- Aids

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MEDIZIN | GESELLSCHAF T | RECHT
Swiss Aids News
1 | MÄ RZ 2013
Pillen
E D I T O R I A L IMPRESSUM
Herausgeber
Aids-Hilfe Schweiz (AHS)
Bundesamt für Gesundheit BAG
Redaktion
lic. phil. Stéphane Praz (sp), Chefredaktor
Brigitta Javurek (bj), Journalistin BR
Dr. iur. LL. M. Caroline Suter (cs)
David Haerry, Positivrat Schweiz (dh)
Roman Lauer, Wissenschaftsjournalist (rl)
Gestaltung
Ritz & Häfliger, Visuelle Kommunikation, Basel
SAN Nr. 1, März 2013
© Aids-Hilfe Schweiz, Zürich
Die SAN erscheinen dreimonatlich
in einer Auflage von 5500 Exemplaren
mit der Unterstützung von:
Bundesamt für Gesundheit, Bern
Boehringer Ingelheim (Schweiz) AG
Die industriellen Partner der Swiss Aids News
nehmen keinen Einfluss auf deren Inhalt.
Abo-Service
Redaktion Swiss Aids News
Aids-Hilfe Schweiz
Postfach 1118, 8031 Zürich
Tel. 044 447 11 11
[email protected], www.aids.ch
MEDIZIN | GESELLSCHAF T | RECHT
Swiss Aids News
1 | MÄR Z 2 013
Pillen
Titelbild / Fotos im Heft
© Marilyn Manser / Aids-Hilfe Schweiz
(Ausnahmen mit Copyright bezeichnet)
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Swiss Aids News 1 | März 2013
Liebe Leserin
Lieber Leser
Die entscheidende Wende, das Versprechen auf Leben, wo früher der Tod sicher war,
die Hoffnung, den weltweiten Kampf gegen HIV zu gewinnen: alles verpackt in Pillen.
Hält man eine in der Hand, kann man sich kaum vorstellen, was sie und ihresgleichen
bewegt haben und täglich bewegen. Und man kann sich kaum vorstellen, was alles
dahintersteckt, bis ein paar Milligramm Wirkstoff gegen HIV in Form dieser Pille dem
Patienten zur Verfügung stehen. Universitäten, Pharmaunternehmen, Patienten, Ärzte,
Gesundheitsbehörden: Unzählige Akteure sind im Verlauf vieler Jahre involviert. Wir
zeigen in diesem Heft den Weg eines Medikaments auf und schauen den Forschern
am Anfang des Wegs über die Schulter. Aber wir fragen auch, was sich am anderen
Ende des Wegs tut, auf dem Markt. Und was bedeuten die Pillen letztlich für den
Patienten? Wir sprechen mit einem, der in dieser Beziehung sehr viel Erfahrung hat.
Stéphane Praz
Chefredaktor Swiss Aids News
Inhalt
Nationales Programm HIV/STI
3 ART: Fluch und/oder Segen?
Gesellschaft
4 Forschen im Virushaufen – Grundlagen­forschung HIV
6 Der lange Weg des Medikaments
7 Diskussionen um Kopien
10 Antiretrovirale Medikamente: Der Beitrag der Patienten
12 Leben ohne Packungsbeilage
Recht
14 Welche Medikamente muss die Krankenkasse übernehmen?
16 Längere Reisen, HIV-Medikamente und Versicherungen
N AT I O N A L E S P R O G R A M M H I V / S T I N P H S
ART: Fluch und/oder Segen?
15 Jahre ist es her, seit die Diagnose «Aids» dank der antire­
tro­viralen Kombinationstherapie (ART) nicht mehr ­unbedingt
­innert Monaten zum Tod führt. ART hat das Gesicht von
Aids – und damit auch der HIV-Infektion – gründlich verändert.
In dieser Zeit ist die Therapie markant verbessert worden, so­
wohl was Einnahmebedingungen als auch Nebenwirkungen
betrifft. Viele HIV-Infizierte, welche die richtige Therapie
rechtzeitig und ohne Resistenzprobleme anfangen konnten,
müssen heute «nur» eine Pille pro Tag einnehmen. Die Wissen­
schaft «verspricht» Betroffenen heute eine «nahezu unbeein­
trächtigte Lebenserwartung». Sind 15 Jahre Erfahrung genug
für dieses Versprechen?
Das Durchschnittsalter bei den neu gemeldeten Fällen von HIV-Infektion beträgt bei Männern ca. 35 Jahre. Bei Frauen etwas weniger.
Stellt man sich vor, dass es einige Jahre nach der Ansteckung Zeit
wird, mit der Therapie zu beginnen, dann hat ein heute 40-jähriger
Mann eine statistische Lebenserwartung von 80 Jahren, eine Frau
von über 85 Jahren. Wir sprechen also von einer vermuteten Therapiedauer von 40 oder 45 Jahren.
«ART ist auch heute noch – und wird es noch
viele Jahre bleiben – experimentell.»
Ein Versprechen mit vielen Unbekannten!
Die heute gebräuchlichen Kombinationen von Wirkstoffen der
ART sind erst wenige Jahre im breiten Einsatz. Ab Mitte der 90erJahre wurden zum Teil andere Wirkstoffe verabreicht. Sie sind
heute nicht mehr gebräuchlich, weil man unter anderem dank der
Schweizerischen HIV-Kohortenstudie die Therapie wissenschaftlich begleitet hat und sah, dass einige der Wirkstoffe unerwünschte
Nebenwirkungen und Schädigungen des Organismus zur Folge
hatten. Die heute eingesetzten Kombinationen sind gegenüber dem
Anfang der ART-Epoche sicher viel besser und nebenwirkungsärmer geworden. Trotzdem ist es zu früh, davon auszugehen, dass
die wenigen Jahre mit guten Erfahrungen auf 40 und mehr Jahre
«Dauereinsatz» extrapoliert werden können. Bereits heute zeichnet
sich ab, dass die HIV-Infektion an sich, aber eventuell auch die ART
die Alterung des betroffenen Menschen beschleunigt.
teure ­Forschung nicht, um noch weitere wirksame und nebenwirkungsarme Medikamente zu entwickeln, weil man ganz einfach
keine neuen Moleküle mehr findet.
HIV-Terapie bleibt experimentell!
Aus der Perspektive, dass HIV-Infizierte eine über 40 Jahre wirksame, möglichst nebenwirkungsfreie ART brauchen, damit die
Medizin das Versprechen der «nahezu unbeeinträchtigten Lebenserwartung» einlösen kann, sind zwei Schlüsse zu ziehen:
1. Wir tun gut daran, nicht zu früh mit ART zu beginnen! Wenn
die Wirksamkeitsdauer von ART beschränkt ist und nicht 40
Jahre erreicht, dann sollten wir keine Therapiejahre «vergeuden», bevor nicht wissenschaftlich evident nachgewiesen ist,
dass «noch früher» auch wirklich «noch besser» ist. Allgemein
akzeptiert ist ein Therapiestart bei CD4 um 350. Wer die ART
aber anschliessend unterbricht, verspielt den Vorteil und hätte
auch erst bei CD4 = 200 beginnen können.
2. ART ist auch heute noch – und wird es noch viele Jahre bleiben – experimentell. Daraus leitet sich ab, dass die Therapie in
die Hand von Spezialisten und kontrollierten Studien gehört,
um allfällig langsam sich entwickelnde Schädigungen des Organismus früh erkennen und die Therapien anpassen zu können.
In Anbetracht der Alterungsprobleme von HIV-Infizierten müssen
sich die bisherigen Spezialisten aber daran gewöhnen, dass die
Hauptherausforderung nicht mehr (nur) infektiologisch, sondern
heute schon internistisch und mittelfristig zunehmend geriatrisch
sein wird. Ohne integrierte Versorgung im interdisziplinären Team
ist das Versprechen kaum einlösbar.
Roger Staub, MPH, MAE
Programmleiter NPHS im BAG
Hoffen auf den Fortschritt?
Gewiss hat die pharmazeutische Industrie bei der Entwicklung
der antiretroviral wirksamen Medikamente ungeheuer viel geleis­
tet und wird das hoffentlich auch weiterhin tun. Das kann sie,
wenn die Investitionen in Forschung durch realistische «GewinnHoffnung» abgesichert sind. Und manchmal genügt auch sehr viel
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G E S E L L S C H A F T Forschen im Virushaufen
Die HIV-Forschung ist eine der grossen Erfolgsgeschichten der modernen Medizin. In der
Diagnostik wie in der Behandlung. Mit rund dreissig Medikamenten kann das Virus nicht
ausradiert, aber doch in Schach gehalten werden. Die Grundlagenforschung hat einen gros­
sen Anteil daran. Sie legt die Grundsteine für die Entwicklung von Medikamenten. Im In­
stitut für Medizinische Virologie der Universität Zürich wird unermüdlich HIV-Forschung
betrieben. Ein Augenschein vor Ort.
