1 Nationalismus, Imperialismus und der Erste Weltkrieg Nationalismus, Imperialismus und der Erste Weltkrieg Markus Grass Geschichte, Sozialkunde und Politische Bildung 01.09.2014 2 Nationalismus, Imperialismus und der Erste Weltkrieg „Der Krieg ist eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.“ Carl von Clausewitz (1780 -1831) – Deutscher General "Mir führen einen heilingen Verteilungskrieg führn mir [...] Und darum sage ich auch - es ist die Pflicht eines jedermann, der ein Mitbürger sein will, Schulter an Schulter sein Scherflein beizutragen. Dementsprechend! Da heißt es sich ein Beispiel nehmen, jawohl! Und darum sage ich auch - ein jeder von euch soll zusammenstehn wie ein Mann. Dass sie's nur hören die Feinde, es is ein heilinger Verteilungskrieg, was mir führn. [...] Die Sache, für die wir ausgezogen wurden ist eine gerechte, da gibt's keine Würsteln, und darum sage ich auch: Serbien muss sterbien! Und a jeder Russ, an Schuss! Und a jeder Franzos, an Stoß! Und a jeder Brit, ein Tritt!" Karl Kraus (1874 -1936) - "Die letzten Tage der Menschheit" (1. Akt, 1. Szene) "Our [= 20th] century demonstrates that the victory of the ideals of justice and equality is always ephemeral (= kurzlebig, flüchtig), but also that, if we manage to preserve liberty, we can always start all over again .... There is no need to despair, even in the most desperate situations."1 Leo Valiani (1909-1999) - Italian historian, politician and journalist 1 Hobsbawm 1995, Seite 2 3 Nationalismus, Imperialismus und der Erste Weltkrieg INHALT Wendepunkt der Weltgeschichte .......................................................................................................................................... 4 The Age of Extremes .............................................................................................................................................................. 5 Der Erste Weltkrieg in Zahlen ................................................................................................................................................ 6 Time-line ................................................................................................................................................................................ 6 The Age of Catastrophe ......................................................................................................................................................... 7 Ein zweiter 30-jähriger Krieg? ................................................................................................................................................ 8 Schlafwandler?....................................................................................................................................................................... 8 Sarajevo und der Kriegsausbruch .......................................................................................................................................... 9 Die deutsche Kriegsvorbereitung: Der Schlieffen-Plan von 1905 ........................................................................................ 11 Imperialismus und Expansionspolitik................................................................................................................................... 11 Fallbeispiel einer Kolonie: Ägypten...................................................................................................................................... 14 Fallbeispiel einer Halbkolonie: Panama ............................................................................................................................... 14 Racism and “White Supremacy” .......................................................................................................................................... 17 Afrika und Afrikaner in Frankreichs "Grand Guerre" (Great War) ....................................................................................... 18 The “Finest Race in the World”............................................................................................................................................ 19 Nationalism – the Nationalization of the Masses ................................................................................................................ 19 Propaganda und Kriegsrechtfertigung ................................................................................................................................. 21 Wettlauf zwischen Krieg und Revolution ............................................................................................................................. 