Pedale und Liebe

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Radfahren
Pedale und Liebe
Während der Giro d’Italia zu Gast ist, feiern
die Piemontesen eine Party in Pink. Und
Angelo Fausto Coppi gedenkt seines Vaters.
Eine Reise in die Heimat der Radlegenden
Text: Kati Thielitz
Fotos: Olaf
Unverzart
A
uf der Straße in Cervere stehen Absperrgitter wie die
Kulissen eines Theaters. Vincenzo Graglia stapft aus der
Haustür zum Rasen seines Vorgartens. Über seinem
Bauch spannt sich ein rosa Trikot. „Diesen Tag werde ich nie vergessen“, verkündet der Mann. Unter seinem weißen Schopf
leuchten zwei Augen wie die eines Kindes. Ein Dutzend Freunde
hat Graglia eingeladen, denn sein Vorgarten wird heute zur Königsloge. Direkt vor seinem Haus sprinten gleich die Radprofis
vorbei: Ivan Basso zum Beispiel und Michele Scarponi, die heimischen Favoriten beim Giro d’Italia 2012. Vincenzo Graglia
späht die Straße hinunter und tritt nervös von einem Fuß auf den
anderen. Aus dem Dorf wehen Worte aus Lautsprechern herüber:
„Emozionante! Fantastico! Spettacolare!“
Cervere liegt im Nordosten der Provinz Cuneo und hat 2200
Einwohner. Heute ist es als eines von 21 Etappenzielen des Giro
he­raus­geputzt. Im Brunnen vor dem Rathaus plätschert rosa gefärbtes Wasser, rosa Luftballons und Tüll schmücken die Häuser,
die Blumenkübel sind rosa bepflanzt. Als hätten Barbie und der
Pink Panther gemeinsam dekoriert. Die „Gazzetta dello Sport“,
die Sportzeitung, die täglich auf rosafarbenem Papier erscheint,
organisierte 1909 die erste Italienrundfahrt. Ihre Farbe blieb dem
Rennen bis heute. Jedes Jahr im Mai, wenn der Giro drei Wochen
lang durch Italien führt, tragen die Orte ein rosafarbenes Kleid.
Während Vincenzo Graglia schon auf die Radprofis wartet,
schaut sich 120 Kilometer entfernt ein Mann diese Etappe noch
im Fernsehen an. Angelo Fausto Coppi ist 57 Jahre alt, und genauso lang lebt er in der Villa Coppi am Rand der Kleinstadt Novi
Ligure. Die Piemontesen kennen das mohnblumenrote
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Auf die Plätze: Unmittelbar vor dem Etappenstart auf der zentralen Piazza
von Cherasco sind die Profis konzentriert und angespannt
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Vorfeld: Bevor die Profis durch den Ort hetzen, tummelt sich der
Radsportnachwuchs auf dem Kopfsteinpflaster von Cervere
Anwesen, viele standen schon davor. Denn hier wohnte Angelos
Vater Faus­to Coppi, in den Vierziger- und Fünfzigerjahren der
berühmteste Radrennfahrer der Welt. Jetzt lebt Angelo Fausto
Coppi mit Ehefrau Rita und den zwei Kindern in den 18 Zimmern. Das braune Haar ist seitlich gescheitelt, auch in der hochgewachsenen Statur ähnelt er dem Vater. „Italien ist das Land des
Radrennsports, aber im Piemont ist dieser Sport eine Kultur“,
sagt er, als er im Wohnzimmer vor den angelaufenen Medaillen
und den polierten Pokalen steht. Es ist das Familiensilber.
Er selbst arbeitet als Planer in einem Bauunternehmen und
radelt nur zum Vergnügen. Bisweilen macht er mit seinen Kindern eine Tour. Denn neben Giro-Strecken finden sich im südlichen Piemont auch viele familientaugliche Wege. Vorbei an
Weinhängen, Apfelbäumen und Haselnussplantagen fahren die
Coppis dann durch das weite Hügelland der Langhe östlich des
Flusses Tanaro, oder sie erkunden die Sandsteinfelsen und
Burgen im Roero. Der elfjährige Andrea rast voraus, Tochter
Giulia, 14, mag es wie ihr Vater gemütlich. Der Radsport ist hier
zwar großes Theater, aber nicht jeder muss auf der Bühne stehen.
