MEDIZIN | GESELLSCHAF T | RECHT Swiss Aids News 1 | MÄ RZ 2013 Pillen E D I T O R I A L IMPRESSUM Herausgeber Aids-Hilfe Schweiz (AHS) Bundesamt für Gesundheit BAG Redaktion lic. phil. Stéphane Praz (sp), Chefredaktor Brigitta Javurek (bj), Journalistin BR Dr. iur. LL. M. Caroline Suter (cs) David Haerry, Positivrat Schweiz (dh) Roman Lauer, Wissenschaftsjournalist (rl) Gestaltung Ritz & Häfliger, Visuelle Kommunikation, Basel SAN Nr. 1, März 2013 © Aids-Hilfe Schweiz, Zürich Die SAN erscheinen dreimonatlich in einer Auflage von 5500 Exemplaren mit der Unterstützung von: Bundesamt für Gesundheit, Bern Boehringer Ingelheim (Schweiz) AG Die industriellen Partner der Swiss Aids News nehmen keinen Einfluss auf deren Inhalt. Abo-Service Redaktion Swiss Aids News Aids-Hilfe Schweiz Postfach 1118, 8031 Zürich Tel. 044 447 11 11 [email protected], www.aids.ch MEDIZIN | GESELLSCHAF T | RECHT Swiss Aids News 1 | MÄR Z 2 013 Pillen Titelbild / Fotos im Heft © Marilyn Manser / Aids-Hilfe Schweiz (Ausnahmen mit Copyright bezeichnet) 2 Swiss Aids News 1 | März 2013 Liebe Leserin Lieber Leser Die entscheidende Wende, das Versprechen auf Leben, wo früher der Tod sicher war, die Hoffnung, den weltweiten Kampf gegen HIV zu gewinnen: alles verpackt in Pillen. Hält man eine in der Hand, kann man sich kaum vorstellen, was sie und ihresgleichen bewegt haben und täglich bewegen. Und man kann sich kaum vorstellen, was alles dahintersteckt, bis ein paar Milligramm Wirkstoff gegen HIV in Form dieser Pille dem Patienten zur Verfügung stehen. Universitäten, Pharmaunternehmen, Patienten, Ärzte, Gesundheitsbehörden: Unzählige Akteure sind im Verlauf vieler Jahre involviert. Wir zeigen in diesem Heft den Weg eines Medikaments auf und schauen den Forschern am Anfang des Wegs über die Schulter. Aber wir fragen auch, was sich am anderen Ende des Wegs tut, auf dem Markt. Und was bedeuten die Pillen letztlich für den Patienten? Wir sprechen mit einem, der in dieser Beziehung sehr viel Erfahrung hat. Stéphane Praz Chefredaktor Swiss Aids News Inhalt Nationales Programm HIV/STI 3 ART: Fluch und/oder Segen? Gesellschaft 4 Forschen im Virushaufen – Grundlagen­forschung HIV 6 Der lange Weg des Medikaments 7 Diskussionen um Kopien 10 Antiretrovirale Medikamente: Der Beitrag der Patienten 12 Leben ohne Packungsbeilage Recht 14 Welche Medikamente muss die Krankenkasse übernehmen? 16 Längere Reisen, HIV-Medikamente und Versicherungen N AT I O N A L E S P R O G R A M M H I V / S T I N P H S ART: Fluch und/oder Segen? 15 Jahre ist es her, seit die Diagnose «Aids» dank der antire­ tro­viralen Kombinationstherapie (ART) nicht mehr ­unbedingt ­innert Monaten zum Tod führt. ART hat das Gesicht von Aids – und damit auch der HIV-Infektion – gründlich verändert. In dieser Zeit ist die Therapie markant verbessert worden, so­ wohl was Einnahmebedingungen als auch Nebenwirkungen betrifft. Viele HIV-Infizierte, welche die richtige Therapie rechtzeitig und ohne Resistenzprobleme anfangen konnten, müssen heute «nur» eine Pille pro Tag einnehmen. Die Wissen­ schaft «verspricht» Betroffenen heute eine «nahezu unbeein­ trächtigte Lebenserwartung». Sind 15 Jahre Erfahrung genug für dieses Versprechen? Das Durchschnittsalter bei den neu gemeldeten Fällen von HIV-Infektion beträgt bei Männern ca. 35 Jahre. Bei Frauen etwas weniger. Stellt man sich vor, dass es einige Jahre nach der Ansteckung Zeit wird, mit der Therapie zu beginnen, dann hat ein heute 40-jähriger Mann eine statistische Lebenserwartung von 80 Jahren, eine Frau von über 85 Jahren. Wir sprechen also von einer vermuteten Therapiedauer von 40 oder 45 Jahren. «ART ist auch heute noch – und wird es noch viele Jahre bleiben – experimentell.» Ein Versprechen mit vielen Unbekannten! Die heute gebräuchlichen Kombinationen von Wirkstoffen der ART sind erst wenige Jahre im breiten Einsatz. Ab Mitte der 90erJahre wurden zum Teil andere Wirkstoffe verabreicht. Sie sind heute nicht mehr gebräuchlich, weil man unter anderem dank der Schweizerischen HIV-Kohortenstudie die Therapie wissenschaftlich begleitet hat und sah, dass einige der Wirkstoffe unerwünschte Nebenwirkungen und Schädigungen des Organismus zur Folge hatten. Die heute eingesetzten Kombinationen sind gegenüber dem Anfang der ART-Epoche sicher viel besser und nebenwirkungsärmer geworden. Trotzdem ist es zu früh, davon auszugehen, dass die wenigen Jahre mit guten Erfahrungen auf 40 und mehr Jahre «Dauereinsatz» extrapoliert werden können. Bereits heute zeichnet sich ab, dass die HIV-Infektion an sich, aber eventuell auch die ART die Alterung des betroffenen Menschen beschleunigt. teure ­Forschung nicht, um noch weitere wirksame und nebenwirkungsarme Medikamente zu entwickeln, weil man ganz einfach keine neuen Moleküle mehr findet. HIV-Terapie bleibt experimentell! Aus der Perspektive, dass HIV-Infizierte eine über 40 Jahre wirksame, möglichst nebenwirkungsfreie ART brauchen, damit die Medizin das Versprechen der «nahezu unbeeinträchtigten Lebenserwartung» einlösen kann, sind zwei Schlüsse zu ziehen: 1. Wir tun gut daran, nicht zu früh mit ART zu beginnen! Wenn die Wirksamkeitsdauer von ART beschränkt ist und nicht 40 Jahre erreicht, dann sollten wir keine Therapiejahre «vergeuden», bevor nicht wissenschaftlich evident nachgewiesen ist, dass «noch früher» auch wirklich «noch besser» ist. Allgemein akzeptiert ist ein Therapiestart bei CD4 um 350. Wer die ART aber anschliessend unterbricht, verspielt den Vorteil und hätte auch erst bei CD4 = 200 beginnen können. 2. ART ist auch heute noch – und wird es noch viele Jahre bleiben – experimentell. Daraus leitet sich ab, dass die Therapie in die Hand von Spezialisten und kontrollierten Studien gehört, um allfällig langsam sich entwickelnde Schädigungen des Organismus früh erkennen und die Therapien anpassen zu können. In Anbetracht der Alterungsprobleme von HIV-Infizierten müssen sich die bisherigen Spezialisten aber daran gewöhnen, dass die Hauptherausforderung nicht mehr (nur) infektiologisch, sondern heute schon internistisch und mittelfristig zunehmend geriatrisch sein wird. Ohne integrierte Versorgung im interdisziplinären Team ist das Versprechen kaum einlösbar. Roger Staub, MPH, MAE Programmleiter NPHS im BAG Hoffen auf den Fortschritt? Gewiss hat die pharmazeutische Industrie bei der Entwicklung der antiretroviral wirksamen Medikamente ungeheuer viel geleis­ tet und wird das hoffentlich auch weiterhin tun. Das kann sie, wenn die Investitionen in Forschung durch realistische «GewinnHoffnung» abgesichert sind. Und manchmal genügt auch sehr viel Swiss Aids News 1 | März 2013 3 G E S E L L S C H A F T Forschen im Virushaufen Die HIV-Forschung ist eine der grossen Erfolgsgeschichten der modernen Medizin. In der Diagnostik wie in der Behandlung. Mit rund dreissig Medikamenten kann das Virus nicht ausradiert, aber doch in Schach gehalten werden. Die Grundlagenforschung hat einen gros­ sen Anteil daran. Sie legt die Grundsteine für die Entwicklung von Medikamenten. Im In­ stitut für Medizinische Virologie der Universität Zürich wird unermüdlich HIV-Forschung betrieben. Ein Augenschein vor Ort. Geht den Dingen auf den Grund: Dr. Axel Mann. Block 36, Uni-Campus Irchel, Institut für Medizinische Virologie, oberstes Stockwerk, hoch über der Stadt. Eine moderne, durchlässige Architektur öffnet den Blick auf Zürich Nord. Flugzeuge kreuzen den Horizont, in der Nähe schlotet ein Kamin, Schwamendingen bewegt sich. Die Temperaturen sind tief, die Grippe geht um. Hier arbeitet Axel Mann, Doktor der Biologie, als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Team der Gruppe Trkola. Seit drei Jahren auf dem Irchel. Vorher arbeitete die Gruppe down town in einem Altbau im Stadtzentrum von Zürich. Alexandra Trkola, Institutsleiterin, startete als Oberassistentin im Jahr 2000 im Universitätsspital Zürich. 