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MEHR BERLIN
DER TAGESSPIEGEL
NR. 21 632 / SONNABEND, 16. MÄRZ 2013
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EIN BEISPIEL VON VIELEN
Nein, der Kreuzberger Mehringdamm, der zur Zeit
der NS-Diktatur noch Belle-Alliance-Straße hieß,
ist in Bezug auf die Internierung von Opfern des
Nazi-Regimes kein besonderer Berliner Ort. Auf-
Es geschah
überall
Foto: Tiemo Rink
„Die
Unterschiede
im Alltag
der einzelnen
Opfergruppen
waren groß.“
Christine Glauning,
Wissenschaftlerin
International, die hier an einem Mittwochvormittag im Jahr 2013 an der Ecke Bergmannstraße
neue Mitglieder werben wollen. Es sind knapp
800 Meter, ein Spaziergang von vielleicht fünf Minuten, in denen man, wie Historiker ermittelt haben, mindestens 12 Orte passiert, an denen
Zwangsarbeiter beschäftigt oder interniert waren.
Zum Beispiel die mehr als 100 Menschen, die
für die Frankfurter Adlerwerke AG hinter dem
heutigen Finanzamt Motoren bauten. Oder die
Frauen aus der Ukraine, die zwangsweise bei einem Metzger in dem Haus beschäftigt waren, in
dem heute ein Bäcker Brötchen verkauft. Oder die
in einer Apotheke direkt an der Straße. Oder die
im heute links-autonomen Mehringhof, damals
Schriftgießerei Berthold AG. Oder die zehn Franzosen in den Sarottihöfen, die gezwungen wurden, Autoteile herzustellen. Oder die im Haus
Nummer 61, wo das Schwule Museum gerade seinen Umzug vorbereitet, Möbelpacker über den
Hof laufen. Und wo vor 68 Jahren der Pole ohne
Namen starb und 19 Juden für die Firma Schambach und Co. Rüstungsgüter herstellen mussten,
bis sie irgendwann deportiert wurden.
Das alles lässt sich sagen über Zwangsarbeit am
Mehringdamm, aber es sagt nichts über die anderen knapp 800 Lager und Betriebe im Bezirk, die
außerdem noch auf der Liste des Kreuzberger Gesundheitsamtes stehen. Aber es sagt vielleicht etwas über die Dimensionen, die Zwangsarbeit in
Berlin ausmachte und über die der französische
Autor François Cavanna, von 1943 bis 1945 gegen
seinen Willen in der Stadt festgehalten, schrieb:
„Zu jener Zeit war Berlin mit Holzbaracken nur so
überzogen. In jeder noch so kleinen Lücke der Riesenstadt hatten sich Fluchten brauner, teerpappegedeckter Fichtenholzquader eingenistet.“
Wer mehr wissen will über die Struktur des Lagersystems in Berlin, nimmt die S-Bahn nach Schöneweide, 13 Steinbaracken in einem Wohnviertel,
eines der wenigen bis heute erhaltenen Lager. Ab
Herbst 1943 für mehr als 2000 Menschen errichtet, darunter italienische Kriegsgefangene und Zivilarbeiter ebenso wie Inhaftierte eines KZ-Außenlagers. Seit sieben Jahren ist hier der Sitz des
Dokumentationszentrums NS-Zwangsarbeit, aber
nur in sechs der Baracken. In den anderen betreibt
die evangelische Kirche die „KiTa Sonnenstrahl“,
eine Kegelbahn hat sich am hinteren Ende des La-
Zur Arbeit gezwungen. Zum Beispiel in einem Hinterhof
in Henningsdorf bei Berlin (oben), untergebracht in ordentlich gemachten Betten, wie die damalige Propaganda
behauptete (links), im Lager in Marzahn wie Otto Rosenberg mit Schwester und großem Bruder (rechts) oder in
Baracken hinter Stacheldraht irgendwo in Berlin (unten).
