Deutsches Ärzteblatt 1984: A-45

Werbung
DEUTSCHES ARZTEBLATT
Kulturmagazin
Jan Murken
,Nach Prüfungskrach wird Mendel dickköpfig"
Als im Oktober 1983 der Medizin-Nobelpreis an die Genetikerin Barbara McClintock verliehen wurde, verglich das Preiskomitee in seiner Würdigung ihre
Erkenntnisse mit dem Werk Gregor Mendels. Wie Mendel habe
sie ihre grundlegenden Arbeiten
allein und zu einer Zeit durchgeführt „als ihre Zeitgenossen
noch nicht in der Lage waren,
die Allgemeingültigkeit und Bedeutung ihrer Entdeckung zu erkennen".
Begründer der
naturwissenschaftlichen
Vererbungslehre:
Lange verkannt, heuer
hätte er den
Nobelpreis bekommen
Gedanken zu seinem
100. Todestag
am 6. Januar 1984
In der Tat hat die Bewunderung
der ihrer Zeit weit vorauseilenden Arbeit Gregor Mendels und
das Staunen über seinen Mut
und seine Beharrlichkeit nie aufgehört. Immer wieder hat sich
die Frage nach dem Motiv zu
seinen Untersuchungen gestellt
und die Frage nach dem theoretischen Modell, das dahinterstand. Von den „tantalizing questions" nach den Ideen seines
Versuchsansatzes ist im AugustHeft 1983 des „Journal of Heredity" die Rede (6).
Neue scharfsinnige Untersuchungen ermöglichen uns heute
tiefere Einblicke in das naturwissenschaftliche Umfeld Mendels
und in seine geistige Welt.
Das Augustinerkloster
in Brünn —
ein Zentrum der Wissenschaft
Es war nicht einfach so, wie immer wieder berichtet wurde, daß
Mendel in der stillen Abgeschiedenheit eines Klosters „Erbsen
zählte". Das Kloster Brünn, dem
er angehörte, war ein lebendiges Zentrum des geistigen Lebens in Mähren. Das Ordenska-
So porträtierte Horst Janssen Gregor
Mendel zu dessen Gedenkjahr 1984
pitel bestand zum Teil aus angesehenen Wissenschaftlern, ein
reger Gedankenaustausch mit
den Universitäten des In- und
Auslandes fand statt.
Mendel selbst hatte eine ausgezeichnete naturwissenschaftliche Ausbildung an der Universität Wien erhalten. Er überblickte die botanische Literatur
seiner Zeitgenossen und war absolut auf der Höhe des naturwissenschaftlichen Wissens seiner
Zeit.
Johann Mendel war am 22. Juli
1822 in Heinzendorf im damals
österreichischen Mähren geboren. Er hatte von 1834 bis 1840
das Gymnasium in Troppau besucht, das Abgangszeugnis wies
ihn als hervorragenden Schüler
aus. Überschattet wurde die
Schulzeit und die beginnende
Studienzeit in Olmütz durch große finanzielle Schwierigkeiten.
In seiner „Autobiographie"
schrieb er, daß seine Eltern
„durch mehrere schnell aufeinander folgende Unglücksfälle
gänzlich außerstand gesetzt
wurden, die nöthigen Studienauslagen zu bestreiten und der
ehrfurchtsvoll Gefertigte, damals erst 16 Jahre alt, kam dadurch in die traurige Lage, ganz
allein für seine Erhaltung sorgen
zu müssen" (8). Diese Belastung
und seine schwache Gesundheit
waren wohl neben einer tiefen
und aufrichtigen Religiosität der
Anlaß, 1843 in das Augustinerkloster Brünn einzutreten. Er erhielt den Namen Gregor.
Der Abt Cyrill Napp (1792-1867),
eine überragende Persönlichkeit, leitete das Kloster seit 1824
bis zu seinem Tode und führte
es zu einer überregionalen wissenschaftlichen Blüte. Mendel
wurde nach vierjährigem Theologiestudium 1847 zum Priester
geweiht, war aber von den Anforderungen der tätigen Seelsorge rasch überfordert. So informierte Napp den Bischof, daß
Mendel zwar „sehr fleißig der
Wissenschaft obliegt, für die
Ausgabe A 81. Jahrgang Heft 1/2 vom 9. Januar 1984 (71)
45
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Gedanken zu Mendels 100. Todestag
Seelsorge aber weniger geeignet ist, weil er am Krankenlager
und beim Anblick der Kranken
und Leidenden von einer unüberwindlichen Scheu ergriffen
wird und davon selbst in eine
gefährliche Krankheit verfiel".