2004 wurde sie SNF Förderprofessorin. Heute steht sie als Professorin einem internationalen Team vor. Trkola ist Expertin in der Antikörperabwehr des Menschen in Bezug auf HIV. Seit den 90er-Jahren forscht sie zum Thema. Sie leitet das Institut mit vier Forschungsgruppen, die Grundlagenforschung betreiben und versuchen, verschiedenen Viren auf die Spur zu kommen. Drei Gruppen forschen zu Influenza, also Grippe, und sind, wie immer im Winter, nahe am Geschehen. Die grösste Gruppe, geleitet von Frau Trkola, forscht zu HIV. Ihr gehören Dr. Mann und seine zwei Forscherkollegen an. Auf den Grund sehen Wer Grundlagenforschung betreibt, will den Dingen auf den Grund gehen, auf den Grund sehen. «Unser erstes Ziel ist es, das Virus noch besser zu verstehen. Mit dem weiteren Ziel, dieses neuerworbene Wissen später einmal anwenden zu können. Zum Beispiel für die Entwicklung neuer Medikamente», erklärt Mann. Denn fast alle Medikamente, die später auf dem Markt sind, stützen sich auf Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung. Mann und seine zwei Forscherkollegen versuchen, den Eintrittsprozess des Virus in die Zelle besser zu verstehen. Und zwar Schritt für Schritt. Denn 4 Swiss Aids News 1 | März 2013 das Virus bewegt sich nicht einfach ruck zuck zack zack und ist dann in einer Helfer-Zelle drin. Sondern es braucht dazu, einfach gesagt, Energie und Strategie. Zuerst dockt das Virus an, dann kommt der Corezeptor dazu und zu guter Letzt schiesst eine Art umgeklappter Feder das Virus in die Zelle. So schafft es das HI-Virus, seine Hülle mit derjenigen der Zelle zu verschmelzen. Die Isolierung dieser Schritte ist wiederum äusserst komplex und noch keineswegs vollständig entschlüsselt. Mann und seine Kollegen versuchen einen Stoff zu entwickeln, der den Eintritt in die Zelle verhindert. Ihre Forschung ist wiederum Teil der übergeordneten Frage: Wie schafft es das Immunsystem, den Eintritt des Virus zu verhindern? Zwar sind Medikamente auf dem Markt, die genau dies verhindern, und vieles ist bekannt, aber längst noch nicht alles. Und genau hier setzt die Grundlagenforschung wieder ein. Sie «Unser erstes Ziel ist es, das Virus noch besser zu verstehen. Mit dem weiteren Ziel dieses neuerworbene Wissen später einmal anwenden zu können.» muss die Fragen neu stellen, neue Perspektiven entwickeln, das noch nicht Ausgesprochene suchen. Die berühmte Suche im Heuhaufen. Das bedeutet auch, dass Grundlagenforschung keine Zeitlimite kennt, ausser einer finanziellen. Grundlagenforschung braucht zwingend viel Freiheit, auch die Freiheit zu scheitern. Mann: «Man betritt immer wieder Neuland. Und man muss mit Rückschlägen umgehen können. Das ist nicht immer einfach. Doch in unserer Gruppe ist die Motivation gross. Zwar sind Medikamente auf dem Markt, doch man hätte gerne einen Impfstoff. Anfang der 80er-Jahre dachte man ja noch, das klappt bald. Impfstoffe funktionieren gut bei vielen Viren, aber nicht bei sehr variablen Viren wie bei HIV und Hepatitis C.» Forschungsplatz Zürich ­blitzblank sauber, alles ist steril. Der Arbeits- Mann arbeitet hälftig im Labor und hälftig im Büro am Schreibtisch. Den braucht er, um Projektbeschriebe zu verfassen, Anträge zu stellen, Ideen zu vermitteln, sich mit Kollaborationspartnern innerhalb der Uni und der ganzen Welt auszutauschen, Vorträge auszuarbeiten. Was genau wurde erforscht? Wie lauten die Resultate, was für Schlüsse wurden gezogen? Die Beschriebe gehen an wissenschaftliche Journale, und diese wiederum an Experten, welche die Arbeit bewerten und ein Feedback dazu abgeben. Je nachdem heisst das nochmals über die Bücher gehen, Anpassungen vornehmen, einen Versuch abbrechen oder weitergehen. Wir befinden uns im Laborbereich, Biosicherheitsstufe 2. Das heisst, weisse Kittel und Gummihandschuhe anziehen ist ­Vorschrift, Türen sind geschlosssen, ansonsten kann man sich frei bewegen. Das Team hat die Bewilligung mit humanpathogenem Material zu arbeiten. Das bedeutet, man darf mit Teilen von Erregern arbeiten, die Menschen infizieren können. Konkret: Teile aus einer Blutprobe eines HIVpositiven Menschen. Dieser wiederum gibt regelmässig sein Blut am Universitätsspital ab, zur Kontrolle und im Rahmen der Kohortenstudie. Im Labor reiht sich Arbeitsplatz an Arbeitsplatz. Rund 15 Biologen und ­Bio­loginnen forschen in der Arbeitsgruppe Trkola zu HIV. Pipetten, Reagenzgläser, ­Flaschen aus Plastik und Glas, fein säuberlich beschriftet, Thermometer, Waagen, ­Messgeräte: allem scheint eine genaue Ordnung innezuwohnen, alles ist platz von Mann misst gerade einmal 1 Meter 20 und gilt in Forscherkreisen als geradezu luxuriös. «Normalerweise würden hier doppelt so viele Forscher arbeiten ... Wir sind sehr glücklich über die tollen Voraussetzungen im Irchel-Campus. Der Kanton Zürich hat viel investiert und das hat sich gelohnt. Man kann gut miteinander kommunizieren, die Lüftung, die Arbeitsgeräte und –bedingungen sind sehr gut.» So können sich die Forschenden austauschen, kurzschliessen, aushelfen. Die Bewilligung für diese Labors spricht das Bundesamt für Gesundheit BAG aus. Das ist auch jene Instanz, die jeweils unangemeldet vorbeikommt und Überprüfungen vornimmt. Faszination Virus Axel Mann ist fasziniert von Viren. Viren, jene Partikel, die nicht im eigentlichen Sinne leben und gleichwohl aus uns entstanden sind. Während eines Semesterpraktikums in Frankreich kam Mann auf das Virus. Und für seine Diplomarbeit bewarb er sich für ein HIV-Projekt, weil er das Gefühl hatte in diesem Bereich sei Handlungsbedarf angesagt: «Es ist befriedigender, an etwas zu arbeiten, das vielen Menschen nützt, als für eine Krankheit, die nur 100 Menschen betrifft». bj Swiss Aids News 1 | März 2013 5 G E S E L L S C H A F T Der lange Weg des Medikaments Rund zwei Dutzend HIV-Medikamente sind heute auf dem Markt. Bevor ein Wirkstoff aber zum Verkauf zugelassen wird, verschlingt der Forschungsprozess eine Unmenge an Geld und dauert oft über ein Jahrzehnt. Testphasen an Menschen und Tieren gehören dazu. «Die Entwicklung eines HIVMedikamentes dauert häufig länger als zehn Jahre und ­kostet mindestens eine Milliarde Franken.» 