise Kundrus, Birthe: „Weiß und herrlich“. Überlegungen zu einer Geschlechtergeschichte des Kolonialismus, in: Friedrich, Annegret u.a. (Hrsg.): Projektionen. Rassismus und Sexismus in der visuellen Kultur, Marburg 1997, S. 41-50; Dies.: Phantasiereiche. Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus, Frankfurt a.M. 2003; Dies.: Moderne Imperialisten. Das Kaiserreich im Spiegel seiner Kolonien, Köln 2003; Dies.: Weiblicher Kulturimperialismus. Die imperialistischen Frauenverbände des Kaiserreiches, in: Conrad, Sebastian / Osterhammel, Jürgen (Hrsg.): Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871-1914, Göttingen 2004, S. 213-235; Dies.: „Die Farbe der Ehe“. Zur Debatte um die kolonialen Mischehen im Kaiserreich, in: Ernst, Waltraud / Bohle, Ulrike (Hrsg.): Geschlechterdiskurse zwischen Fiktion und Faktizität, Hamburg 2006, S. 135-151. 33 Walgenbach, K.: „Die weiße Frau als Trägerin deutscher Kultur“. 34 Dietrich, A.: Weiße Weiblichkeiten; vgl. Loosen, Livia: Rezension zu Anette Dietrich: Weiße Weiblichkeiten, in: Denzel, Markus A. / Dhrampal-Frick, Gita / Gründer, Horst / Hiery, Hermann u.a. (Hrsg.): Jahrbuch für Europäische Überseegeschichte 10, Wiesbaden 2011, S. 270-273. 35 Eine Ausnahme stellt dar: Loosen, Livia: „Trägerinnen deutscher Bildung, deutscher Zucht und Sitte“. Alltag und Rollenbild deutscher Frauen in den Südseekolonien des Kaiserreichs, in: Bechhaus-Gerst, M. / Leutner, M. (Hrsg.): Frauen in den deutschen Kolonien, S. 40-49. 1. F ORSCHUNGSHINTERGRUND | 25 Auf Grund der schlechten Verbindung zum extrem weit entfernten Mutterland so wie einer weit aus dünneren europäischen Besiedlung, die sich zudem in ihrer Zusammensetzung deutlich von der in den afrikanischen Kolonien unterschied,36 weisen die Südsee-Kolonien jedoch ganz andere Bedingungen als die deutschen Kolonien in Afrika auf. Diese unterschiedlichen Voraussetzungen lassen es fraglich erscheinen, ob die Befunde für Afrika generalisierend auf das gesamte deutsche Kolonialgebiet übertragen werden dürfen, wie es bisher zuweilen geschieht. Noch kann somit kein umfassendes Urteil über das Wirken der Frauen in den deutschen Kolonien gefällt werden. Hier setzt die vorliegende Arbeit an: Bisher nicht berücksichtigte Quellen wurden ausgewertet, um so eine möglichst umfassende Darstellung der zahlreichen Aspekte des Frauenlebens explizit in den deutschen SüdseeKolonien zu schaffen. Wie bereits im vorhergehenden Kapitel angekündigt, werden dabei auch weibliche Missionsangehörige einbezogen, anders als in den meisten oben genannten bisher erschienenen Einzelstudien zu deutschen Frauen in den Kolonien. Auch innerhalb der Missionsgeschichtsschreibung wurden die Frauen lange Zeit vernachlässigt. Hermann Mückler bezeichnet die Missionsgeschichte zu Recht als sehr „männerlastig“.37 Er weist darauf hin, dass zu Missionsschwestern und Missionarsfrauen deutlich weniger detaillierte biographische Daten als zu den männlichen Missionsangehörigen vorliegen. Diese unterschiedliche Quellenlage führt er darauf zurück, dass die kirchliche Administration wohl den männlichen Missionaren mehr Aufmerksamkeit schenkte und daher die Aufzeichnungen zu den weiblichen Missionsmitgliedern nicht mit der gleichen Akribie führte und bewahrte. Dennoch lässt sich in den betreffenden Missionsarchiven breites Quellenmaterial auch zu den weiblichen Missionsangehörigen finden, das sich bei den Missionarsfrauen allerdings häufig in den Akten ihrer Ehemänner „versteckt“ und bisher zu großen Teilen unbeachtet blieb.38 Auch der umfangreichen Korrespondenz der katholischen Schwestern wurde lange Zeit wenig Interesse zu teil. 36 Vgl. Kapitel 11.1. 