Geht den Dingen auf den Grund: Dr. Axel Mann.
Block 36, Uni-Campus Irchel, Institut für Medizinische Virologie, oberstes Stockwerk, hoch
über der Stadt. Eine moderne, durchlässige
Architektur öffnet den Blick auf Zürich Nord.
Flugzeuge kreuzen den Horizont, in der Nähe
schlotet ein Kamin, Schwamendingen bewegt
sich. Die Temperaturen sind tief, die Grippe
geht um. Hier arbeitet Axel Mann, Doktor der
Biologie, als wissenschaftlicher Mitarbeiter
im Team der Gruppe Trkola. Seit drei Jahren
auf dem Irchel. Vorher arbeitete die Gruppe
down town in einem Altbau im Stadtzentrum
von Zürich. Alexandra Trkola, Institutsleiterin,
startete als Oberassistentin im Jahr 2000 im
Universitätsspital Zürich. 2004 wurde sie SNF
Förderprofessorin. Heute steht sie als Professorin einem internationalen Team vor. Trkola ist
Expertin in der Antikörperabwehr des Menschen in Bezug auf HIV. Seit den 90er-Jahren
forscht sie zum Thema. Sie leitet das Institut
mit vier Forschungsgruppen, die Grundlagenforschung betreiben und versuchen, verschiedenen Viren auf die Spur zu kommen. Drei
Gruppen forschen zu Influenza, also Grippe,
und sind, wie immer im Winter, nahe am Geschehen. Die grösste Gruppe, geleitet von Frau
Trkola, forscht zu HIV. Ihr gehören Dr. Mann
und seine zwei Forscherkollegen an.
Auf den Grund sehen
Wer Grundlagenforschung betreibt, will den
Dingen auf den Grund gehen, auf den Grund
sehen. «Unser erstes Ziel ist es, das Virus noch
besser zu verstehen. Mit dem weiteren Ziel,
dieses neuerworbene Wissen später einmal
anwenden zu können. Zum Beispiel für die Entwicklung neuer Medikamente», erklärt Mann.
Denn fast alle Medikamente, die später auf dem
Markt sind, stützen sich auf Erkenntnisse aus
der Grundlagenforschung. Mann und seine
zwei Forscherkollegen versuchen, den Eintrittsprozess des Virus in die Zelle besser zu
verstehen. Und zwar Schritt für Schritt. Denn
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Swiss Aids News 1 | März 2013
das Virus bewegt sich nicht einfach ruck zuck
zack zack und ist dann in einer Helfer-Zelle
drin. Sondern es braucht dazu, einfach gesagt,
Energie und Strategie. Zuerst dockt das Virus
an, dann kommt der Corezeptor dazu und zu
guter Letzt schiesst eine Art umgeklappter Feder das Virus in die Zelle. So schafft es das
HI-Virus, seine Hülle mit derjenigen der Zelle
zu verschmelzen. Die Isolierung dieser Schritte
ist wiederum äusserst komplex und noch keineswegs vollständig entschlüsselt. Mann und
seine Kollegen versuchen einen Stoff zu entwickeln, der den Eintritt in die Zelle verhindert.
Ihre Forschung ist wiederum Teil der übergeordneten Frage: Wie schafft es das Immunsystem, den Eintritt des Virus zu verhindern?
Zwar sind Medikamente auf dem Markt, die
genau dies verhindern, und vieles ist bekannt,
aber längst noch nicht alles. Und genau hier
setzt die Grundlagenforschung wieder ein. Sie
«Unser erstes Ziel ist es, das Virus noch
besser zu verstehen. Mit dem weiteren
Ziel dieses neuerworbene Wissen später einmal anwenden zu können.»
muss die Fragen neu stellen, neue Perspektiven
entwickeln, das noch nicht Ausgesprochene suchen. Die berühmte Suche im Heuhaufen. Das
bedeutet auch, dass Grundlagenforschung keine Zeitlimite kennt, ausser einer finanziellen.
Grundlagenforschung braucht zwingend viel
Freiheit, auch die Freiheit zu scheitern. Mann:
«Man betritt immer wieder Neuland. Und man
muss mit Rückschlägen umgehen können. Das
ist nicht immer einfach. Doch in unserer Gruppe ist die Motivation gross. Zwar sind Medikamente auf dem Markt, doch man hätte gerne
einen Impfstoff. Anfang der 80er-Jahre dachte
man ja noch, das klappt bald. Impfstoffe funktionieren gut bei vielen Viren, aber nicht bei sehr
variablen Viren wie bei HIV und Hepatitis C.»
Forschungsplatz Zürich
­blitzblank sauber, alles ist steril. Der Arbeits-
Mann arbeitet hälftig im Labor und hälftig im
Büro am Schreibtisch. Den braucht er, um Projektbeschriebe zu verfassen, Anträge zu stellen, Ideen zu vermitteln, sich mit Kollaborationspartnern innerhalb der Uni und der ganzen
Welt auszutauschen, Vorträge auszuarbeiten.
Was genau wurde erforscht? Wie lauten die Resultate, was für Schlüsse wurden gezogen? Die
Beschriebe gehen an wissenschaftliche Journale, und diese wiederum an Experten, welche
die Arbeit bewerten und ein Feedback dazu
abgeben. Je nachdem heisst das nochmals über
die Bücher gehen, Anpassungen vornehmen,
einen Versuch abbrechen oder weitergehen.
Wir befinden uns im Laborbereich, Biosicherheitsstufe 2. Das heisst, weisse Kittel und
Gummihandschuhe anziehen ist ­Vorschrift,
Türen sind geschlosssen, ansonsten kann man
sich frei bewegen. Das Team hat die Bewilligung
mit humanpathogenem Material zu arbeiten.
Das bedeutet, man darf mit Teilen von Erregern arbeiten, die Menschen infizieren können.
Konkret: Teile aus einer Blutprobe eines HIVpositiven Menschen. Dieser wiederum gibt regelmässig sein Blut am Universitätsspital ab,
zur Kontrolle und im Rahmen der Kohortenstudie. Im Labor reiht sich Arbeitsplatz an Arbeitsplatz. Rund 15 Biologen und ­Bio­loginnen
forschen in der Arbeitsgruppe Trkola zu HIV.
Pipetten, Reagenzgläser, ­Flaschen aus Plastik
und Glas, fein säuberlich beschriftet, Thermometer, Waagen, ­Messgeräte: allem scheint
eine genaue Ordnung innezuwohnen, alles ist
platz von Mann misst gerade einmal 1 Meter
20 und gilt in Forscherkreisen als geradezu
luxuriös. «Normalerweise würden hier doppelt so viele Forscher arbeiten ... Wir sind sehr
glücklich über die tollen Voraussetzungen im
Irchel-Campus. Der Kanton Zürich hat viel investiert und das hat sich gelohnt. Man kann
gut miteinander kommunizieren, die Lüftung,
die Arbeitsgeräte und –bedingungen sind sehr
gut.» So können sich die Forschenden austauschen, kurzschliessen, aushelfen. Die Bewilligung für diese Labors spricht das Bundesamt
für Gesundheit BAG aus. Das ist auch jene Instanz, die jeweils unangemeldet vorbeikommt
und Überprüfungen vornimmt.
Faszination Virus
Axel Mann ist fasziniert von Viren. Viren, jene
Partikel, die nicht im eigentlichen Sinne leben
und gleichwohl aus uns entstanden sind. Während eines Semesterpraktikums in Frankreich
kam Mann auf das Virus. Und für seine Diplomarbeit bewarb er sich für ein HIV-Projekt, weil
er das Gefühl hatte in diesem Bereich sei Handlungsbedarf angesagt: «Es ist befriedigender, an
etwas zu arbeiten, das vielen Menschen nützt,
als für eine Krankheit, die nur 100 Menschen
betrifft». bj
Swiss Aids News 1 | März 2013
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G E S E L L S C H A F T Der lange Weg des Medikaments
Rund zwei Dutzend HIV-Medikamente sind heute auf dem Markt. Bevor ein Wirkstoff aber
zum Verkauf zugelassen wird, verschlingt der Forschungsprozess eine Unmenge an Geld
und dauert oft über ein Jahrzehnt. Testphasen an Menschen und Tieren gehören dazu.