DIMENSIONEN DER ZWANGSARBEIT
D
Eine große Mehrheit Zivilisten
Unter den 500 000 Zwangsarbeitern in Berlin waren die
große Mehrheit Zivilisten: gut
380 000 Menschen, die in den
allermeisten Fällen aus ihren
Heimatländern verschleppt wurden. Dazu kamen etwa 70 000
Kriegsgefangene, gut 10 000
Häftlinge in KZ-Außenlagern sowie mehr als 20 000 Juden. Dabei wurden zwar fast alle Juden
im Februar 1943 im Rahmen
der sogenannten „Fabrikaktion“ aus der Stadt deportiert.
Als der Mangel an Arbeitskräften jedoch in den letzten beiden
Kriegsjahren zu groß wurde,
holte man ab 1944 teilweise
wieder jüdische KZ-Insassen zu
Zwangsarbeiten zurück: Häftlinge als letzte Reserve.
„Ab 1939 rückten die Arbeitsämter quasi mit der Wehrmacht
in die besetzten Länder ein“,
sagt Cord Pagenstecher. Der
Historiker betreut an der FU
das Online-Archiv Zwangsarbeit, in dessen Beständen sich
eine Sammlung von etwa 600
Zeitzeugen-Interviews in 26
Sprachen befindet. Nachweislich starben in den Kriegsjahren
1939 bis 1945 über 12 500
Zwangsarbeiter, Historiker gehen jedoch davon aus, dass die
Dunkelziffer weit höher liegt.
Kreuzberg 61 rund um den Mehringdamm war im Dritten Reich
eines der europaweit größten
Industriezentren für Elektrotechnik. Abnehmer war die Rüstungsindustrie am Tempelhofer
Flughafen. „Ab 1939 montierten Zwangsarbeiter hier rund
um die Uhr Bomberflugzeuge“,
sagt die Historikerin Beate Winzer. Mehr als 2000 Zwangsarbeiter wurden in Baracken auf
dem Flughafen untergebracht.
„Der Begriff ,Tempelhofer Freiheit’ ist vor diesem Hintergrund
mehr als zynisch“, sagt Winzer.
Zur Geschichte der NS-Zwangsarbeit plant das Dokumentationszentrum in Schöneweide derzeit eine Ausstellung, die am 8.
tri
Mai 2013 eröffnet.
„Ich hätte es
nie gewagt,
meinen Vater
nach seinen
Erfahrungen
zu befragen.“
Petra Rosenberg,
Tochter eines Opfers
lin bezogen: am Rand der Stadt. Dort lag der vorletzte Ort, der etwa Sinti und Roma noch zugestanden wurde. Der letzte war Auschwitz-Birkenau.
Mit der S-Bahn nach Marzahn: Hochhausblöcke
auf der einen Seite, Gewerbe und Industrie auf der
anderen. In der Mitte die Trasse, bis zur Haltestelle Raoul-Wallenberg-Straße. Dort früher: ein
„Rastplatz“ in der Sprache der Nazis, geschaffen
aus „hygienischen Gründen“, die „mit der von den
Zigeunern geübten Wohnweise zusammenhängen“. Im August 1936 finden die Olympischen
Spiele in Berlin statt, bis dahin soll die Stadt „zigeunerfrei“ sein. Am 16. Juli 1936 werden alle Sinti
und Roma, derer man habhaft werden kann, festgenommen und an den Stadtrand geschafft,etwa
1500 sollen es am Ende gewesen sein.
Wo sie festgehalten wurden, stehen heute auch
die Reste des „Dienstleistungszentrums Bildung“
der Deutschen Bahn. Ein in die Jahre gekommener
Gebäudekomplex, im Pförtnerhaus hinter zerschlagenen Fenstern der Hausstand eines Obdachlosen: Schlafsack, Isomatte und ein angebrochenes Brot. Ein Mann führt seinen Hund Gassi,
keine Leine, das Tier schnuppert und kackt auf
den Rasen, der zehn Ausstellungstafeln umrahmt,
weiße Schrift auf schwarzem Grund.