37 Mückler, H.: Mission in Ozeanien, S. 109. Zur dürftigen Forschungs- und Quellenlage hinsichtlich der weiblichen Missionsangehörigen siehe auch: Eckl, Andreas: Grundzüge einer feministischen Missionsgeschichtsschreibung. Missionarsgattinnen, Diakonissen und Missionsschwestern in der deutschen kolonialen Frauenmission, in: Bechhaus-Gerst, M. / Leutner, M. (Hrsg.): Frauen in den deutschen Kolonien, S. 132. 38 So findet man beispielsweise in den Akten der Neuendettelsauer und der Rheinischen Missionare zwischen deren Berichten und Briefen häufig auch Schreiben ihrer Ehefrauen. 26 | D EUTSCHE F RAUEN IN DEN S ÜDSEE -KOLONIEN DES K AISERREICHS In den letzten Jahren wurde die Rolle von Frauen in der Mission jedoch verstärkt untersucht.39 Zunächst wurde dieser Thematik vor allem im englischsprachigen Raum nachgegangen, wobei die Forschungen von Bronwen Douglas, Diane Langmore, Patricia Grimshaw und Margaret Jolly auf diesem Gebiet besonders hervorzuheben sind.40 Sie berücksichtigten allerdings nicht die in der vorliegenden Arbeit im Mittelpunkt stehenden deutschen Frauen in den betreffenden Gebieten. Nancy Lutkehans hingegen, die sich ebenfalls mit der Geschlechterdimension der Missionsgeschichte auseinandersetzt, hat in einem 1999 erschienenen Beitrag die Steyler Missionsschwestern in Deutsch-Neuguinea thematisiert.41 Im deutschsprachigen Raum wurde als erstes und besonders intensiv die Situation von weiblichen Angehörigen der Basler Mission untersucht: Den Anfang machte Simone Prodolliet 1987 mit der Monografie Wider die Schamlosigkeit und das Elend der heidnischen Weiber, in der die Verfasserin dem Export des europäischen Frauenideals in die Kolonien durch die Basler Mission nachgeht.42 1994 erschien Erlitten und erstritten. Der Befreiungsweg von Frauen in der Basler Mission 1816-1966 von Waltraud Haas, 2001 folgte Missionsbräute. Pietistinnen des 19. Jahrhunderts in der Basler Mission von Dagmar Konrad, vier Jahre später die Arbeit Frauenmission und Frauenemanzipation von Christine Keim.43 Die Basler 39 Vgl. van der Heyden, Ulrich: Aktuelle missionsgeschichtliche Forschungen zu Mission und direkter Kolonialherrschaft im deutschen Kolonialimperium 1884/85-1918/19, Berlin 2010, S. 66. 40 Vgl. beispielsweise Langmore, Diane: Missionary Lives. Papua 1874-1914, Honolulu 1989; Dies.: A neglected force. White women missionaries in Papua 1874-1914, in: Journal of Pacific History, Vol. 17/3, 1982, S. 138-157; Grimshaw, Patricia: Missions, Colonialism and the Politics of Gender, in: Barry, Amanda / Cruickshank, Joanna / BrownMay, Andrew / Grimshaw, Patricia (Hrsg.): Evangelists of Empire? Missionaries in Colonial History [online], University of Melbourne eScholarship Research Centre, Melbourne 2008; Dies.: Paths of Duty. American missionary wives in ninteenth-century Hawaii, Honululu 1989; Jolly, Margaret: „To Save the Girls for Brighter and Better lives“. Presbyterian Missions and Women in the South of Vanuatu, in: Journal of Pacific History, Vol. 26, 1991, S. 27-48; Douglas, Bronwen: Encounters with the Enemy? Academic Readings of Missionary Narratives on Melanesians, in: Comparative Studies in Society and History, Vol. 43/1, 2001, S. 37-64. 