«Die Entwicklung eines HIVMedikamentes dauert
häufig länger als zehn Jahre
und ­kostet mindestens
eine Milliarde Franken.»
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Swiss Aids News 1 | März 2013
«Die Entwicklung eines HIV-Medikamentes
dauert häufig länger als zehn Jahre und kostet mindestens eine Milliarde Franken», sagt
Roberto Speck, Leiter einer Forschungsgruppe
in der Klinik für Infektionskrankheiten und
Spitalhygiene des Universitätsspitals Zürich.
Seit den 1980er-Jahren haben rund dreissig
HIV-Medikamente den Weg auf den Markt gefunden. Pharmaunternehmen forschen indes
weiter an neuen, besser verträglichen und noch
wirksameren Medikamenten. Die Suche nach
einem neuen Arzneimittel beginnt mit der
Definition eines Zielobjekts: Was möchte man
mit einem Medikament beeinflussen? Dieses
sogenannte Target ist meistens eine Schlüsselstelle im HIV-Vermehrungszyklus; quasi
ein Schlüsselloch, zu dem es einen passenden
Schlüssel zu finden gilt, um damit das Virus zu
unterdrücken, vernichten oder gar nicht erst
eindringen zu lassen.
In sogenannten Molekülbibliotheken lagern chemische Verbindungen aus früheren
Forschungsprojekten oder welche, die neu hergestellt worden sind. Darin bedienen sich die
Forscher bei der Suche nach Wirkstoffkandidaten. Mittels automatisierter Suchverfahren
werden die Substanzen auf ihre Fähigkeit, ein
Zielobjekt zu hemmen, getestet. Das geschieht
in erster Linie an Zellkulturen ausserhalb von
Mensch und Tier. Zeigt ein Wirkstoffkandidat
eine Hemmung des Zielobjekts, wird das als
Hit bezeichnet. Er kommt in der Medikamentenentwicklung eine Runde weiter. Ausgeschlossen werden diejenigen Substanzen, die
gar keine Reaktion aufweisen oder nicht nur
das Virus, sondern die ganze Zellkultur durch
eine zu hohe Toxizität vernichten. «Von vielen
Substanzen wissen wir überhaupt nicht, wie
sie mit dem Zielobjekt interagieren», erklärt
Speck, «es müssen jeweils bis zu drei Millionen
Substanzen getestet werden, um eine kleine
Anzahl von Wirkstoffkandidaten auszuwählen. Deshalb dauern diese Suchverfahren oft
mehrere Monate.»
Versuche mit Mensch und Tier
Die Wirkstoffkandidaten werden im nächsten
Schritt an Tieren getestet. Zuerst untersuchen
die Forscher die sogenannten pharmakokinetischen und toxikologischen Eigenschaften:
Wie verteilt sich der Wirkstoff im Körper? Nach
welcher Zeit wird er ausgeschieden? Hat er
Nebenwirkungen oder ist er sogar toxisch? Die
Forscher haben eine genaue Vorstellung, wie
sich ein geeigneter Wirkstoff zu verhalten hat.
Er soll beispielsweise erst nach einer gewissen
Zeit ausgeschieden werden, um seine Wirkung
genug lange im Körper entfalten zu können.
Erfüllt ein Wirkstoff diese Anforderungen und
weist er die nötige Wirksamkeit auf, wird er
zu einer Arzneiform modifiziert – zum Beispiel
zu einer Tablette – und an Menschen getestet.
Die meisten Wirkstoffkandidaten scheiden bis
zu diesem Punkt aufgrund von ungünstigen
pharmakokinetischen oder toxikologischen
Eigenschaften und mangelnder Wirksamkeit
aus, sodass im Normalfall nur noch ein Kandidat übrig bleibt.
«Sicherheit ist bei Versuchen mit Menschen
das Allerwichtigste», sagt Speck. In der Testphase mit HIV-infizierten Menschen werden,
wie bereits bei den Tieren, zuerst die pharmakokinetischen und toxikologischen Eigenschaften untersucht. Verhält sich der Wirkstoff im
menschlichen Körper unbedenklich, verabreichen ihn die Experten an weitere freiwillige
Testpersonen und achten bei höheren Dosierungen nun auch auf den gewünschten Effekt
des Wirkstoffs. Kann eine Wirkung nachgewiesen werden und vertragen ihn die Versuchspersonen gut, erhöhen die Forscher die Zahl
der Versuchspersonen auf 500 bis 1000. Sie
testen das Medikament über mehrere Monate
bis Jahre.
Bei erfolgreich abgeschlossenen Tests kann
ein Unternehmen die Zulassung des Medikaments bei der Arzneimittelbehörde beantragen.
Bei einem positiven Entscheid kann es verkauft
werden. Ein Teil der relativ hohen Medikamentenpreise fliesst wiederum in die Entwicklung
weiterer Medikamente gegen HIV. rl
Diskussionen um Kopien
Bald dürften von einigen gebräuchlichen HIV-Medikamenten günstigere Generika auf den
Schweizer Markt kommen. Das ist einerseits erfreulich, weckt aber auch Ängste vor zuneh­
mendem Kostendruck auf Ärzte und Patienten. Umso wichtiger wird es, den allgemeinen
Nutzen der HIV-Therapie aufzuzeigen.
Der weltweite Markt für HIV-Medikamente ist
gross: Über dreizehn Milliarden Dollar wurden
gemäss dem Marktforschungsinstitut GBI im
Jahr 2011 allein in den sieben wichtigsten Ländern e ausgegeben. Ausgaben wohlgemerkt,
die noch weit grössere Ausgaben verhindern.
Denn die HIV-Therapie ist hocheffektiv. Dank
ihr leben heute die meisten Patienten frei von
Begleiterkrankungen, arbeiten und sind sexuell nicht infektiös. Dass die HIV-Medikamente
deshalb aus volkswirtschaftlicher Sicht deutlich günstiger sind als die Alternative – keine
Therapie nämlich – ist belegt und unbestritten.
Ebenso machen die Ausgaben für HIV-Medikamente einen verhältnismässig kleinen Teil
aus an den Gesundheitsbudgets der westlichen
Länder. Und dennoch: die meisten dieser Budgets stossen zunehmend an ihre Grenzen, der
Spardruck wächst.
Und Sparpotential zeichnet sich bei den
HIV-Medikamenten ab – in Form von Generika. Diese oft um ein Vielfaches billigeren
Kopien von Originalmedikamenten dürfen hergestellt und verkauft werden, sobald letztere
ihren Patentschutz verlieren. Diese Regelung
gewährt einerseits innovativen Firmen für eine gewisse Zeit eine Monopolstellung für ihre
teuer entwickelten Medikamente, lässt aber
andererseits nach Ablauf dieser Zeit (meistens
15 Jahre ab Erstzulassung) den offenen Wettbewerb zu. In den kommenden Jahren laufen
die Patente gleich mehrerer HIV-Medikamente
aus. Bereits in diesem Jahr jene von Nevirapin,
Efavirenz und Ritonavir. «Eine erfreuliche Entwicklung», kommentiert Pietro Vernazza, Infektiologe am Unispital St. Gallen, «Einige dieser
Medikamente setzen wir sehr häufig ein, und
die werden wir nun bald deutlich billiger erhalten.»
Alles klar, alles unklar
Für Anselmo Lafita vom Positivrat Schweiz ist
klar, dass dadurch die Kosten der HIV-Therapie
in Zukunft stärker in den Fokus rücken. Nicht
zuletzt, wenn die Krankenkassen deutliches
Sparpotential sehen. Denn es wird grosse Preis­
unterschiede geben bei HIV-Medikamenten:
auf der einen Seite jene, von denen es Generika
gibt, auf der anderen Seite neuere, deren Patentschutz noch besteht. Lafita sieht den damit
verbundenen Debatten mit einem gewissen Unbehagen entgegen: «Ich fürchte, dass gerade bei
der HIV-Therapie von einigen Seiten Radikalforderungen kommen könnten, die sich nicht
in erster Linie am Patientenwohl orientieren,
sondern nur auf Kostensenkung zielen.» Denn
«Ich fürchte, dass gerade
bei der HIV-Therapie von
einigen Seiten Radikalforderungen kommen könnten,
die sich nicht in erster
Linie am Patientenwohl
orientieren, sondern nur auf
Kostensenkung zielen.»