Als Petra Rosenberg, Chefin des Berliner Landesverbands der Sinti und Roma, einige Minuten
später kommt, sind Mann und Hund längst verschwunden, einmal durch den Tunnel in Richtung
der Hochhäuser. Rosenberg, Anfang 60, eine
kleine Frau im dunklen Mantel, Tochter eines
Überlebenden, Schwester der Schlagersängerin
Marianne Rosenberg. Der Vater der beiden, Otto
Rosenberg, damals hier, später in Auschwitz, Bergen-Belsen und Buchenwald interniert, sprach
lange nicht mit den Töchtern über seine Erfahrungen. „Und ich hätte es nie gewagt, ihn danach zu
fragen“, sagt Rosenberg, „denn seine Geschichte
war eine Geschichte von Demütigungen, da hat
man als Tochter Skrupel.“
So erfährt sie zum ersten Mal von den Gräben,
die das Lager durchzogen und in die regelmäßig –
aus Schikane – Jauche gepumpt wurde, von den
Stiefeln des berüchtigten KZ-Arztes Josef Mengeles, die ihr Vater putzen musste, als der sechs
Jahre vor seinem Tod seine Erinnerungen diktiert,
„Das Brennglas“. Liest nach, wie die in Marzahn
Eingesperrten Zwangsarbeit leisten mussten. Und
wie vorher die Mitarbeiter der „Rassenhygienischen und kriminalbiologischen Forschungsstelle“ nach Marzahn kamen, Köpfe vermessen,
Augenfarben inventarisieren.
Früher Belle-Alliance-Straße 6
Das heutige Kreuzberger Finanzamt war von 1855 bis
1919 Standort des 1. Garde-Dragoner-Regiments. Ab
1921 wurden Reitbahnen und Ställe auf dem Gelände
zu einem Gewerbehof umgewandelt, das Finanzamt
zog 1923 in die ehemalige Kaserne.
Während der Nazi-Zeit unterhielt die Frankfurter Adlerwerke AG, ein Unternehmen für motorbetriebene
Fahrzeuge, an dieser Stelle ihre Berliner Filiale. Im
Krieg beschäftigte die Firma Zwangsarbeiter, meist
aus Frankreich. Nachdem das Barackenlager der Adlerwerke am Charlottenburger Wiesendamm Ende 1943
zu großen Teilen zerstört wurde, verlegten die Adlerwerke 20 französische Männer in ein Zwangsarbeiterlager auf das Werksgelände am heutigen Mehringdamm.
Forscher haben ermittelt, dass später zeitweise über
100 Menschen hier leben mussten, Ukrainer, Belgier,
Niederländer und Franzosen. In der heute nicht mehr
existierenden Simeonstraße betrieben die Adlerwerke
ein weiteres Lager für Zwangsarbeiter.
Auf dem Gelände gab es indes noch mehr Orte, an denen Menschen gegen ihren Willen arbeiten mussten:
Die „Deutsche Benzinuhren-Gesellschaft mbH“ ließ
hier 1942 eine jüdische Zwangsarbeiterin arbeiten, bereits vorher mussten weitere sieben Juden in der nicht
weit entfernten Bergmannstraße 102 für dieselbe
Doch wie präsent kann die Geschichte dieses
Ortes in den Köpfen derjenigen sein, die hier ihre
Hunde hinkacken lassen? Und ist das ehemalige
Lager der richtige Platz, um einen Kinderzirkus
hinzustellen, mit Wohnwagen und bunt bemalten
Laternen, die an den Schautafeln entlang den Weg
zum Eingang leuchten? Für Petra Rosenberg eine
sinnlose Frage. Wichtig sind für sie die kleinen
Schritte. Und deshalb ist nicht die Hundekacke
entscheidend, sondern die Tatsache, dass hier seit
einem guten Jahr überhaupt an damalige Verbrechen erinnert wird - 76 Jahre später.
