Selbstverletzendes Verhalten bei Jugendlichen – ein akuter psychiatrischer Notfall? 12.11.2016 Univ. Prof. Dr. Kathrin Sevecke 1 Gliederung • Das Symptom Selbstverletzung • Therapie von selbstverletzendem Verhalten 2 Gliederung • Das Symptom Selbstverletzung • Therapie von selbstverletzendem Verhalten 3 Geschichte • Kein neues Phänomen in Medizingeschichte – Erste Publikation 1938: „Man against himself“ (Menninger, 1938) – „Wrist Cutter Syndrome“: Publikationen in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts – Letztlich bis 2014 andauernde Phase von vielen uneinheitlichen Begriffen, die nebeneinander angewandt wurden und die Interpretation von Forschungsergebnissen sehr erschweren „Flagellanten“ od. „Geißler“, 13. – 14. JH 4 Selbstverletzung im Jugendalter… 5 Wo beginnt Selbstschädigung? • Eine Person nimmt ihre Bedürfnisse und Rechte nicht wahrnimmt? • Eine Person lässt sich in ihrer Entwicklung einschränken? • Eine Person lässt sich ausnutzen / vielleicht sogar misshandeln ? • Das Verhalten führt zum Zerbrechen von Beziehungen ? • Missachten von Regeln führt zu schädlichen Konsequenzen ? 6 Psychiatrische Definition • direkte, unmittelbare Schädigung des eigenen Körpers, die nicht lebensbedrohlich ist • sozial nicht akzeptiert DSM 5: Non-suicidal self-injury • A. Die Person hat sich im letzten Jahr an fünf oder mehr Tagen absichtlich selbst Schaden an der Körperoberfläche […] zugefügt, […] in der Erwartung […], dass die Verletzung nur zu geringem oder mäßigem körperlichen Schaden führt (d.h. es bestand keine suizidale Absicht). 8 Diagnosekriterien der Nicht-suizidalen Selbstverletzung NSSV (DSM-5) Kriterium B: Das Individuum unternimmt das selbstverletzende Verhalten mit einer oder mehr der folgenden Erwartungen: 1. 2. 3. Um Erleichterung von einem negativen Gefühl oder kognitiven Zustand zu bekommen Um eine interpersonelle Schwierigkeit zu lösen Um einen positiven Gefühlszustand herbeizuführen Beachte: Die erwünschte Erleichterung oder Reaktion tritt während oder kurz nach der Selbstverletzung auf und das Individuum zeigt evtl. Muster von Verhaltensweisen, die eine Abhängigkeit im Sinne eines repetitiven Auftretens nahelegen. 9 Diagnosekriterien der Nicht-suizidalen Selbstverletzung NSSV (DSM-5) Kriterium C: Die absichtliche Selbstverletzung ist mit mindestens einem der folgenden Umstände assoziiert: 1. 2. 3. Interpersonelle Schwierigkeiten oder negative Gefühle oder Gedanken, wie Depression, Angst, Anspannung, Wut, allgemeine Verzweiflung oder Selbstkritik, welche unmittelbar im Zeitraum vor dem selbstverletzenden Akt auftreten. Vor der Durchführung kommt es zu einer gedanklichen Beschäftigung mit der Handlung, die nur schwer kontrolliert werden kann. Häufiges Nachdenken über Selbstverletzung, auch wenn nicht immer danach gehandelt wird. 10 Diagnosekriterien der Nicht-suizidalen Selbstverletzung NSSV (DSM-5) Kriterium D: Das Verhalten ist sozial nicht akzeptiert (im Gegensatz zu z.B. Piercing, Tätowierungen, Teil eines religiösen oder kulturellen Rituals) und ist nicht auf das Zupfen an Schorf oder Nägel beißen beschränkt. Kriterium E: Das Verhalten oder seine Konsequenzen verursachen klinisch signifikanten Stress oder eine Beeinträchtigung in interpersonellen, akademischen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen. Kriterium F: Das Verhalten kann nicht durch andere medizinische Erkrankungen erklärt werden. 