41 Lutkehaus, Nancy C.: Missionary Maternalism. Gendered images of the Holy Spirit Sisters in Colonial New Guinea, in: Huber, Mary T. / Lutkehaus, Nancy C. (Hrsg.): Gendered Missions. Women and Men in Missionary Discourse and Practice, Michigan 1999, S. 207-235. 42 Prodolliet, Simone: Wider die Schamlosigkeit und das Elend der heidnischen Weiber. Die Basler Frauenmission und der Export des europäischen Frauenideals, Zürich 1987. 43 Haas, Waltraud C.: Erlitten und erstritten. Der Befreiungsweg von Frauen in der Basler Mission 1816-1966, Basel 1994; Konrad, Dagmar: Missionsbräute. Pietistinnen des 19. 1. F ORSCHUNGSHINTERGRUND | 27 Mission war zwar nicht in den Südsee-Kolonien des Kaiserreichs tätig, doch können diese Veröffentlichungen auch für die Auseinandersetzung mit den dort stationierten deutschen Missionen interessante Impulse und Vergleichsmöglichkeiten bieten. Dasselbe gilt etwa für die Monografie von Annemarie Töpperwien über Rheinische Missionarsfrauen in Indonesien.44 Erst in jüngster Zeit rückten auch weibliche deutsche Missionsangehörigen in den Südsee-Kolonien des Kaiserreichs ins Blickfeld: 2012 erschien die Monografie Lebenswelt und Identität in Selbstzeugnissen protestantischer Missionsfrauen in Britisch- und Deutsch-Neuguinea von Tanja Hammel.45 Wichtigste Quellen zu den deutschen Frauen sind hier die Tagebücher der Missionarsfrauen Johanna Fellmann, Justine Vetter und Johanna Diehl, die auch für die vorliegende Untersuchung ausgewertet wurden. Insgesamt bleibt Hammels Quellenbasis schmal, angesichts der Tatsache, dass die Monografie eine überarbeitete Masterarbeit darstellt, ist sie dennoch erstaunlich umfangreich und bietet einen interessanten Einblick in ein bis dato kaum untersuchtes Forschungsthema. Die von Hammel thematisierte Neuendettelsauer Missionarsfrau Vetter ist auch eine der Frauen, die in Mi stori. Frauen erzählen Geschichte vorgestellt werden, das ebenfalls 2012 erschien.46 Hier wurde von Seiten der Mission die Initiative ergriffen, einen „Beitrag dazu [zu] leisten, die Randständigkeit von Frauen in der Missionsgeschichtsschreibung und die Marginalisiserung der Frauengeschichsschreibung überhaupt zu überwinden“.47 Die Veröffentlichung stützt sich zwar überwiegend auf Quellen aus dem Archiv Mission Eine Welt in Neuendettelsau, hat allerdings einen weniger akademischen Charakter: „Die Ich-Form, in der die meisten Biografien dargestellt sind, ist fingiert und dem Charakter der Veröffentlichung als Erzählbuch geschuldet“, schreibt die Herausgeberin im Vorwort.48 Das Buch ist dennoch gut geeignet, um sich einen einen ersten Eindruck vom Alltag der Frauen in der Mission und der Bandbreite ihrer Lebenswege zu verschaffen. 44 45 46 47 48 Jahrhunderts in der Basler Mission, Münster 2001; Keim, Christine: Frauenmission und Frauenemanzipation. Eine Diskussion in der Basler Mission im Kontext der frühen ökumenischen Bewegung (1901-1928), Münster 2005. Töpperwien, Annemarie: Seine „Gehülfin“. Wirken und Bewährung deutscher Missionarsfrauen in Indonesien 1865-1930, Köln 2004². Hammel, Tanja: Lebenswelt und Identität in Selbstzeugnissen protestantischer Missionsfrauen in Britisch- und Deutsch-Neuguinea, 1884-1914, Hamburg 2012. Jahnel, Claudia (Hrsg.): Mi stori. Frauen erzählen Geschichte, Neuendettelsau 2012; darin zu Missionarsfrau Vetter: Becker, Annegret: Justine Wilhelmine Caroline Vetter, geb. Schmidt. Im Fieberland, S. 54-63. Ebd., S. 11. Ebd.