Weil es die einen gibt, die sich erinnern wollen.
Und die anderen, die ihre Köter ausführen. Aber
auch das ist nicht alles, was sich sagen lässt über
„Wer behauptet,
er habe
von nichts
gewusst,
tut das aus
Selbstschutz.“
2
BLÜCHERPLATZ
der Zeit der Weimarer Republik auch vom
Deutschen Reich unterzeichnet worden war.
In der Freifläche östlich des Blücherplatzes
unterhielten SA und Siemens ein gemeinschaftliches Lager. Heute ohne Hausnummer
ist auch die Freifläche östlich der Blücherstraße, ehemals Belle-Alliance-Straße 101.
Hier hatte die Werkzeugmaschinenfirma Thielicke & Co. ihre Betriebsstätte. wo im Jahr
1944 drei Zwangsarbeiter aus verschiedenen Ländern wohnten und arbeiteten.
MEHRINGDAMM 25
3
früher Belle-Alliance-Str. 96
In dem Haus, in dem heute ein Bäcker und
ein Spätkauf die Ladenzeile bewirtschaften,
befand sich während des Krieges das Geschäft des Metzgers Rudolf Retzlaff. Wie
die Historiker berichten, ließ Retzlaff im
Jahr 1944 drei Frauen aus der Ukraine als
Zwangsarbeiter bei sich arbeiten und
brachte sie auch an dieser Adresse unter.
MEHRINGDAMM 32 - 34
Früher Belle-Alliance-Str. 7 - 10
Hier befand sich die Berliner Geschäftsstelle der Telefunken AG,
das führende deutsche Unternehmen im Bereich der elektronischen Kriegsführung. Wie an
vielen anderen Produktionsorten wurden auch in diesem Gebäude Zwangsarbeiter in unbekannter Zahl eingesetzt.
Margot Friedländer,
Jüdische Überlebende
die Spuren, die die Lager in der Stadt hinterlassen
haben. Weil es noch die dritte Gruppe gibt: Diejenigen, die sich erinnern wollen, aber nicht immer
können. Und so steht Margot Friedländer, 92
Jahre, graue Haare, an einem Dienstagmittag vor
dem Jüdischen Krankenhaus in der Iranischen
Straße in Wedding und weiß nichts zu sagen über
den Ort,an dem sie imFrühjahr 1944 füreinige Monate eingesperrt war, bevor man sie nach Theresienstadt brachte. „Da ist nichts, I'm sorry“, sagt
sie, die Jüdin, die nach ihrer Befreiung nach New
York auswanderte und vor einigen Jahren nach
Deutschland zurückkehrte. Nur dass sie hier war,
weiß sie mit Gewissheit, in der Iranischen Straße,
wo jetzt der Lärm aus der Tegeler Einflugschneise
hinüberweht, und man damals – mitten in der Stadt
– ein Zwischenlager für Berliner Juden auf dem
Weg in die KZs unterhielt. Der Rest eine Blindstelle
„wie ein Schleier, der sich über die Zeit gelegt hat“,
wohlauch ein Schutzmechanismus, die Psychoanalyse einmal angedacht, aber dann doch verworfen,
„denn an manches will man sich nicht erinnern“.
Was Margot Friedländer erinnert, hat sie aufgeschrieben: zum Beispiel die 15 Monate im Berliner
Untergrund, abgetaucht an dem Tag, als sie nach
Hause kam in die Skalitzer Straße in Kreuzberg und
ein Gestapo-Mann vor der Wohnungstür stand. Da
war ihr Bruder Ralph schon festgenommen, die
Mutter stellte sich am selben Tag freiwillig, sofern
man das sagen kann. Beide starben in Auschwitz.