6 Swiss Aids News 1 | März 2013 «Die Entwicklung eines HIV-Medikamentes dauert häufig länger als zehn Jahre und kostet mindestens eine Milliarde Franken», sagt Roberto Speck, Leiter einer Forschungsgruppe in der Klinik für Infektionskrankheiten und Spitalhygiene des Universitätsspitals Zürich. Seit den 1980er-Jahren haben rund dreissig HIV-Medikamente den Weg auf den Markt gefunden. Pharmaunternehmen forschen indes weiter an neuen, besser verträglichen und noch wirksameren Medikamenten. Die Suche nach einem neuen Arzneimittel beginnt mit der Definition eines Zielobjekts: Was möchte man mit einem Medikament beeinflussen? Dieses sogenannte Target ist meistens eine Schlüsselstelle im HIV-Vermehrungszyklus; quasi ein Schlüsselloch, zu dem es einen passenden Schlüssel zu finden gilt, um damit das Virus zu unterdrücken, vernichten oder gar nicht erst eindringen zu lassen. In sogenannten Molekülbibliotheken lagern chemische Verbindungen aus früheren Forschungsprojekten oder welche, die neu hergestellt worden sind. Darin bedienen sich die Forscher bei der Suche nach Wirkstoffkandidaten. Mittels automatisierter Suchverfahren werden die Substanzen auf ihre Fähigkeit, ein Zielobjekt zu hemmen, getestet. Das geschieht in erster Linie an Zellkulturen ausserhalb von Mensch und Tier. Zeigt ein Wirkstoffkandidat eine Hemmung des Zielobjekts, wird das als Hit bezeichnet. Er kommt in der Medikamentenentwicklung eine Runde weiter. Ausgeschlossen werden diejenigen Substanzen, die gar keine Reaktion aufweisen oder nicht nur das Virus, sondern die ganze Zellkultur durch eine zu hohe Toxizität vernichten. «Von vielen Substanzen wissen wir überhaupt nicht, wie sie mit dem Zielobjekt interagieren», erklärt Speck, «es müssen jeweils bis zu drei Millionen Substanzen getestet werden, um eine kleine Anzahl von Wirkstoffkandidaten auszuwählen. Deshalb dauern diese Suchverfahren oft mehrere Monate.» Versuche mit Mensch und Tier Die Wirkstoffkandidaten werden im nächsten Schritt an Tieren getestet. Zuerst untersuchen die Forscher die sogenannten pharmakokinetischen und toxikologischen Eigenschaften: Wie verteilt sich der Wirkstoff im Körper? Nach welcher Zeit wird er ausgeschieden? Hat er Nebenwirkungen oder ist er sogar toxisch? Die Forscher haben eine genaue Vorstellung, wie sich ein geeigneter Wirkstoff zu verhalten hat. Er soll beispielsweise erst nach einer gewissen Zeit ausgeschieden werden, um seine Wirkung genug lange im Körper entfalten zu können. Erfüllt ein Wirkstoff diese Anforderungen und weist er die nötige Wirksamkeit auf, wird er zu einer Arzneiform modifiziert – zum Beispiel zu einer Tablette – und an Menschen getestet. Die meisten Wirkstoffkandidaten scheiden bis zu diesem Punkt aufgrund von ungünstigen pharmakokinetischen oder toxikologischen Eigenschaften und mangelnder Wirksamkeit aus, sodass im Normalfall nur noch ein Kandidat übrig bleibt. «Sicherheit ist bei Versuchen mit Menschen das Allerwichtigste», sagt Speck. In der Testphase mit HIV-infizierten Menschen werden, wie bereits bei den Tieren, zuerst die pharmakokinetischen und toxikologischen Eigenschaften untersucht. Verhält sich der Wirkstoff im menschlichen Körper unbedenklich, verabreichen ihn die Experten an weitere freiwillige Testpersonen und achten bei höheren Dosierungen nun auch auf den gewünschten Effekt des Wirkstoffs. Kann eine Wirkung nachgewiesen werden und vertragen ihn die Versuchspersonen gut, erhöhen die Forscher die Zahl der Versuchspersonen auf 500 bis 1000. Sie testen das Medikament über mehrere Monate bis Jahre. Bei erfolgreich abgeschlossenen Tests kann ein Unternehmen die Zulassung des Medikaments bei der Arzneimittelbehörde beantragen. Bei einem positiven Entscheid kann es verkauft werden. Ein Teil der relativ hohen Medikamentenpreise fliesst wiederum in die Entwicklung weiterer Medikamente gegen HIV. rl Diskussionen um Kopien Bald dürften von einigen gebräuchlichen HIV-Medikamenten günstigere Generika auf den Schweizer Markt kommen. Das ist einerseits erfreulich, weckt aber auch Ängste vor zuneh­ mendem Kostendruck auf Ärzte und Patienten. Umso wichtiger wird es, den allgemeinen Nutzen der HIV-Therapie aufzuzeigen. Der weltweite Markt für HIV-Medikamente ist gross: Über dreizehn Milliarden Dollar wurden gemäss dem Marktforschungsinstitut GBI im Jahr 2011 allein in den sieben wichtigsten Ländern e ausgegeben. Ausgaben wohlgemerkt, die noch weit grössere Ausgaben verhindern. Denn die HIV-Therapie ist hocheffektiv. Dank ihr leben heute die meisten Patienten frei von Begleiterkrankungen, arbeiten und sind sexuell nicht infektiös. Dass die HIV-Medikamente deshalb aus volkswirtschaftlicher Sicht deutlich günstiger sind als die Alternative – keine Therapie nämlich – ist belegt und unbestritten. Ebenso machen die Ausgaben für HIV-Medikamente einen verhältnismässig kleinen Teil aus an den Gesundheitsbudgets der westlichen Länder. Und dennoch: die meisten dieser Budgets stossen zunehmend an ihre Grenzen, der Spardruck wächst. Und Sparpotential zeichnet sich bei den HIV-Medikamenten ab – in Form von Generika. Diese oft um ein Vielfaches billigeren Kopien von Originalmedikamenten dürfen hergestellt und verkauft werden, sobald letztere ihren Patentschutz verlieren. Diese Regelung gewährt einerseits innovativen Firmen für eine gewisse Zeit eine Monopolstellung für ihre teuer entwickelten Medikamente, lässt aber andererseits nach Ablauf dieser Zeit (meistens 15 Jahre ab Erstzulassung) den offenen Wettbewerb zu. In den kommenden Jahren laufen die Patente gleich mehrerer HIV-Medikamente aus. Bereits in diesem Jahr jene von Nevirapin, Efavirenz und Ritonavir. «Eine erfreuliche Entwicklung», kommentiert Pietro Vernazza, Infektiologe am Unispital St. Gallen, «Einige dieser Medikamente setzen wir sehr häufig ein, und die werden wir nun bald deutlich billiger erhalten.» Alles klar, alles unklar Für Anselmo Lafita vom Positivrat Schweiz ist klar, dass dadurch die Kosten der HIV-Therapie in Zukunft stärker in den Fokus rücken. Nicht zuletzt, wenn die Krankenkassen deutliches Sparpotential sehen. Denn es wird grosse Preis­ unterschiede geben bei HIV-Medikamenten: auf der einen Seite jene, von denen es Generika gibt, auf der anderen Seite neuere, deren Patentschutz noch besteht. Lafita sieht den damit verbundenen Debatten mit einem gewissen Unbehagen entgegen: «Ich fürchte, dass gerade bei der HIV-Therapie von einigen Seiten Radikalforderungen kommen könnten, die sich nicht in erster Linie am Patientenwohl orientieren, sondern nur auf Kostensenkung zielen.» Denn «Ich fürchte, dass gerade bei der HIV-Therapie von einigen Seiten Radikalforderungen kommen könnten, die sich nicht in erster Linie am Patientenwohl orientieren, sondern nur auf Kostensenkung zielen.» Anmerkung e USA, England, Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Japan Swiss Aids News 1 | März 2013 7 GESELLSCHAFT «Es ist sicher richtig, ­günstigere Therapien in die Entscheidung mit einzube­ ziehen, vorausgesetzt, es ergibt auch klinisch Sinn.» bereits heute, so Lafita, höre er immer wieder die Meinung, HIV-Positive seien schliesslich selber schuld, und deshalb sei deren Therapie so billig wie nur möglich zu halten. Auch der Infektiologe Vernazza warnt davor, die finanziellen Aspekte zu sehr in den Vordergrund zu stellen, findet allerdings eine sachliche Kostendiskussion durchaus wünschenswert: «Es ist wichtig, dass man auch finanzielle Fragen der HIV-Therapie thematisiert, unabhängig von Generika» sagt er, «genauso wie man finanzielle Fragen bei der Behandlung aller Krankheiten diskutieren sollte.» Bereits sehr konkret ist die Debatte um Generika von HIV-Medikamenten in den USA. ­Dies vor allem auf Grund einer im Januar 2013 publizierten Studie. Diese kommt zum Schluss, das Land könne durch den Einsatz von Generika über 900 Millionen Dollar jährlich sparen. Allerdings, so errechneten die Forscher, würde der Einsatz von Generika die Lebenserwartung eines HIV-Patienten um viereinhalb Monate verkürzen. Sie stellen darum die Frage, ob man gewillt sei, zugunsten von substanziellen Einsparungen eine von aussen betrachtet geringfügig kürzere Lebenserwartung von HIV-Patienten in Kauf zu nehmen. Und genau so wird das Thema seither in den Medien bearbeitet. Gleichzeitig sind sich jedoch die Fachleute über die Resultate der Studie alles andere als einig. Namentlich Vertreter der Weltgesundheitsorganisation WHO äusserten deutliche Kritik, da die Studie auf mathematischen Modellen basiert, mit Annahmen, die man ebenso gut anders treffen könnte. Und auf andere Resultate käme. Sie führen ihrerseits Studien an, die zeigen, dass HIV-Therapien mit Generika auch langfristig genau gleich wirksam und verträglich sind. Druck aktiv vermeiden Der Aufruhr um diese eine Studie lässt ahnen, dass die Debatte um Generika in der HIV-Therapie nicht einfach zu führen ist. Während sie sich für Medien und Öffentlichkeit sehr schnell um einfache Gegensätze dreht, stellen sich in Tat und Wahrheit viele komplexe Fragen. ­Harry Witzthum von der Aids-Hilfe Schweiz weist zudem darauf hin, dass es für viele dieser Fragen keine pauschalen Antworten gibt. «Es ist sicher richtig, günstigere Therapien in die Entscheidung mit einzubeziehen, vorausgesetzt, es ergibt auch klinisch Sinn», so Witzthum, «aber 8 Swiss Aids News 1 | März 2013 das müssen in jedem einzelnen Fall Arzt und Patient gemeinsam entscheiden. Und zwar frei von äusserem Druck irgendwelcher Art. Am Schluss steht das Wohl des Patienten im Vordergrund.» Um Druck auch in Zukunft zu verhindern, sei es jedoch wichtig, dass sowohl Ärzte wie Patienten deutlich machen, dass sie durchaus ein Bewusstsein für Kostenfragen haben. Dann würden individuelle Therapieentscheide auch nicht in Frage gestellt. Der Infektiologe Vernazza sieht hier noch Handlungsbedarf: «Es gibt bei vergleichbar guten Therapien bereits jetzt deutliche Kostenunterschiede, aber vielen Ärzten und Patienten ist das noch wenig bewusst.» Lafita vom Positivrat Schweiz weist hingegen darauf hin, dass es bei allem Sparwillen für viele Patienten aus Gründen der Thera­pietreue besser sei, die neueren – und teureren – Medikamente zu nehmen, welche in einer einzigen Tablette eine ganze HIV-Therapie enthalten. «Wenn jemand dadurch seine Therapie durchhält, ist das ein Gewinn für alle» sagt er. Das aber müsse verstärkt kommuniziert werden, wie ganz allgemein die Rolle der HIV-Therapie. «Die Leute müssen wissen, dass HIV-positive Menschen unter Therapie nicht mehr infektiös sind. Therapie ist Prävention. Wer das versteht, hat auch einen anderen Blick auf Kostenfragen.» Womit er sicher Recht hat. Denn die bestmögliche individuelle Therapie ist aus Sicht der öffentlichen Gesundheit immer am günstigsten – egal, wie teuer sie ist. sp M E D I Z I N Preiskampf in den ärmeren Ländern Mit den ersten HIV-Medikamenten gelang 1996 ein Durchbruch: aus dem Todesurteil wurde eine chronische Krankheit. In der westlichen Welt. Nicht so in den ärmeren Ländern. Für diese waren die HIV-Therapien mit jährlichen Kosten um 15 000–20 000 Franken viel zu teuer. Für sie kam der Durchbruch erst 2001, als ein indisches Unternehmen begann, Generika von im Westen patentierten HIV-Medikamenten herzustellen. Eine HIV-Therapie kostete so nur noch rund 500 Franken im Jahr. Aber auch die Hersteller von Originalpräparaten reagierten auf die vielerorts desolate Versorgungslage und entwickelten ihrerseits verschiedene Preismodelle, welche die geringe Kaufkraft in ärmeren Ländern berücksichtigten. Zudem folgten weitere Generikahersteller vor allem in Indien, Thailand, Brasilien und Südafrika. So verbesserte sich die Versorgung mit HIV-Medikamenten deutlich. Knapp über die Hälfte aller Patienten in ärmeren Ländern erhielt laut UNAIDS im Jahr 2011 die notwendige Therapie. Dennoch sehen UNAIDS und andere internationale Organisationen wie etwa Ärzte ohne Grenzen noch viel Handlungsbedarf. Denn nicht nur gibt es immer noch Millionen Menschen, die keinen Zugang zur Therapie haben, gleichzeitig nimmt die Zahl der HIV-Infizierten laufend zu. Und ein weiteres Problem droht die erreichten Erfolge zu vernichten: die in den letzten Jahren neu entwickelten HIV-Medikamente gibt es nicht mehr zu vergleichbar günstigen Preisen. Denn aufgrund des internationalen TRIPS-Abkommens e gelten alle Patente, die seit 2005 erteilt wurden, auch in den meisten ärmeren Ländern, so dass diese keine Generika herstellen dürfen. Auf neue Medikamente sind jedoch immer mehr Menschen angewiesen, da sie nach mehreren Jahren Therapie mit derselben Kombination Resistenzen entwickeln. Auf diese Herausforderungen antworten die Pharmaunternehmen mit verschiedenen Strategien. Eine davon sind gestufte Preise. Das bedeutet, dass sie in verschiedenen Ländern unterschiedliche Preise verlangen, die sich am jeweiligen Pro-Kopf-Einkommen orientieren. Zudem führen internationale Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen oder die Clinton Foundation, die mittlerweile zu den wichtigsten Käufern von HIV-Medikamenten gehören, intensive Verhandlungen mit den Herstellern von Originalmedikamenten ebenso wie mit Generikaproduzenten. Dank ihrer wichtigen Stellung als Käufer haben sie wesentlich mehr Verhandlungsmacht als etwa einzelne kleine Länder. Grosse Hoffnungen ruhen auch auf dem 2010 unter dem Dach der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gegründeten Patentpool: in diesen sollen Unternehmen Patente geben, die dann Generikahersteller gegen eine faire Lizenzgebühr nutzen können, um speziell für den Markt in ärmeren Ländern Medikamente zu entwickeln. Die amerikanische Gilead Sciences, weltweite Marktführerin bei HIV-Medikamenten, hat bereits mehrere Patente eingebracht, auch ganz neue. Und Anfang 2013 ist ViiV Healthcare mit einem Patent gefolgt. Anmerkung e Das TRIPS (Trade Related Intellectual Auf dem Weg zum grossen Ziel der WHO – Zugang zur HIV-Therapie für alle bis 2015 – sind dies wichtige Schritte. Bis aber wirklich alle HIV-Patienten eine voll wirksame Therapie erhalten, bedarf es noch sehr vieler Anstrengungen, Verhandlungen und Zusammenarbeit. sp Property Rights)-Abkommen gilt für alle Mitglieder der Welthandelsorganisation WTO und regelt Fragen rund um geistige Eigentumsrechte. Dazu zählt auch der Patentschutz für Medikamente. Swiss Aids News 1 | März 2013 9 G E S E L L S C H A F T Antiretrovirale Medikamente: Der Beitrag der Patienten Patienten beschleunigen die Medikamentenentwicklung: Es tönt wie ein frommer Wunsch. Im Bereich HIV ist er Realität geworden. Die HIV-Patienten haben Geschichte geschrieben und die Medikamentenentwicklung weit über HIV hinaus für immer umgekrempelt. Blättern wir ein wenig zurück. 