22 Der Weltkrieg als Bombengeschäft ..................................................................................................................................... 23 In Stahlgewittern – Hurricanes of Steel ............................................................................................................................... 25 The Somme Offensive of 1916……………………………………………………………………………………………………………………………………….27 Total Warfare and Concentration Camps ............................................................................................................................ 30 The Anti-War Movement in the U.S. and the Espionage Act ............................................................................................... 31 Verwendete Literatur .......................................................................................................................................................... 35 Vocabulary ........................................................................................................................................................................... 35 Maturaaufgabe: Expansionsstrategien und Imperialismus ................................................................................................. 36 Anhang: Zusammensetzung des Kapitals in Frankreich, GB, Deutschland & der Welt........................................................37 4 Nationalismus, Imperialismus und der Erste Weltkrieg WENDEPUNKT DER WELTGESCHICHTE These: Der Erste Weltkrieg ist ein wichtiger Wendepunkt in der Geschichte des 20. Jahrhunderts - und in weiterer Folge der Weltpolitik bis heute. Warum? Im aktuellen Ukraine-Konflikt erleben wir eine Frontstellung des „Westens" – NATO, USA und EU - gegen Russland (und China), diese erinnert sehr an diejenige des Kalten Krieges, als sich der Westen (Militärbündnis NATO) in einer Konfrontation mit der Sowjetunion befand. Grundlage dieser historischen Ost-WestKonfrontation war die Konkurrenz zwischen Kapitalismus („freie Marktwirtschaft") in den USA, Japan und Westeuropa und der staatssozialistischen Planwirtschaft ohne Privateigentum an Unternehmen in China, der Sowjetunion und dem Warschauer Pakt („Ostblock"). Wie ist es zu dieser scheinbar selbstverständlichen Frontstellung Westen vs. Russland gekommen? Diese geht auf den Ersten Weltkrieg und die mit ihm verbundenen epochalen Veränderungen zurück. Am Beginn des Ersten Weltkriegs stand eine Allianz aus Großbritannien, Frankreich und Russland - die Entente - den Mittelmächten Deutschland, Österreich-Ungarn und Osmanisches Reich gegenüber. Das ist heute anders - Warum? Ohne den Ersten Weltkrieg hätte es keine Oktoberrevolution 1917 in Russland gegeben: Der Erste Weltkrieg hat die Voraussetzungen für die Oktoberrevolution und damit die Etablierung eines „Staatssozialismus“ mit (bürokratischer) Planwirtschaft in der Sowjetunion geschaffen. Ohne Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg hätte es keinen Aufstieg des Faschismus und Hitlers in Deutschland - und damit den Zweiten Weltkrieg in dieser Form - gegeben. Ohne Ersten (und Zweiten) Weltkrieg hätte es keinen Aufstieg der USA - in dieser Art und Weise - zur ökonomischen, politischen und militärischen Weltmacht und den Sieg der USA gegen Japan gegeben. Ohne kommunistische Sowjetunion hätte es keinen Sieg gegen das anti-kommunistische Projekt der faschistischen Weltherrschaft - angeführt vom Nationalsozialismus in Hitler-Deutschland - gegeben. Hätte Hitler die Sowjetunion 1941-42 besiegt, wäre er von den USA militärisch wahrscheinlich nicht mehr zu besiegen gewesen. Ohne den Sieg der sowjetischen Roten Armee gegen die Wehrmacht (Wendepunkt im Februar 1943 in Stalingrad – heute Wolgograd), d.h. ohne Sieg der Sowjetunion gegen Hitler-Deutschland hätte es folglich keine Demokratie in Westeuropa als Resultat des 2. Weltkriegs gegeben. Der Sieg Hitler-Deutschlands wäre nicht einfach nur ein Sieg Deutschlands gewesen, so wie der Erste Weltkrieg ein Sieg Frankreichs und Großbritanniens war. Der Sieg Hitler-Deutschlands gegen die Sowjetunion wäre ein Sieg des Faschismus in Europa und großen Teilen Asiens gewesen. Der Zweite Weltkrieg hätte dann wahrscheinlich mit der Etablierung einer faschistischen Weltmacht vom Atlantik bis Wladiwostok unter Führung HitlerDeutschlands geendet. Statt dem Ost-Westkonflikt wäre eine Frontstellung einer deutsch-japanischen Allianz gegen die USA (und GB) als alternatives Ergebnis des Zweiten Weltkriegs möglich gewesen – so wie in George Orwells „1984": Ozeanien gegen Eurasien. Ohne Niederlage Hitler-Deutschlands und Sieg