Und Margot Friedländer war allein, färbte sich die
schwarzen Haare rot und versteckte sich. Bis zu
dem Tag, als sie nach einem Bombenangriff auf
dem Weg vom Bunker zu ihrer Wohnung festgenommen und in die Iranische Straße gebracht wird,
wo sie nie mehr war seit 1944 und jetzt doch, und
die Erinnerung fehlt. Das große Ganze hingegen,
das System der Entrechtung, ist für sie bis heute augenscheinlich: „Zu behaupten, man habe von
nichts gewusst, ist eine Schutzbehauptung.“
„Versuche, dein Leben zu machen“, das war die
letzte Botschaft, die ihre Mutter ihr auf einem Zettel hinterlassen hat und so heißt auch das Buch,
aus dem Friedländer seit Jahren an Schulen vorliest. Eine der letzten Zeuginnen einer Zeit, deren
Zeugen nun, da die Sichtbarkeit des geschehenen
Unrechts wieder Thema ist, rar geworden sind.
Der namenlose Pole konnte nie etwas bezeugen. Zurück am Mehringdamm Ecke Bergmannstraße. Ein paar Meter hoch in die Straße „Am
Tempelhofer Berg“, auf das Gelände der alten
Schultheissbrauerei, wo heute Handwerker, Architekten, Weinhändler arbeiten. Gelber Backstein,
über 100 Jahre alt, massiv gebaut, ebenso wie Nikola Kodzoman, gebürtiger Kroate. Ein Hausmeister mit Hausmeisterhändedruck, silbergrauer Sicherheitsjacke und einem beachtlichen Schlüsselbund. Der Fahrstuhl fährt einige Etagen nach unten und endet im alten Luftschutzbunker unter
dem Gebäude. Eine Katakombenlandschaft mit hohen Gewölben, dunklen Gängen und meterdicken
Wänden. Kodzoman zeigt zugemauerte Verbindungstunnel, die wie ein Netz unterirdisch durch
Kreuzberg führten. Versorgungsschächte, ehemals von hier bis zum Tempelhofer Flughafen in
die eine Richtung, zum Reichstag in die andere.
„Zu den Räumen für Mutter und Kind“ steht
über einem Durchgang, die Türzargen verrostet,
kalter Wind aus den gemauerten Luftschächten.
Auf Brusthöhe zeigen Pfeile den Weg zum nächsten Notausgang, fluoreszierend in der Dunkelheit,
das Leitsystem funktioniert immer noch, 68 Jahre
danach. Wenn man hier drin war, war man sicher.
Wenn man drin war. Das Haus, in dem an einem
Samstagmorgen im Februar 1945 ein polnischer
Zwangsarbeiter starb, liegt keine 250 Meter von
hier entfernt, aber das spielt keine Rolle.
In den Bunker gelassen hätten sie ihn ohnehin
nicht. Für Osteuropäer Zutritt verboten.
Früher Belle-Alliance-Straße 106 - 107
Wo heute unter anderem das Haus der Amerika-Gedenkbibliothek steht, befand sich
während des Zweiten Weltkriegs das
„Stammlager III D“. Von hier aus wurden Arbeitseinsätze und Unterbringung der Kriegsgefangenen in Berlin und Umgebung koordiniert. Historiker betonen, dass der Einsatz
von Kriegsgefangenen in zivilen Betrieben
wie auch in Rüstungsunternehmen ein Verstoß gegen die Genfer Konvention war, die in
Firma arbeiten, sie wurden 1941 und 1942 deportiert,
berichtet die Historikerin Beate Winzer.
Außerdem befanden sich die Großgaragen eines weiteren Unternehmens auf dem Gelände. In ihnen arbeiteten Menschen aus der Ukraine, Tschechien und
Frankreich mindestens von 1941 bis 1943 für einen
Dr. Hans Engels, wie das Kreuzbergmuseum berichtet.