1981 wurde in den USA über die ersten Aids-Fälle berichtet, zwei Jahre später wurde das HIV als Verursacher erkannt. Inzwischen war die Epidemie vor allem in San Francisco und New York voll ausgebrochen. In grosser Not organisierten Betroffene aus diesen Städten 1983 ein Treffen unter ihresgleichen in Denver. Die Teilnehmer verabschiedeten die Denver Declaration, welche den Einbezug von Menschen mit HIV auf allen Entscheidungsebenen forderte. «Nothing about us without us» lautete das Motto, welches die Aktivistenbewegung bis heute prägt. Die Forderungen dieser Gruppe waren revolutio­ när. Nie zuvor haben sich Patienten derart formiert und organisiert. Project Inform San Francisco Anmerkungen e Ribavirin wird heute als Bestandteil einer Kombinationstherapie gegen Hepatitis C eingesetzt. r Der «accelerated approval» ist heute ein weltweiter Standard für Heilmittel bei lebensbedrohlichen Krankheiten. Die «expanded access»-Programme haben Zehntausenden von Menschen das Leben gerettet. 10 Swiss Aids News 1 | März 2013 Die wohl älteste Aids-Aktivistengruppe orga­ ni­sierte Medikamentenschmuggeltouren zur mexikanischen Grenzstadt Tijuana. ­Eingekauft wurde jede mögliche Substanz, von der man sich antivirale Aktivität versprach. Das Schmuggelgut diente «medizinisch überwachten Guerillastudien» – man probierte ­alle möglichen Medikamente wie zum Beispiel ­Ribavirin e – ohne Bewilligung der Aufsichtsbehörde FDA, aber unter ärztlicher Überwachung. Project Inform etablierte die erste nationale Therapiehotline der USA – ­lange bevor es funktionierende Medikamente gab. Ebenso spielte Project Inform eine Pionierrolle in der Etablierung beschleunigter Zulassungsverfahren und der vorzeitigen Abgabe lebensrettender Therapien r. Die sehr professionell agierenden Aktivisten erzeugten enormen Druck, möglichst rasch funktionierende Therapien zu entwickeln. Erste Hoffnungsschimmer gab es bereits 1987 – AZT wurde vom FDA als erste antiretrovirale Substanz zugelassen. Das Medikament stammte aus der Mottenkiste der Krebsforschung, es wurde in den Siebzigerjahren entwickelt, als man Viren als Krebsverursacher vermutete. Die Freude währte nicht sehr ­lange, denn das HI-Virus entwickelte sehr rasch Resistenzen gegen AZT. Die Dosierungen waren hoch, die Nebenwirkungen schrecklich. Zwei weitere Substanzen folgten 1991 mit der Zulassung von ddC und ddI. Doch auch hier war die Freude kurz – die neuen Medikamente waren bei den gegen AZT resistenten Patienten innert kurzer Zeit ebenfalls unwirksam. «Die wohl älteste Aids-Aktivisten­gruppe organisierte Medikamentenschmuggel­ touren zur mexikanischen Grenzstadt Tijuana.» Der grosse Durchbruch kam 1995 mit einer neuen Substanzklasse, die Proteaseinhibitoren (PI). Zugleich merkte man, dass die Kombination verschiedener Substanzklassen das Virus offenbar dauerhaft in Schach hielt. Industrie und Forscher arbeiteten in diesen Jahren sehr eng mit den Aktivisten zusammen. Sogenannte «Community Advisory Boards» begleiteten sämtliche Studien bereits in der Planungs- und Umsetzungsphase. Die 1992 in Berlin gegründete European AIDS Treatment Group (EATG) diente fast nur diesem Zweck. Es waren führende Exponenten dieser ­Gruppe, welche 1996 bei der neuen europäischen Medikamentenagentur (European Medicines ­Agency EMA) an die Türe klopften. Diese wollte sich aber nicht mit Patienten herumschlagen. Doch die Not war gross, die Argumente schlagend und die Aktivisten liessen sich nicht abschütteln. So überzeugte man die Behörde, die damals neue Viruslastbestimmung als Parameter für die Zulassung von Substanzen zuzulassen. Nach einigen Diskussionen erhielt im Februar 1998 Nevirapin als erste Substanz aufgrund seiner Wirkung auf die Surrogatmarker CD4 und die Viruslast eine Marktzulassung. Das war im Vergleich zu früher ein enormer Fortschritt. Das vorher angewandte Verfahren bezog sich auf klinische Endpunkte, das heisst, dass die Verhinderung des Todes eine Zulassung erst möglich machte. Überleben gesichert, Nebenwirkungen inklusive Die Patienten überlebten jetzt, die Erleichterung war gross. Man träumte davon, das HIVirus ganz vertreiben zu können, man wollte früh und hart mit Medikamenten zuschlagen («hit hard, hit early»). Es waren aber wiederum Patienten, welche die Alarmglocken läuteten. Viele beobachteten eigenartige Körperverän­ derungen. Von «buffalo humps» (grosse, gut sichtbare Buckel im Nacken) und «Crix-bellies» (Schwellbäuche) war die Rede. Spindeldürre Arme und Beine, dahinschmelzende Hinterteile, Veränderungen der Blutfettwerte sorgten für Unruhe. Man hatte in der Euphorie alle Substanzen beschleunigt zugelassen und bezahlte jetzt den Preis mit Langzeitnebenwirkungen, die aufgrund der kurzen Verfahren nicht bekannt sein konnten. Die Behörden reagierten und richteten das sogenannte HAART Oversight Committee ein. FDA und EMA finanzierten die D:A:D Kohorte t, eine ­internationale prospektive Überwachungsstudie, welche die langfristige Auswirkung der HIV-Therapie auf Lipide und Herz-KreislaufRisiken untersucht. Innert kurzer Zeit konnte man neue Substanzen entwickeln, welche den Fetthaushalt weniger oder gar nicht beeinflussen. Wer in den letzten sieben, acht Jahren eine Therapie begonnen hat, kennt diese stigmatisierenden Nebenwirkungen nicht mehr. Kampf den Resistenzen Die Mechanismen der Marktzulassung haben dazu geführt, dass einige Patienten zwar überlebt, aber mit der Zeit gegen alle und jedes Medikament Resistenzen entwickelt haben. Die Leute hangelten sich über Jahre von einer Studie mit einer neuen Substanz zur nächs­ ten, entwickelten immer neue Resistenzen, was jede dauerhafte Therapiestrategie verunmöglichte. Zwar wusste man inzwischen, wie man aus dem Teufelskreis hätte ausbrechen können. Eine grosse Zulassungsstudie mit zwei neuen Substanzen musste her, aber wie? Erstens wollten und konnten die Firmen in dieser Phase nicht kooperieren, zum Zweiten konnten die Behörden eine solche Studie gar nicht akzeptieren. Die etablierten Zulassungsverfahren erforderten saubere Daten für jede einzelne Substanz. Doch wiederum trug kluges Lobbyieren Früchte. Als die damals kleine und junge Firma Tibotec (heute Janssen-Cilag) den PI Darunavir und den NNRTI Etravirine fast gleichzeitig in der Pipeline hatte, konnte man sowohl die «Die Leute hangelten sich über Jahre von einer Studie mit einer neuen Substanz zur nächsten, entwickelten immer neue Resistenzen, was jede dauerhafte Therapiestrategie verunmöglichte.» Firma wie auch die Behörden überzeugen, beide Substanzen gleichzeitig in der Duet-Studie zuzulassen. Nur wenige Jahre später gibt es in der Schweiz noch einen oder vielleicht zwei Patienten, welche aufgrund von Resistenzen exotische Substanzen wie T-20 (Enfuvirtide) benötigen. Fazit und Ausblick Rückwirkend