Napp habe sich daraufhin veranlaßt gesehen, „ihn von dem
Seelsorgedienst zu entheben
und ihn zum Supplenten der
Mathematik am Gymnasium zu
Znaim zu bestimmen" (8).
Mendel erwies sich als hervorragender Lehrer. Die Staatsprüfung für das Lehramt, die an der
Universität Wien abzulegen war,
bestand er bei seinem ersten
Versuch im Jahre 1851 jedoch
nicht.
Das naturwissenschaftliche
Studium in Wien
Trotz des nicht bestandenen Examens zweifelte Napp nicht an
Mendels Fähigkeiten — im Gegenteil, er schickte ihn jetzt zum
Studium auf die Universität nach
Wien. Er sah ganz klar, daß Mendel „vorzügliche Geistesfähigkeit und ausdauernden Fleiß für
das Studium der Naturwissenschaft besitzt" (8). Vom November 1851 an hörte Mendel in
Wien vier Semester Naturwissenschaften an der Philosophischen Fakultät. Sein Studium
umfaßte die systematische Botanik bei Eduard Fenzl, Pflanzenphysiologie bei Franz Unger,
Chemie bei Redtenbacher; er
hörte Mathematik und Experimentalphysik bei Christian
Doppler (dem Erstbeschreiber
des nach ihm benannten Effektes) und höhere Mathematik bei
Andreas von Ettinghausen. Gerade diese beiden betonten in
ihren Vorlesungen, daß die mathematische Analyse der beste
Weg sei, die Erscheinungen der
Natur zu verstehen (6).
Mendel kehrte 1853 nach Brünn
zurück und wurde Lehrer an der
Brünner Staatsrealschule für
Physik und Naturgeschichte.
46
1856 meldete er sich erneut zur
Lehramtsprüfung, doch obwohl
er sicherlich bestens vorbereitet
war, scheiterte er auch bei diesem zweiten Versuch. Wahrscheinlich hat er damals die Prüfung abgebrochen, vielleicht
weil er „bei der Prüfung mit dem
Botanik-Professor eine Kontroverse gehabt und auf seinem
Standpunkt beharrt hat" (2). An
diesem Punkt setzen die Untersuchungen von Rosalie Wunderlich (9) ein, die plausibel machen, daß Mendel in seinem Examen in einen naturwissenschaftlichen Streit hineingezogen wurde, der gerade in den
Jahren zwischen den mißglückten Lehramtsprüfungen 1850
und 1856 leidenschaftlich geführt wurde.
In diesem Streit ging es darum,
ob der Zellkern des Pollenschlauchs eine Eizelle im Embryosack befruchtet oder ob der
Zellkern des Pollenschlauchs
sich zum Embryo entwickelt.
Es scheint so gewesen zu sein,
daß Mendel in der Botanikprüfung bei Eduard Fenzl, der die
Theorie der Befruchtung einer
Eizelle ablehnte, die Frage nach
der Entstehung des Embryos
der Blütenpflanze zu diskutieren hatte. „Bei Fenzls Temperament und Charakter scheint es
durchaus möglich, daß er in seiner bekannten heftigen Weise reagierte und Mendel wegen seiner gegensätzlichen Anschauungen durchfallen ließ
oder zum Zurücktreten bewog —
daß Mendel nach dieser Prüfung
gebrochen und krank nach
Brünn zurückkehrte, scheint in
diesem Lichte nur zu begreiflich" (9).
Ernst von Tschermak-Seysenegg, einer der drei Wiederentdecker der Mendelschen Re-
geln im Jahre 1900 (zugleich ein
Enkel von Eduard Fenzl) kommentierte 1924 die biographische Angabe, daß ein wissenschaftlicher Disput mit einem
der Prüfer bei der zweiten Lehr-
(72) Heft 1/2 vom 9. Januar 1984 81. Jahrgang Ausgabe A
amtsprüfung 1856 Mendel dazu
veranlaßt habe, durch Experimente seinen Standpunkt zu beweisen (2) mit der Bemerkung:
„Vielleicht wahr, da Fenzl erst in
seinen letzten Lebensjahren
von der Geschlechtlichkeit der
Pflanzen überzeugt war" (9).
Der Göttinger Privatgelehrte
und Verleger Tete Böttger, der
jüngst Anstöße zur erneuten Beschäftigung mit Mendel durch
die Herausgabe des Faksimiledrucks (5) eines von ihm entdeckten Originals der 40 Sonderdrucke von Mendels Arbeit
1866 gab und der auch Horst
Janssen zu dem farbigen Mendel-Porträt auf dem Titel anregte, fand hierfür die kurze Formel: „Nach Prüfungskrach wird
Mendel dickköpfig".