der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg hätte es keine Teilung Europas (Eiserner Vorhang) und Deutschlands (Berliner Mauer) nach 1945 gegeben. Kurz: Ohne Erster Weltkrieg keine Berliner Mauer. Ohne den Ersten Weltkrieg hätte es kein - so rasches - Ende der europäischen Kolonialreiche (Großbritannien und Frankreich) und keine Regierung der Kommunistischen Partei in China gegeben. Denn ohne den Sieg der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg hätte es nach 1945 wohl nicht im selben Maß erfolgreiche – und kommunistisch dominierte – Befreiungsbewegungen in Lateinamerika (z.B. Cuba), Asien (z.B. China, Vietnam) und Afrika gegeben. Es handelt sich hier um (Hypo-)Thesen und nicht um naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Gesetzmäßigkeiten. Die Beschäftigung mit Geschichte sollte immer im Auge behalten, dass ebendiese Geschichte auch anders verlaufen hätte können, sowohl „positiver", als auch „negativer", je nach Sichtweise. Wäre es nicht so, dann hätte die Beschäftigung mit Geschichte viel weniger Sinn. Dann wäre die Geschichte bis zum heutigen Tag eine Entwicklung, die ohnehin so gekommen wäre, zu der es ohnehin keine Alternative gegeben hätte. Es hat in der Geschichte aber immer wieder Zeitpunkte gegeben, an denen es zu epochalen Veränderungen gekommen ist. Die These „Ohne den 5 Nationalismus, Imperialismus und der Erste Weltkrieg Ersten Weltkrieg hätte es keine Oktoberrevolution 1917 in Russland gegeben" bedeutet NICHT, dass der Sieg der Oktoberrevolution und der kommunistischen Partei in Russland im Ersten Weltkrieg naturgesetzmäßig eingetreten ist. Die Oktoberrevolution muss aus dem Ersten Weltkrieg heraus verstanden werden. Aber sie hätte auch in einer Niederlage enden können und die Weltgeschichte hätte einen anderen Verlauf genommen. Auf der anderen Seite hätte sich die Revolution aber auch von Russland aus auf das westliche Europa ausbreiten können, dann hätte die Weltgeschichte wiederum einen anderen Verlauf genommen - vermutlich kein Hitler-Deutschland und keinen Zweiten Weltkrieg, jedenfalls nicht in derselben Konstellation. Das sind dann schon drei potenziell grundlegend unterschiedliche Verläufe der Weltgeschichte, je nachdem, was im Ersten Weltkrieg passiert ist bzw. wäre. THE AGE OF EXTREMES Eric Hobsbawm: The Age of Extremes Die These betreffend die Bedeutung der Oktoberrevolution und der Sowjetunion hat der Historiker Eric Hobsbawm in seinem Buch „The Age of Extremes - 1914 - 1989" formuliert. The First and the Second World War shook Europe within the period of around 30 years: 1914-1945. Both world wars were followed by waves of global rebellion and revolution. These revolutions brought to power communist parties aiming at ending capitalist economy (“private enterprise”), replacing it with a planned economy and the establishment of communism, first over one sixth of the world's land surface (Soviet Union), and after the Second World War over one third of the globe's population (Eastern and Central Europe, China). Communism claimed to be the historically predestined alternative to bourgeois society and capitalist economy. The huge colonial empires - the British and the French - built up in the latter half of the "long 19th century", were shaken in World War I and II and finally crumbled in the 1950s and 1960s. The entire history of European colonial imperialism, so self-confident when Queen Victoria of Great Britain died in 1901, had lasted no longer than a single lifetime - say that of Winston Churchill (1874 - 1965). It was the temporary and bizarre capitalist communist alliance of World War II that saved democracy in the 20th century. In the wake of the Great economic Depression in the 1930s, the institutions of liberal democracy virtually disappeared from all but a fringe of Europe and parts of America and Australia, as fascism and its satellite authoritarian regimes and dictatorships advanced. Only the temporary and bizarre alliance of liberal capitalism and communism in self-defence against this challenge by fascism saved democracy, for the victory over Hitler's Germany was essentially won, and could only have been won, by the Red Army. The victory of the Soviet Union over Hitler was the achievement of the regime installed by the Russian October Revolution. A comparison of the performance of the Russian Tsarist economy and army in the First World War and the Soviet economy and the Red Army in the Second World War demonstrates this fact. Had Hitler conquered the Soviet Union, he would have ruled a territory from the Atlantic to Wladiwostok. Without the Red Army, the Western states after the Second World