fragt man sich, wie die Aidsaktivisten als blutige Laien das alles geschafft haben. Zum Ersten waren die zuerst betroffenen Männer in San Francisco und New York hartgesottene Politaktivisten aus der Schwulenbewegung. Man glaubte zu wissen, wie man Berge versetzt. Das fehlende technische Rüstzeug eignete man sich einfach an, im Selbststudium, oder learning by doing. Mittlerweile haben Industrie und Behörden erkannt, wie wertvoll die Zusammenarbeit mit gut informierten Patientenvertretern sein kann. Ein bisher kaum überwindbares Problem war jedoch die Ausbildung der Leute in den Patientenorganisationen. Wenn die Patienten mit den Profis aufs Feld wollen, müssen sie die Regeln kennen. Eingesprungen ist die Inno­vative Medicines Initiative der EU-­Kommission mit dem auf Jahre angelegten Projekt ­EUPATI u. Das Projekt soll in den nächsten 5 Jahren Ausbildungsmaterial in 6 Sprachen und auf 3 Verständnisebenen von Grund- bis zu Expertenkenntnissen entwickeln. Damit kriegen Patientenorganisationen, aber auch individuelle Patienten die Werkzeuge in die Hand, um künftig effizient mitzureden. dh t Data Collection on Adverse Events of Anti-HIV Drugs. u www.imi.europa.eu www.patientsacademy.eu Swiss Aids News 1 | März 2013 11 GESELLSCHAFT Leben ohne Packungsbeilage Für grosse Sprünge reicht es nicht mehr, für viele schöne Augenblicke allemal. So etwa, als er mit leisem Lächeln von seinem baldigen Grossvaterglück erzählt. Dann ist für Daniel W., 55, alles weit weg: der tägliche Kampf um die Gesundheit, der lange Weg mit der Diagnose Aids, die vielen Male, als er dem Tod schon ins Gesicht sah. Vieles verdankt Daniel W. den Medikamenten. Er hat schon ziemlich alle erhältlichen Wirkstoffe gegen HIV geschluckt. Und auch viele andere. Ein Interview über das Leben mit Pillen. sechs Uhr wach, mit dem Hund raus und – verhältnismässig – gut in Form. Und Ihr Bedarf an Medikamenten ist immer noch so hoch, dass Sie fünf­unddreissig Pillen am Tag nehmen müssen? Ja, so in der Grössenordnung, vielleicht eher dreissig derzeit. Die nehme ich in zwei Ladungen. Eine Hälfte morgens um neun, die andere Hälfte abends um neun. Wie viele davon sind HIV-Medika­ mente? © Keiko Saile Vier. Das heisst, ich nehme sowohl morgens wie abends alle vier HIV-Medikamente, macht also acht Pillen. Diagnose Aids, täglich fünfunddreissig Pillen, und doch unverzagt. So könnte man ein Interview zusammenfassen, das Sie vor fünf Jahren gegeben haben. Wie geht es Ihnen heute? Gesundheitlich geht es mir schlechter. Wobei nicht die HIV-Infektion das Hauptproblem ist, sondern die Leber. Dann kommt noch eine Menge anderes dazu. Und ich bin häufig sehr müde. Nicht müde wie zum Beispiel früher nach endlosen Arbeitstagen, nein, die Müdigkeit, die mich jetzt an ein bis zwei Tagen die Woche heimsucht, ist ein richtiger körperlicher Schmerz. Als wäre ich in einen Anzug aus Blei gekleidet, der jede Bewegung verunmöglicht. An solchen Tagen komme ich gar nicht zum Bett raus. Aber es gibt auf der anderen Seite auch viele gute Tage. Heute zum Beispiel bin ich seit 12 Swiss Aids News 1 | März 2013 Können Sie sich all die Namen Ihrer Medikamente merken? Nein. Für was auch? Ich müsste sogar nachschauen, wie die aktuellen HIVMedikamente heissen, die ich jetzt seit über zwei Jahren nehme. Wenn Sie nicht in Namen an Ihre ­Medikamente denken, wie dann? In Farben und Formen? Eigentlich denke ich fast überhaupt nicht an meine Medikamente. Muss ich auch nicht, weil ich die Einnahme seit Jahren genau gleich organisiere. Das ist mittlerweile ein Automatismus geworden. Zum Beispiel bereite ich heute die zwei Rationen für morgen vor: aus jeder Packung eine Pille in die eine Schale, eine Pille in die andere Schale. Und morgen um neun nehme ich die Pillen in der ersten Schale mit einem Glas Wasser. Am Abend dann die zweite. Ohne gross zu denken. Und bereite die Rationen für übermorgen vor. Das läuft alles einfach ab und braucht kaum Zeit. Erinnern Sie sich noch an die erste Pille, an das erste Mal, als Sie ein HIVMedikament nahmen? Nur zu gut, ja. Es war der Horror. Das ist jetzt 24 Jahre her, und ich kann mich zwar auch an den Namen dieses Medikaments nicht erinnern, aber den Geschmack vergesse ich nie: chemisches Himbeeraroma der übelsten Sorte, ungefähr so wie heutige Energy-Drinks. Wirklich schlimm aber war, dass ich die Pille hätte zerkauen sollen und es einfach «Jetzt, wo ich eher angeschlagen bin, merke ich schon, dass die Konserve auch ein Ablaufdatum hat.» nicht schaffte. Weil sich das wie Sand anfühlte. Ich brachte es schlicht nicht runter und spuckte alles wieder aus. Ich rief dann meinen Arzt an und fragte, ob man das Medikament auch anders einnehmen könne. Eine Packungsbeilage, die vielleicht hätte Aufschluss geben können, gab es ja noch nicht, denn das Medikament wurde erst im Rahmen einer Studie abgegeben. Auf alle Fälle hatte ich Glück: Man durfte die Tablette in Orangensaft auflösen. So klappte es dann. Später, als es Beipackzettel gab, haben Sie diese jeweils gelesen? Nur ganz kurz zu Beginn. Dann nicht mehr. Denn wie ich die Medikamente einnehmen muss, weiss mein Arzt am besten. Und die Nebenwirkungen sind sowieso immer die gleichen: von leichter Müdigkeit bis zum Tod. Welches war Ihre dunkelste Stunde in Bezug auf die HIV-Medikamente? Der Einstieg, auf jeden Fall. Als ich die Pille einfach nicht runterbrachte. Und am Anfang hatte ich eine Weile lang auch Mühe damit, die Zeiten einzuhalten. Denn ich sollte zu fünf unterschiedlichen Zeiten verschiedene Medikamente nehmen. Ich musste sogar extra morgens um sechs aufstehen, um ein Medikament in Wasser aufzulösen, damit es um sieben bereit war. Meine Schwiegermutter hat dann einen Wecker aufgetrieben, den man auf genau fünf Weckzeiten einstellen konnte. Damals so ein Gerät zu finden, war gar nicht einfach. Letztlich bin ich also doch ziemlich schnell gut mit der Therapie klargekommen. Auch für Nebenwirkungen gibt es immer eine Lösung. Habe ich zum Beispiel Durchfall, nehme ich halt Immodium. Sie haben in all den Jahren nie den Pillenkoller gehabt? Nein, nie. Ich habe die Medikamente immer im Bewusstsein genommen, dass sie mir guttun, auch wenn sie Nebenwirkungen haben. Auf gewisse Weise konservieren mich die Pillen, wie ein Gemüse oder ein Stück Fleisch in einer Dose. Solange die Dose gut verschlossen und intakt ist, bleibt der Inhalt erhalten. Jetzt, wo ich eher angeschlagen bin, merke ich allerdings schon, dass die Konserve auch ein Ablaufdatum hat. Aber sie hält bereits lange. Im April werde ich Grossvater. Daran hätte vor zwanzig Jahren wohl niemand geglaubt. Die Medikamente sind existenziell für Ihr Leben. Haben Sie sie schon mal verloren, als Sie auswärts oder in den Ferien waren? Verloren nicht, aber schon zu Hause vergessen. Doch in der Regel gehe ich bestens ausgerüstet aus dem Haus. Wenn ich länger raus gehe, habe ich immer genügend Medikamente dabei, damit es bis zum nächsten Morgen reicht. Ich denke, das genügt. Denn falls irgendetwas wäre, sollte man in der Schweiz innerhalb von 24 Stunden alle Medikamente beschaffen können. Grundsätzlich