Anmerkung
e USA, England, Deutschland, Frankreich,
Italien, Spanien und Japan
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GESELLSCHAFT
«Es ist sicher richtig,
­günstigere Therapien in die
Entscheidung mit einzube­
ziehen, vorausgesetzt, es
ergibt auch klinisch Sinn.»
bereits heute, so Lafita, höre er immer wieder
die Meinung, HIV-Positive seien schliesslich
selber schuld, und deshalb sei deren Therapie
so billig wie nur möglich zu halten. Auch der
Infektiologe Vernazza warnt davor, die finanziellen Aspekte zu sehr in den Vordergrund zu
stellen, findet allerdings eine sachliche Kostendiskussion durchaus wünschenswert: «Es ist
wichtig, dass man auch finanzielle Fragen der
HIV-Therapie thematisiert, unabhängig von Generika» sagt er, «genauso wie man finanzielle
Fragen bei der Behandlung aller Krankheiten
diskutieren sollte.»
Bereits sehr konkret ist die Debatte um Generika von HIV-Medikamenten in den USA.
­Dies vor allem auf Grund einer im Januar 2013
publizierten Studie. Diese kommt zum Schluss,
das Land könne durch den Einsatz von Generika über 900 Millionen Dollar jährlich sparen.
Allerdings, so errechneten die Forscher, würde
der Einsatz von Generika die Lebenserwartung
eines HIV-Patienten um viereinhalb Monate
verkürzen. Sie stellen darum die Frage, ob man
gewillt sei, zugunsten von substanziellen Einsparungen eine von aussen betrachtet geringfügig kürzere Lebenserwartung von HIV-Patienten in Kauf zu nehmen. Und genau so wird
das Thema seither in den Medien bearbeitet.
Gleichzeitig sind sich jedoch die Fachleute über
die Resultate der Studie alles andere als einig.
Namentlich Vertreter der Weltgesundheitsorganisation WHO äusserten deutliche Kritik,
da die Studie auf mathematischen Modellen
basiert, mit Annahmen, die man ebenso gut
anders treffen könnte. Und auf andere Resultate käme. Sie führen ihrerseits Studien an,
die zeigen, dass HIV-Therapien mit Generika
auch langfristig genau gleich wirksam und
verträglich sind.
Druck aktiv vermeiden
Der Aufruhr um diese eine Studie lässt ahnen,
dass die Debatte um Generika in der HIV-Therapie nicht einfach zu führen ist. Während sie
sich für Medien und Öffentlichkeit sehr schnell
um einfache Gegensätze dreht, stellen sich in
Tat und Wahrheit viele komplexe Fragen. ­Harry
Witzthum von der Aids-Hilfe Schweiz weist zudem darauf hin, dass es für viele dieser Fragen
keine pauschalen Antworten gibt. «Es ist sicher
richtig, günstigere Therapien in die Entscheidung mit einzubeziehen, vorausgesetzt, es ergibt auch klinisch Sinn», so Witzthum, «aber
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Swiss Aids News 1 | März 2013
das müssen in jedem einzelnen Fall Arzt und
Patient gemeinsam entscheiden. Und zwar
frei von äusserem Druck irgendwelcher Art.
Am Schluss steht das Wohl des Patienten im
Vordergrund.» Um Druck auch in Zukunft zu
verhindern, sei es jedoch wichtig, dass sowohl
Ärzte wie Patienten deutlich machen, dass sie
durchaus ein Bewusstsein für Kostenfragen
haben. Dann würden individuelle Therapieentscheide auch nicht in Frage gestellt. Der
Infektiologe Vernazza sieht hier noch Handlungsbedarf: «Es gibt bei vergleichbar guten
Therapien bereits jetzt deutliche Kostenunterschiede, aber vielen Ärzten und Patienten ist
das noch wenig bewusst.»
Lafita vom Positivrat Schweiz weist hingegen darauf hin, dass es bei allem Sparwillen für
viele Patienten aus Gründen der Thera­pietreue
besser sei, die neueren – und teureren – Medikamente zu nehmen, welche in einer einzigen
Tablette eine ganze HIV-Therapie enthalten.
«Wenn jemand dadurch seine Therapie durchhält, ist das ein Gewinn für alle» sagt er. Das
aber müsse verstärkt kommuniziert werden,
wie ganz allgemein die Rolle der HIV-Therapie.
«Die Leute müssen wissen, dass HIV-positive
Menschen unter Therapie nicht mehr infektiös
sind. Therapie ist Prävention. Wer das versteht,
hat auch einen anderen Blick auf Kostenfragen.» Womit er sicher Recht hat. Denn die
bestmögliche individuelle Therapie ist aus
Sicht der öffentlichen Gesundheit immer am
günstigsten – egal, wie teuer sie ist. sp
M E D I Z I N Preiskampf in den ärmeren Ländern
Mit den ersten HIV-Medikamenten gelang 1996 ein Durchbruch: aus dem Todesurteil wurde
eine chronische Krankheit. In der westlichen Welt. Nicht so in den ärmeren Ländern. Für diese
waren die HIV-Therapien mit jährlichen Kosten um 15 000–20 000 Franken viel zu teuer. Für
sie kam der Durchbruch erst 2001, als ein indisches Unternehmen begann, Generika von im
Westen patentierten HIV-Medikamenten herzustellen. Eine HIV-Therapie kostete so nur noch
rund 500 Franken im Jahr. Aber auch die Hersteller von Originalpräparaten reagierten auf die
vielerorts desolate Versorgungslage und entwickelten ihrerseits verschiedene Preismodelle,
welche die geringe Kaufkraft in ärmeren Ländern berücksichtigten. Zudem folgten weitere
Generikahersteller vor allem in Indien, Thailand, Brasilien und Südafrika. So verbesserte sich
die Versorgung mit HIV-Medikamenten deutlich. Knapp über die Hälfte aller Patienten in
ärmeren Ländern erhielt laut UNAIDS im Jahr 2011 die notwendige Therapie.
Dennoch sehen UNAIDS und andere internationale Organisationen wie etwa Ärzte ohne
Grenzen noch viel Handlungsbedarf. Denn nicht nur gibt es immer noch Millionen Menschen,
die keinen Zugang zur Therapie haben, gleichzeitig nimmt die Zahl der HIV-Infizierten laufend
zu. Und ein weiteres Problem droht die erreichten Erfolge zu vernichten: die in den letzten
Jahren neu entwickelten HIV-Medikamente gibt es nicht mehr zu vergleichbar günstigen Preisen. Denn aufgrund des internationalen TRIPS-Abkommens e gelten alle Patente, die seit 2005
erteilt wurden, auch in den meisten ärmeren Ländern, so dass diese keine Generika herstellen
dürfen. Auf neue Medikamente sind jedoch immer mehr Menschen angewiesen, da sie nach
mehreren Jahren Therapie mit derselben Kombination Resistenzen entwickeln.
Auf diese Herausforderungen antworten die Pharmaunternehmen mit verschiedenen Strategien. Eine davon sind gestufte Preise. Das bedeutet, dass sie in verschiedenen Ländern unterschiedliche Preise verlangen, die sich am jeweiligen Pro-Kopf-Einkommen orientieren. Zudem
führen internationale Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen oder die Clinton Foundation,
die mittlerweile zu den wichtigsten Käufern von HIV-Medikamenten gehören, intensive Verhandlungen mit den Herstellern von Originalmedikamenten ebenso wie mit Generikaproduzenten.
Dank ihrer wichtigen Stellung als Käufer haben sie wesentlich mehr Verhandlungsmacht als
etwa einzelne kleine Länder. Grosse Hoffnungen ruhen auch auf dem 2010 unter dem Dach der
Weltgesundheitsorganisation (WHO) gegründeten Patentpool: in diesen sollen Unternehmen
Patente geben, die dann Generikahersteller gegen eine faire Lizenzgebühr nutzen können, um
speziell für den Markt in ärmeren Ländern Medikamente zu entwickeln. Die amerikanische
Gilead Sciences, weltweite Marktführerin bei HIV-Medikamenten, hat bereits mehrere Patente
eingebracht, auch ganz neue. Und Anfang 2013 ist ViiV Healthcare mit einem Patent gefolgt.
Anmerkung
e Das TRIPS (Trade Related Intellectual
Auf dem Weg zum grossen Ziel der WHO – Zugang zur HIV-Therapie für alle bis 2015 – sind dies
wichtige Schritte. Bis aber wirklich alle HIV-Patienten eine voll wirksame Therapie erhalten,
bedarf es noch sehr vieler Anstrengungen, Verhandlungen und Zusammenarbeit. sp
Property Rights)-Abkommen gilt für alle
Mitglieder der Welthandelsorganisation WTO
und regelt Fragen rund um geistige
Eigentumsrechte. Dazu zählt auch der
Patentschutz für Medikamente.
