Vorwort - Verlag Deutsche Polizeiliteratur

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Vorwort
Vorwort
Die Überwindung der Grundwerte einer demokratischen Grundordnung ist
die zentralste Botschaft jeglicher Form radikaler politischer Bewegungen
moderner Gesellschaften. Radikale politische Bewegungen zeichnen sich
zudem durch ihre Unfähigkeit aus, notwendige Kompromisse einzugehen,
welcher der in der Verfassung garantierte politische, kulturelle und religiöse
Pluralismus bedarf. Hierbei kann nicht deutlich genug betont werden, dass
dieser Pluralismus ein Strukturelement der freiheitlich – rechtsstaatlichen
Demokratie ist.
Seine Bedeutung wird hinsichtlich des kulturellen Wandels westlicher Gesellschaften besonders deutlich: So wird sich nicht nur die Altersstruktur in
Deutschland massiv ändern, sondern auch die gesellschaftliche Zusammensetzung. Dieser Pluralismus wird auch von rechtspopulistischem Radikalismus
bekämpft. Trotzdem sind sich Politik und Gesellschaft weitgehend im Klaren,
dass auch die Bundesrepublik Deutschland ein Einwanderungsland geworden ist. Glaubt man den aktuellen Statistiken, so leben hierzulande fast 16
Millionen Menschen mit Migrationshintergrund1 , was etwa 20 Prozent der
Wohnbevölkerung entspricht. Damit hat jeder fünfte Einwohner in Deutschland ausländische Wurzeln. Betrachtet man den städtischen Bereich, so ist
der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund wesentlich höher. Hinzu
kommt, dass die Zuwandererbevölkerung jünger ist. In Großstädten mit mehr
als 500 000 Einwohnern kommt sogar fast jedes zweite minderjährige Kind
(46 %) aus einer Familie mit Migrationshintergrund. Laut Mikrozensus haben
in Stuttgart 40 Prozent aller Einwohner einen Migrationshintergrund. Rund
ein Drittel der Bevölkerung wurde im Ausland geboren, über 40 Prozent der
Kinder im Vorschulalter stammen aus Einwandererfamilien. In Deutschland
1 Bei der Bevölkerung mit Migrationshintergrund handelt es sich um Personen, die nach 1949
auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zugezogen sind, sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer/-innen und alle in Deutschland Geborenen mit zumindest einem
zugezogenen oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil. Der Migrationsstatus
einer Person wird hierbei aus seinen persönlichen Merkmalen zu Zuzug, Einbürgerung und
Staatsangehörigkeit sowie aus den entsprechenden Merkmalen seiner Eltern bestimmt.
Dies bedeutet, dass in Deutschland geborene Deutsche einen Migrationshintergrund haben
können, sei es als Kinder von Spätaussiedlern, als Kinder ausländischer Elternpaare (so
genannte ius soli-Kinder oder als Deutsche mit einseitigem Migrationshintergrund. Dieser
Migrationshintergrund leitet sich dann ausschließlich aus den Eigenschaften der Eltern ab. Die
Betroffenen können diesen Migrationshintergrund aber nicht an ihre Nachkommen vererben.
Dies ist dagegen bei den Zugewanderten und den in Deutschland geborenen Ausländer/-innen
der Fall. Nach den heutigen ausländerrechtlichen Vorschriften umfasst diese Definition somit
üblicherweise Angehörige der 1. bis 3. Migrantengeneration.“ Vgl.: Statistisches Bundesamt
2008, Fachserie 1, Reihe 2.2, Seite 6.
© VERLAG DEUTSCHE POLIZEILITERATUR GMBH Buchvertrieb, Hilden
LP und LKA RP, „Radikalisierungsmechanismen“, 1. Auflage 2012, ISBN 978-3-8011-0684-3
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leben Menschen aus mehr als 170 Nationen, und es werden über 120 Sprachen gesprochen.
Die Identitätsangebote der modernen Gesellschaft wirken aufgrund ihrer
konkurrierenden Vielzahl und Uneindeutigkeit immer weniger harmonisch.
Manche Menschen können nicht damit umgehen, dass die Identität somit
weniger durch tradierte Rollenmodelle oder repressive Zuschreibungen
gebildet wird. Sie tendieren dazu, sich in Abgrenzung zum Fremden zu identifizieren, dabei determiniert die Hautfarbe, die ethnische Herkunft oder die
Religion den Fremden durch eine Reihe von Zuschreibungen. Der Körper
wirkt also als Oberfläche regulativer Diskurse. Die veränderten soziokulturellen Rahmenbedingungen werden oft als Bedrohung wahrgenommen, auf
deren verunsichernde Wirkung durch die soziale Konstruktion von radikalen
Ausgrenzungen reagiert wird.
Die kompromisslose Abwehr radikaler Strömungen, auch islamistischer
Bewegungen, muss dem Rechnung tragen, dass ambitionierte Gruppen auf
identitätsfundierende Symbole zurückgreifen. So wird in der Komplexität
global vernetzter identitätsstiftender Aushandlungssysteme eine Lücke im
Bereich der Symbolisierung des Politischen entdeckt, worauf mit Populismus
als Konfliktstrategie zur Identitätspolitik reagiert wird. Der Radikalismus,
eine Art anarchischer Schatten der Globalisierung, sucht in xenophoben
Reflexen und in der Festigung von Vorurteilen und Konfliktlinien eine sich
global durchsetzende Volksideologie auszumachen, die interessanterweise
mehrere Spektren gleichzeitig bedient:
So ist die radikale Abweisung „des Anderen“ gleichsam auf islamistischer,
wie auf islamfeindlicher Seite zu beobachten. Damit lassen sich Emotionen
binden und Stimmen gewinnen, jedoch ist Fremdenhass und Rassismus
Symptom eines tiefergehenden Identitätskonfliktes. Der Fremde muss in
einer faschistisch-nationalistischen Ideologie vernichtet werden. Eine Ähnlichkeit findet sich innerhalb der radikal-islamistischen Ideologie. Dort wird
der Ungläubige als Inbegriff des Bösen zur Vernichtung freigegeben.
Konstitutiv für Inhalt und Anlass der Fachtagung ist dabei die Überzeugung,
dass eine nachhaltige und erkenntnisorientierte Auseinandersetzung mit
Radikalisierungsmechanismen und -strategien radikalisierter Gruppen und
Einzelpersonen im polizeilichen Interesse ist und bleiben muss. Hierbei ist
auch von Bedeutung, dass unterschiedliche Methoden der Sozialwissenschaften, Psychologie, Religions- und Islamwissenschaften zusammengeführt
werden müssen, um dem Phänomen angemessen begegnen zu können.
Darüber hinaus soll ein Ländervergleich durchgeführt werden, um eventuelle
Differenzen im Radikalisierungsprozess zu elaborieren. Auf der Grundlage
der dann gewonnenen Erkenntnisse über die für Radikalisierungsprozesse
verantwortlichen Mechanismen sollen die jeweiligen Deradikalisierungs© VERLAG DEUTSCHE POLIZEILITERATUR GMBH Buchvertrieb, Hilden
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strategien verschiedener Bundesländer und einiger europäischer Länder
gegenübergestellt werden. Die Frage, was eine erfolgreiche Deradikalisierung
ist und wie eine solche möglich erscheint, sowie der Blick auf staatliche
Deradikalisierungsprogramme soll helfen, eine vergleichende Analyse zu
unterschiedlichen Strategien zu erstellen. Ebenso gilt die fachliche Auseinandersetzung der Tagung mit zivilgesellschaftlichen Möglichkeiten und den
damit zusammenhängenden Grenzen der Deradikalisierung.
Der Fachbereich Polizei der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung und
die Landespolizeischule Rheinland-Pfalz zeichnen sich verantwortlich für die
Aus- und Fortbildung der rheinland-pfälzischen Polizei. Die Initiative zum
akademischen Diskurs gesellschaftspolitischer Themenstellungen wurde
hier verbunden mit der Entscheidung, den Zugang zum Polizeidienst an eine
akademische Ausbildung zu knüpfen, was über die Kernaufgaben der Polizei
hinaus geht, aber auch mit ihnen in Verbindung steht. Netzwerkbildung der
Polizei mit Institutionen u.a. der Bildung, Rechtspflege oder mit MigrantenSelbstorganisationen (MSO’s) gehört damit in den interdisziplinären Diskurs
einer bürgernahen und modernen Polizei.
