MEDIZIN DISKUSSION zu dem Beitrag Tourette-Syndrom und andere Tic-Störungen in Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter von Prof. Dr. med. Andrea G. Ludolph, Prof. Dr. med. Veit Roessner, Prof. Dr. med. Alexander Münchau, Prof. Dr. med. Kirsten Müller-Vahl in Heft 48/12 Ergänzungen zur Therapie Das Tourette-Syndrom gehört zwar nicht zu den häufigen Störungen, die man in der KJP sieht, aber sicherlich zu den Störungen, die schwierig zu behandeln sind und mit einem hohen Suizidrisiko verbunden sind. Ergänzen möchte ich, dass bei der Behandlung dieser komplexen Störung auch eine Kombinationstherapie verschiedener Medikamente sinnvoll sein kann. Zur Behandlung der Zwangssymptomatik ist wichtig, dass der Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) bei dieser Indikation sehr hoch dosiert wird (Fluoxetin zum Beispiel auf 60 mg) und man lange zuwartet (acht Wochen oder mehr), da sonst nicht wirklich beurteilt werden kann, ob die Medikation wirkt. Eine niedrige Dosierung oder schnelles Absetzen sind häufige Fehler. Zudem ist wichtig zu beurteilen, ob die Tic-Symptome echte Tics sind oder Zwangsverhaltensweisen im Rahmen der Zwangsstörung, da tic-ähnliche Zwänge auftreten können (zum Beispiel Naserümpfen, Augenzukneifen), die als Tics fehlinterpretiert werden. Andere Ursachen für Tics sollten unbedingt ausgeschlossen werden (direkte Drogen- oder Medikamentenwirkung beziehungsweise eine andere Grunderkrankung (zum Beispiel Chorea Huntington oder postvirale Encephalitis). Eine ausführliche somatische Diagnostik inklusive MRT (Ausschluss von Tumoren) ist sinnvoll. Neben Verhaltenstherapie und Medikation ist eine gute Psychoedukation – auch der Familie – sinnvoll. DOI: 10.3238/arztebl.2013.0285a LITERATUR 1. Ludolph AG, Roessner V, Münchau A, Müller-Vahl K: Tourette syndrome and other tic disorders in childhood, adolescence and adulthood. Dtsch Arztebl Int 2012; 109(48): 821–8. on erforderlich. Wie unbefriedigend die Evidenzbasis der psychopharmakologischen Therapie ist, wurde im Artikel dargelegt (1). Uns ist nicht bekannt, dass das Tourette-Syndrom – auch bei komorbider Depression – mit einem übermäßig hohen Suizidrisiko verbunden ist. Bei sehr schwer betroffenen Patienten können selten starke autoaggressive Handlungen vorkommen, die sich jedoch von suizidalen Handlungen unterscheiden (2). Ausdrücklich zustimmen möchten wir dem Kollegen Calia, dass die medikamentöse Behandlung von Zwängen hochdosiert und über mindestens drei Monate erfolgen muss (3). Auch ist es richtig, dass Medikamente als Ursache tic-ähnlicher Bewegungen ausgeschlossen werden müssen. Eine Abgrenzung von Zwangssymptomen ist aufgrund des typischen Verlaufs von Tics in der Regel gut möglich. Bei komplexen Tics oder dem kombinierten Auftreten von Tics und Zwängen kann die Differenzierung zuweilen schwierig sein. Ein MRT ist unserer Ansicht nach nur bei untypischem Befund indiziert (auffälligem neurologischen Untersuchungsbefund, fehlender Fluktuation der Tics, fehlendem Vorgefühl, fehlender Unterdrückbarkeit). Die Wichtigkeit einer ausführlichen Psychoedukation und Aufklärung des gesamten Umfeldes der betroffenen Kinder und Jugendlichen möchten wir ebenfalls erneut herausstellen. Solche Maßnahmen können ganz wesentlich dazu beitragen, sozialen Rückzug bis hin zur sozialen Phobie zu verhindern (4). DOI: 10.3238/arztebl.2013.0285b LITERATUR 1. Ludolph AG, Roessner V, Münchau A, Müller-Vahl K: Tourette syndrome and other tic disorders in childhood, adolescence and adulthood. Dtsch Arztebl Int 2012; 109(48): 821–8. 