Swiss Aids News 1 | März 2013
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G E S E L L S C H A F T Antiretrovirale Medikamente:
Der Beitrag der Patienten
Patienten beschleunigen die Medikamentenentwicklung: Es tönt wie ein frommer Wunsch.
Im Bereich HIV ist er Realität geworden. Die HIV-Patienten haben Geschichte geschrieben
und die Medikamentenentwicklung weit über HIV hinaus für immer umgekrempelt.
Blättern wir ein wenig zurück. 1981 wurde in
den USA über die ersten Aids-Fälle berichtet,
zwei Jahre später wurde das HIV als Verursacher erkannt. Inzwischen war die Epidemie
vor allem in San Francisco und New York voll
ausgebrochen. In grosser Not organisierten Betroffene aus diesen Städten 1983 ein Treffen
unter ihresgleichen in Denver. Die Teilnehmer
verabschiedeten die Denver Declaration, welche den Einbezug von Menschen mit HIV auf
allen Entscheidungsebenen forderte. «Nothing
about us without us» lautete das Motto, welches
die Aktivistenbewegung bis heute prägt. Die
Forderungen dieser Gruppe waren revolutio­
när. Nie zuvor haben sich Patienten derart
formiert und organisiert.
Project Inform San Francisco
Anmerkungen
e Ribavirin wird heute als Bestandteil
einer Kombinationstherapie gegen Hepatitis
C eingesetzt.
r Der «accelerated approval» ist heute
ein weltweiter Standard für Heilmittel
bei lebensbedrohlichen Krankheiten. Die
«expanded access»-Programme haben
Zehntausenden von Menschen das Leben
gerettet.
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Swiss Aids News 1 | März 2013
Die wohl älteste Aids-Aktivistengruppe orga­
ni­sierte Medikamentenschmuggeltouren zur
mexikanischen Grenzstadt Tijuana. ­Eingekauft wurde jede mögliche Substanz, von
der man sich antivirale Aktivität versprach.
Das Schmuggelgut diente «medizinisch überwachten Guerillastudien» – man probierte ­alle
möglichen Medikamente wie zum Beispiel
­Ribavirin e – ohne Bewilligung der Aufsichtsbehörde FDA, aber unter ärztlicher Überwachung. Project Inform etablierte die erste nationale Therapiehotline der USA – ­lange bevor
es funktionierende Medikamente gab. Ebenso
spielte Project Inform eine Pionierrolle in der
Etablierung beschleunigter Zulassungsverfahren und der vorzeitigen Abgabe lebensrettender Therapien r.
Die sehr professionell agierenden Aktivisten erzeugten enormen Druck, möglichst
rasch funktionierende Therapien zu entwickeln. Erste Hoffnungsschimmer gab es bereits
1987 – AZT wurde vom FDA als erste antiretrovirale Substanz zugelassen. Das Medikament
stammte aus der Mottenkiste der Krebsforschung, es wurde in den Siebzigerjahren entwickelt, als man Viren als Krebsverursacher
vermutete. Die Freude währte nicht sehr ­lange,
denn das HI-Virus entwickelte sehr rasch Resistenzen gegen AZT. Die Dosierungen waren
hoch, die Nebenwirkungen schrecklich. Zwei
weitere Substanzen folgten 1991 mit der Zulassung von ddC und ddI. Doch auch hier war die
Freude kurz – die neuen Medikamente waren
bei den gegen AZT resistenten Patienten innert
kurzer Zeit ebenfalls unwirksam.
«Die wohl älteste Aids-Aktivisten­gruppe
organisierte Medikamentenschmuggel­
touren zur mexikanischen Grenzstadt
Tijuana.»
Der grosse Durchbruch kam 1995 mit einer
neuen Substanzklasse, die Proteaseinhibitoren
(PI). Zugleich merkte man, dass die Kombination verschiedener Substanzklassen das Virus
offenbar dauerhaft in Schach hielt.
Industrie und Forscher arbeiteten in diesen
Jahren sehr eng mit den Aktivisten zusammen.
Sogenannte «Community Advisory Boards» begleiteten sämtliche Studien bereits in der Planungs- und Umsetzungsphase. Die 1992 in Berlin
gegründete European AIDS Treatment Group
(EATG) diente fast nur diesem Zweck. Es waren
führende Exponenten dieser ­Gruppe, welche
1996 bei der neuen europäischen Medikamentenagentur (European Medicines ­Agency EMA)
an die Türe klopften. Diese wollte sich aber
nicht mit Patienten herumschlagen. Doch die
Not war gross, die Argumente schlagend und
die Aktivisten liessen sich nicht abschütteln. So
überzeugte man die Behörde, die damals neue
Viruslastbestimmung als Parameter für die
Zulassung von Substanzen zuzulassen. Nach
einigen Diskussionen erhielt im Februar 1998
Nevirapin als erste Substanz aufgrund seiner
Wirkung auf die Surrogatmarker CD4 und die
Viruslast eine Marktzulassung. Das war im
Vergleich zu früher ein enormer Fortschritt.
Das vorher angewandte Verfahren bezog sich
auf klinische Endpunkte, das heisst, dass die
Verhinderung des Todes eine Zulassung erst
möglich machte.
Überleben gesichert, Nebenwirkungen inklusive
Die Patienten überlebten jetzt, die Erleichterung war gross. Man träumte davon, das HIVirus ganz vertreiben zu können, man wollte
früh und hart mit Medikamenten zuschlagen
(«hit hard, hit early»). Es waren aber wiederum
Patienten, welche die Alarmglocken läuteten.
Viele beobachteten eigenartige Körperverän­
derungen. Von «buffalo humps» (grosse, gut
sichtbare Buckel im Nacken) und «Crix-bellies»
(Schwellbäuche) war die Rede. Spindeldürre
Arme und Beine, dahinschmelzende Hinterteile, Veränderungen der Blutfettwerte sorgten
für Unruhe. Man hatte in der Euphorie alle
Substanzen beschleunigt zugelassen und bezahlte jetzt den Preis mit Langzeitnebenwirkungen, die aufgrund der kurzen Verfahren
nicht bekannt sein konnten. Die Behörden
reagierten und richteten das sogenannte
HAART Oversight Committee ein. FDA und
EMA finanzierten die D:A:D Kohorte t, eine
­internationale prospektive Überwachungsstudie, welche die langfristige Auswirkung der
HIV-Therapie auf Lipide und Herz-KreislaufRisiken untersucht.
Innert kurzer Zeit konnte man neue Substanzen entwickeln, welche den Fetthaushalt
weniger oder gar nicht beeinflussen. Wer in
den letzten sieben, acht Jahren eine Therapie
begonnen hat, kennt diese stigmatisierenden
Nebenwirkungen nicht mehr.
Kampf den Resistenzen
Die Mechanismen der Marktzulassung haben
dazu geführt, dass einige Patienten zwar überlebt, aber mit der Zeit gegen alle und jedes
Medikament Resistenzen entwickelt haben.
Die Leute hangelten sich über Jahre von einer
Studie mit einer neuen Substanz zur nächs­
ten, entwickelten immer neue Resistenzen,
was jede dauerhafte Therapiestrategie verunmöglichte. Zwar wusste man inzwischen, wie
man aus dem Teufelskreis hätte ausbrechen
können. Eine grosse Zulassungsstudie mit
zwei neuen Substanzen musste her, aber wie?
Erstens wollten und konnten die Firmen in
dieser Phase nicht kooperieren, zum Zweiten
konnten die Behörden eine solche Studie gar
nicht akzeptieren. Die etablierten Zulassungsverfahren erforderten saubere Daten für jede
einzelne Substanz.
Doch wiederum trug kluges Lobbyieren
Früchte. Als die damals kleine und junge Firma
Tibotec (heute Janssen-Cilag) den PI Darunavir und den NNRTI Etravirine fast gleichzeitig
in der Pipeline hatte, konnte man sowohl die
«Die Leute hangelten sich über Jahre
von einer Studie mit einer neuen Substanz zur nächsten, entwickelten immer
neue Resistenzen, was jede dauerhafte
Therapiestrategie verunmöglichte.»
Firma wie auch die Behörden überzeugen, beide Substanzen gleichzeitig in der Duet-Studie
zuzulassen. Nur wenige Jahre später gibt es in
der Schweiz noch einen oder vielleicht zwei
Patienten, welche aufgrund von Resistenzen
exotische Substanzen wie T-20 (Enfuvirtide)
benötigen.
Fazit und Ausblick
Rückwirkend fragt man sich, wie die Aidsaktivisten als blutige Laien das alles geschafft haben. Zum Ersten waren die zuerst betroffenen
Männer in San Francisco und New York hartgesottene Politaktivisten aus der Schwulenbewegung. Man glaubte zu wissen, wie man Berge
versetzt. Das fehlende technische Rüstzeug
eignete man sich einfach an, im Selbststudium,
oder learning by doing.
Mittlerweile haben Industrie und Behörden
erkannt, wie wertvoll die Zusammenarbeit
mit gut informierten Patientenvertretern sein
kann. Ein bisher kaum überwindbares Problem
war jedoch die Ausbildung der Leute in den Patientenorganisationen. Wenn die Patienten mit
den Profis aufs Feld wollen, müssen sie die Regeln kennen. Eingesprungen ist die Inno­vative
Medicines Initiative der EU-­Kommission mit
dem auf Jahre angelegten Projekt ­EUPATI u.
Das Projekt soll in den nächsten 5 Jahren
Ausbildungsmaterial in 6 Sprachen und auf 3
Verständnisebenen von Grund- bis zu Expertenkenntnissen entwickeln. Damit kriegen
Patientenorganisationen, aber auch individuelle Patienten die Werkzeuge in die Hand, um
künftig effizient mitzureden.
dh
t Data Collection on Adverse Events
of Anti-HIV Drugs.
u www.imi.europa.eu
www.patientsacademy.eu
Swiss Aids News 1 | März 2013
11
GESELLSCHAFT
Leben ohne Packungsbeilage
Für grosse Sprünge reicht es nicht mehr, für viele schöne Augenblicke allemal. So
etwa, als er mit leisem Lächeln von seinem baldigen Grossvaterglück erzählt. Dann
ist für Daniel W., 55, alles weit weg: der tägliche Kampf um die Gesundheit, der lange
Weg mit der Diagnose Aids, die vielen Male, als er dem Tod schon ins Gesicht sah.
Vieles verdankt Daniel W. den Medikamenten. Er hat schon ziemlich alle erhältlichen
Wirkstoffe gegen HIV geschluckt. Und auch viele andere. Ein Interview über das
Leben mit Pillen.
sechs Uhr wach, mit dem Hund raus und
– verhältnismässig – gut in Form.
Und Ihr Bedarf an Medikamenten
ist immer noch so hoch, dass Sie
fünf­unddreissig Pillen am Tag
nehmen müssen?
Ja, so in der Grössenordnung, vielleicht
eher dreissig derzeit. Die nehme ich in
zwei Ladungen. Eine Hälfte morgens um
neun, die andere Hälfte abends um neun.
Wie viele davon sind HIV-Medika­
mente?
© Keiko Saile
Vier. Das heisst, ich nehme sowohl morgens wie abends alle vier HIV-Medikamente, macht also acht Pillen.
Diagnose Aids, täglich fünfunddreissig
Pillen, und doch unverzagt. So könnte
man ein Interview zusammenfassen,
das Sie vor fünf Jahren gegeben haben.
Wie geht es Ihnen heute?
Gesundheitlich geht es mir schlechter.
Wobei nicht die HIV-Infektion das Hauptproblem ist, sondern die Leber. Dann
kommt noch eine Menge anderes dazu.
Und ich bin häufig sehr müde. Nicht
müde wie zum Beispiel früher nach endlosen Arbeitstagen, nein, die Müdigkeit,
die mich jetzt an ein bis zwei Tagen die
Woche heimsucht, ist ein richtiger körperlicher Schmerz. Als wäre ich in einen
Anzug aus Blei gekleidet, der jede Bewegung verunmöglicht. An solchen Tagen
komme ich gar nicht zum Bett raus. Aber
es gibt auf der anderen Seite auch viele
gute Tage. Heute zum Beispiel bin ich seit
12
Swiss Aids News 1 | März 2013
Können Sie sich all die Namen Ihrer
Medikamente merken?
Nein. Für was auch? Ich müsste sogar
nachschauen, wie die aktuellen HIVMedikamente heissen, die ich jetzt seit
über zwei Jahren nehme.
Wenn Sie nicht in Namen an Ihre
­Medikamente denken, wie dann? In
Farben und Formen?
Eigentlich denke ich fast überhaupt nicht
an meine Medikamente. Muss ich auch
nicht, weil ich die Einnahme seit Jahren
genau gleich organisiere. Das ist mittlerweile ein Automatismus geworden. Zum
Beispiel bereite ich heute die zwei Rationen für morgen vor: aus jeder Packung
eine Pille in die eine Schale, eine Pille in
die andere Schale. Und morgen um neun
nehme ich die Pillen in der ersten Schale
mit einem Glas Wasser. Am Abend dann
die zweite. Ohne gross zu denken. Und
bereite die Rationen für übermorgen vor.
Das läuft alles einfach ab und braucht
kaum Zeit.
Erinnern Sie sich noch an die erste
Pille, an das erste Mal, als Sie ein HIVMedikament nahmen?
Nur zu gut, ja. Es war der Horror. Das
ist jetzt 24 Jahre her, und ich kann
mich zwar auch an den Namen dieses
Medikaments nicht erinnern, aber den
Geschmack vergesse ich nie: chemisches
Himbeeraroma der übelsten Sorte,
ungefähr so wie heutige Energy-Drinks.
Wirklich schlimm aber war, dass ich die
Pille hätte zerkauen sollen und es einfach
«Jetzt, wo ich eher angeschlagen
bin, merke ich schon, dass die Konserve auch ein Ablaufdatum hat.»
nicht schaffte. Weil sich das wie Sand
anfühlte. Ich brachte es schlicht nicht
runter und spuckte alles wieder aus. Ich
rief dann meinen Arzt an und fragte, ob
man das Medikament auch anders einnehmen könne. Eine Packungsbeilage, die
vielleicht hätte Aufschluss geben können,
gab es ja noch nicht, denn das Medikament wurde erst im Rahmen einer Studie
abgegeben. Auf alle Fälle hatte ich Glück:
Man durfte die Tablette in Orangensaft
auflösen. So klappte es dann.
Später, als es Beipackzettel gab,
haben Sie diese jeweils gelesen?
Nur ganz kurz zu Beginn. Dann nicht
mehr. Denn wie ich die Medikamente
einnehmen muss, weiss mein Arzt am
besten. Und die Nebenwirkungen sind
sowieso immer die gleichen: von leichter
Müdigkeit bis zum Tod.
Welches war Ihre dunkelste Stunde in
Bezug auf die HIV-Medikamente?
Der Einstieg, auf jeden Fall. Als ich die
Pille einfach nicht runterbrachte. Und
am Anfang hatte ich eine Weile lang
auch Mühe damit, die Zeiten einzuhalten.
Denn ich sollte zu fünf unterschiedlichen
Zeiten verschiedene Medikamente nehmen. Ich musste sogar extra morgens
um sechs aufstehen, um ein Medikament
in Wasser aufzulösen, damit es um sieben
bereit war. Meine Schwiegermutter
hat dann einen Wecker aufgetrieben,
den man auf genau fünf Weckzeiten
einstellen konnte. Damals so ein Gerät zu
finden, war gar nicht einfach. Letztlich
bin ich also doch ziemlich schnell gut
mit der Therapie klargekommen. Auch
für Nebenwirkungen gibt es immer eine
Lösung. Habe ich zum Beispiel Durchfall,
nehme ich halt Immodium.
Sie haben in all den Jahren nie den
Pillenkoller gehabt?
Nein, nie. Ich habe die Medikamente
immer im Bewusstsein genommen, dass
sie mir guttun, auch wenn sie Nebenwirkungen haben. Auf gewisse Weise konservieren mich die Pillen, wie ein Gemüse
oder ein Stück Fleisch in einer Dose.
Solange die Dose gut verschlossen und
intakt ist, bleibt der Inhalt erhalten. Jetzt,
wo ich eher angeschlagen bin, merke
ich allerdings schon, dass die Konserve
auch ein Ablaufdatum hat. Aber sie hält
bereits lange. Im April werde ich Grossvater. Daran hätte vor zwanzig Jahren wohl
niemand geglaubt.
Die Medikamente sind existenziell für
Ihr Leben. Haben Sie sie schon mal
verloren, als Sie auswärts oder in den
Ferien waren?
Verloren nicht, aber schon zu Hause
vergessen. Doch in der Regel gehe ich
bestens ausgerüstet aus dem Haus. Wenn
ich länger raus gehe, habe ich immer genügend Medikamente dabei, damit es bis
zum nächsten Morgen reicht. Ich denke,
das genügt. Denn falls irgendetwas wäre,
sollte man in der Schweiz innerhalb
von 24 Stunden alle Medikamente
beschaffen können. Grundsätzlich war
ich aber immer enorm konsequent mit
der Einnahme. Punkt neun Uhr, morgens
und abends, seit Jahren. Früher habe ich
damit selbst im Theater oder im Zirkus
nicht einmal auf die Pause gewartet.