In diesem Lager lebten im Jahr 1942 insgesamt 27
Menschen, im Folgejahr waren es 17.
Bis heute befinden sich Werkstätten in den Höfen
hinter dem Finanzamt, ein Supermarkt für Bio-Lebensmittel verkauft seine Waren im historischen Pferdestall
der früheren Kaserne.
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MEHRINGDAMM 27
Früher Belle-Alliance-Straße 95
Ein normales Kreuzberger Wohnhaus,
heute mit vielen WGs und nicht deutsch
klingenden Namen. Historisch belegt
ist, dass im Jahr 1942 die Firma Ormig
hier ein Zwangsarbeiterlager
mit 30 Insassen unterhielt.
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MEHRINGDAMM 43
7
Früher Belle-Alliance-Straße 88
Die Schriftgießerei Berthold AG hatte hier
ihren Sitz, ein alter Schriftzug aus der Zeit
befindet sich noch über dem Aufgang im ersten Innenhof. Heute ist der Gebäudekomplex als Mehringhof wichtiger Treffpunkt der
links-alternativen Szene in Kreuzberg 61. Im
Jahr 1944 unterhielt die Berthold AG hier
ein Lager für sieben Zwangsarbeiter aus verschiedenen Ländern.
MEHRINGDAMM 33
Früher Belle-Alliance-Straße 93
In den „M33-Höfen“ haben heute Architekten, Agenturen und andere Dienstleister ihre
Büros. Während des Zweiten Weltkrieges
hatte die Firma Willy Kleinau hier in den Jahren 1943 und 1944 drei Kroaten und zwei
Ukrainer untergebracht. Die Maschinenfabrik der Gebrüder Bilz ließ hier die Zwangsarbeiter arbeiten, die sie in der einige hundert
Meter entfernten Blücherstraße 12 einquartiert hatte. Außerdem befand sich in dem
Haus mit seinen insgesamt fünf Hinterhöfen
eine Niederlassung der „Nordland Deutsche
Schneekettenfabrik GmbH“. Die Firma produ-
zierte mit Zwangsarbeitern aus Polen und
den Niederlanden. Während die Niederländer, die als „Arier“ galten, sich einigermaßen frei in der Stadt bewegen konnten, sie
aber nicht verlassen durften, galten für die
polnischen Zwangsarbeiter deutlich schärfere Bestimmungen. In ihrem Lager befanden sich weder Handtücher noch Kopfkissen oder ein Ofen, wie aus einer
erhalten gebliebenen Inventarliste hervorgeht. Der Grund: Rassenhass gegen
Menschen aus Osteuropa. Eine Informationstafel im ersten Innenhof erinnert
an das Schicksal der hier Festgehaltenen.
MEHRINGDAMM 51
8
Früher Belle-Alliance-Straße 84
Werkzeuge und Maschinen ließ der Unternehmer Hans Wittenbecher in seinem
Betrieb in der Köpenicker Straße herstellen. Dabei setzte er Zwangsarbeiter ein,
die er hier am Mehringdamm unterbrachte: 43 Menschen aus der Ukraine,
Polen und den Niederlanden im Jahr
1943. Laut Historikern waren es im Folgejahr insgesamt 37 Männer und
Frauen aus verschiedenen Ländern.
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MEHRINGDAMM 64
Fotos: Mike Wolff; Grafik: Fabian Bartel; Informationen: Martin Duispohl, Kreuzberg-Museum, Berliner Geschichtswerkstatt, Beate Winzer, Förderverein Tempelhof e.V.
Von Tiemo Rink
Fotos: Ullstein, Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit (2), Landesverband Deutscher Sinti und Roma Berlin-Brandenburg
Foto: Thilo Rückeis
3000 Lager gab es während der NS-Zeit in Berlin.
Dieses Detail aus einer US-Studie
publizierte die „New York Times“ vor kurzem.
Doch welche Welt verbirgt sich dahinter?