war ich aber immer enorm konsequent mit der Einnahme. Punkt neun Uhr, morgens und abends, seit Jahren. Früher habe ich damit selbst im Theater oder im Zirkus nicht einmal auf die Pause gewartet. Auch wenn es in dicht gedrängten Reihen eher mühsam ist, eine ganze Ladung Pillen zu nehmen. Im Gedränge fallen schnell mal einige runter. Wenn man dann auf die Frage «Was suchen Sie da eigentlich am Boden?» antwortet: «Meine HIV-Medikamente», hat man nachher wenigstens wieder etwas mehr Platz. Tauschen Sie sich aus mit anderen Leuten, die ebenfalls über lange Zeit mit vielen Medikamenten leben? Fachsimpelt man? Ja, das macht man schon. Man gibt auch mal Tipps. Denn es fällt nicht allen so leicht wie mir: eine Handvoll Pillen in den Mund, ein Glas Wasser, und hopp. Ich kenne Leute, für die bedeutet das Pillennehmen jedes Mal zwei Stunden mühsame Arbeit, zwei Stunden Krampf. Auch von den Medikamenten abgesehen, finde ich es gut, wenn sich HIV-Positive austauschen. Gerade für Neudiagnostizierte kann es sehr wichtig sein, dass ihnen nicht nur der Arzt über die Krankheit erzählt, sondern eben jemand, der selber in der gleichen Situation ist. Aus diesem Grund mache ich bei Queer Help vom Checkpoint Zürich mit, wo ich vor allem für ältere Neudiagnostizierte ein Ansprechpartner bin. Was wäre, wenn Sie keine Pillen mehr nehmen müssten? Hm, ja, das wäre anders. Ungewohnt. Wahrscheinlich so, wie wenn ich ohne Hund in die Stadt gehe. Dann drehe ich mich immer wieder reflexartig um und schaue nach ihm. Ebenso würde ich wohl noch lange Zeit um neun Uhr automatisch zu meinen Pillen greifen, obwohl sie gar nicht mehr da wären. Vielen Dank für dieses Gespräch. Das Interview führte Stéphane Praz. Swiss Aids News 1 | März 2013 13 RECHT Welche Medikamente muss die Krankenkasse übernehmen? © kallejipp / photocase.com Wenn der Arzt einem Patienten ein bestimmtes Medikament verschreibt, ist dies noch keine Garantie dafür, dass es von der Krankenkasse übernommen wird. Wie Sie feststellen können, ob die Grundversicherung leistungspflichtig ist, erfahren Sie im folgenden Beitrag. Rechtsberatung der Aids-Hilfe Schweiz Wir beantworten kostenlos Rechtsfragen im Zusammenhang mit HIV in folgenden Gebieten: Sozialversicherungsrecht Sozialhilferecht Privatversicherungen Arbeitsrecht Datenschutzrecht Patientenrecht Einreise- und Aufenthaltsrecht Öffnungszeiten Di und Do 9–12, 14–16 Uhr Tel. 044 447 11 11, [email protected] Anmerkungen e Betrag, bis zu dem ein Versicherter Kos­ ten, die eigentlich durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung übernommen werden, selbst bezahlen muss. Je nach Wahl beträgt dieser Betrag zwischen CHF 300.– und 2500.– pro Jahr. r siehe SAN 2/2012, Juli 2012 t Von 1999 bis 2005 wurden diese Methoden bereits einmal von der Grundversicherung übernommen. 14 Swiss Aids News 1 | März 2013 Damit ein bestimmtes Arzneimittel in der Schweiz überhaupt verkauft werden darf, muss es zunächst von der Schweizerischen Zulas­ sungs- und Aufsichtsbehörde für Heilmittel (Swissmedic) registriert werden. Es werden nur Medikamente zugelassen, bei denen die Hersteller wissenschaftlich nachweisen konnten, dass sie für das beantragte Therapiegebiet wirksam, sicher und qualitativ hochstehend sind. Der Gesetzgeber hat für die Schweiz als Nicht-EU-Staat eine autonome Zulassung von Arzneimitteln vorgesehen. Das Heilmittelgesetz lässt nicht zu, dass die Schweiz die Arzneimittelzulassung ausländischer Behörden anerkennt bzw. ohne Prüfung übernimmt. Ist ein Medikament in der Schweiz zuge­ lassen, heisst dies jedoch noch nicht, dass es auch von der Grundversicherung der Krankenkassen übernommen wird. Es gibt verschiedene Listen, auf welchen die in der Schweiz zugelassenen und auf dem Markt erhältlichen Medikamente aufgeführt sind. Die Frage, ob ein bestimmtes Medikament von der Grund- oder Zusatzversicherung übernommen wird, hängt davon ab, auf welcher Liste es steht: Die Spezialitätenliste (SL) Die Grundversicherung bezahlt – nach Entrichtung der Franchise e – die ärztlich verordneten Medikamente, welche auf der Spezialitätenliste aufgeführt sind. Die SL listet die kassenpflichtigen, fabrikmässig hergestellten Medikamente mit Verabreichungsart und Preis auf. Bevor ein neues Medikament in die SL aufgenommen wird, muss nachgewiesen sein, dass es wirksam ist, seinen Zweck erfüllt und dass die Medikamentenkosten mit der erreichten Wirkung in einem normalen Verhältnis stehen. Ein Medikament, das sich auf der SL befindet, wird von den Kassen aber nur dann übernommen, wenn es genau so abgegeben wird, wie es dort aufgeführt ist. Wird es in anderer Form (z. B. Tropfen statt Tabletten) oder in anderer Dosierung (z. B. Packung à 100 Stück statt 50 Stück) gekauft, dann muss es die Patientin in der Regel selber bezahlen. Es handelt sich dabei um den sogenannten Off-Label-Use. r Einige Medikamente sind mit sogenannten Limitationen belegt. Das heisst, sie werden nur für eine ganz bestimmte Behandlung, nur für eine bestimmte Zeitdauer oder nur für einen bestimmten Personenkreis in die SL aufgenommen. Selbst wenn ein Medikament in der SL aufgeführt ist, kann sich die Krankenkasse weigern, es zu bezahlen, wenn es zu einem anderen Zweck verwendet wird, als vorgesehen ist. Wer z. B. ein Medikament, das von der Swissmedic nur als Kopfschmerzmittel zugelassen ist, gegen Magenkrämpfe nimmt, weil es Indizien gibt, dass dieses Mittel auch gegen Magenkrämpfe hilft, muss dies selber bezahlen. Medikamente, welche nur zur Linderung leichterer Befindlichkeitsstörungen, zur Erhaltung der Gesundheit oder zur Vorbeugung vor Krankheiten dienen, sind meistens nicht in der SL enthalten und werden von der Grundversicherung nicht übernommen. Die Spezialitätenliste kann unter www.sl.bag. admin.ch eingesehen werden. Komplementärmedizin Arzneimittel, die nicht wissenschaftlich der Schulmedizin zugeordnet werden können, werden unter den Begriff komplementärmedizinische Arzneimittel zusammengefasst. Seit dem 1. Januar 2012 gehören folgende Methoden zum Leistungskatalog der obligatorischen Grundversicherung: t Anthroposophische Medizin Ärztliche klassische Homöopathie Phytotherapie (Arzneimittel auf pflanzli­ cher Basis) Arzneimitteltherapie der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) Die Leistungen werden vergütet, wenn die Behandlung von einem schulmedizinisch ausgebildeten Arzt mit entsprechender Zusatzausbildung angewendet wird und das Arzneimittel auf der Spezialitätenliste steht. Vorerst werden die Therapien bis Ende 2017 vergütet. Anschliessend werden die Behandlungsmethoden erneut anhand der Kriterien Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit beurteilt. Infolge strengerer Zulassungshürden und zunehmenden administrativen Aufwands verschwinden immer mehr Komplementär- und Phytoarzneimittel. Aus diesem Grund wurden im September 2012 zwei parlamentarische Vorstösse (Postulate) eingereicht zur Bewahrung der Vielfalt von Arzneimitteln der Komplementärmedizin. u Generika Nach zwanzig Jahren läuft der Patentschutz für ein Medikament aus. Arzneimittel kommen jedoch nicht unmittelbar