War - outside of America and Australia would probably have consisted of a set of variations on authoritarian and fascist regimes rather than a set of variations on liberal parliamentary ones. It is thus one of the ironies of the 20th century - the Age of Extremes - that the most lasting result of the October revolution, whose object was the global overthrow of capitalism, was to save its antagonist, both in war and in peace. It did so by providing capitalism with the incentive, fear, to reform itselves after the Second World War, with one result being systems of social security, another one economic reforms according to the Keynesian theory (-> Keynesianismus). And yet, as we can see in retrospect, the strength of the global socialist/communist challenge to capitalism was that of the weakness of its opponent. Without the breakdown of 19th century bourgeois society as a result of World War I, there would probably have been no October revolution and no USSR. It was the Great Depression of the 1930s that made the USSR look like a realistic global alternative to the capitalist economy. And it was the challenge of fascism which made the USSR into the indispensable instrument of Hitler's defeat, and therefore into one of the two superpowers whose confrontation dominated the second half of the 20th century. 6 Nationalismus, Imperialismus und der Erste Weltkrieg DER ERSTE WELTKRIEG IN ZAHLEN 10 Millionen getötete Soldaten 13 Millionen getötete Zivilisten 1,2 Millionen der 7,8 Millionen Soldaten der k.u.k. Monarchie getötet 3,6 Millionen der 7,8 Millionen Soldaten der k.u.k. Monarchie verwundet 1,5 Millionen abgefeuerte britische Granaten in der Woche vor der Somme-Offensive am 1. Juli 1916 225.000 abgefeuerte britische Granaten in 60 Minuten am Beginn der Somme-Offensive am 1. Juli 1916 90 Mrd. Kronen Kriegsausgaben der k.u.k. Monarchie zwischen 1914-1918 100.000 Giftgastote (Senfgas und Phosgengas); 1,2 Mio. durch Giftgas verletzt TIME-LINE 28. Juni 1914 Der österreichische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau werden in Sarajevo Opfer eines Attentats durch den serbischen Nationalisten Gavrilo Prinzip 28. Juli 1914 Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien, Beginn der Bombardierung Belgrads 1. August 1914 Kriegserklärung Deutschlands an Russland und an Frankreich, danach Einmarsch deutscher Truppen ins neutrale Belgien und Luxemburg – kurz darauf Kriegserklärung Großbritanniens an Deutschland und Österreich 5. - 12. September 1914 Vormarsch deutscher Truppen beim Fluss Marne durch britische und französische Truppen gestoppt, Stellungskrieg auf einer Frontlinien von über 700 km an der Westfront 22. April 1915 Erster Giftgaseinsatz der deutschen Armee an der Westfront 23. Mai 1915 Kriegserklärung Italiens an Österreich 23. Juni 1915 Erste der 12 Isonzo-Schlachten in den Alpen zwischen Italien und Österreich 29. Jänner 1916 Bombenangriff auf Paris durch ein deutsches Militärluftschiff 21. Februar 1916 Beginn der Schlacht um Verdun (Westfront) mit bis zum Juni 1916 geschätzt 1 Mio. toten und schwer verletzten Soldaten 1. Juli 1916 Beginn der Somme-Offensive (Westfront) der britischen und französischen Truppen, mehr als 60.000 Tote und Schwerverletzte am ersten Tag 21. Oktober 1916 Der sozialdemokratische Politiker Friedrich Adler erschießt den österreichischen Ministerpräsidenten Stürgkh mit den Worten „Wir wollen den Frieden“ März 1917 Februarrevolution in Russland, Zar Nikolaus II tritt zurück 6. April 1917 Kriegserklärung der USA an Deutschland und Entsendung US-amerikanischer Truppen an die Westfront 30. Oktober 1917 Nach der 12. Isonzo-Schlacht Zusammenbruch der österreichischen Südfront 7. November 1917 Oktoberrevolution: Machtübernahme der radikalen Fraktion der russischen Sozialdemokraten (= Bolschewiki) in Russland 7 Nationalismus, Imperialismus und der Erste Weltkrieg 4. Dezember 1917 Finnland wird erster unabhängiger Nachfolgestaat des Zarenreichs 3.-25. Jänner 1918 Jänner-Streik: Motiviert durch die Revolution in Russland legen hunderttausende ArbeiterInnen in Österreich die Arbeit nieder und fordern bessere Lebensmittelversorgung und ein Ende des Krieges 3. März 1918 Frieden von Brest-Litowsk: Die seit der Oktoberrevolution regierenden Kommunisten beenden Russlands Krieg gegen Deutschland bedingungslos, deutsche Truppen besetzen u.a. das Baltikum, Weißrussland und die Ukraine August 1918 Durchbruch der Alliierten an der Westfront September 1918 Deutsche Heeresleitung fordert Waffenstillstand 26. Oktober 1918 Ausrufung der unabhängigen Republik Tschechoslowakei November 1918 Waffenstillstand an alle Fronten und Abdankung Kaiser Karls von Österreich und Kaiser Wilhelms von Deutschland (9.11.) November 1918 Ausrufung der deutschen (9.11.) und österreichischen Republik (12.11.) sowie Unabhängigkeitserklärungen Polens, Ungarns und der südslawischen Völker THE AGE OF CATASTROPHE The “Age of Catastrophe”: From "civilized warfare" to a war of machine-made mass destruction For many historians, the First World War marked the breakdown of the western civilization of the 19th century and the beginning of an “age of catastrophe”. 