Laura Surra steht gern daneben. „Ein Traum aus Kindertagen
wird wahr“, sagt die Chefin eines Autohauses. Ihr Heim in Cervere ist am Giro-Tag offen für jeden. Mit rosa Bändern umwickelt, steht es wie ein riesiges Geschenk an der Ziellinie. Am Büfett kämpfen Leute um Nudelsalat und Pasteten. Sie wolle, sagt
Surra, ihre Dankbarkeit zeigen, denn so ein Weltereignis habe es
Taktvoll: Die Blaskapelle von Cherasco wird den
Radsportzirkus musikalisch begleiten
Baum in Pink: Auch am Marktplatz von
Cervere hinterlässt der Giro grelle Spuren
Foto:
Früh übt sich: Ein junger Zuschauer fährt zur Strecke,
Cerveres Grundschüler grüßen per Transparent
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in Cervere noch nie gegeben. Radsport ist ein Thema, das aus
Fremden Gleichgesinnte macht. Das Gespräch dreht sich, mal
wieder, um den Giro von 1949, als Fausto Coppi ein legendärer
Triumph über seinen Widersacher Gino Bartali gelang.
Von der Provinzhauptstadt Cuneo aus, 40 Kilometer südwestlich von Cervere, überquerte Coppi damals im Alleingang fünf
Gebirgspässe, ehe er in Pinerolo mit fast zwölf Minuten Vorsprung vor Bartali eintraf. Coppi, ob seiner gekrümmten Fahrhaltung Reiher genannt, gewann später auch die Gesamtwertung. Und noch im selben Jahr die Tour de France. Das Double,
den Sieg bei den beiden wichtigsten Radrennen weltweit, hatte
vor ihm noch keiner geschafft. Ein Mythos war geboren. Ebenso
die zwei Lager, in die sich Italien fortan spalten sollte: Die Coppisten himmelten den verwegenen Künstler aus dem Piemont an,
die Bartalisten hingegen den frommeren, asketisch lebenden
Florentiner. Bis heute werden beide Rivalen wie Heilige verehrt.
Vincenzo Graglia und seine Kumpels lehnen am Zaun, auf
dem Bürgersteig gegenüber drängeln sich die Menschen. Kameramänner auf Kränen gehen in Position, ein Kleinflugzeug malt
Kreise in den Himmel. Dann rollt ein buntes Knäuel aus Radfahrern durch Cervere, vorbei an Vincenzo Graglias Vorgarten,
vorbei an Laura Surras Büfett, schnell wie ein Hornissenschwarm
bis über die Ziellinie. Es folgen Champagnerduschen und Frauen
mit Schärpe, die Küsschen auf die Wangen der Erstplatzierten
schmatzen. Noch während die Bilder der Siegerehrung in mehr
als 150 Ländern verbreitet werden, montieren Arbeiter die Tribünen, Verkaufsstände und Leinwände ab. Die Giro-Requisiten
sind eine große Modellbauwelt, die in der Nacht zehn Kilometer
weiter nordöstlich neu auferstehen muss.
Und zwar in Cherasco. Die Schachbrettstadt aus Geraden und
rechten Winkeln, die sich auf einem Plateau über dem Tanarotal
erhebt, fiebert dem Etappenstart entgegen. Fahnenschwinger
ziehen durch die Straßen, Schützen mit Hahnenfederbusch am
Helm radeln auf historischen Rädern. Angelo Fausto Coppi hat
sich heute freigenommen, doch an einem Tag wie diesem ist er
von Beruf Sohn. Und somit im Einsatz. Die Leute grüßen, das
Gesicht erkennen fast alle. Coppi winkt, während er sich über die
Via Vittorio Emanuele zwängt. Der Einzug der Gladiatoren ist
schon im Gange, zwischen Absperrgittern fahren die Profis im
Schritttempo durch die Menge. Bei Ivan Basso, dem zweimaligen
Giro-Sieger, klatschen Kinder und Greise, und sie klopfen ihm
auf die Schulter und zupfen an seinem Trikot. Basso schüttelt artig Hände und schreibt Autogramme. Ein Held nimmt sich Zeit
für seine Anhänger. Fausto Coppi, der Überheld, hat es 1948
auch so gemacht, als er Angelo Faustos Mutter in Varese traf.