11 12 Wie häufig ist NSSV? 13 14 Epidemiologie • Systematischer Review (n=119 Studien): Daten von 1993-2012: N=231,553 • Lebenszeitprävalenz – Adoleszente: 17.2% (8.0-26.3) – Junge Erwachsene: 13.4% (4.5-22.3) – Erwachsene: 5.5% (1.7-16.3) 15 Prävalenz von NSSV • Schulsetting Schweden (Zetterquist et al. 2013): – 35,6% einmalige SV – 6,7% erfüllten die Kriterien für NSSV • KJP-Patienten 12-18 J (Glenn & Klonsky, 2013) – 50% NSSV-Kriterien – NSSV prädiktiv für Suizidgedanken & Suizidversuche • Schweiz (In-Albon et al, 2013): – Pat. mit NSSV mehr psychiatrische Diagnosen – Häufigste Komorbiditäten: Depression, PTSD, soziale Phobie • Deutschland: – 4% erfüllen Zeitkriterium A (Plener 2012) – KJP: 49,6% erfüllen Kriterien für NSSV (Kaess et al. 2013) 16 Häufigkeit • Durchschnittliche Schulklasse mit 25 Jugendlichen: – 6 werden sich bis zum Erreichen des Erwachsenenalters zumindest einmal selbst verletzen – 2-3 haben sich im vergangenen Jahr selbst verletzt – ein Jugendlicher erfüllt die Kriterien für NSSV 17 Verlauf • Insgesamt wenig Längsschnittdaten! • Faustregeln: – Einstiegsalter 12-15 a – NSSV nimmt im jungen Erwachsenenalter wieder ab – Kontinuität bei Mädchen höher als bei Jungen – Negative Prädiktoren: Vorliegen von komorbiden Störungen (Angst, Depression, Konsum), schlechte Beziehungsqualität zu Peers, Einzelgängertum – Schutzfaktoren: Peers In-Albon, 2015, Petermann 2015, Plener 2015 Plener, 2015 18 Komorbidität und Differentialdiagnostik • NSSV sowohl alleine als auch kombiniert mit anderen psychischen Störungen ? • 2 häufigsten komorbiden Störungen : – – • Depressionen (≈ 45%) Borderline-PS (≈ 45%) ? ? Andere komorbide Störungen: – – – – – soziale Angststörungen PTSD Substanzmissbrauch externalisiernde Störungen Essstörungen ? In-Albon et al. 2015, Leitlinie NSSV 2015 19 Selbstverletzung und Psychopathologie Brunner*, Kaess* et al., 2014 20 NSSV und Adoleszentenkrise • Im besten Fall: begrenztes NSSV im Rahmen einer sog. „Adoleszenzkrise“ • Adoleszenzkrise: krisenhafte Zuspitzung von adoleszenztypischen Problemen und Entwicklungsanforderungen – – – Keine psychische Erkrankung! Häufig: Ausprobieren von Substanzen, einmaliges NSSV Affektive Instabilität, Reizbarkeit • NSSV zeitlich begrenzt und nicht repetitiv • Zusammenhang mit Schule, Familie, Liebesbeziehungen • Druck rausnehmen, Verlaufskontrolle 21 NSSV und Borderline-PS • Selbstverletzendes Verhalten in den Diagnosemanualen ICD-10 und DSM-5 eines der Kriterien der BPS • Bei Jugendlichen mit BPS das am häufigsten erfüllte Diagnosekriterium • ABER: kein Automatismus! • NSSV ≠ BPS! • Nur ca. 50% der Jugendlichen mit NSSV leiden an einer BPS, gelegentlich Jugendliche mit BPS ohne NSSV • Gemeinsamkeit: dysfunktionale Emotionsregulation In-Albon, 2015; Kaess, 2013, Leitlinie NSSV 2015 22 BPD Patienten BPD (n=24; 46,2%) No BPD (n=28, 53,8%) p Dauer v. NSSV 6.5 3.5 0.001 Alter bei Beginn NSSV 13.13 14.50 0.007 Alter b. letztem NSSV 19.67 18.00 0.04 BDI Summenscore 21.09 14.21 0.05 Suizidversuch in Vorgeschichte 12 16 n.s. Zahl der Suizidversuche 3.67 2.25 n.s. Med. Behandlung 14 9 n.s. Traumat. Lebensereignis 16 20 n.s. DSM-5 NSSI Kriterien 6 (25%) 4 (14.3%) n.s. Groschwitz*, Plener* et al., 2015 23 Selbstverletzung als prospektiver Prädiktor von Suizidversuchen Koenig et al., under review n=305 (59.6%) n=38 (7.4%) n=119 (23.2%) n=50 (9.8%) 24 Leitlinie NSSV • Aufgrund der Häufigkeit und Bedeutung des Phänomens NSSV erfolgte 2015 Veröffentlichung von AWMF-Leitlinien • Kostenfreier Download unter http://www.awmf.org 25 Entstehungsbedingungen: Biopsychosoziales Modell Umwelt Verhalten Kognitionen NSSV Biologie Affekte 26 Neurobiologisches Modell von NSSV Stress Dopaminerge Abweichungen NSSV traumatische Kindheitserlebnisse Serotonerge Abweichungen Stress Vulnerabilität ↑ Genetische Einflüsse Endogene Opioide: Abweichungen Geänd. Opioid Homöostase Homöostase hergestellt HPA Achse Abweichungen Sher & Stanley, 2009 27 Soziale Ansteckung • NSSV kann durch peers angestoßen werden: – Zusammen ausführen, Kommunikation darüber, auch soziale Medien…. Rosen & Walsh, 1989, Lieberman et al., 2009; Young & Plener, 2015 28 Jugendkultur & NSSV • Alternative Identität: – – – – Korrelation mit NSSV (r=0.20-0.24), Frequenz der Selbstverletzung (r=0.32-0.35) Suizidgedanken (r=0.13-0.20) Suizidversuche (r=0.25-0.29) • Sportler Identität : – negativ korreliert mit NSSV (r=-0.11-0.18) 29 Gliederung • Das Symptom Selbstverletzung • Therapie von selbstverletzendem Verhalten 30 Therapie von selbstverletzendem Verhalten 31 Therapie der Selbstverletzung Selbstverletzung ist vor allem ein Symptom oder Risikomarker Therapiert werden muss immer zusätzlich zur Selbstverletzung die zugrundliegende Störung 32 Typischer Ablauf der Selbstverletzung Innere Anspannung Selbstverletzung Neuer Druck baut sich auf Vorübergehende (Er)Lösung Zwischenmenschliche Probleme 33 Umgang mit NSSV 34 Was tun? • Genaue Abklärung, auch im Hinblick auf komorbide Störungen • Spezifische Psychotherapieformen: DBT-A („Skills“), KVT, MBT-A, TFP-A etc. • Medikamentös: – Keine kausale Behandlung verfügbar – Behandlung der komorbiden Störungen – Niederpotentes Neuroleptikum (z.B. Truxal 15mg) bei starker Spannung im Rahmen eines „Notfallplans“), BZD kontraindiziert Leitlinie NSSV 2015 35 Was tun? • „Ansteckungsgefahr“: in KJP haben offen ausgelebte NSSV häufig einen starken additiven verstärkenden Effekt auf die Gesamtgruppe („Epidemie“)! • Kein offenes Tragen von Narben oder Verletzungen! • Patienten mit NSSV auf „Ansteckungsgefahr“ aufmerksam machen. • Deshalb z.B. keine Schulinterventionen für die ganze Schule („Infostand NSSV“), vorsichtige mediale Signale („Triggergefahr“) Leitlinie NSSV 2015, Plener 2016, Jarvi 2013 36 Forschung: eigene Projekte 37 Selbstverletzungs-Ambulanz und NSSV-Studie • 2016 Etablierung einer „NSSVAmbulanz“ für Jugendliche – Klinisches Ziel: niederschwelliges Angebot, rasche Abklärung, – Wissenschaftliches Ziel: Längsschnittstudie • Testbatterie zu T1, T2 (=T1 + 12 • Untersuchung einer Risikopopulation hinsichtlich Prävalenz, Ätiologie sowie Komorbiditäten von NSSV • prospektives LängsschnittDesign analysiert Verlauf, protektive Faktoren sowie Risikofaktoren • Drittmittelantrag (Tiroler Wissenschaftsfonds) Flow-Chart der Utersuchungen: Instrument Zeitpunkt T1 Zeitpunkt T2 (T2 = T1 + 12 Monate) SITBI-G X X SKID-I X X SKID-II X X CTQ X X YSR X X SWE X X AIDA X X 38 Therapeutisches Vorgehen Verhaltenstherapie: • Konstruktive Ersatzhandlungen für SV • Erarbeiten der Handlungsmuster, die zu SV führen • Erarbeiten von Alternativen Psychodynamische Therapien (TFP-A; MBT-A): • SV als Affektregulation • Verstehen der darunterliegenden unbewussten Konflikte und Zusammenhänge mittels Klärung und Deutung 39 Bild einer Person mit selbst- verletzendem Verhalten 40 Notfall-Set 41 Take Home Message • Selbstschädigendes Verhalten hat viele Schattierungen: mpulsive Spontanhandlungen bis zu komplexen Verhaltensmustern • NSSV in der jugendlichen Normalbevölkerung und besonders bei in Behandlung durch die KJP befindlichen Menschen außerordentlich häufig! • NSSV werden momentan intensiv beforscht – Innsbruck: NSSV-Studie • NSSV ≠ Diagnose nach ICD-10 • Die meisten Jugendlichen, die sich selbst verletzen, weisen keine Persönlichkeitsstörung auf! • Cave Ansteckungsgefahr und Epidemie! • Wirksame Behandlungsoptionen verfügbar! 42 Literatur • Bücher: – – • Artikel: – • In-Albon, Plener, Brunner , Kaess: Ratgeber Selbstverletzendes Verhalten: Informationen für Betroffene, Eltern, Lehrer und Erzieher (Ratgeber Kinder- und Jugendpsychotherapie), Hogrefe 2015; (nach Leitlinien aufgebaut!) Petermann, Nitkowski: Selbstverletzendes Verhalten: Erscheinungsformen, Ursachen und Interventionsmöglichkeiten, Hogrefe 2015 Übersichtsarbeit: Nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten (NSSV) im Jugendalter: Klinische Leitlinie zur Diagnostik und Therapie; Plener et al., Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2016), 44, 1–10 Leitlinie: – Nicht-Suizidales Selbstverletzendes Verhalten (NSSV) im Kindes- und Jugendalter, S2k, 2015 43 44 45 46 DANKE ...für Ihre Aufmerksamkeit! Univ. Prof. Dr. Kathrin Sevecke [email protected] 47