Eine Spurensuche
gers niedergelassen und wer an einem Donnerstagnachmittag zu unaufmerksam die Tür zu einer weiteren Baracke öffnet, stört die Damenrunde in einer Frauensauna, geschlossene Gesellschaft.
„Kommen Sie morgen wieder, dann haben wir
hier gemischten Tag“, empfiehlt die Dame am Tresen, „und bringen Sie alle Ihre Freunde mit.“
Über die Mitnutzer des Geländes wundert sich
im Dokumentationszentrum niemand. Ebenso wenig wie über die aus Washington gemeldeten Zahlen. Woher auch, schließlich beziehen sich die
amerikanischen Forscher auf die Kenntnisse aus
Berlin. Christine Glauning, Leiterin der Forschungsstelle, differenziert: Zwar lebten viele
Zwangsarbeiter unter schwierigsten Bedingungen, bedroht von Luftangriffen, Hunger und Terror. „Aber wenn man den Alltag eines jüdischen
KZ-Häftlings mit dem eines zivilen Zwangsarbeiters aus Frankreich vergleicht, sieht man, dass
hier gravierende Unterschiede bestanden.“ Der
Ideologie folgend: Osteuropäer unten, Westeuropäer oben, Italiener nach dem Zerfall der Hitler-Mussolini-Koalition als Verräter betrachtet,
folglich auch unten, aber noch vor Sinti und Roma
sowie Juden. Ein hierarchisches System.
So die Lage im Krieg, aber der Terror, den die
Zahl 3000 so nüchtern dokumentiert, begann früher, uneingeschränkt nach der Machtübergabe
1933. Mit Sturmlokalen und Folterkellern der SA,
mitten in der Stadt, oft in den Arbeitervierteln, wo
Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter ihre Machtbasis hatten: zum Beispiel in
der Petersburger Straße in Friedrichshain, wo
heute der bei Neonazis beliebte „Thor Steinar“-Laden Kleidung verkauft. Damals am exakt selben
Ort: das Restaurant „Keglerheim“, in dem politische Gegner totgeschlagen oder durch Folter und
Misshandlungen auf Kurs gebracht wurden.
Anders sah es aus mit denen, für die im herrschenden Weltbild kein Platz war, und wenn überhaupt,dann nur am Rand der Gesellschaft. Auf Ber-
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MEHRINGDAMM 20, 22 und 28
Foto: Mike Wolff
S
amstag, 3. Februar 1945, blauer Himmel
über Berlin, Bombenwetter: Kurz vor elf
Uhr morgens startet die amerikanische
Luftwaffe einen massiven Angriff auf Berlin, Operation Donnerschlag. Als die Sirenen um 12.18 Uhr Entwarnung geben, bergen Helfer bei Aufräumarbeiten bald darauf die Leiche eines Mannes aus dem Kreuzberger Haus Belle-Alliance-Straße 79, heute Mehringdamm 61. Viel ist
es nicht, was sich über den Toten erfahren lässt,
nicht einmal ein Name. Eigentlich weiß man nur,
dass er Pole war. Und dass er nicht freiwillig in
Berlin lebte. Er war Zwangsarbeiter, einer von gut
einer halben Million Menschen, die während des
Krieges in Berlin ausgebeutet wurden.
42 500 NS-Lager mit 15 bis 20 Millionen Inhaftierten gab es im Deutschen Reich und den von
ihm besetzten Ländern – so lautet das Ergebnis,
das Wissenschaftler am Washingtoner Holocaust
Memorial Museum in der vergangenen Woche veröffentlichten. Dazu zählen die Forscher Ghettos,
Konzentrationslager, Folterkeller und Wehrmachtsbordelle ebenso wie Vernichtungslager, Lager für Kriegsgefangene, Sinti und Roma und auch
Zwangsarbeiterlager. „Es war angesichts dieser
Zahlen schlichtweg unmöglich, nichts davon zu
bemerken, dass hier massiv Menschenrechte gebrochen wurden“, sagt Geoffrey Megargee, der
die Washingtoner Studien betreut. Bezogen auf
Berlin bedeutet das den Machern der Studie zufolge, dass an mindestens 3000 Orten in der Stadt
Menschen festgehalten wurden, die große Mehrheit von ihnen in Lagern für Zwangsarbeiter.