Die durch diesen Band dokumentierte Fachtagung bildet einen Baustein in
der Reihe jener Veranstaltungen der Landespolizeischule Rheinland-Pfalz in
Kooperation mit dem Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz und der Leitstelle
Kriminalprävention im Ministerium des Innern, für Sport und Infrastruktur
(Rheinland-Pfalz), welche den vorgenannten interdisziplinären Diskurs initiieren und beleben soll.
Radikalisierung von Teilen der Bevölkerung, nationale und europäische Deradikalisierungskonzepte, Facetten der Xenophobie und des Rassismus sind
daher nicht ausschließlich polizeiliche Themen im Rahmen der Garantie einer
stabilen Sicherheitsarchitektur. Vielmehr gelingen Analyse, Gegenbewegungen und gesellschaftspolitische Konzeptionen nur in gemeinsamem Interesse
und mit dem Willen zur koordinierten Vorgehensweise.
Gebotenes Fachwissen, erörterte Erfahrung und Handlungsoptionen innerhalb der bundesweiten Fachtagung wurden daher ebenso netzwerkspezifisch angelegt wie der eingeladene und vorhandene Teilnehmerkreis. Die
Ergebnisse bedürfen in der Folge ebenfalls der interdisziplinären Reflektion
und Fortschreibung. Der Polizei darf dabei nicht die alleinige Verantwortung
überlassen werden, trotz der Tatsache, dass sie im Rahmen ihres wissenschaftlichen Aus- und Fortbildungsansatzes Motor der vorliegenden Initiative
war und ist.
Gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge bedürfen einer gesamtgesellschaftlichen Betrachtungsweise. Gesamtgesellschaftliche Probleme bedürfen
der gesamtgesellschaftlichen Behebung. Infolgedessen gilt es, netzwerkspezifische Vorgehensweisen zu intensivieren. Justiz, Verfassungsschutz, Polizei,
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LP und LKA RP, „Radikalisierungsmechanismen“, 1. Auflage 2012, ISBN 978-3-8011-0684-3
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Institutionen der Bildung mit vorwiegend integrativer Aufgabenstellung
waren daher aufgefordert, sich der durch die Fachtagung dokumentierten
Thematik insoweit konstruktiv zu nähern, als dass über die Analyse hinaus
Ansätze zur Behebung oder künftigen Verhinderungen von gesellschaftlichen
Spannungsfeldern möglich werden.
Auch wies die Tagung darauf hin, dass Radikalisierung nicht alleine vor
migrantischem Hintergrund zu identifizieren ist. Die bezeichneten Prozesse
und Phänomene sind nicht isoliert auf Menschen mit Migrationshintergrund zu übertragen, vielmehr zeigen sie sich auch im Rahmen nationaler,
internationaler und individueller Kontextualität, wie die NSU-Morde (NSU
= „Nationalsozialistischer Untergrund“) deutlich belegen, die allerdings erst
im Nachgang zur Konferenz aufgedeckt wurden. Insoweit ist das Thema der
Fachtagung als Anfang und nicht als Ende der interdisziplinär angelegten
Debatte und der sich daraus ergebenden konkreten gesellschaftspolitischen
Aufgabenstellungen zu betrachten.
Bei der bundesweiten Fachtagung waren zahlreiche Vertreter von regionalen
und überregionalen Medien anwesend, was maßgeblich zur Nachhaltigkeit
der Veranstaltung beigetragen hat.
Durch die fundierte Medienberichterstattung in Hörfunk, TV- und Printmedien
wurde das Thema einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Tenor der Berichterstattung war die Wichtigkeit des Themas. Die zentrale
Botschaft, dass die Deradikalisierung eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe
darstellt, an der die Sicherheitsbehörden und zivilgesellschaftliche Akteure
„Hand in Hand“ arbeiten müssen, wurde positiv aufgegriffen und entsprechend diskutiert. Zur Effizienzsteigerung ist es notwendig, Netzwerkstrukturen zu schaffen und die Idee zu transportieren, dass dies unabdingbare
Voraussetzung für eine erfolgreiche Bekämpfung des Phänomens ist.
Die Veranstaltung ist ein zentraler Baustein zur Festigung dieser Netzwerkstrukturen. In diesem Sinn soll 2012 eine Fortführung dieser Veranstaltung
unter dem Leitthema „Xenophobie“ stattfinden.
Dr. Herbert Fischer-Drumm
Landespolizeischule Rheinland-Pfalz
Dr. Marwan Abou-Taam
Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz
Dr. Naika Foroutan
Humboldt-Universität zu Berlin
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