Politik Facharbeit Die Vertrauensfrage des Bundeskanzlers im November 2001 – war die Verknüpfung mit einer Sachfrage legitim? Simon Böert Melle 2003 Gymnasium Melle 2002/2003 2 Politik Simon Böert Die Vertrauensfrage des Bundeskanzlers im November 2001 – war die Verknüpfung mit einer Sachfrage legitim? Fachlehrer: Herr Westphal Ausgabetermin: 07.02.2003 Abgabetermin: 21.03.2003 Bewertung: Unterschrift des Verfassers ...................................... Punkte Unterschrift des Fachlehrers .............................. ............ 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung S. 4 2. Die Vertrauensfrage S. 6 2.1 Was ist eine Vertrauensfrage ? S. 6 2.2 Wer hat bisher davon Gebrauch gemacht ? S. 7 3. Erläuterung der Hintergründe S. 8 4. Position der Grünen S. 10 4.1 Position der Fraktionsmehrheit S. 10 4.2 Die „Abweichler“ der Fraktion S. 12 5. Position der Opposition S. 13 6. Die Entscheidung im Bundestag S. 14 6.1 Abstimmungsverhalten der Fraktionen S. 14 6.2 Christa Lörcher S. 16 7. Schlussbemerkung S. 18 8. Literaturverzeichnis S. 20 9. Erklärung S. 22 4 1. Einleitung War die Verbindung der Vertrauensfrage mit einer Sachfrage legitim? Dieser Fragestellung möchte ich in der folgenden Facharbeit nachgehen. Ich beginne diese Arbeit mit einer Erläuterung der verfassungsrechtlichen Grundlagen der Vertrauensfrage, um den Leser auf das Thema hinzuführen. Anschließend folgt eine Aufzählung der ehemaligen Bundeskanzler, die von der Vertrauensfrage in der Vergangenheit Gebrauch gemacht haben. Ich lege die Hintergründe für ihre jeweilige Entscheidung dar und füge an, wie die Abstimmungen im einzelnen Fall verlaufen sind. Das dritte Kapitel erläutert die Hintergründe, die Bundeskanzler Schröder dazu bewogen haben, die Vertrauensfrage zu stellen. Ich lege dabei Wert auf die Darstellung der Umstände nach dem 11. September 2001, dabei gehe ich davon aus, dass die Geschehnisse vom 11. September 2001 selber bekannt sind. Das Kapitel schließt mit der Begründung ab, warum Gerhard Schröder die Vertrauensfrage in Verbindung mit einer Sachfrage gestellt hat. Mit den Verschiedenen Positionen der Grünen befasse ich mich im vierten Kapitel. Dabei wird unter anderem auch auf den Standpunkt der Abweichler zum Bundeswehreinsatz und zur Vertrauensfrage eingegangen, der ausschlaggebend für die Regierungskrise der rot-grünen Koalition war. In dem nachfolgenden Kapitel habe ich versucht, die Position der Opposition bezüglich der Entscheidung des Bundeskanzlers herauszuarbeiten. Das erwies sich aber aufgrund der dürftigen Materiallage bei der CDU/CSU-Fraktion, abgesehen von Kommentaren in Zeitungen und Zeitschriften, als verhältnismäßig schwierig. Außer den Reden der einzelnen Bundestagsabgeordneten auf ihren eigenen Internetseiten beim Bundestag, fand man auf der Homepage der CDU/CSU-Fraktion keine Presseerklärungen oder ähnliche Dokumente aus erster Hand. Im fünften Kapitel wird außerdem die Position der FDP-Fraktion herausgearbeitet und der Schwerpunkt auf die Absichten der Partei bei möglichen Neuwahlen gelegt. Kapitel sechs beinhaltet das Abstimmungsverhalten der einzelnen Bundestagsfraktionen und das Verhalten der verbliebenen vier „Abweichler“. Ich füge ein ganzes Unterkapitel über Christa Lörcher an, da ich es wichtig finde, diese prinzipientreue Bundestagsabgeordnete besonders hervorzuheben. Frau Lörcher hat sich nicht einfach der Fraktionsdisziplin unterworfen, sondern ihre eigene Meinung vertreten. Am Schluss beziehe ich dann Stellung zu der Frage, ob die Verbindung der Vertrauensfrage mit einer Sachfrage aus meiner Sicht legitim war. 5 2. Die Vertrauensfrage 2.1 Was ist eine Vertrauensfrage? Der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland verfügt praktisch über die verfassungsrechtlich größte Macht. Er wird durch die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten gewählt und trägt die Verantwortung über die Politik der Bundesregierung.1 Da der Bundeskanzler nicht direkt von der Bevölkerung gewählt wird, muss er sich auf die Zustimmung der Abgeordneten im Bundestag verlassen können. Entweder hat seine eigene Partei bei den Wahlen zum Bundestag die absolute Mehrheit erlangt, womit er alleine regieren könnte, oder er muss eine Koalition mit der Partei bilden, die mit seinen eigenen politischen Zielsetzungen am besten korrespondiert. Einen Koalitionspartner zu haben bedeutet aber fast immer eine gewisse politische Instabilität, da auch der andere Koalitionspartner seine Wählerschicht in der neuen Regierung vertreten muss, um bei der nächsten Bundestagswahl wieder eine Fraktion stellen zu können. Diese Unterschiede zwischen den Partnern führen zuweilen zu Konflikten in der Bundesregierung und in den Fraktionen, die sich negativ auf das Abstimmungsverhalten der betreffenden Partei im Bundestag auswirken können. Der Bundeskanzler läuft in diesem Fall Gefahr, bei einer wichtigen Abstimmung im Bundestag keine Mehrheit mehr zu haben. Um sicherzustellen, dass er den Hauptteil der Bundestagsabgeordneten noch hinter sich vereinen kann, besteht die Möglichkeit, nach Art. 68 des Grundgesetzes die Vertrauensfrage zu stellen. Verweigern die Abgeordneten dem Bundeskanzler das Vertrauen, so kann dieser den Bundespräsidenten darum bitten, den Bundestag innerhalb von 21 Tagen aufzulösen, sofern zwischenzeitlich noch kein neuer Bundeskanzler durch das Parlament gewählt worden ist. Diese Entscheidung des Bundeskanzlers würde zu Neuwahlen führen.2 Die Vertrauensfrage hat jedoch keine zwingenden rechtlichen Konsequenzen. Der Regierungschef könnte folglich auch weiterhin im Amt bleiben, was ihn aber politisch schwächen würde. In der Bundesrepublik wurde die Vertrauensfrage bisher nur zur Stabilisierung statt zur Destabilisierung der Regierung oder zum Herbeiführen von Neuwahlen gestellt. 2.2 Wer hat bisher davon Gebrauch gemacht? Am 20.09.1972 stellte Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) als erster in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland die Vertrauensfrage. Brandt fehlte damals der nötige Rückhalt im Parlament, da einige Abgeordnete die Regierungskoalition bestehend aus SPD und FDP 1 2 vgl. GG, Art. 63/2 und 65 vgl. GG, Art. 68/1 6 verlassen hatten. Die Opposition nutzte die momentane Schwäche der Regierung, um den Versuch zu starten, den Bundeskanzler mithilfe des konstruktiven Misstrauensvotums nach Artikel 67 des Grundgesetzes zu stürzen. Dieser Versuch scheiterte jedoch an zwei fehlenden Stimmen im Bundestag. Brandt stellte kurz darauf die Vertrauensfrage, um Neuwahlen herbeizuführen. Dabei erhoffte sich die SPD, aus der Wahl als stärkste Fraktion hervorzugehen und somit ihre Position zu stärken. Mit einer Mehrheit von fünfzehn Abgeordneten entzog man Brandt im Bundestag das Vertrauen. Bei der anschließenden Neuwahl wurde die SPD zu ersten Mal stärkste Fraktion und bildete mit der FDP erneut die Regierung. Brandts Nachfolger Schmidt gewann am 05.02.1982 die von ihm selber gestellte Vertrauensfrage mit einer Mehrheit von 45 Abgeordnetenstimmen. Die Diskussion um die Stationierung von amerikanischen Pershing II-Raketen und die zunehmende Kritik an Schmidts Programm zur Arbeitslosigkeitsbekämpfung veranlassten ihn dazu, diesen Schritt zu gehen. Die Koalition aus SPD und FDP zerbrach aber kurz darauf, da die FDP an die Seite der CDU wechselte und beide zusammen den Bundeskanzler durch ein konstruktives Misstrauensvotum abwählten. Es folgte Helmut Kohl, der durch das konstruktive Misstrauensvotum der Nachfolger von Schmidt wurde. Kohl nutzte das Instrument der Vertrauensfrage, um seine Position zu stärken und sich nachträglich vom Volk legitimieren zu lassen. Die Vertrauensfrage wurde gestellt, um vorgezogene Neuwahlen zu ermöglichen. Deshalb ließ Kohl die Abstimmung absichtlich verloren gehen. Die Abgeordneten der SPD-Fraktion sprachen ihm das Misstrauen aus, die Mitglieder der FDP und der CDU enthielten sich oder stimmten gegen Kohl. Bundespräsident Karl Carstens zögerte, aufgrund von Kohls taktischen Hintergründen, mit der Auflösung des Bundestages, willigte aber letztendlich ein. Kohl war der Auffassung, dass er die Wahlen gewinnen würde, womit er auch Recht behalten sollte. Doch dieser politische Schachzug blieb nicht folgenlos für zukünftige Kanzler. 3 Der Fall beschäftigte das Bundesverfassungsgericht, da Abgeordnete aller Fraktionen in Karlsruhe klagten. Die Klage wurde abgewiesen, jedoch mit der zukünftigen Einschränkung, dass die Vertrauensfrage nur dann gestellt werden dürfe, wenn der Bundeskanzler „eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit getragene Politik nicht mehr sinnvoll zu verfolgen vermag“. 4 3. Erläuterung der Hintergründe 3 4 HUSEMANN et al. in Süddeutsche Zeitung Nr. 262 vom 14.11.01, S.5 KERSCHER in Süddeutsche Zeitung Nr. 263 vom 15.11.01, S.6 7 Die Terroranschläge vom 11. September 2001 auf die USA veranlassten die NATO am 04.10.2001 zum ersten Mal in der Geschichte des Bündnisses dazu, den Bündnisfall nach Artikel fünf des NATO-Vertrages auszurufen. Folglich wurde der Terroranschlag als Angriff auf alle Mitgliedsländer der NATO gewertet.5 Nach Ausrufung des Bündnisfalls gemäß Artikel fünf besteht für die Mitglieder der NATO eine Beistandspflicht entsprechend ihrer Möglichkeiten, d.h. es bleibt den Mitgliedsstaaten selber überlassen, in welcher Art und Weise oder ob sie ihrem Bündnispartner helfen. 6 Die Bundesrepublik Deutschland trat am 5. Mai 1955 dem Nordatlantikpakt bei. 7 Dieser Entscheidung verdankte Deutschland die längste Friedensperiode in seiner Geschichte. Bundeskanzler Gerhard Schröder sicherte den USA die uneingeschränkte Solidarität der Bundesregierung und der Deutschen nach den Terroranschlägen vom 11.09.2001 zu. Die Vereinigten Staaten baten Deutschland daraufhin um eine Beteiligung an der NATOOperation „ENDURING FREEDOM“, die u.a. die Vertreibung der Taliban aus Afghanistan zur Aufgabe hatte. Den Taliban wurden enge Beziehungen zum Terrornetzwerk von „Al Qaida“ nachgesagt und Afghanistan von den Amerikanern dabei als „Keimzelle des internationalen Terrorismus“ bezeichnet. Zudem vermuteten die USA, dass die Taliban den Al Qaida Führer Osama Bin Laden versteckt hielten. Afghanistan wurde daraufhin angegriffen und das Talibanregime in Folge dessen abgesetzt. Für die Zeit nach dem Regime musste eine internationale Schutztruppe (ISAF) gebildet werden, die nach den Vorstellungen der Amerikaner auch aus deutschen Soldaten bestehen sollte. Der Bundestag musste jedoch diesem ersten Kriegseinsatz der Bundeswehr außerhalb Europas erst zustimmen, worin das eigentliche Problem für den Bundeskanzler bestand. Er hatte dem amerikanischen Präsidenten George W. Bush die uneingeschränkte Solidarität der Bundesrepublik zugesagt und musste, wollte er vor den Amerikanern nicht als unzuverlässiger Bündnispartner dastehen, die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten auf seine Seite bringen. Der Regierungsvorschlag wurde am 07.11.2001 im Kabinett verabschiedet und musste nun noch den Bundestag passieren. Durch die Koalition mit den Grünen hätte er die Mehrheit von 334 im Bundestag erreicht. Nach Aussagen vom Fraktionsvorsitzenden der SPD Peter Struck hätte nämlich die gesamte SPD-Fraktion bei der Abstimmung über den Einsatz hinter Bundeskanzler Schröder gestanden. 8 Einige Abgeordnete der Grünen meldeten jedoch Zweifel am Sinn der Operation in Afghanistan an. Bei den Grünen kristallisierten sich acht Mitglieder der Fraktion heraus, die gegen den Bundeswehreinsatz stimmen wollten. Sie beriefen sich dabei auf ihr Gewissen. 5 http://www.einsatz.bundeswehr.de/pic/einsatz_aktuell/oef/mandate/ue_ausl.htm vgl. OVERWEG 1999, S.9 7 vgl. OVERWEG 1999, S.7 6 8 9 Die Regierungsmehrheit war in dieser Frage nicht mehr gesichert. Bundeskanzler Schröder nutzte nach dieser Bekanntmachung der Grünen das Instrument, welches ihm nach Artikel 68 des Grundgesetzes in die Hand gegeben wird, um seine Position zu stärken. Er wollte sicher gehen, dass er die Unterstützung der Abgeordneten in den beiden Regierungsfraktionen auch bei schwierigen Entscheidungen noch besitzt. Schröder verknüpfte aus diesem Grund, zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, die Abstimmung über die Vertrauensfrage mit einem konkreten Anliegen der Regierung. Er verband die Abstimmung über den Bundeswehreinsatz mit der Vertrauensfrage. 10 Diese Entscheidung des Bundeskanzlers brachte jene acht Abgeordneten der Grünen, die im Bundestag gegen die NATO-Operation stimmen wollten, in einen Zwiespalt. Die „Abweichler“ sahen sich einerseits dem Zwang unterworfen die Koalition nicht zu gefährden, andererseits wollten sie ihrem Gewissen folgen. Steffi Lemke – eine der „Abweichler“ – bezweifelte, dass man den internationalen Terrorismus mit Streubomben bekämpfen könne. Sie wolle nicht dafür verantwortlich sein, dass möglicherweise Zivile Opfer bei der Suche nach Terroristen zu beklagen sein würden. 11 4. Position der Grünen 4.1 Position der Fraktionsmehrheit Abgesehen von den acht „Abweichlern“, die in Abschnitt 4.1 behandelt werden, gab es in der Bundestagsfraktion der Grünen auch viele Abgeordnete, die eine deutsche Beteiligung an „ENDURING FREEDOM“ nur unter gewissen Einschränkungen begrüßten. Sie stellten zu diesem Zweck im Parteirat am 12.11.2001 ein Forderungspaket zusammen, das sie in ein RotGrünes Forderungspapier einbrachten. Eine zentrale Forderung des Papiers bestand darin, den Einsatz der deutschen Bundeswehrsoldaten nur auf Afghanistan zu beschränken. Damit wollen sie eine Verwicklung deutscher Soldaten in einen Konflikt mit dem Irak oder mit Somalia verhindern. Ferner wurde beschlossen, dass die Bundeswehr nicht an Luftangriffen der Alliierten teilnimmt. Spezialeinheiten der deutschen Streitkräfte bekommen in dem Papier nur polizeiliche Befugnisse zugewiesen. Sie sind dazu autorisiert Zugriffe auszuführen, dürfen aber keine Sabotageaktionen auf terroristische Ziele ausüben. Der deutsche Beitrag ist 8 FRIED/HÖLL in Süddeutsche Zeitung Nr.262 vom 14.11.01, S.1 Abgeordnete sind nach Art. 38/1 GG bei Entscheidungen im Bundestag nur ihrem Gewissen verpflichtet 10 http://www.uni-kassel.de/fb10/frieden/themen/Aussenpolitik/reden.html (Gerhard Schröder, SPD) 11 http://www.uni-kassel.de/fb10/frieden/themen/Aussenpolitik/reden.html (Steffi Lemke) 9 9 rein humanitär, defensiv und auf den Schutz der Zivilbevölkerung ausgelegt. Es soll vermieden werden, den Hass der arabischen Welt auf den Westen durch unverhältnismäßige Repressionsmaßnahmen zu steigern. Deshalb wurde als Maßgabe für alle militärischen und polizeilichen Aktionen die Charta der UN vorausgesetzt, um die Menschenrechte zu wahren. Der Bundestag muss bezüglich des Einsatzes immer auf dem Laufenden gehalten werden. Eine umfassende Informationspolitik, auch gegenüber der Bevölkerung der Bundesrepublik, ist laut Parteirat zwingend notwendig, um den Einsatz und seinen Nutzten in der Öffentlichkeit zu legitimieren. Gleichzeitig zu allen militärischen Operationen muss aber auch eine Lösung für die Probleme Afghanistans, wie z.B. Hunger, gefunden werden, die aus der Herrschaft der Taliban und der jahrzehntelangen Kriege entstanden sind. Den internationalen Terrorismus kann man laut Parteirat nur bekämpfen, wenn man ihn an seinen Wurzeln hemmt. Der Hauptgrund für die Terrorismusproblematik besteht für die Fraktion der Grünen nämlich in der Tatsache, dass es auf der Welt zu viel Armut gibt. Der eine Teil der Welt lebt im Überfluss, während der andere Teil in Armut lebt. Das treibt die Menschen im Elend in die Arme der Terroristen, die in der westlichen Welt ihr Feindbild sehen. 12 Der Vorstand der Grünen empfahl den Abgeordneten der Fraktion sich für einen Militäreinsatz in Afghanistan auszusprechen, wenn die genannten Einschränkungen beachtet würden. Sie dürften die RotGrüne Koalition wegen der Abstimmung nicht opfern, um die Durchsetzung der anderen Regierungsziele nicht zu gefährden. Die Grünen waren der Auffassung, dass eine negative Abstimmung das Ende der Koalition bedeuten würde. Prominente Verfechter der Beschlüsse des Parteirates waren u.a. Christa Nickels (Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses im Bundestag) und Rezzo Schlauch (Fraktionsvorsitzender der Grünen). Beide sahen die Operation „ENDURING FEEDOM“, und somit vor allem auch den Feldzug gegen die Taliban in Afghanistan, als gerechtfertigt an. Sie waren der Überzeugung, dass der Krieg die freiheitlich demokratische Ordnung der westlichen Welt verteidigen würde. Rezzo Schlauch formulierte es mit den Worten „Bin Laden greift die offene Gesellschaft an, also auch unsere“13. Fraktionskollegin Nickels bezeichnete Afghanistan sogar als „Flugzeugträger des internationalen Terrorismus“14. Die Staatengemeinschaft dürfe nicht zulassen, dass sich die Menschenrechtssituation in Afghanistan unter den Taliban weiter verschlechtere. Beide Abgeordneten waren der Meinung, dass auch Deutschland seinen Beitrag dazu leisten muss; sowohl militärisch als 12 http://www.gruene-partei.de/rsvgn/rs_doc/0,,2507,00.htm http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,167113,00.html 14 Süddeutsche Zeitung Nr. 263 vom 15.11.2001, S.10 13 10 auch humanitär. Dabei setzte Nickels - im Gegensatz zu Schlauch - ihre Akzente stärker auf den humanitären, als auf den militärischen Part der Hilfeleistung. 15 16 Sowohl die „Abweichler“ als auch die Befürworter des Einsatzes hielten die Verknüpfung der Vertrauensfrage von Bundeskanzler Schröder mit einer Sachfrage nicht für notwendig. Zudem gaben die Grünen an, dass auch ein Großteil der Bevölkerung einer solchen Verbindung mit Misstrauen begegne. 17 4.2 Die „Abweichler“ der Fraktion Nicht alle Fraktionsmitglieder der Grünen standen einer deutschen Beteiligung an „ENDURING FREEDOM“ aufgeschlossen gegenüber. Einige Pazifisten konnten den Einsatz nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren. Zu ihnen gehörte der ehemalige RAF-Anwalt HansChristian Ströbele, der zum linken Flügel der Grünen zählt. Ströbele gab zu bedenken, dass die Politik der USA an diesem Konflikt einen großen Anteil habe, da sie die Afghanen und Osama Bin Laden während der Sowjetbesatzung im Kalten Krieg mit Waffen belieferten. Er sprach sich dafür aus, erst die Terrorstrukturen in Deutschland zu bekämpfen und zu verfolgen. Zudem würden in diesem Krieg zu viele unschuldige Zivilisten getötet, was nach einem Krieg gegen das Land Afghanistan und nicht nach einem Krieg gegen den internationalen Terrorismus aussehe. Das schüre den Hass der arabischen auf die westliche Welt. 18 Eine weitere prominente Persönlichkeit der Grünen, die sich unter den acht „Abweichlern“ befand, war die parlamentarische Geschäftsführerin der Fraktion Steffi Lemke. Sie wollte im Bundestag ebenfalls gegen eine deutsche Beteiligung an „ENDURING FEEDOM“ stimmen, da sie nicht dafür verantwortlich sein wollte, wenn unschuldige Zivilisten in einem Krieg gegen den internationalen Terrorismus sterben. Ein anderer Einwand ihrerseits bestand darin, dass sie die Kooperation mit der Nordallianz für äußerst gefährlich hielt, da diese Miliz nicht demokratisch verwurzelt sei. Zudem gebe es noch keine weiterführenden Vorstellungen über die Zukunft der afghanischen Bevölkerung nach der Herrschaft der Taliban. Der Einsatz von Streubomben bei der Bekämpfung der Terroristen von Al Qaida verstoße gegen internationales Recht, da diese Art der Kriegsführung weltweit geächtet sei. Die Benutzung von derartigen Kriegsmaterialien sei nicht zielgerichtet und treffe in einem hohen Maße auch die unschuldige Zivilbevölkerung. 19 15 Süddeutsche Zeitung Nr. 263 vom 15.11.2001, S.10 http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,167113,00.html 17 http://www.gruene-partei.de/rsvgn/rs_doc/0,,2507,00.htm 18 http://www.gruene-partei.de/rsvgn/rs_dok/0,,2469-print,00.htm 19 http://www.uni-kassel.de /fb10/frieden/themen/Aussenpolitik/reden.html (Steffi Lemke) 16 11 Unter den acht „Abweichlern“ der Grünen befanden sich auch die Namen weniger geläufiger Abgeordneter wie Annelie Buntenbach, die sich schon gegen einen Einsatz der Bundeswehr auf dem Balkan aussprach. Irmingard Schewe-Gerigk, die familienpolitische Sprecherin der Fraktion, kündigte ebenfalls an, gegen einen Einsatz zu stimmen. Diese Einstellung teilte auch die „Symbolfigur der Kriegsgegner“ 20 Winfried Hermann, der die Vorgehensweise des Bundeskanzlers als Erpressung und als Fehler bezeichnete. 21 Hermann sprach sich gegen einen „Angriff auf das freie Mandat“ aus, 22 nur um eine positive Entscheidung zu erzwingen. Monika Knoche, Sylvia Voß und Christian Simmert schlossen sich ebenfalls dieser Meinung an. 23 5. Position der Opposition Der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag Friedrich Merz bezeichnete die Vertrauensfrage als das Ende der Koalition aus SPD und Grünen. Eine Mehrheit, die auf Druck der Regierung mit allen erdenklichen Mitteln zustande kommt sei nicht ehrlich. Michael Glos betonte sogar, dass die Abgeordneten des Bundestags gegen ihre Amtspflicht verstoßen, wenn sie eine Entscheidung auf Druck der Fraktion fällen, statt ihrem Gewissen zu folgen. 24 Die CDU/CSU-Fraktion war bereit, die Bundeswehr an einem Krieg gegen den internationalen Terrorismus zu beteiligen und Truppen nach Afghanistan zu entsenden. Durch die Verknüpfung der Abstimmung mit der Vertrauensfrage musste die Fraktion ihren Pflichten als Opposition nachkommen, da sie dem Bundeskanzler nicht das Vertrauen aussprechen wollte. Zur Begründung hieß es von Seiten der Fraktion, dass sie zwar die Politik gegenüber Terroristen unterstütze, aber z.B. in der Frage der Wirtschaftspolitik nicht einer Meinung mit der Regierung sei. Der Bundeskanzler sollte die beiden Abstimmungen voneinander trennen, um dem Parlament zu ermöglichen, den Einsatz der deutschen Soldaten zu legitimieren und zu unterstützen. Friedrich Merz führte an, dass eine Regierung, die bei wichtigen Abstimmungen keine Mehrheit habe nicht tragbar sei und das Ansehen der Deutschen, als Bündnispartner gegenüber Amerika, gefährde. 25 Die CDU/CSU-Fraktion fand die Verbindung der Vertrauensfrage mit der Abstimmung über den Einsatz der Bundeswehr nicht legitim, da dadurch den Abgeordneten des Bundestags die Möglichkeit genommen wurde, den Einsatz auf eine große parlamentarische Basis zu stellen. Mit Hilfe einer breiten 20 http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,167659,00.html HANDWERGER 2002, S.168-169 22 http://www.bundestag.de/mdbhome/hermawi0/abstimmungserklärung.htm 23 http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,167659,00.html 24 Süddeutsche Zeitung Nr. 265 vom 17.11.2001, S.6 25 http://www.documentarchiv.de/brd/2001/rede_merz_1116.html 21 12 Basis im Bundestag sollte den Soldaten die Gewissheit gegeben werden, dass sie den Rückhalt im Parlament haben. Das Wort Vertrauen sei von Bundeskanzler Schröder in dieser Abstimmung missbraucht worden. 26 FDP-Chef Guido Westerwelle formulierte es noch etwas schärfer, indem er der Regierung Nötigung, Einschüchterung und Erpressung ihrer Abgeordneten vorwarf. Westerwelle wies die Abgeordneten darauf hin, dass sie sich nicht dem Druck der Regierung beugen, sondern ihren eigenen moralischen Grundsätzen gerecht werden sollten. Der Hintergedanke Westerwelles bei dieser Aufforderung an die „Abweichler“ der Grünen bestand darin, dass er auf eine Machtübernahme nach der Vertrauensfrage, spätestens aber nach den nächsten Wahlen spekulierte. Er war zwar von einer positiven Beantwortung der Vertrauensfrage überzeugt, vermutete aber, dass bei einer erneuten diffizilen Abstimmung über Krieg oder Frieden die Koalition brechen würde. Für diesen Fall wollte er Schröder als Koalitionspartner zur Verfügung stehen, wenn er Änderungen in seiner Politik vornehmen würde. 27 Seine Hoffnungen waren begründet, da sich Schröder schon vor der öffentlichen Bekanntgabe der Vertrauensfrage in Verbindung mit der Abstimmung über den Bundeswehreinsatz mit Westerwelle unterhalten hatte. Schröder beendete dieses Treffen mit dem FDP-Chef mit der Aussage, dass das Verhalten der Grünen seine Koalitionsneigungen bei den nächsten Wahlen beeinflussen könne. 28 Die FDP-Fraktion wollte genau wie die CDU/CSU-Fraktion den Militäreinsatz beschließen, war aber nicht gewillt, der Bundesregierung ihr Vertrauen auszusprechen. Vielmehr sollte der Wähler entscheiden, ob die Koalition ihre Arbeit fortsetzen sollte. 29 6. Die Entscheidung im Bundestag 6.1 Abstimmungsverhalten der Fraktionen Am 16.11.2001 traf der Bundestag schließlich zusammen. Über den Antrag der Bundesregierung zu Entsendung von Bundeswehrsoldaten in Verbindung mit der Vertrauensfrage wurde abgestimmt. Es votierten 336 von 662 Abgeordneten für den Einsatz und sprachen dem Bundeskanzler auf diese Weise gleichzeitig das Vertrauen für seine weitere Regierungsarbeit aus. Die insgesamt 322 Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der PDS stimmten (wenn auch aus verschiedenen Beweggründen) geschlossen dagegen. Die 26 Süddeutsche Zeitung Nr. 265 vom 17.11.2001, S.6 http://www.guido-westerwelle.de/reden.php?id=1601 28 SCHWENNICKE in Süddeutsche Zeitung Nr. 261 vom 13.11.2001, S.4 29 http://www.guido-westerwelle.de/reden.php?id=1601 27 13 CDU/CSU-Fraktion und die FDP waren gewillt, einem Bundeswehreinsatz zuzustimmen, wollten der Politik des Kanzlers aber nicht das Vertrauen aussprechen. Die Unionsparteien und die FDP sprachen von einem baldigen Bruch der Koalition. Die PDS hingegen sprach sich in jeder Beziehung gegen einen Bundeswehreinsatz aus. Hinzu kamen die vier verbliebenen „Abweichler“ der Grünen, welche die Zahl der Gegenstimmen auf 326 erhöhten. 30 Von den ursprünglich acht „Abweichlern“ waren am Schluss nur noch vier übrig geblieben, um die Koalition mit der SPD nicht zu beenden. Zu den Fraktionsmitgliedern, die dem Antrag zustimmten gehörten Steffi Lemke, Irmingard Schewe-Gerigk, Monika Knoche und Sylvia Voß. Steffi Lemke betonte aber nach der Abstimmung, dass dies nur eine taktische Zustimmung der vier Abgeordneten gewesen sei, um die Regierungsarbeit weiterzuführen und der FDP nicht in die Regierung zu überlassen. In der Frage eines Kriegseinsatzes bleibe die Gruppe weiterhin bei ihrem Nein. Gegen den Bundeswehreinsatz und die Vertrauensfrage stimmten die Abgeordneten Ströbele, Hermann, Buntenbach und Simmert. Sie wollten dem Bundeskanzler ebenfalls ihr Vertrauen aussprechen, wurden aber durch ihr Gewissen dazu getrieben gegen den Militäreinsatz zu stimmen. 31 Aus der SPD-Fraktion kamen keine Gegenstimmen; die Ausnahme war Christa Lörcher, die aber kurz zuvor aus der SPD-Fraktion ausgetreten war, also rein formal gesehen zur Opposition gehörte. Aber auch einige SPD-Abgeordnete meldeten Bedenken gegen eine deutsche Beteiligung der Bundeswehr in Afghanistan an. Sie stimmten aber zu, da sie der Auffassung waren, dass die rot-grüne Regierungsarbeit weitergeführt werden musste. In einer persönlichen Erklärung der sechzehn SPD-Abgeordneten von Rüdiger Veit und Konrad Gilges brachten sie ihre Bedenken zum Ausdruck. In dem Papier zweifelten die Abgeordneten die Verhältnismäßigkeit der Mittel im Afghanistankrieg an. Es sei vor allem die Zivilbevölkerung von den Bombardements betroffen. Die sechzehn SPD-Mitglieder forderten die Regierung deshalb auf, den Konflikt mit friedlichen Mitteln zu lösen. 32 6.2 Christa Lörcher Der Fraktionsvorsitzende der SPD Peter Struck war nicht in der Lage alle Abgeordneten seiner Fraktion auf den Kurs der Regierung zu bringen. Eine renitente Abgeordnete blieb ihm erhalten, die den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan nicht legitimieren wollte. Ihr Name ist Christa Lörcher, die zuvor schon gegen die Einsätze im Kosovo und in Mazedonien 30 HÖLL in Süddeutsche Zeitung Nr. 265 vom 17.11.2001, S.1 KAHLWEIT in Süddeutsche Zeitung Nr. 265 vom 17.11.2001, S.7 32 http://www.uni-kassel.de/fb10/frieden/themen/Aussenpolitik/erklaerungen.html 31 14 stimmte. Als überzeugte Pazifistin, die mitten im Krieg in Polen zur Welt kam, engagierte sie sich im Bundestag vor allem in der Sozial- und Ausländerpolitik. Lörcher ist der Ansicht, dass Konflikte nur mit friedlichen Mitteln zu lösen sind. Deshalb setzte sie sich in der Vergangenheit vor allem für alternative Konfliktlösungen ein. Nach ihrer Auffassung könnte man das Geld, das die Regierungen für das Militär ausgeben besser anderweitig verwenden. Durch Bomben und Granaten würden nur unschuldige Menschen getroffen und die überlebensnotwendige Infrastruktur z.B. Wasserleitungen oder Stromversorgung zerstört. Die Leidtragenden seien vor allem Alte, Kranke und Kinder. Jene Gruppen bedürften aber eines besonderen Schutzes. Der Angriff auf Zivilpersonen schüre den Hass auf die westliche Welt und ihre Verbündeten, der dann zu neuer Gewalt und Eskalation führe. Diese Politik der Bundesregierung wollte Lörcher nicht mittragen, da sie der Meinung war, dass man Konflikte nur mithilfe ziviler Helfer und Programme lösen könne. 33 Ihre Einstellung war in der SPD und vor allem bei Peter Struck nicht sehr populär. Der Druck, den die Fraktion auf Christa Lörcher ausübte, wurde letztendlich so groß, dass sie sich am 15.11.2001 in einem Brief an Peter Struck entschloss, aus der Bundestagsfraktion der SPD auszutreten. Sie blieb aber weiterhin Mitglied ihrer Partei und behielt auch ihr Bundestagsmandat bis sie am Ende der Legislaturperiode aus der aktiven Politik und somit aus dem Bundestag ausschied. Einer anderen Fraktion wollte sie in dieser Zeit nicht beitreten, da sie sich weiterhin der Politik der SPD verbunden fühlte und diese auch weiterhin unterstützen wollte. Wenn die Abstimmung über Vertrauensfrage und Bundeswehreinsatz getrennt abgestimmt worden wäre, hätte Lörcher dem Kanzler das Vertrauen ausgesprochen. Den Bundeswehreinsatz wollte sie jedoch nicht legitimieren und verweigerte die Fraktionsdisziplin. Lörcher stimmte gegen den Bundeswehreinsatz, wollte aber eigentlich für den Bundeskanzler stimmen und ihm das Vertrauen in den anderen Bereichen seiner Politik aussprechen. Christa Lörcher fand es bedauerlich, dass Pazifismus in der SPD keine Konjunktur mehr hat. Ihre Wähler wollte sie aufgrund ihrer Entscheidung nicht im Stich lassen und gab ihr Bundestagsmandat, entgegen einzelner Forderungen aus ihrer Partei nicht ab, um ihren Wahlkreis auch weiterhin zu vertreten. 34 33 http://www.christaloercher.de/vertrauen.html 15 7. Schlussbemerkung Der Kanzler hatte aus den verschiedenen Meinungen also wieder eine (seine) gemacht und die Vertrauensfrage gewonnen. Die Mehrheit war zwar denkbar knapp, aber sie war vorhanden. Man könnte jetzt denken, dass die Abstimmung im Bundestag ein voller Erfolg für den Kanzler und die Koalitionsdisziplin war, aber einen bitteren Beigeschmack hatte die Sache dann doch, denn die Mehrheit war von vornherein alles andere als gesichert. Bis kurz vor der Abstimmung wurden die „Abweichler“ der Grünen so stark beeinflusst, dass letztendlich vier von ihnen dem Regierungsantrag und der Vertrauensfrage zustimmen mussten. Sie handelten dadurch gegen ihre eigenen Überzeugungen, nur um sich dem Willen der Fraktionsführung unterzuordnen und die Koalition zu retten. Diese Abgeordneten verloren meiner Meinung nach ihre Glaubwürdigkeit in der Öffentlichkeit und gaben sich der Lächerlichkeit preis. Auch andere Abgeordnete der Grünen und der SPD wandten sich gegen einen Militäreinsatz in Afghanistan, stimmten aber letztendlich auch für Bundeskanzler Schröder. Bundestagsmitgliedern, die gegen einen Militäreinsatz aber für die Koalition waren wurden durch die Verbindung der Vertrauensfrage mit einer Sachfrage erpresst, beiden Anliegen zuzustimmen. Den Kanzler interessierte nur seine Mehrheit. Wie sie auch immer zustande kam war ihm egal. Deshalb wurden alle Reserven der jeweiligen Fraktionen mobilisiert, um die Abstimmung doch noch zu gewinnen. Schwangere und kranke Abgeordnete wurden in den Plenarsaal „gekarrt“; auf Fraktionskollegen wurde großer Druck ausgeübt und Mehrheiten von den Fraktionsvorsitzenden und den parlamentarischen Geschäftsführern „organisiert“. Der Druck, der auf die Abgeordneten ausgeübt wurde, nahm erschreckende Formen an. Zweiflern am Bundeswehreinsatz wurde nahegelegt, auf ihr Mandat im Bundestag zu verzichten, um den Weg für einen Nachrücker freizumachen, der für den Kanzler stimmen sollte. Der Grundsatz des Grundgesetzes, wonach jeder Abgeordnete bei Entscheidungen nur seinem Gewissen folgen muss, wurde durch das Vorgehen der Fraktions- und Parteiführer außer Kraft gesetzt. Die Verknüpfung der Vertrauensfrage mit einer Sachfrage war rein verfassungsrechtlich legal. In Artikel 68 des Grundgesetzes steht nur, was bei einer eventuellen Niederlage des Bundeskanzlers für Möglichkeiten bestehen daraus Konsequenzen zu ziehen oder auch nicht. 34 http://wahl.tagesschau.de/aktuell/meldungen/0,2301,OID998712_TYP3_THE_REF434 16 Meiner Meinung nach war die Verknüpfung der Vertrauensfrage mit einer Sachfrage aber moralisch verwerflich, da den Abgeordneten, welche die Regierungskoalition nicht gefährden wollten, ihr Abstimmungsverhalten abgepresst wurde. Ich kann verstehen, warum immer mehr Bürger aus diesem Grund Politikverdrossenheit an den Tag legen. Aus machtpolitischen Erwägungen werden eigene Meinungen und Überzeugungen zurückgestellt und dem Fraktionszwang geopfert. „Abweichler“, die trotz ihres Pazifismus für einen Krieg stimmten, haben meiner Meinung nach gegen Artikel 38/1 des Grundgesetzes verstoßen. Es war zwar der Bundeskanzler, der die Abgeordneten in diese diffizile Situation gebracht hat, von einem Mitglied des deutschen Bundestags hätte der Wähler aber erwarten können, dass es sich bei Entscheidungen, die über Menschenleben bestimmen nicht unbedingt seiner Fraktion anschließt, sondern seinen eigenen Verstand benutzt. Die einzig aufrechte Abgeordnete, die ihren Prinzipien treu geblieben ist war Christa Lörcher. Sie hat ihre Meinung, auch wenn diese nicht gebilligt wurde, vertreten und letztendlich auch daraus die Konsequenzen gezogen. Wird eine Abgeordnete zum Austritt aus ihrer Fraktion gedrängt, nur weil sie von ihrer Position nicht abweichen will, ist das für die betreffende Partei ein Armutszeugnis. Wenn der Bundeskanzler die Vertrauensfrage nicht gestellt hätte, wären die Abgeordneten gar nicht erst in diese Situation gekommen, zwischen den Entscheidungen abzuwägen. Vielmehr habe ich mich jedoch darüber aufgeregt, in welcher Art und Weise die Mehrheit für den Regierungschef zustande gekommen ist. Das darf in einer Demokratie nicht passieren, wenn sie für die Bürger weiterhin glaubwürdig bleiben und die Politikverdrossenheit der Bürger vermindern will. 17 8. Literaturverzeichnis Literatur GG, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (2002): Hannover: Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung HANDWERGER, Manfred (Hrsg.) (2002): Demokratie in Deutschland. Bamberg: Buchner Verlag OVERWEG, Hans-Dieter (1999): Die neue NATO-Sicherheit und Stabilität. Berlin: Presseund Informationsamt der Bundesregierung Internetquellen http://www.uni-kassel.de (07.02.2003). Auszüge aus den Reden zur Bundestagsdebatte http://www.uni-kassel.de/fb10/frieden/themen/Aussenpolitik/reden.html http://www.gruene-partei.de (16.02.2003). Bundeswehreinsatz und Regierungskoalition. 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