Auch wenn es in dicht gedrängten Reihen
eher mühsam ist, eine ganze Ladung
Pillen zu nehmen. Im Gedränge fallen
schnell mal einige runter. Wenn man
dann auf die Frage «Was suchen Sie da
eigentlich am Boden?» antwortet: «Meine
HIV-Medikamente», hat man nachher
wenigstens wieder etwas mehr Platz.
Tauschen Sie sich aus mit anderen
Leuten, die ebenfalls über lange Zeit
mit vielen Medikamenten leben?
Fachsimpelt man?
Ja, das macht man schon. Man gibt auch
mal Tipps. Denn es fällt nicht allen so
leicht wie mir: eine Handvoll Pillen in
den Mund, ein Glas Wasser, und hopp.
Ich kenne Leute, für die bedeutet das
Pillennehmen jedes Mal zwei Stunden
mühsame Arbeit, zwei Stunden Krampf.
Auch von den Medikamenten abgesehen,
finde ich es gut, wenn sich HIV-Positive
austauschen. Gerade für Neudiagnostizierte kann es sehr wichtig sein, dass
ihnen nicht nur der Arzt über die Krankheit erzählt, sondern eben jemand, der
selber in der gleichen Situation ist. Aus
diesem Grund mache ich bei Queer Help
vom Checkpoint Zürich mit, wo ich vor
allem für ältere Neudiagnostizierte ein
Ansprechpartner bin.
Was wäre, wenn Sie keine Pillen mehr
nehmen müssten?
Hm, ja, das wäre anders. Ungewohnt.
Wahrscheinlich so, wie wenn ich ohne
Hund in die Stadt gehe. Dann drehe ich
mich immer wieder reflexartig um und
schaue nach ihm. Ebenso würde ich wohl
noch lange Zeit um neun Uhr automatisch zu meinen Pillen greifen, obwohl
sie gar nicht mehr da wären.
Vielen Dank für dieses Gespräch.
Das Interview führte Stéphane Praz.
Swiss Aids News 1 | März 2013
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RECHT
Welche Medikamente muss die
Krankenkasse übernehmen?
© kallejipp / photocase.com
Wenn der Arzt einem Patienten ein bestimmtes Medikament verschreibt, ist dies noch
keine Garantie dafür, dass es von der Krankenkasse übernommen wird. Wie Sie feststellen
können, ob die Grundversicherung leistungspflichtig ist, erfahren Sie im folgenden Beitrag.
Rechtsberatung
der Aids-Hilfe Schweiz
Wir beantworten kostenlos Rechtsfragen
im Zusammenhang mit HIV in folgenden
Gebieten:
Sozialversicherungsrecht
Sozialhilferecht
Privatversicherungen
Arbeitsrecht
Datenschutzrecht
Patientenrecht
Einreise- und Aufenthaltsrecht
Öffnungszeiten
Di und Do 9–12, 14–16 Uhr
Tel. 044 447 11 11, [email protected]
Anmerkungen
e Betrag, bis zu dem ein Versicherter Kos­
ten, die eigentlich durch die obligatorische
Krankenpflegeversicherung übernommen
werden, selbst bezahlen muss. Je nach Wahl
beträgt dieser Betrag zwischen CHF 300.–
und 2500.– pro Jahr.
r siehe SAN 2/2012, Juli 2012
t Von 1999 bis 2005 wurden diese Methoden bereits einmal von der Grundversicherung übernommen.
14
Swiss Aids News 1 | März 2013
Damit ein bestimmtes Arzneimittel in der
Schweiz überhaupt verkauft werden darf, muss
es zunächst von der Schweizerischen Zulas­
sungs- und Aufsichtsbehörde für Heilmittel
(Swissmedic) registriert werden. Es werden
nur Medikamente zugelassen, bei denen die
Hersteller wissenschaftlich nachweisen konnten, dass sie für das beantragte Therapiegebiet
wirksam, sicher und qualitativ hochstehend
sind. Der Gesetzgeber hat für die Schweiz als
Nicht-EU-Staat eine autonome Zulassung von
Arzneimitteln vorgesehen. Das Heilmittelgesetz lässt nicht zu, dass die Schweiz die Arzneimittelzulassung ausländischer Behörden
anerkennt bzw. ohne Prüfung übernimmt.
Ist ein Medikament in der Schweiz zuge­
lassen, heisst dies jedoch noch nicht, dass es
auch von der Grundversicherung der Krankenkassen übernommen wird. Es gibt verschiedene Listen, auf welchen die in der Schweiz
zugelassenen und auf dem Markt erhältlichen
Medikamente aufgeführt sind. Die Frage, ob ein
bestimmtes Medikament von der Grund- oder
Zusatzversicherung übernommen wird, hängt
davon ab, auf welcher Liste es steht:
Die Spezialitätenliste (SL)
Die Grundversicherung bezahlt – nach Entrichtung der Franchise e – die ärztlich verordneten Medikamente, welche auf der Spezialitätenliste aufgeführt sind. Die SL listet die
kassenpflichtigen, fabrikmässig hergestellten
Medikamente mit Verabreichungsart und Preis
auf. Bevor ein neues Medikament in die SL aufgenommen wird, muss nachgewiesen sein, dass
es wirksam ist, seinen Zweck erfüllt und dass
die Medikamentenkosten mit der erreichten
Wirkung in einem normalen Verhältnis stehen.
Ein Medikament, das sich auf der SL befindet,
wird von den Kassen aber nur dann übernommen, wenn es genau so abgegeben wird, wie es
dort aufgeführt ist. Wird es in anderer Form
(z. B. Tropfen statt Tabletten) oder in anderer
Dosierung (z. B. Packung à 100 Stück statt 50
Stück) gekauft, dann muss es die Patientin in
der Regel selber bezahlen. Es handelt sich dabei
um den sogenannten Off-Label-Use. r Einige
Medikamente sind mit sogenannten Limitationen belegt. Das heisst, sie werden nur für eine
ganz bestimmte Behandlung, nur für eine bestimmte Zeitdauer oder nur für einen bestimmten Personenkreis in die SL aufgenommen.
Selbst wenn ein Medikament in der SL
aufgeführt ist, kann sich die Krankenkasse
weigern, es zu bezahlen, wenn es zu einem
anderen Zweck verwendet wird, als vorgesehen ist. Wer z. B. ein Medikament, das von der
Swissmedic nur als Kopfschmerzmittel zugelassen ist, gegen Magenkrämpfe nimmt, weil
es Indizien gibt, dass dieses Mittel auch gegen
Magenkrämpfe hilft, muss dies selber bezahlen.
Medikamente, welche nur zur Linderung
leichterer Befindlichkeitsstörungen, zur Erhaltung der Gesundheit oder zur Vorbeugung vor
Krankheiten dienen, sind meistens nicht in der
SL enthalten und werden von der Grundversicherung nicht übernommen.
Die Spezialitätenliste kann unter www.sl.bag.
admin.ch eingesehen werden.
Komplementärmedizin
Arzneimittel, die nicht wissenschaftlich der
Schulmedizin zugeordnet werden können,
werden unter den Begriff komplementärmedizinische Arzneimittel zusammengefasst. Seit
dem 1. Januar 2012 gehören folgende Methoden zum Leistungskatalog der obligatorischen
Grundversicherung: t
Anthroposophische Medizin
Ärztliche klassische Homöopathie
Phytotherapie (Arzneimittel auf pflanzli­
cher Basis)
Arzneimitteltherapie der traditionellen chinesischen Medizin (TCM)
Die Leistungen werden vergütet, wenn die
Behandlung von einem schulmedizinisch ausgebildeten Arzt mit entsprechender Zusatzausbildung angewendet wird und das Arzneimittel
auf der Spezialitätenliste steht.
Vorerst werden die Therapien bis Ende 2017
vergütet. Anschliessend werden die Behandlungsmethoden erneut anhand der Kriterien
Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit beurteilt.