2. Andover MS, Morris BW, Wren A, Bruzzese ME: The co-occurrence of non-suicidal self-injury and attempted suicide among adolescents: distinguishing risk factors and psychosocial correlates. Child Adolesc Psychiatry Ment Health 2012; 30:11. 3. Roessner V, Plessen KJ, Rothenberger A, Ludolph AG, Rizzo R, Skov L, Strand G, Stern JS, Termine C, Hoekstra PJ: ESSTS Guidelines Group. European clinical guidelines for Tourette syndrome and other tic disorders. Part II: pharmacological treatment. Eur Child Adolesc Psychiatry 2011; 20:173–96. 4. Marcks BA, Berlin KS, Woods DW, Davies WH: Impact of Tourette Syndrome: a preliminary investigation of the effects of disclosure on peer perceptions and social functioning. Psychiatry 2007; 70: 59–67. Giulio Calia, Drensteinfurt, [email protected] Prof. Dr. med. Andrea Ludolph, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ulm, [email protected] Interessenkonflikt Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht. Prof. Dr. med. Veit Roessner, Prof. med. Alexander Münchau Prof. med. Kirsten Müller-Vahl Schlusswort Wir möchten nochmals betonen, dass Tic-Störungen besonders bei Kindern und Jugendlichen häufig sind (Tourette-Syndrom 1%, transiente motorische Tic-Störungen 10–15%). Eine Beeinträchtigung und somit Behandlungsbedürftigkeit ist deutlich seltener, wegen der hohen Vulnerabilität für weitere Verhaltensauffälligkeiten stellen sie aber in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis keine Seltenheit dar. Tics sind in der Regel medikamentös oder verhaltenstherapeutisch gut behandelbar. Nur bei schweren Tics oder zahlreichen Komorbiditäten ist eine Kombinationstherapie oder gar eine tiefe HirnstimulatiDeutsches Ärzteblatt | Jg. 110 | Heft 16 | 19. April 2013 Interessenkonflikt Prof. Ludolph bekam Honorare für Beratertätigkeit von der Firma Shire Pharmaceuticals. Für sie wurden Kongressgebühren und Reisekosten erstattet von der Firma Shire. Sie erhielt Vortragshonorare von den Firmen Janssen-Cilag, Medice Pharma und Lilly. Studienunterstützung wurde ihr zuteil von der Firma Novartis. Klinische Studien führt(e) sie durch mit den Firmen Janssen Cilag, Otsuka, Shire und Boehringer Ingelheim. Prof. Roessner wurde honoriert für Beratertätigkeiten und Autorentätigkeit von den Firmen Lilly, Novartis und Shire Pharmaceuticals. Er bekam Vortragshonorare von den Firmen Lilly, Novartis, Shire Pharmaceuticals und Medice Pharma. Studienunterstützung bekam er von den Firmen Shire und Novartis. Klinische Studien führt(e) er durch mit den Firmen Novartis, Shire und Otsuka. Prof. Münchau ist Mitglied im Advisory Board von Merz Pharamceuticals. Reise-, Übernachtungsund Kongresskosten wurden ihm von Merz Pharmaceuticals, Pharm Allergan und IPSEN erstattet. Honorare für die Vorbereitung von wissenschaftlichen Fortbildungsveranstaltungen erhielt er von Merz Pharmaceuticals, Pharm Allergan, IPSEN, Desitin und GSK. Honorare für die Durchführung von klinischen Auftragsstudien sowie für ein von ihm initiiertes Forschungsvorhaben erhielt er von Merz Pharmaceuticals, Pharm Allergan und IPSEN. Prof. Müller-Vahl erhielt Studienunterstützung von der Firma Lundbeck und führt(e) mit den Firmen Otsuka Pharma und Boehringer Ingelheim klinische Studien durch. 285