Für ein Autogramm stürmte Giulia Occhini bis vor Coppis
Hotelzimmer. Die beiden, anderweitig verheiratet, verliebten sich
ineinander. 1954 gelangte ihr Verhältnis in die Presse – ein Skan>
dal. Der Papst weigerte sich prompt, den Giro zu segnen.
Bild mit Dame, Bild mit Fahne: Fahrer
wie Michele Scarponi (links) posieren gern
mit Fans. Cherascos Bürgermeister Claudio
Bogetti (oben) trägt heute eine rosa Krawatte
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Occhini musste wegen Ehebruch ins Gefängnis, Coppi wurde vorübergehend der Pass entzogen. 1955 heiratete das Paar in Mexiko, im Mai kam Angelo Fausto in Argentinien zur Welt. Nur so
konnte er den Namen seines Vaters tragen. In Italien galten zu jener Zeit zweiteilige Badeanzüge noch als sündiges Delikt.
Ein halbes Jahrhundert später ist die Sittenstrenge nicht mehr
dieselbe. Mädchen tanzen mit Pompons auf der Piazza, die Radrennfahrer stauen sich am Start. Konzentriert blicken alle auf die
Startflagge und warten, dass Cherascos Bürgermeister Claudio
Bogetti sie senkt. Bis eben hat er noch Interviews gegeben und
sehr viel telefoniert. Die 40 000 Euro, die der Gemeinde das
Spektakel wert sind, haben sich gelohnt. Cherasc­o war bislang für
Schneckenzucht und Antiquitäten bekannt, aber nun hören auch
Menschen in Amerika von dem Ort, in dem an diesem Tag etwa
20 000 Menschen ihre Helden feiern.
Auch Angelo Fausto Coppi beob­achtet den Start. Für den berühmten Sohn ist die Italienrundfahrt ein Gedenkfest für den
Vater, den er nie richtig kennenlernen durfte. 1959 kehrte der
Mann, der fünfmal den Giro d’Italia und zweimal die Tour de
France gewonnen hatte, krank von einem Rennen in Obervolta
in Afrika zurück. Die Ärzte erkannten seine Malariainfektion
nicht. Als es schon zu spät war, trugen ihn Sanitäter an seinen
Pokalen vorbei die Stufen hinunter, wo der vierjährige Angelo
Fausto stand. „Sei lieb zu deiner Mama“, sagte der Vater zu ihm.
Im Krankenhaus dann musste jene Ma­ma dem Priester versprechen, sich bei einer Genesung von ihm zu trennen – sonst hätt­e
Fausto Coppi keine Sterbesakramente erhalten. Aber es kam zu
keiner Heilung mehr. Die Zeitungen schrieben: „Der große Reiher hat seine Flügel geschlossen.“
Coppi junior lächelt verlegen, als Schulkinder ihn bemerken.
Ja, es sei eine Ehre, der Sohn des großen Reihers zu sein, von dem
piemontesische Großeltern ihren Enkeln noch immer erzählen.
„Ich hätte meinen Vater gern näher kennengelernt“, sagt Angelo
Fausto Coppi und blickt Luftballons hinterher, die das Blau über
Cherasco rosafarben tupfen. In diesem Moment senkt Bürgermeister Bogetti die Flagge. Die Radfahrer preschen los.
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>> Info Radfahren ab Seite 74
Giro di Coppi: Angelo Fausto
Coppi, Sohn der italienischen
Radsportlegende, bei einer
Ausfahrt mit seinen Kindern
Andrea und Giulia
Schmale Straßen in großer
Landschaft: Ein Radfahrertrio
passiert Weinreben und
Haselnussbäume im Roero
nahe Pocapaglia
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