Infolge strengerer Zulassungshürden und
zunehmenden administrativen Aufwands verschwinden immer mehr Komplementär- und
Phytoarzneimittel. Aus diesem Grund wurden
im September 2012 zwei parlamentarische Vorstösse (Postulate) eingereicht zur Bewahrung
der Vielfalt von Arzneimitteln der Komplementärmedizin. u
Generika
Nach zwanzig Jahren läuft der Patentschutz
für ein Medikament aus. Arzneimittel kommen
jedoch nicht unmittelbar nach ihrer Erfindung
auf den Markt. Zuerst müssen noch umfangreiche Studien für die Zulassung erarbeitet
werden, welche mehrere Jahre dauern. Deshalb gibt es für Arzneimittel das erweiterte
Schutzzertifikat, welches den Patentschutz um
maximal fünf Jahre verlängert. Sobald ein Arzneimittel zugelassen ist, beginnt überdies der
Erstanmelderschutz zu laufen. Dieser schützt
nicht die Erfindung an sich, sondern die für die
Zulassung eingereichten Unterlagen. Nach Ablauf dieser Schutzfristen können auch andere
Anbieter ein Medikament mit demselben Wirkstoff herstellen und verkaufen. Dieses Nachahmerpräparat bezeichnet man als Generikum
(Mehrzahl Generika). Für den Nachweis der
Wirksamkeit und der Sicherheit kann sich das
Zulassungsgesuch eines Generikums auf die
Unterlagen des Originalpräparats stützen. Das
Gesuch muss nur mittels einer Bioverfügbarkeitsstudie nachweisen, dass das Generikum
gleich wirksam ist wie das Original sowie die
gleichen Qualitätsstandards erfüllt. Deshalb
ist der Verkaufspreis eines Generikums tiefer.
Auch von antiretroviralen Therapien gibt
es mittlerweile Generika, auf dem schweizerischen Markt sind sie aber noch ohne Bedeutung.
Patienten, welche sich ein Originalmedikament statt ein gleichwertiges Generikum verschreiben lassen, müssen einen Selbstbehalt
von 20% bezahlen (bis maximal CHF 700.– pro
Jahr), beim Generikum sind es in der Regel 10%.
Seit Mitte 2011 kann aber auch ein Generikum
einen Selbstbehalt von 20 Prozent haben, wenn
dieses nämlich 20 Prozent teurer ist als der
Referenzpreis i. Der Referenzpreis wird vom
Bundesamt für Gesundheit regelmässig überprüft und angepasst.
Arzneimittelliste mit Tarif (ALT)
In dieser Liste sind kassenpflichtige Arzneien
aufgeführt, welche nach ärztlichem Rezept in
der Apotheke hergestellt werden. Für Menschen mit HIV sind solche Arzneien zwar von
geringer Bedeutung. Homöopathische oder
andere Medikamente der Komplementärmedizin können aber eventuell auch nach der ALT
kassenpflichtig sein.
Die Arzneimittelliste kann unter
www.bag.admin.ch/themen/krankenversicherung/06492/06493/index.html eingesehen wer­
den.
«Infolge strengerer Zulas­
sungshürden und zunehmenden
administrativen Aufwands
verschwinden immer mehr
Komplementär- und Phyto­
arzneimittel.»
Zusatzversicherungen
Nicht von der Grundversicherung übernommene Medikamente können über bestehende
Zusatzversicherungen abgedeckt sein, auch
wenn sie nicht auf der Spezialitätenliste aufgeführt sind. Es gibt jedoch auch Präparate,
welche weder von der Grund- noch von einer
Zusatzversicherung übernommen werden. Dabei handelt es sich um sogenannte «pharmazeutische Präparate mit spezieller Verwendung»
(LPPV). Es sind dies Komfort- und Lifestylepräparate, wie z .B. Vitaminpräparate, hormonelle
Verhütungsmittel oder Nahrungsergänzungsmittel. Die dazu zählenden Präparate finden
sich auf www.lppv.ch.
cs
u Näheres dazu auf der Website des Homöopathieverbands Schweiz www.hvs.ch/
i Referenzpreis = Durchschnittspreis des
günstigsten Drittels der Generika, die als
Ersatz für das Originalpräparat infrage
kommen.
Swiss Aids News 1 | März 2013
15
F O R U M Sie fragen – wir antworten
Anfrage von Herrn T. N.
Längere Reisen, HIV-Medikamente
und Versicherungen
Ich habe unbezahlten Urlaub genommen
und verreise ein paar Monate ins Ausland.
Was sollte ich beachten in Bezug auf meine
HIV-Medikamente, Krankenkasse und sons­
tigen Versicherungen?
© Viola Heller
Antwort von Dr. iur. Caroline Suter
16
Swiss Aids News 1 | März 2013
Klären Sie zuallererst ab, ob Ihre Zieldesti­na­
tio­n(en) Einreisebeschränkungen für Menschen
mit HIV vorsehen. Leider gibt es immer noch
Länder, die solche diskriminierenden Bestimmungen kennen, insbesondere für längere Aufenthalte von über 90 Tagen. Die Webseite www.
hivtravel.org informiert Sie umfassend darüber.
Kontaktieren Sie frühzeitig Ihre HIV-Ärztin
und schildern Sie ihr Ihre Reisepläne, da Sie
je nach Urlaubsdauer eine grössere Menge
Medikamente mitnehmen müssen. Lassen Sie
sich bei dieser Gelegenheit auch ein Rezept
mitgeben, das neben der Dosierung den internationalen Freinamen (DCI) enthalten sollte.
Somit könnte Ihnen im Notfall eine ausländische Apotheke das Medikament geben, wenn
dieses im entsprechenden Zielland erhältlich
ist. Ist dies nicht der Fall oder stellen sich sons­
tige Probleme hinsichtlich der medizinischen
Versorgung an Ihrer Reisedestination, können
Sie sich mit der schweizerischen Vertretung
in Verbindung setzen, welche Ihnen hilfreiche
Kontakte vermitteln kann. Schreiben Sie vor
der Abreise die entsprechenden Adressen und
Telefonnummern heraus (www.eda.admin.ch).
Wenn Sie eine längere Reise in ein Nicht-EU/
EFTA-Land planen, sollten Sie sich zudem eine
ärztliche Bescheinigung ausstellen lassen, aus
welcher hervorgeht, dass die mitgeführten Medikamente für Ihren persönlichen Gebrauch
bestimmt sind. So lassen sich bei Zollkontrollen allfällige Missverständnisse vermeiden.
Vorsicht: Für Staaten, welche die Einreise von
Menschen mit HIV einschränken oder verbieten, empfiehlt sich das Mitführen einer solchen
Bestätigung in der Regel nicht.
Da Ihr Auslandaufenthalt nur von vorübergehender Natur ist, bleiben Sie in der Schweiz
angemeldet. Damit läuft auch Ihre Grundversicherung weiter, wie auch Ihre Zusatzversicherungen, wenn Sie solche haben. Stellen Sie
sicher, dass die Prämienzahlungen auch während Ihres unbezahlten Urlaubs vorgenommen
werden. Bei Reisen in EU/EFTA-Staaten gilt die
europäische Versicherungskarte. Damit haben
Sie Anspruch auf medizinische Leistungen
nach dem Recht des Aufenthaltslandes, d.h.,
als ob Sie dort versichert wären. Bei Reisen in
Nicht-EU/EFTA-Länder muss die Rechnung in
der Regel direkt im Reiseland bezahlt werden.
Mit der Quittung werden die Behandlungskosten von Ihrer Krankenversicherung zurückerstattet bis zum maximal doppelten Betrag,
den die gleiche Behandlung in der Schweiz
kosten würde.
Bei einem unbezahlten Urlaub von mehr als
30 Tagen sind Sie nicht mehr gegen Nichtberufsunfälle versichert. Sie können die Nichtberufsunfallversicherung jedoch über die 30 Tage
hinaus um maximal 180 Tage verlängern (so
genannte Abredeversicherung). Das entsprechende Formular können Sie bei Ihrem Arbeitgeber oder direkt bei der Unfallversicherung
beziehen. Reicht die Verlängerung nicht aus,
sollten Sie Ihrer Krankenkasse mitteilen, dass
Sie den Unfallschutz in die Grundversicherung
integrieren möchten.
Auch bei der Pensionskasse endet nach 30
Tagen unbezahltem Urlaub die Versicherungsdeckung gegen Invalidität und Tod. In der Regel
können Sie die Deckung jedoch freiwillig weiterführen (siehe Reglement), indem Sie während Ihrer Abwesenheit die vollen Beiträge
(also inkl. Arbeitgeberanteile) entrichten.
Die Krankentaggeldversicherungen sehen
unterschiedliche Regelungen vor. Normalerweise ruht der Versicherungsschutz während
eines unbezahlten Urlaubs und entsteht erst
wieder, wenn der Lohnanspruch erneut einsetzt. Schauen Sie in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB), was dort zu unbezahltem Urlaub geschrieben steht und/oder
konsultieren Sie den Taggeldversicherer.
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