Aber 3000 ist nur eine Zahl, und noch keine
Geschichte. Und deshalb startet die Spurensuche
an einem Ort, über den Historiker mehr sagen können, seitdem vor einigen Jahren eine Akte des
Kreuzberger Gesundheitsamtes aus der Zeit von
November 1940 bis November 1944 auftauchte,
auf der die Zwangsarbeiterlager und dazugehörigen Betriebe vermerkt wurden: am Mehringdamm
Ecke Blücherstraße.
Von dort in Richtung Tempelhof, vorbei am Finanzamt Kreuzberg, vorbei am Curry 36, Bars
und Cafes bis zu den Unterstützern von Amnesty
grund einer Akte des Kreuzberger Gesundheitsamtes ist das Unrecht hier aber bis heute besonders
gut nachvollziehbar – und steht beispielhaft für die
Allgegenwart der Verbrechensorte in der Stadt.
Früher Belle-Alliance-Straße 22
1941 lebten in dem hier in einem Tanzsaal
eingerichteten Lager 30 Zwangsarbeiter. Die
AEG Brunnenstraße ließ hier Belgier, Franzosen und Polen unterbringen.
Aber auch vorher beherbergte das Haus am
Mehringdamm 64 Zwangsarbeiter. Schon
1940 richtete die AEG Kabelwerke Oberspree ein Lager ein, um es kurz darauf im
März 1941 aufzulösen.
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MEHRINGDAMM 57
Früher Belle-Alliance-Straße 81
In diesem Bereich der Sarottihöfe produzierte
die Signalapparatefabrik „Julius Kräcker AG“
Rüstungsgüter; Historiker vermuten, dass dabei
auch Zwangsarbeiter eingesetzt wurden.
Für den hier ebenfalls ansässigen Fahrzeughersteller Wittmann & Hedderich ist nachgewiesen,
dass er bei der Produktion in den Jahren 1942
bis 1944 bis zu zehn französische Zwangsarbeiter ausbeutete. Die Menschen waren außerdem
hier im Haus untergebracht.
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MEHRINGDAMM 84
Früher Belle-Alliance-Straße 29
Die Chemische Fabrik Starke unterhielt von 1942 bis 1944 in diesem
Haus ein Zwangsarbeiterlager für Polen, Franzosen, Belgier und Italiener. 1943 war das Lager zwischenzeitlich aufgelöst. Bis zu 85 Menschen sollen hier inhaftiert gewesen sein, sie mussten im nahe gelegenen Werk der Chemiefirma „Am Tempelhofer Berg 7“ arbeiten.
Das berichtet das Kreuzbergmuseum.
MEHRINGDAMM 61
Früher Belle-Alliance-Straße 79
Das Haus gehörte während des Krieges der
Firma „Schambach & Co. Militärausrüstungsgegenstände“, wie Historiker ermittelt
haben. Das Zwangsarbeiterlager der hier arbeitenden Menschen war in der Gitschiner
Straße 112 - 113, damals der Belle-Alliance-Platz 2. 19 Juden mussten am Mehring-
damm 61 Zwangsarbeit leisten, die meisten
von ihnen wurden im Jahr 1943 deportiert.
Auch die Firma Kurt Hein, „Gesellschaft für
Stahl- und stahlsparende Türen mbH“, beschäftigte hier Zwangsarbeiter, die meisten
von ihnen stammten aus Polen. In diesem
Haus starb am 3. Februar 1945 ein polnischer Zwangsarbeiter.
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