73 Editorial D ieses Heft ist den Gemeinsamkeiten und Unterschieden sowie den Verstehens- und Behandlungsansätzen sowohl der symptomatischen Zwangsstörungen als auch der Anankastischen (zwanghaften) Persönlichkeitsstörung gewidmet. In der deutschsprachigen Psychiatrie wurde lange Zeit die Ansicht vertreten, dass es sich beim „Anankasmus“ um eine (prämorbide) Persönlichkeitsstruktur handle, aus der heraus sich die symptomatische Zwangsstörung („Zwangskrankheit“) entwickeln könne. Auch psychoanalytische Autoren gingen seit Freuds grundlegender Arbeit über „Charakter und Analerotik“ von Zusammenhängen zwischen Zwangscharakter und Zwangsstörungen beziehungsweise von einer charakterlich präformierten „Zwangsneurose“ aus. Im Unterschied dazu wurde von klinischpsychologischer und verhaltenstherapeutischer Seite bereits früh die mögliche Nähe der symptomatischen Zwangsstörungen zu den Angststörungen und nicht die zur Zwanghaften Persönlichkeitsstörung betont. Die Ergebnisse einer Reihe empirischer Studien schienen die Notwendigkeit der diagnostischen Trennung von Persönlichkeitsmerkmalen und Zwangssymptomen zu bestätigen. Entsprechend fand diese Sichtweise ihren Niederschlag in der Ordnungsstruktur der beiden Klassifikationssysteme DSM und ICD. Aufgrund aktueller Forschungsarbeiten erscheint die strikte diagnostische Trennung beider Bereiche nach wie vor sinnvoll. Denn die früher vermuteten Zusammenhänge zwischen anankastischer Persönlichkeit und Zwangsstörung sind immer nur bei einer Minderzahl von Patienten nachweisbar. In solchen Einzelfällen könnte auch die Hypothese angedacht werden, dass die anankastische Persönlichkeit ein prämorbides Risiko für die Zwangsstörung darstellt. Andererseits lassen sich bei Patienten mit Zwängen eine ganze Reihe unterschiedlicher Persönlichkeitsstörungen finden, und bei Patienten mit zwanghafter Persönlichkeit lässt sich ebenfalls ein erhöhtes Komorbiditätsrisiko für die unterschiedlichsten Achse-I-Störungen beobachten. Ergebnisse zur Differenzialdiagnose und Komorbidität werden insbesondere in der Arbeit von Stefan Ruppert, Mi- chael Zaudig und Jürgen Konermann über „Zur Frage der Komorbidität von Zwangsstörung und Zwanghafter Persönlichkeitsstörung“ vorgestellt und diskutiert (ergänzend auch die Beiträge von Peter Fiedler sowie Willi Ecker und Sascha Gönner in diesem Heft). Eröffnet wird dieses Heft mit zwei Beiträgen zu den modernen Verstehens- und Behandlungsansätzen von Zwangsstörungen beziehungsweise Anankastischer Persönlichkeitsstörung. Peter Fiedler stellt Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Behandlung beider Störungsbereiche aus kognitiv-verhaltenstherapeutischer Sicht vor und diskutiert Besonderheiten in der Behandlungsplanung von Patienten mit Zwangsstörungen, wenn bei diesen zeitgleich eine Persönlichkeitsstörung (anankastisch oder eine andere) diagnostiziert werden kann. Wie Hermann Lang in seinem Beitrag ausführt, scheinen sich auch psychoanalytische Autoren zunehmend einig zu sein, dass zwischen der Zwangsneurose (als Zwangsstörungen) und dem zwanghaften Charakterbild zwar ein ätiologischer und behandlungsrelevanter Zusammenhang bestehen kann, aber keinesfalls immer gegeben sein muss. Welche ätiologischen Vorstellungen sich dazu unter psychoanalytischer Perspektive anbieten, und welche Konsequenzen sich dabei für eine psychodynamische Psychotherapie ergeben, steht im Mittelpunkt von Langs Arbeit. Willi Ecker und Sascha Gönner beschäftigen sich mit einer in jüngster Zeit erneut wieder entdeckten Hypothese von Pierre Janet (Anfang des letzten Jahrhunderts), nach der ein so genanntes Unvollständigkeitserleben einen Beitrag zum Verständnis des Zusammenhangs von Zwangsstörung und zwanghaften Persönlichkeitszügen leistet. Ergebnisse einer noch laufenden Studie der Autoren deuten darauf hin, dass Unvollständigkeitsgefühle in der Tat ein wichtiges, auch behandlungsrelevantes Bindeglied zwischen Symptomzwängen und zwanghaften Persönlichkeitsakzentuierungen darstellen könnten. Die Ich-Syntonie bei Persönlichkeitsstörungen führt unabhängig von der Diagnose einer Zwangsstörung in der therapeutischen Beziehung häufig zu © 2007 Schattauer GmbH, Stuttgart Downloaded from www.ptt-online.info on 2017-06-03 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 74 Editorial Kommunikationsschwierigkeiten und Konflikten. In der Behandlung von Zwangspatienten kommt hinzu, dass die Zwangssymptomatik zu Beginn der Therapie für die Patienten höchste Priorität hat und persönlichkeitsbedingte Defizite dadurch kaschiert werden. Durch ein von Igor Tominschek und Günther Schiepek vorgestelltes computerbasiertes so genanntes Synergetisches Therapieprozess-Management bekommen Therapeut und Patient die Möglichkeit, ihre subjektiven Einschätzungen des Therapieprozesses untereinander abzugleichen. Dadurch gewinnt der Therapeut einen tieferen Einblick in das (Beziehungs-)Erleben des Patienten und in dysfunktionale Kognitions-Emotions-Verhaltens-Muster. Graziella Meyer-Groß und Michael Zaudig machen in ihrem, dieses Heft abschließenden Beitrag mit einem in jüngster Zeit häufiger diskutierten Störungsbild, der Orthorexia nervosa, näher vertraut: Die damit gemeinte krankhafte Fixierung, sich vermeintlich richtig, jedoch extrem einseitig und häufig ungesund zu ernähren, wird zwar seit einigen Jahren unter Ernährungswissenschaftlern häufiger diskutiert, sie wird hier jedoch erstmals in die deutschsprachige wissenschaftliche medizinisch-psychologische Diskussion eingeführt – mit dem Vorschlag, wenn überhaupt, sie als atypische Zwangsstörung aufzufassen. Peter Fiedler und Michael Zaudig Downloaded from www.ptt-online.info on 2017-06-03 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved.