Fachbereich Spielpädagogik Gerhard Knecht Früh fördern Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr 37 Das Thema Frühförderung hat Konjunktur. Ähnlich wie beim Sputnikschock Ende der 60er Jahre hat der Pisa-Schock dazu geführt, das Thema Bildung in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses zu stellen. Aus dieser Diskussion wurden damals die ersten Konzepte der Ganztagsschule in Deutschland entwickelt, aber nur vereinzelt umgesetzt. Die Vorschule erfunden aber bald wieder abgeschafft. Heute sind es jetzt wieder die Ganztageschulen und die Fördermöglichkeiten für Kinder in Kindergarten und Krippe oder in neuen Einrichtungen, die sich speziell der frühen Bildung annehmen. Politiker, Eltern und Erzieherinnen beschäftigen sich mit Fragen wie: Wie erschließen sich Kinder die Welt? Wann sind sie in der Lage, aus Beobachtungen heraus zu schließen, wie etwas funktioniert? Was muss ich tun, dass mein Kind in einer globalen Wettbewerbsgesellschaft Chancen hat, einen Arbeitsplatz zu bekommen? Fragen über Fragen, auf die es unterschiedliche Antworten von Seiten der Spielpädagogik, der Erziehungswissenschaften und der Hirnforschung gibt und die auch die spielpädagogische Ausbildung in der Akademie Remscheid beeinflussen. Spielendes Entdecken Kinder sind von Natur aus neugierig, sie wollen alles, was sie sehen oder was ihre Neugier erregt, mit allen Sinnen begreifen. Begreifen bedeutet sehen, anfassen, fühlen und schmecken, mit allen Sinnen erfassen. So erregt Neues in der Lebenswelt des Kindes wie zum Beispiel Bauklötze, Farben, Töne, Tiere, unmittelbar die Neugier des Kindes. Je mehr verschiedenes man mit dem Gegenstand tun kann, wenn man ihn abtastet, bewegt, mit anderen Gegenständen neu kombiniert, desto höher ist das Interesse sich damit auseinander zu setzen. So fördert neben der Neuigkeit auch die Unbestimmtheit des Gegenstandes, seine Formbarkeit und unterschiedliche Nutzbarkeit das Neugierverhalten. Wenn sich aber keine neue Tätigkeitsmöglichkeiten mehr ergeben, so lässt das Interesse nach, das sieht man häufig bei klassischem Spielzeug. Kinder probieren aus, was man alles damit machen kann und danach verlieren sie das Interesse und die Spielwaren liegen danach lange in der Ecke des Kinderzimmers. Der Forscher- und Entdeckungsdrang der Kinder kann – wie vieles andere auch – durch Verstärkungen angeregt, aber auch im negativen Fall verhindert werden. Wenn also ältere oder gleichaltrige Kinder, die Eltern oder die Erzieher auch Interesse zeigen, vor allem durch das Mitspielen und das gemeinsame Fitforschen, wird die Neugierhaltung gestärkt und gefördert. Bei Kindern ist besonders wichtig und förderlich für das Neugierverhalten, dass sie sich in einer Umgebung bewegen, die ihnen vertraut ist und damit emotionale Sicherheit bietet. Kinder, die Angst haben, sind weniger neugierig als die Kinder, die gestärkt durch das Vertrauen ihrer Eltern oder Erzieher sich 38 einem unbekannten Phänomen nähern. Wenn ein neuer Gegenstand erkundet ist und das Kind ihn begriffen und erfasst hat, wird er zum Spielgegenstand. Das Kind weiß, wie man ihn nutzen kann und baut ihn in sein Spiel ein oder kombiniert ihn mit anderen Spielgegenständen, die es schon kennt. Er wird aus seinem ursprünglichen Bedeutungszusammenhang genommen und wird zu einem neuen Spielelement. Dadurch nutzt das Kind ihn auch neu für sich und entwickelt neue Spielhandlungen. Der Spielforscher Brian Sutton Smith ging schon 1967 der Frage nach, ob Kindern, die häufig in einem anregungsreichen Spielmilieu spielen, ein größeres Handlungsrepertoire zur Verfügung steht als Kindern, die wenig spielen oder nur mit Spielsachen konfrontiert sind, die eher zum Wiederholen bestimmter Spielhandlungen dienen als zur Entwicklung von neuen Spielhandlungen. Konkret untersuchte er zwei Fragestellungen: 1. Steht den Kindern, die durch Spiel gefördert werden, nachweislich auf Grund der dabei gewonnen Erfahrungen ein größeres Handlungsrepertoire zur Verfügung als Kindern, die entsprechende Spiele nicht erlebt haben? 2. Welche Teile der kindlichen Handlungsfähigkeiten werden durch das Spielen tatsächlich erweitert? Seine Untersuchungen bestätigten die Vermutung, das durch vielseitiges Spielen und durch die große Zahl der Möglichkeiten, wie mit einem Spielgegenstand umgegangen wird, das Verhaltensrepertoire der Kinder größer wird. Insbesondere die Kreativität und Flexibilität in Bezug auf die Anwendungsbereiche hat signifikant zugenommen, dabei ergaben sich auch neue Kombinationsmöglichkeiten im kognitiven Feld. Spielen ist nach den Untersuchungen von Brian Sutton Smith nicht in erster Linie Training der Erkenntnis, sondern Ausweitung der Handlungs- möglichkeiten im Alltag. Es stellt vor allem eine Vielzahl von Verhaltensalternativen zur Verfügung, die je nach Situation eingesetzt werden können. Dadurch wird Selbstsicherheit gewonnen, das Vertrauen in die Beherrschung der Gegenstände gestärkt und Situationen geübt, in denen man sich selbstbewusst und steuernd verhalten kann und somit handlungsfähig bleibt. Spielen ist Lernen für das Leben. Spielen kann der Wissensvermittlung dienen, muss es aber nicht. Verhaltensweisen, die beim Spiel geübt werden, bieten einen Schatz von kognitiven Möglichkeiten. Spielen bietet Fiktionen und gespielte Varianten, die für kreative Lösungen und Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Die Ergebnisse der Untersuchungen von Brian Sutton Smith vor 40 Jahren werden heute aktuell bestätigt durch die Hirnforschung, wie sie vor allem von Wolf Singer veröffentlicht wurde. 39 Er beschreibt die Entwicklung des Gehirns wie folgt: „Das Gehirn des Kindes baut sich nach der Geburt rasant auf. Die Sinnesorgane empfangen Signale aus der Umwelt und leiten sie an die Neuronen weiter. Diese werden angeregt und verknüpfen sich an ihren Kontaktstellen zu Synapsen, das sind neuronale Netze, um die ersten Erfahrungen zu speichern. Jede Erfahrung, die das Kind macht, verstärkt diese Netze, wenig oder keine Erfahrung schwächt sie. Je häufiger sich eine Erfahrung wiederholt, desto stabiler bleiben die Netzwerkverbindungen im Hirn. Das Kleinkind lernt und sein Gehirn entwickelt sich. Wenn das Kind dabei viel spielt, vor allem Wiederholungsspiele tätigt, werden die dabei gemachten Erfahrungen sehr stark im Hirn verankert. Diese Verankerung bildet ein funktionales neuronales Gerüst, das bestimmt, was man kann, mit wem man in Beziehung ist, was man tun muss usw. Dieses Gerüst oder Netzwerk ist aber nicht ein für alle mal eingerichtet, sondern es verändert sich permanent, wenn entsprechende Umwelt- einflüsse da sind. Von daher ist es wichtig, wenn man darauf erzieherisch oder bildungsfördernd einen Einfluss nehmen möchte, pädagogisch die Umgebung zu beeinflussen. Gerade die Auswahl von Spielzeug und die Gestaltung einer anregungsreichen Wohn- und Lebensumgebung ist hier von großer Bedeutung. Nicht das Überschütten der Kinder mit einer Menge von perfektem Spielzeug ist eine gute Wahl, sondern eher das Gegenteil. Kinder brauchen eher unfertiges, unperfektes Spielmaterial, um es sich handhabbar zu machen und zu viel gleichzeitig hindert am ruhigen Erforschen des Spielmaterials. Kinder lernen das am besten, was sie selber ausprobieren und unmittelbar erfahren und auch gerne selber wiederholen. Darauf bauen neuronale Netze auf.“ Kinder wissen mehr, als Erwachsene sich vorstellen. Ihr Spiel im Kleinkindalter, eine Mischung aus Nachahmung der Erwachsenen und eigenem Entdecken der Welt, ist ein einziges Forschungsvorhaben, bei dem sie auf ihre Weise die Welt begreifen. Sie lernen ihre Umgebung recht gut kennen, wenn sie auf dem Boden krabbelnd bei ihren Forschungen alles mit ihrem Tastsinn erkunden. Sie berühren fast alles, was sie interessiert oder stecken es in den Mund, um über das eigene Fühlen einen Bezug zum Gegenstand zu bekommen. Mit ihrer Gestaltung von Lauten erfinden sie Sprache und gleichen sie solange an, bis wir sie verstehen. Die Kinder stellen stets die Fragen an die Welt, die für sie angemessen sind. Zu Beginn des Lebens wird ein Überschuss synaptischer Kontakte hergestellt, doch nur solche, die gebraucht werden, bleiben erhalten und bilden die Grundlage für die Entwicklung der Intelligenz. Zeitliche Entwicklungsfenster bedingen die Entwicklung neuronaler Netze. Sind diese Entwicklungsfenster offen, kann sehr viel mehr gelernt werden als in späteren Jahren. Eltern und Erzieher müssen darauf achten, diese Möglichkeiten wahrzunehmen (sie sind zeitlich bei jedem Kind unterschiedlich). Sie müssen vor allem das Kind 40 vor allem das Kind spüren lassen, dass sie an seinen Entdeckungstouren interessiert sind. schung ist notwendig, um die behaupteten Wirkungen auch nachzuweisen. Kinder brauchen Anregungen und Erwachsene, die ihnen etwas zutrauen. Zutrauen ist der wichtigste Beitrag, das Kinder Spaß und Freude an neuen Erfahrungen haben. Das bezieht sich auf Erwachsene in der unmittelbaren Umgebung der Kinder, aber auch auf die Politik. Sie müssen dafür sorgen, dass Kinder Frei- und Spielräume haben im wörtlichen wie im übertragenen Sinne, um sich mit den Themen auseinander zu setzen, die sie ihrem Alter und ihrer Entwicklung nach interessieren. Die Aufgabe der Erwachsenen ist es, dafür Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen selbst bestimmte Lernprozesse ihren Platz haben. Das ist bei der gegenwärtigen Finanzdiskussion eine große Herausforderung, aber sie ist zu lösen. Praktische Konsequenzen Die Erkenntnisse der Hirnforschung wie auch die Ergebnisse von Brian Sutton Smith haben Einfluss auf die spielpädagogische praktische Arbeit. Sie helfen, das pädagogische Handeln unter ihren Aspekten zu betrachten und beeinflussen so das angemessene Verhalten um Kinder früh zu fördern. Auch die Kulturministerkonferenz hat am 3./4.6. 2004 pädagogische Grundprinzipien beschlossen: Lernangebote sind so zu gestalten, dass sie bei den Kindern Lust und Freude am Lernen wecken und den kindlichen Forschungsdrang erweitern und unterstützen. Das Vorschulalter ist für die Förderung von Intelligenz und Kreativität hervorragend geeignet. Weitere Forschung ist notwendig, um den Zusammenhang von Spiel und kindlicher Intelligenz zu untersuchen. Vor allem die langfristige Wirkungsfor- Die praktischen Konsequenzen beziehen sich auf folgende Gesichtspunkte: Eltern spielen Kinder lernen Eltern sind bei der Frühförderung neben den Kindergärten mit die wichtigsten Förderer. Sie sind die Bezugsgruppe, in der das Kind die ersten sozialen Erfahrungen macht und in der es seine erste Grundstrukturierung erfährt. Angefangen von der Nahrungsaufnahme bis hin zum Sprachen lernen wird das Kind durch seine Familienmitglieder begleitet. Kinder sind spielfreudiger, wenn Erwachsene mitspielen oder zumindest ihre Aufmerksamkeit auf das Spiel lenken, wenn das Kind das fordert. Der soziale Bezug der Erwachsenen im Spiel ist ein wichtiger Motivationsfaktor. In den ersten Lebensjahren lernen die Kinder Muster der Kommunikation wie die Erfüllung von Erwartungen der Eltern, sozialen Austausch usw. Darauf folgen in den ersten Phantasiespielen der Kinder die Nutzung von Symbolen. Ein Stock wird eine Peitsche, ein Tuch wird ein fliegender Teppich usw. Wenn Eltern mitspielen und das Symbolspiel verstärken oder zusätzlich mit dem Kind auf der Metaebene verhandeln, welcher Gegenstand für was stehen soll, wird sehr viel zur kulturellen Intelligenz 41 beigetragen: Die sprachliche Einigung, ob das zur Rolle passt oder nicht und wie das passend gemacht werden kann durch gemeinsame Verabredung führt zur Konstruktion von Wirklichkeiten und zur Entwicklung von einem eigenen Verständnis von Welt. Dieses Konstruieren von Wirklichkeiten und das Verabreden von sozialen Regeln ist ein Verhalten, welche das Kind das ganze Leben lang begleiten wird in Politik, Wissenschaft und Kunst. Das Spielen mit Worten, Rollen, Inhalten wird gefördert durch die intensive spielerische Beschäftigung mit Bildern und Büchern, auch dies trägt zu einem Verständnis von Welt bei und ist für das spätere Weiterkommen in der Schule von hoher Bedeutung. Oftmals sind sich die Bezugspersonen der Kinder ihrer Rolle als wichtige Lernbegleiter nicht bewusst und lassen Zeit verstreichen, ohne die intensiven Phasen, in denen individuelle Lernfenster(Singer) gerade geöffnet sind, bewusst zu nutzen. Die fördernden Funktionen von gemeinsamen Spielen von Erwachsenen und Kindern werden vielfach nicht wahrgenommen. Den Spielbedürfnissen der Kinder steht oft ein Widerstand der Eltern entgegen: Kinder wollen um zu lernen auch mit Erwachsenen spielen. Diese haben aber oft wenig oder gar keine Zeit. Sie überhäufen das Kind mit Spielsachen, anstelle als Spiel- und Lernpartner zur Verfügung zu stehen. Kinder wollen auch viel ausprobieren und kreativ sein und Objekte des Alltags neu arrangieren – da ist oft der Ordnungssinn der Eltern ein Hemmnis. Viele Personen wachsen in die Elternrolle hinein, ohne genügend Informationen über spielerische ElternKind-Interaktionen zu kennen oder auch nur Spiele zu kennen, mit denen sie mit ihren Kindern in Beziehung treten können. Oftmals sind es auch kulturelle und soziale Hintergründe, die zu einer Geringschätzung und dadurch zu einer Vernachlässigung des Spielens führen. Spielpädagogen haben hier eine wichtige Aufgabe, indem sie die Eltern auf die Bedeutung des Spiels und Lernens gerade in diesem Alter aufmerksam machen. Sie können mit den Eltern gemeinsam Spielaktionen planen und durchführen und dabei die Eltern schulen im miteinander spielen. Dadurch wird Spiel- und Lernfreude in der ganzen Familie geweckt und das Spiel bekommt einen entsprechenden Stellenwert. Auswahl von Spielmitteln Kinder spielen heute zu Hause überwiegend mit Spielwaren, die ein Abbild der Wirklichkeit sind: Die Welt in Klein wird durch Spielwaren dargestellt, Der Bauernhof, der Zoo, die Garage, usw. Kinder ahmen im Umgang mit diesen Spielsachen die Welt der Erwachsenen nach oder verändern sie auch nach ihren Möglichkeiten, die Spielwaren dienen dazu sich die Umwelt anzueignen, sie zu begreifen und sie auch selber zu gestalten. Neben diesen gekauften Spielwaren gibt es 42 aber viel Zeug zum Spielen, das sie gerne verwenden: Steine auf der Straße, Äste vom Baum, eine Pfütze, die der Regen gemacht hat, zum Hineinspringen und Spritzen usw. te sein, kurz später ein Degen oder ein Totempfahl. Spielmaterial leistet variable Dienste und engt nicht die Phantasie ein wie perfekt gestaltete Spielwaren. Beides, die gekauften Spielsachen wie auch das gefundene Spielmaterial haben für das Kind die Funktion, sich die Umwelt anzueignen. Es hilft dem Kind, in die Realität hinein zu wachsen. Das Kind nutzt das Spielzeug, um die innere Welt der Fantasie und Gefühle zum Ausdruck zu bringen oder die Forderungen und Erwartungen, denen es von außen ausgesetzt ist, zu bearbeiten. Je vielseitiger das Spielmaterial ist, desto mehr kann das Kind mit dem Material forschend entdecken und Abbilder der Realität kombinieren und desto besser wird seine kreative Intelligenz gefördert. Spielzeug als Abbild der Realität hilft Kindern, Funktionszusammenhänge zu erkennen und mit ihren Mitteln das Leben der Erwachsenen und der Kinder in Miniatur nach zu spielen. Spielmaterial, das man findet und kein direktes Abbild der Realität ist, hat den Vorteil, das man es so einsetzen kann, wie es für das eigene Spiel nützlich ist. Ein Stock kann eine Reitger- Für Kinder ist beides – das perfekte und das gefundene Material ein Spielmittel, je nach Spiel mal besser oder schlechter geeignet. Sie wissen, das jeder Gegenstand je nach Situation Mittel zum Spiel sein kann. Sie verbinden oft beides miteinander und kommen zu einem anregenden Spiel. Um Spielmittel zur Förderung der Kinder einzusetzen, muss das Material diesen Kriterien entsprechen: variabel und vielseitig verwendbar, veränderbar und gestaltbar, unterschiedlich beschaffen, zugänglich und verfügbar, ohne versteckte Gefahren. Mit Phantasie und Kreativität wird etwas zum Spielobjekt, was eine klar umrissene – andere – Funktion hat. Ein Kind nimmt einen Stecken, haut damit ein paar Mal auf sein Mountain Bike und ruft „Hüh, hüh!“. Das Fahrrad wird sein Pferd, das Kind selbst zum Jockey und der Gehweg, auf dem es fährt, ist jetzt die Rennbahn. Sich dieses „Als-ob“ auszudenken, ist eine große kreative Leistung, die es ermöglicht, die Umwelt und die Dinge aus ihrem gewohnten Zusammenhang zu nehmen und spielerisch etwas Neues entstehen zu lassen. Wenn andere Kinder in die Rollen mit einsteigen, manche zu Jockeys werden und andere die Pferdewetten setzen, ist ein gelungenes Spiel am Laufen. Für die Spieler und Spielerinnen entsteht eine eigene Realität. Die Fähigkeit für diese Phantasieleistung haben Erwachsene häufig verloren. Dadurch geht uns ein wichtiger Erfahrungsraum verloren: Phantasie als gestaltendes Element eines wünschenswerten Lebens. 43 Wenn man an diesem Punkt angelangt ist, stellt sich die Frage, welchen Einfluss das selber Herstellen von Spielmaterial auf die Entwicklung der kulturellen Intelligenz für Kinder hat. Wenn Kinder selber mit Erwachsenen unspezifisches Material zum Spielzeug gestalten, wird sehr viel gelernt. Sie verbessern ihr gestalterisches Geschick und ihr Können. Es wird die Fantasie geweckt und handwerkliches Geschick entwickelt. Im Herstellungsprozess sind Entscheidungen zu treffen und Verabredungen einzuhalten. Es muss entworfen und geplant und das Material besorgt werden. Beim Herstellen von eigenem Spielzeug kann sehr viel gelernt werden von Kind zu Kind, von Kind zu Erwachsenen aber auch vom Erwachsenen zum Kind. Allerdings geht es nicht darum, jetzt nur noch selbst gebasteltes Spielzeug gegenüber gekauften Spielwaren vorzuziehen. Wichtig ist ganz im Sinne des ökologischen Ansatzes von Sutton Smith oder der Hirnforschung von Singer zu prüfen, inwieweit ausreichend Anregungsmög- lichkeiten durch die Spielmittel zur Verfügung stehen, die Kinder für ihr Spiel jetzt gerade brauchen. Sie werden kreative Verbindungen zwischen Spielwaren und eigenen selbst hergestellten Spielsachen oder gefundenem Material herstellen und für ihr Spiel nutzen. Umwelt als Spiel- und Lernraum Spielen kann man fast überall, das zeigen die Kinder täglich. Sie erobern sich alle nur denkbaren Orte für das Spiel, wenn man sie nur lässt. Überall finden sie etwas, was sie zum Spielen herausfordert, die Pflaster auf den Wegen und Straßen, der Bordstein, das Geländer am Hauseingang, die Abfriedung um einen Alleebaum. Die Abfriedung wird zur Balancierstange, das Geländer zur Rutschbahn, das Pflaster zum Feld für das Kästchenhüpfen, die Mauer oder das Kunstwerk zum Kletterobjekt, der Bordstein dient zum Hinauf- und Herunterhüpfen. Die Kinder vereinnahmen Räume und zweckentfremden diese für ihr Spiel. Kinder wollen ihre Spieltätigkeit nicht auf einen Ort, den Spielplatz reduzieren lassen. Für sie ist die Wohngegend, die Umgebung, die ganze Stadt Streifund Spielraum. Die Wege sind Wege zum Spielen, nicht Zwischenräume zwischen den Spielorten Wohnung und Spielplatz. Für Kinder ist es wichtig, draußen herumzustreifen und neugierig durch die Welt gehen: immer aufnahmebereit, mit der Lust, etwas zu entdecken oder andere zu treffen, mit denen sie vielleicht ein Spiel eingehen können. Für kleine Kinder ist das zuerst einmal das Zimmer, die Wohnung, dann kommt der Garten und später dann der Speicher und der Keller, die sie sich selber erobern. Gemeinsam mit den Eltern erkunden sie die nähere Umgebung, den Spielplatz, den Gehweg, die Läden usw. Sie erweitern sich ihren Radius von Jahr zu Jahr, zuerst in Begleitung der Eltern und Geschwister, später dann alleine oder mit den gleichaltrigen Freunden. 44 In seiner Freiburger Kinderstudie untersuchte Baldo Blinkert die gegenwärtige Situation von Kindern in der Stadt. Er weist darin auf den Zusammenhang von Aktionsraumqualität im Wohnumfeld und die selbstständigen Spielaktivitäten der Kinder im Freien hin. „Für eine große Zahl von Kindern – vor allem für Kinder, die in Städten leben – lässt sich der Verlust von Aktionsräumen beobachten. Die Möglichkeiten zum spontanen und unbeaufsichtigten Spielen draußen und in unmittelbarer Wohnnähe werden für viele Kinder immer ungünstiger.“ (Blinkert, Baldo: Aktionsräume von Kindern in der Stadt, Pfaffenweiler 1993, S.7) „Damit man von einem Aktionsraum für Kinder sprechen kann – also einem Raum, mit dem Kinder etwas anfangen können – müssen vier Bedingungen verbunden sein: 1. der Raum muss für Kinder zugänglich sein, 2. der Raum muss frei von Gefahren sein, es muss sich um ein gefahrloses Territorium handeln 3. der Raum muss gestaltbar sein 4. für diesen Raum muss eine Chance bestehen, Spielkameraden anzutreffen.“ (s.o., S.10) Kinder spielen draußen, trotz der schlechteren Bedingungen. Sie suchen sich Orte, an denen sie spielen können. Diese finden sie heute auf Spielplätzen, in Eingangsbereichen der Wohnungen und zum Teil auch auf den Gehwegen. Das notwendige Interesse der jüngeren Kinder, ganz nahe bei der eigenen Wohnung zu spielen, fordert dazu heraus, sich für Spielräume in der Wohnumgebung einzusetzen. Leider wird auch hier die Toleranz der Erwachsenen zunehmend geringer und die Spielmöglichkeiten damit eingeschränkt, obwohl hier ein idealtypischer Aktionsraum sein könnte. Eltern müssen unterstützt werden, sich für ihre Interessen und die ihrer Kinder einzusetzen. Eine vordringliche Frage für Kinder in der Stadt und ihre Eltern ist: Welche Anregungen bietet die Stadt, welche Spiel- möglichkeiten gibt es – und wo sind die vermuteten Gefahren, worin bestehen sie, wie kann man sie vermeiden? In einer kinderfreundlichen Stadt sollen überall Bereiche, Räume, Plätze für das Spielen der Kinder entstehen: in Hinterhöfen, Vorgärten, Kellern und auf Gehwegen usw. Dies erfordert allerdings eine große Bereitschaft von Erwachsenen, Kindern diese Orte einzuräumen. Kinder wissen, dass die ganze Spielumwelt eine Abenteuerlandschaft ist und Erwachsene können sie dabei unterstützen. dabei, :Kinder lernen hier, dass es unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse gibt und das es für einen Konflikt unterschiedliche Lösungen geben kann. Spielen ist wichtig; es ist kein Zeitvertreib, sondern durchaus nützlich für die Spielenden. Darum sollen sie dafür auch Raum erhalten, nicht nur im privaten, sondern auch im öffentlichen Raum. Umwelt ist Spiel- und Lernraum; Menschen – Kinder wie Erwachsene – prägen diesen Raum und werden ihrerseits von ihm geprägt. 45 Phantasie braucht Räume: im wörtlichen und übertragenen Sinne. Dazu ist es notwendig, dass sie bestimmten Kriterien genügen: Räume, die nicht für eine einseitige Nutzung verplant sind. Flächen, die zugänglich und gestaltbar sind. Akzeptanz von spontanem, intuitivem Verhalten. Fördern von Neugier. Mehr Zeit zum Spielen. Fortbildungsbedarf Die neuen Erkenntnisse der Hirnforschung, der Ökologie des Spiels sowie der Spielpädagogik haben ihren Einfluss auf die spielpädagogischen Fortbildungen im Fachbereich. Wenn die ersten Lebensjahre für das Lernen der Kinder so wichtig sind wie die Forschungen zeigen, hat das natürlich auch Einfluss auf die Fortbildungsangebote für das erzieherische Personal. Sie müssen lernen, für diese Altersstufe förderliche Umwelt zu gestalten und eine Spielumgebung bieten, die den Forscher- und Entdeckerdrang der Kinder fördert und ihnen hilft, das, was sie erlebt und erfahren haben, zu verbalisieren und zu kommunizieren. Kinder brauchen eine Umgebung, die genügend Anregungen und Spielräume für das Spiel alleine oder in Gruppen bietet sowie Erwachsene, die auf das Spiel der Kinder vertrauen und nur bei Bedarf als Spielpartner eingreifen oder mitspielen oder den Kindern neue Spielformen und Ideen vermitteln, die sich ihnen alleine noch nicht erschlossen haben. Gerade für Erzieherinnen im Kindergarten oder in der Kinderkrippe ist es wichtig, die theoretischen Hintergründe kennen zu lernen und daraus Schlüsse für den Methodeneinsatz zu ziehen. Sie müssen vor allem ihre spielerischen Kompetenzen – im Sinne: Spiel ist die kulturelle Äußerung, mit der sich das Kind die Welt erschließt- wie auch ihre kommunikativen Kompetenzen erweitern. Bei diesen Überlegungen ist es vor allem wichtig, Spiel als Methode mit seinen bildenden erzieherischen Wirkungen zu erkennen und diese Wirkungen zu beobachten, zu beschreiben. Erkenntnisse zu gewinnen und Schlüsse daraus zu ziehen. Spielpädagogen müssen sich ihrer Methoden klar bewusst sein und ihre Spieleinheiten, aber auch ihre didaktischen Spielräume genau planen und die Inhalte und Methoden so auswählen, dass sie das beabsichtigte Ziel ansteuern. Für Spielpädagogen ist die bewusste absichtsvolle Auswahl und der Einsatz von Methoden eine zentrale Kompetenz insbesondere bei der Frühförderung.. Die Wirkungen und der bewusste Einsatz von Methoden, um eine Bildungsabsicht zu verfolgen steht dabei vorrangig vor den situativen, aus dem eigenen Erfahrungsschatz schöpfenden Spielangeboten. Es geht darum, ein Curriculum zu entwickeln für den bewussten Einsatz in Spielgruppen, Spielaktionen und Spielräumen. Die Bildungsleistung von spielerischen Methoden kann darauf aufbauend untersucht und dokumentiert werden. 46 Ein Beispiel aus der Ausbildungspraxis verdeutlicht, wie die Methodenlehre der Akademie Remscheid in die konkrete Praxis vor Ort wirkt. Die Fortbildung Heureka Werkstatt in Remscheid Dieser Kurs wurde zusammen mit Roland Oesker, Fachbereich Werkpädagogik entwickelt und durchgeführt. Eine Woche lang war der spielerische Zugang zu der Welt der Phänomene das Thema für die Teilnehmer: Experimentieren, Entdecken, Suchen, Begreifen Verstehen, Werken und Bauen in einem animativen Rahmen. Sie sollten lernen, einen Spielund Erlebnisraum mit Materialien, nachvollziehbaren Experimenten und Spielformen so zu gestalten, dass das Interesse von Kindern an der Entdeckung von Phänomenen geweckt und gezielt gefördert werden kann. Die vorgestellten Methoden dienten dazu, einen spielerischen und praktischen Zugang zur Welt der Phänomene und ihrer Erklärungen zu öffnen. Ziel der Heureka Werkstatt war es, dass die TeilnehmerInnen Situationen schaffen lernen, in denen sich die Kinder die Welt und ihre Phänomene und die dahinter liegenden Gesetzmäßigkeiten selber erklären können. Die Kinder werden durch den pädagogischen Rahmen zum Forschen angeregt und somit in die Lage versetzt, zu forschen, indem sie Vermutungen aufstellen, warum etwas so funktioniert wie sie es gerade erlebt haben. Ihre Erfahrung fassen sie in eigene Worte um sie den anderen Kindern zu erklären. Dabei lernen sie neben den naturwissenschaftlichen und handwerklichen Phänomenen auch noch das Verbalisieren, Weitervermitteln und Präsentieren. Der Kurs wurde in der Fachpresse vorgestellt und hat zu zahlreichen Kontakten und Projekten der TeilnehmerInnen geführt. Die Umsetzung in einem Kindergarten in München Um Kindern erste physikalische Gesetzmäßigkeiten spielerisch erfahr- und erlebbar zu machen, besuchte ein Team aus drei Spielpädagoginnen 2004 zehn Münchner Kindergärten. Zielgruppe des zweistündigen Projektes waren Kindergartenkinder im Alter von vier bis sechs Jahren. In drei Kleingruppen lernten sie physikalische Gesetzmäßigkeiten der Reibung, der Fliehkraft und des Gleichgewichts am eigenen Körper kennen. Die Kinder lernten durch spielerisches Experimentieren, durch Ausprobieren, durch Versuch und Irrtum und durch das gemeinsame Gespräch, Erklärungen für Phänomene und Gesetzmäßigkeiten zu finden. Nach einem einführenden Gespräch über die Tätigkeit von Forschern wurden die Kinder in drei Gruppen aufgeteilt. Sie untersuchten Rutschen, Wippen- und Karussells. Die Gruppen fanden sich an ihren jeweiligen Stationen mit einer Betreuerin zusammen und füllten Forscherausweise aus, um in die Rolle von Forschern zu schlüpfen. Gruppe A: Die Rutsche Die Kinder untersuchten die Reibung verschiedener Materialien auf einer Rutsche und einem schrägen Brett, indem sie 47 selbst auf Teppichresten, AntiRutsch-Matten etc. rutschten oder verschiedene Gegenstände rutschen ließen. Sie fanden heraus, dass ein mit Schleifpapier beklebter Würfel langsamer glitt als einer mit Plastikfolie, weil Schleifpapier rau und Folie glatt ist. Auch stellten sie fest, dass eine leere Dose schneller rollt als eine, in der Steine liegen. Die Kinder erfanden auch eigene Experimente: Rutscht der Stoff besser, wenn ich einen oder wenn ich zwei Ziegelsteine darauf lege? Wie rollen mit Sand oder Stöckchen gefüllte Dosen? Wie rollen Zapfen? Kann man auf einer mit Sand gefüllten Plastiktüte tatsächlich schneller rutschen als auf einer leeren? Wie rollen Dosen über eine aus Sand gebaute Schanze? Gruppe B: Die Wippe Wie schaffen es die Kinder, die auf der Wippe sitzende Erzieherin in die Höhe zu bekommen? Was können zwei oder auch vier auf einer Wippe sitzende Kinder tun, damit der jeweils andere oben ist; wie können sie sich „schwerer“ machen? Wie bringen acht Kinder die Wippe ins Gleichgewicht? Durch Vor- und Zurückrutschen, sich weit nach hinten lehnen oder weitere Kinder dazu setzen lösten die Kinder die Aufgaben und lernten auf diese Weise Gleichgewicht und Hebelwirkung kennen. Sie vertieften diese Erkenntnisse, indem sie selbst aus Brettern und Rundhölzern Wippen bauten und diese ausprobierten. Später sollten die Wippen durch unterschiedlich große Holzklötze ins Gleichgewicht gebracht werden. Ein Teil der Kinder schaffte es, Vorhersagen zu treffen wie „Wenn ich diesen Klotz da hin lege, geht die Wippe nach unten oder bleibt im Gleichgewicht.“ Die Kinder probierten aus, auf welche Weise sie mit den Wippen Schachteln in die Höhe schleudern konnten und was am höchsten fliegt. Kräftiges Springen auf das eine Brettende ließ die mit Steinen gefüllten Kartons meterhoch in die Luft fliegen. Die Kinder bastelten mit Holzmundspateln kleine Wippen als Modelle. Als Dreh- punkt diente ein dreieckiges Holzstück, um Filmdosen in die Höhe schleudern. Gruppe C: Das Karussell Auf einer Drehscheibe und einem Drehstuhl ließen sich die Kinder drehen. Sie erlebten, dass man sich mit ausgebreiteten Armen langsamer dreht als mit angezogenen Armen. Auch eine kleine Drehscheibe, auf die verschiedene Klötze gelegt wurden, verdeutlichte die Fliehkraft. Beim Experimentieren fanden die Kinder heraus, welche Dinge aus welchen Gründen schneller herunterfallen als andere. Es hing davon ab, ob sie am Rand der Scheibe oder in der Mitte standen, ob sie eine raue oder glatte Oberfläche hatten und wie schnell die Scheibe drehte. Außerdem zeigte sich, dass hohe Dinge schnell umfallen. Es gab jedoch auch Kinder, die sich wenig für Erklärungen interessierten, sondern sich mehr für möglichst weit von der Scheibe fliegende Gegenstände begeisterten. Abschließend gestalteten sie sehr schöne Bilder, indem sie 48 flüssige Farben auf ein sich drehendes Papier aufbrachten und beobachteten, wie die Farben nach außen liefen und sich vermischten. Zum Abschluss der zwei Stunden trafen sich alle Forscher wieder und präsentierten ihre Ergebnisse und ihre Erkenntnisse. Wie dieses Beispiel anschaulich zeigt, wird hier ein Lernweg mittels des Spiels beschritten, der von eigenen Versuchen und Wahrnehmungen ausgeht, die strukturiert durch das spielpädagogische Personal mit vergangenen Wahrnehmungen verglichen und mit den in der Alterstufe vorhandenen Mitteln des Denkens erklärt und vorgestellt werden. Es unterscheidet sich vom Lernen, das von Erfahrungen ausgeht, die von anderen gemacht wurden und deren Ergebnis dem Kind in Büchern oder in einem Vortrag erklärt werden. Das ist Wissen aus zweiter Hand und bleibt nicht so stark in der Persönlichkeit des Kindes verwurzelt wie das selber Erfahren und sich selber seine Welt deuten können mit allen Veränderungen. Literatur: Blinkert, Baldo: Aktionsräume von Kindern in der Stadt, Pfaffenweiler 1993. Fritz, Jürgen: Einführung in die Spielpädagogik, Weinheim München 1993. Schnabel, Ulrich: Knetmasse der Kultur. In: die Zeit, Nr. 7, 20.2.2005.