Vieles spricht dafür, daß Mendel
ausgerechnet deshalb nach der
verunglückten Prüfung mit den
auf viele Jahre angelegten
gründlichen Versuchsreihen begann, weil er so exakt wie möglich zeigen wollte, daß es für die
„Gestalt der Hybride gleichgültig ist, welche von den Stammformen die Samen- oder die Pollenpflanze ist" (5). Solch eine
Formulierung legt auch nahe,
anzunehmen, daß Mendel das
Ergebnis seiner Untersuchung
zumindest intuitiv ahnte.
„Ein allgemein giltiges Gesetz"
Zu der Zeit, als Mendel seine
Kreuzungsversuche mit Erbsenrassen unternahm, kannte man
wenig Naturgesetze in der Biologie — eine mathematisch ausformulierte Gesetzmäßigkeit
existierte überhaupt nicht.
Es gab solche mathematisch gefaßten Gesetze aber in der Physik und der Chemie, und die waren Mendel wohl bekannt (6): So
die Atomtheorie, von Dalton
1808 formuliert, die auf der Hypothese beruhte, daß es kleinste
Einheiten gab — die Atome —, die
nicht direkt nachweisbar oder
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Gedanken zu Mendels 100. Todestag
sichtbar waren, die sich aber in
bestimmten ganzzahligen Proportionen vereinten oder trennten.
Mendel beginnt seine Arbeit mit
den folgenden Überlegungen:
„Wenn es noch nicht gelungen
ist, ein allgemein giltiges Gesetz
für die Bildung und Entwicklung
der Hybriden aufzustellen, so
kann das Niemanden Wunder
nehmen, der den Umfang der
Aufgabe kennt und die Schwierigkeiten zu würdigen weiss, mit
denen Versuche dieser Art zu
kämpfen haben". „Wer die Arbeiten auf diesem Gebiete überblickt, wird zu der Überzeugung
gelangen, daß unter den zahlreichen Versuchen keiner in dem
Umfange und in der Weise
durchgeführt ist, dass es möglich wäre, die Anzahl der verschiedenen Formen zu bestimmen, unter welchen die Nachkommen der Hybriden auftreten, dass man diese Formen mit
Sicherheit in den einzelnen Generationen ordnen und die gegenseitigen numerischen Verhältnisse feststellen könnte. Es
gehört allerdings einiger Muth
dazu, sich einer so weit reichenden Arbeit zu unterziehen; indessen scheint es der einzig
richtige Weg zu sein, auf dem
endlich die Lösung einer Frage
erreicht werden kann, welche
für die Entwicklungsgeschichte
der organischen Formen von
nicht zu unterschätzender Bedeutung ist" (5).
Mendel definiert „jene Merkmale, welche ganz oder fast unverändert in die Hybride-Verbindung übergehen, als dominirende (z. B. runde Samen, von Mendel mit A bezeichnet) und jene,
welche in der Verbindung latent
werden, als recessive" (z. B.
kantig-runzlige Samen, von
Mendel mit a bezeichnet) (5).
Sein sicherer Durchblick durch
das Prinzip des Ganzen wird in
dem wichtigen folgenden Satz
klar: „Der Ausdruck „recessiv"
wurde desshalb gewählt, weil
die damit benannten Merkmale
Eltern
1. Filialgeneration:
das rezessive
Merkmal verschwindet
= Uniformitätsregel
Aa
4111>
2. Filialgeneration:
das rezessive
Merkmal kommt
unverändert wieder
zum Vorschein
= Spaltungsregel
Die Ergebnisse von Mendels Untersuchungen
an „runden (A) und kantig runzligen (a) Samen"
an den Hybriden zurücktreten
oder ganz verschwinden, jedoch
unter den Nachkommen derselben wieder unverändert zum
Vorscheine kommen" (5) — sich
wieder ; ,herausmendeln", wie
unsere Umgangssprache sagt.
Wenn also in der Elterngeneration ein dominantes (A)- und ein
rezessives (a)-Merkmal aufeinandertreffen, so erscheint das
Merkmal in der ersten Filialgeneration uniform (erste Mendelsche Regel: Uniformitätsregel),
während in der zweiten Generation eine bestimmte Aufspaltung
erfolgt, z. B. in Mendels ersten
beiden Versuchen 2,96 : 1 und
3,01 : 1 (zweite Mendelsche Regel : Spaltungsregel) (Skizze).