nach ihrer Erfindung auf den Markt. Zuerst müssen noch umfangreiche Studien für die Zulassung erarbeitet werden, welche mehrere Jahre dauern. Deshalb gibt es für Arzneimittel das erweiterte Schutzzertifikat, welches den Patentschutz um maximal fünf Jahre verlängert. Sobald ein Arzneimittel zugelassen ist, beginnt überdies der Erstanmelderschutz zu laufen. Dieser schützt nicht die Erfindung an sich, sondern die für die Zulassung eingereichten Unterlagen. Nach Ablauf dieser Schutzfristen können auch andere Anbieter ein Medikament mit demselben Wirkstoff herstellen und verkaufen. Dieses Nachahmerpräparat bezeichnet man als Generikum (Mehrzahl Generika). Für den Nachweis der Wirksamkeit und der Sicherheit kann sich das Zulassungsgesuch eines Generikums auf die Unterlagen des Originalpräparats stützen. Das Gesuch muss nur mittels einer Bioverfügbarkeitsstudie nachweisen, dass das Generikum gleich wirksam ist wie das Original sowie die gleichen Qualitätsstandards erfüllt. Deshalb ist der Verkaufspreis eines Generikums tiefer. Auch von antiretroviralen Therapien gibt es mittlerweile Generika, auf dem schweizerischen Markt sind sie aber noch ohne Bedeutung. Patienten, welche sich ein Originalmedikament statt ein gleichwertiges Generikum verschreiben lassen, müssen einen Selbstbehalt von 20% bezahlen (bis maximal CHF 700.– pro Jahr), beim Generikum sind es in der Regel 10%. Seit Mitte 2011 kann aber auch ein Generikum einen Selbstbehalt von 20 Prozent haben, wenn dieses nämlich 20 Prozent teurer ist als der Referenzpreis i. Der Referenzpreis wird vom Bundesamt für Gesundheit regelmässig überprüft und angepasst. Arzneimittelliste mit Tarif (ALT) In dieser Liste sind kassenpflichtige Arzneien aufgeführt, welche nach ärztlichem Rezept in der Apotheke hergestellt werden. Für Menschen mit HIV sind solche Arzneien zwar von geringer Bedeutung. Homöopathische oder andere Medikamente der Komplementärmedizin können aber eventuell auch nach der ALT kassenpflichtig sein. Die Arzneimittelliste kann unter www.bag.admin.ch/themen/krankenversicherung/06492/06493/index.html eingesehen wer­ den. «Infolge strengerer Zulas­ sungshürden und zunehmenden administrativen Aufwands verschwinden immer mehr Komplementär- und Phyto­ arzneimittel.» Zusatzversicherungen Nicht von der Grundversicherung übernommene Medikamente können über bestehende Zusatzversicherungen abgedeckt sein, auch wenn sie nicht auf der Spezialitätenliste aufgeführt sind. Es gibt jedoch auch Präparate, welche weder von der Grund- noch von einer Zusatzversicherung übernommen werden. Dabei handelt es sich um sogenannte «pharmazeutische Präparate mit spezieller Verwendung» (LPPV). Es sind dies Komfort- und Lifestylepräparate, wie z .B. Vitaminpräparate, hormonelle Verhütungsmittel oder Nahrungsergänzungsmittel. Die dazu zählenden Präparate finden sich auf www.lppv.ch. cs u Näheres dazu auf der Website des Homöopathieverbands Schweiz www.hvs.ch/ i Referenzpreis = Durchschnittspreis des günstigsten Drittels der Generika, die als Ersatz für das Originalpräparat infrage kommen. Swiss Aids News 1 | März 2013 15 F O R U M Sie fragen – wir antworten Anfrage von Herrn T. N. Längere Reisen, HIV-Medikamente und Versicherungen Ich habe unbezahlten Urlaub genommen und verreise ein paar Monate ins Ausland. Was sollte ich beachten in Bezug auf meine HIV-Medikamente, Krankenkasse und sons­ tigen Versicherungen? © Viola Heller Antwort von Dr. iur. Caroline Suter 16 Swiss Aids News 1 | März 2013 Klären Sie zuallererst ab, ob Ihre Zieldesti­na­ tio­n(en) Einreisebeschränkungen für Menschen mit HIV vorsehen. Leider gibt es immer noch Länder, die solche diskriminierenden Bestimmungen kennen, insbesondere für längere Aufenthalte von über 90 Tagen. Die Webseite www. hivtravel.org informiert Sie umfassend darüber. Kontaktieren Sie frühzeitig Ihre HIV-Ärztin und schildern Sie ihr Ihre Reisepläne, da Sie je nach Urlaubsdauer eine grössere Menge Medikamente mitnehmen müssen. Lassen Sie sich bei dieser Gelegenheit auch ein Rezept mitgeben, das neben der Dosierung den internationalen Freinamen (DCI) enthalten sollte. Somit könnte Ihnen im Notfall eine ausländische Apotheke das Medikament geben, wenn dieses im entsprechenden Zielland erhältlich ist. Ist dies nicht der Fall oder stellen sich sons­ tige Probleme hinsichtlich der medizinischen Versorgung an Ihrer Reisedestination, können Sie sich mit der schweizerischen Vertretung in Verbindung setzen, welche Ihnen hilfreiche Kontakte vermitteln kann. Schreiben Sie vor der Abreise die entsprechenden Adressen und Telefonnummern heraus (www.eda.admin.ch). Wenn Sie eine längere Reise in ein Nicht-EU/ EFTA-Land planen, sollten Sie sich zudem eine ärztliche Bescheinigung ausstellen lassen, aus welcher hervorgeht, dass die mitgeführten Medikamente für Ihren persönlichen Gebrauch bestimmt sind. So lassen sich bei Zollkontrollen allfällige Missverständnisse vermeiden. Vorsicht: Für Staaten, welche die Einreise von Menschen mit HIV einschränken oder verbieten, empfiehlt sich das Mitführen einer solchen Bestätigung in der Regel nicht. Da Ihr Auslandaufenthalt nur von vorübergehender Natur ist, bleiben Sie in der Schweiz angemeldet. Damit läuft auch Ihre Grundversicherung weiter, wie auch Ihre Zusatzversicherungen, wenn Sie solche haben. Stellen Sie sicher, dass die Prämienzahlungen auch während Ihres unbezahlten Urlaubs vorgenommen werden. Bei Reisen in EU/EFTA-Staaten gilt die europäische Versicherungskarte. Damit haben Sie Anspruch auf medizinische Leistungen nach dem Recht des Aufenthaltslandes, d.h., als ob Sie dort versichert wären. Bei Reisen in Nicht-EU/EFTA-Länder muss die Rechnung in der Regel direkt im Reiseland bezahlt werden. Mit der Quittung werden die Behandlungskosten von Ihrer Krankenversicherung zurückerstattet bis zum maximal doppelten Betrag, den die gleiche Behandlung in der Schweiz kosten würde. Bei einem unbezahlten Urlaub von mehr als 30 Tagen sind Sie nicht mehr gegen Nichtberufsunfälle versichert. Sie können die Nichtberufsunfallversicherung jedoch über die 30 Tage hinaus um maximal 180 Tage verlängern (so genannte Abredeversicherung). Das entsprechende Formular können Sie bei Ihrem Arbeitgeber oder direkt bei der Unfallversicherung beziehen. Reicht die Verlängerung nicht aus, sollten Sie Ihrer Krankenkasse mitteilen, dass Sie den Unfallschutz in die Grundversicherung integrieren möchten. Auch bei der Pensionskasse endet nach 30 Tagen unbezahltem Urlaub die Versicherungsdeckung gegen Invalidität und Tod. In der Regel können Sie die Deckung jedoch freiwillig weiterführen (siehe Reglement), indem Sie während Ihrer Abwesenheit die vollen Beiträge (also inkl. Arbeitgeberanteile) entrichten. Die Krankentaggeldversicherungen sehen unterschiedliche Regelungen vor. Normalerweise ruht der Versicherungsschutz während eines unbezahlten Urlaubs und entsteht erst wieder, wenn der Lohnanspruch erneut einsetzt. Schauen Sie in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB), was dort zu unbezahltem Urlaub geschrieben steht und/oder konsultieren Sie den Taggeldversicherer.