Warum rundete Mendel hier auf
das Ganzzahlige auf? Warum
ließ er die Bruchteile nicht stehen? Weil er das Denkmodell
hatte, daß es einzelne umschriebene Faktoren waren (er nannte
sie „Elemente"), die die Merkmale ausbildeten und die von
Generation zu Generation weitergegeben wurden. Folglich
mußten sie sich in ganzzahligen
Proportionen weitergeben und
entwickeln. „Diese Entwicklung
erfolgt nach einem constanten
Gesetze, welches in der materiellen Beschaffenheit und An-
ordnung der Elemente begründet ist, die in der Zelle zur lebensfähigen Vereinigung gelangten" (5). Und von den weiteren Nachkommen heißt es: „Da
in dem Habitus derselben während der ganzen Vegetationsdauer keine Aenderungen wahrnehmbar sind, müssten wir weiter folgern, dass es den differirenden Elementen erst bei der
Entwicklung der Befruchtungszellen gelinge, aus der erzwungenen Verbindung herauszutreten. Bei der Bildung dieser Zellen betheiligen sich alle vorhandenen Elemente in völlig freier
und gleichmässiger Anordnung" (5) (dritte Mendelsche
Regel : Unabhängigkeitsregel).
Mendel geht souverän mit seinen Ergebnissen um, er weiß
auch hier genau, wovon er
spricht: „Die hier versuchte Zurückführung des wesentlichen
Unterschiedes in der Entwicklung der Hybriden auf eine dau-
ernde oder vorübergehende
Verbindung der differirenden
Zellelemente kann selbstverständlich nur den Wert einer Hypothese ansprechen, für welche
bei dem Mangel an sicheren Daten noch ein weiterer Spielraum
offen stände." „Die unterscheidenden Merkmale zweier Pflan-
Ausgabe A 81. Jahrgang Heft 1/2 vom 9. Januar 1984 (73) 47
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Gedanken zu Mendels 100. Todestag
zen können zuletzt doch nur auf
Differenzen in der Beschaffenheit und Gruppirung der Elemente beruhen, welche in den
Grundzellen derselben in lebendiger Wechselwirkung stehen"
(5). Und wie fest Mendel seine
Wurzeln in der Naturphilosophie
seiner Zeit hat, aus der ja auch
seine Überzeugung stammt, daß
er ein „allgemein giltiges Gesetz" finden kann, zeigt der
Schlußsatz dieses Teils der Arbeit, in dem er sehr behutsam
vor einer Verallgemeinerung
seiner Versuche warnt, dennoch
bezüglich möglicher Verschiedenheiten sagt: „indessen dürfte man vermuthen, dass in wichtigen Puncten eine principielle
Verschiedenheit nicht vorkommen könne, da die Einheit im
Entwicklungsplan des organischen Lebens ausser Frage
steht."
Paradigma
und Paradigmenwechsel
Vieles spricht dafür, daß Mendel
eine klare Modellvorstellung
hatte von dem, was er erforschte. Seine Entdeckungen bedeuteten einen Paradigmenwechsel
(Kuhn, 3, 10): Ein bisher geltendes Theoriegebäude, das Paradigma, wird durch ein völlig neues Modell abgelöst. Ein solcher
Paradigmenwechsel aber wird
selten primär durch die bloße
Betrachtung von Meßergebnissen gewonnen, weil „die meisten wissenschaftlichen Gesetze nicht quantitative Berührungspunkte mit der Natur haben, und weil man die Natur erst
dazu zwingen muß, die entsprechenden Daten zu liefern. Deshalb läßt sich der Weg von der
Theorie oder dem Gesetz zur
Messung fast nie in umgekehrter Richtung gehen. Oft kommen die Wissenschaftler nicht
zu Zahlen, die sich gut mit der
Theorie vertragen, solange sie
nicht wissen, welche Zahlen sie
der Natur abzuringen versuchen
müssen" (4). Forscher wie „Galilei und Dalton, die ein quantitatives Ergebnis intuitiv als einfach48
sten Ausdruck eines qualitativen
Gedankens erkannten und dann
der Natur die Bestätigung abrangen" (4), sind typisch für die
Wissenschaft. Mendels Name ist
hier ohne weiteres einzufügen.
Sein neues Modell war, daß bei
der Vererbung nicht eine fließende Durchmischung erfolgt,
sondern daß kleinste abgegrenzte Teile, „Elemente", Gene in unserer Terminologie, die
Merkmale bewirken. Paradigmenwechsel vom Modell des
fließenden Kontinuums zur Teilchentheorie fanden im 19. Jahrhundert in den verschiedensten
Bereichen der Naturwissenschaften statt: In der Chemie
wurde die Phlogiston-Theorie
der Verbrennung ersetzt durch
die Oxydationstheorie, in der
Physik wurde Wärme durch die
kinetische Wärmetheorie und
Elektrizität durch die Teilchentheorie erklärt, die Biologie löste den Organismus und die Organe in einzelne Teile, die Zellen, auf, die Flüssigkeitstheorien
der Reproduktion wurden durch
die Spermium-Ei-Theorie abgelöst (6).
Mendel hatte seine Arbeit 1865
vorgetragen. Unbeachtet blieb
sie deshalb so lange, weil seine
Entdeckung einen Paradigmenwechsel darstellte, der von den
Zeitgenossen nicht nachvollzogen werden konnte. Bekannt genug war sie, wie man heute weiß
(10): 120 Bibliotheken des Inund Auslandes hatten den Band
mit seinem Aufsatz bekommen,
40 Sonderdrucke waren an führende Wissenschaftler verschickt — man verstand Mendel
nicht, weil sein Erklärungsmodell völlig neuartig war und weil
die Konstanz, die seine Elemente von Generation zu Generation
beibehielten, im Widerspruch
zum Evolutionsgedanken zu stehen schien, der seit Darwins
„Ursprung der Arten" die führenden Köpfe beschäftigte.
Erst 1900, nach 35 Jahren, war
die Zeit reif für Mendels Gedan-
(74) Heft 1/2 vom 9. Januar 1984 81. Jahrgang Ausgabe A
ken. Correns, De Vries und
Tschermak entdeckten gleich-
zeitig Mendels Regeln wieder.
Boveri stellte die Chromosomentheorie der Vererbung (7)
auf, 1902 schrieb er: „Wir sehen
also hier auf zwei Forschungsgebieten
(Phänotyp-Analyse
und
Chromosomen-Analyse),
die sich ganz unabhängig voneinander entwickelt haben, Resultate erreicht, die so genau zusammenstimmen, als sei das eine theoretisch aus dem anderen
abgeleitet; und wenn wir uns vor
Augen halten, was wir aus anderen Tatsachen über die Bedeutung der Chromosomen bei der
Vererbung entnommen haben,
so wird die Wahrscheinlichkeit,
daß die in den Mendelschen
Versuchen verfolgten Merkmale
wirklich an bestimmte Chromosomen gebunden sind, ganz außerordentlich groß" (1).
Boveri hat an diese Übereinstimmung von Mendels Regeln mit
dem Verhalten der Chromosomen mit Recht die größten Erwartungen geknüpft. Die Mendelschen Regeln und die Chromosomendiagnostik wurden die
Grundlage der medizinischen
Genetik und der genetischen
Familienberatung.
Literatur
(1) Baltzer, F.: Theodor Boveri, Wiss. Verl.
Ges., Stuttgart 1962 — (2) Iltis, H.: Johann Gregor Mendel, Springer, Berlin 1924 — (3) Kuhn,
Th. S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Suhrkamp, Frankfurt 1967 — (4) Kuhn,
Th. S.: Die Entstehung des Neuen, Suhrkamp,
Frankfurt 1978 — (5) Mendel, G.: Versuche über
Pflanzenhybriden, Brünn 1866, Zit. nach dem
Faksimile, Arkana Verlag, Göttingen 1983 — (6)
Monaghan, F. V., and Corcos, A. F.: Possible
influences of some 19th century chemical concepts an Mendels ideas about heredity, The
Journal of Heredity 74, 297-299, 1983 — (7)
Murken, J., und Wilmowsky, H.: Die Chromosomen der Menschen. Die Geschichte ihrer
Erforschung, Fritsch, München 1973 — (8) Sajner, J.: Johann Gregor Mendel, Augustinus
Verlag, Würzburg 1976 — (9) Wunderlich, R.:
Der wissenschaftliche Streit über die Entstehung des Embryos der Blütenpflanzen im 2.
Viertel des 19. Jahrhunderts (bis 1856) und
Mendels „Versuche über Pflanzenhybriden,
Folie Mendeliana 17, 1982 — (10) W. Kirchner:
Mendel oder die Geburt der Genetik, Berlin
1983
Anschrift des Verfassers:
Professor Dr. med. Jan Murken
Goethestraße 29
8000 München 2
Herunterladen