19th century civilization was capitalist in its economy, it was liberal in its legal and constitutional structure and it was bourgeois in the image of its dominant class. The western civilization was glorying in the advance of science, knowledge and education, material and moral progress. It was profoundly convinced of the centrality of Europe, birthplace of the revolutions of sciences, arts, politics and industry, whose economy had penetrated, and whose soldiers had conquered and subjugated most of the world. The importance of the USA was growing though, becoming an “Empire of Trade” with its huge corporations like Rockefeller’s Standard Oil Company. The period up to the First World War had seen unchecked levels of industrialization and economic development. With Henry Ford’s invention of the production line (conveyer belt), production capacity rose to levels that the early industrialists could not dream of. 19th century Europe was the place and the period in history that had established the notion of "civilized warfare" - written down in the Hague Conventions of 1899 and 1907 (Haager Konvention). According to an article on "war" in the Encyclopedia Britannica of 1911, civilized warfare "is confined, as far as possible, to the disablement of the armed forces of the enemy; otherwise war would continue till one of the parties was exterminated." The First World War was started with the previous and explicit warnings issued by governments in the form of a "declaration of war". It was the last war that ended with the formal treaty of peace negotiated between the belligerent states. It was in World War I though, for the first time in history that the number of civilian casualties in war rose significantly compared with the number of military casualties. As early as 1921, the "Rules as to Bombardment by 8 Nationalismus, Imperialismus und der Erste Weltkrieg Aircraft" admitted the "truth that air warfare has made such restrictions [according to the rules of “civilized warfare”] - aiming exclusively at military targets - obsolete and impossible." 2 In the 19th century, the length of wars was measured in months or even in weeks, like the 1866 war between Prussia and Austria. The largest European war of the 19th century, the war between Prussia and France 1870/71, killed an estimated 150,000, although there was the American Civil War (1861-1865) with more than 700.000 dead soldiers. In the 20th century, the number of people killed in wars rose significantly, starting with 10 million dead soldiers and millions more mutilated and traumatized in World War I. The 20th century was, more than any other century in human history, marked by war. It lived and thought in terms of war, even when the guns were silent and the bombs not exploding. After 1945, there was the common feeling of an ongoing "cold war" with two superpowers developing ever more deadly nuclear weapons. The history of European break-down and catastrophe began with the First World War in 1914 and ended thirty-one years later with the end of World War II in 1945. EIN ZWEITER 30-JÄHRIGER KRIEG? Einige Historiker sprechen inzwischen im Zusammenhang mit den beiden Weltkriegen von einem - zweiten Dreißigjährigen Krieg. Beim ersten 30-jährigen Krieg von 1618 bis 1648 hatte es sich um eine Konfrontation von verschiedenen religiösen Richtungen gehandelt, dieser Konflikt war allerdings untrennbar mit dem Kampf um die militärische, wirtschaftliche und politische Hegemonie (= Vorherrschaft) in Europa verknüpft, wobei sich auch damals zwei Bündnisse, die katholische Liga und die protestantische Union, gegenüber standen. Schließlich war die Auseinandersetzung im 30-jährigen Krieg - in manchen Regionen - auch mit dem Kampf um nationale Unabhängigkeit verknüpft. Der zweite 30-jährige Krieg dauerte zwar ein Jahr länger, von 1914 bis 1945, und es war auch kein Religionskrieg. Es war allerdings ebenfalls ein Krieg, bei dem die militärische, politische und wirtschaftliche Hegemonie (= Vorrangstellung) auf dem Spiel stand. Es standen sich ebenso zwei Bündnisse gegenüber. An die Stelle der religiösen Differenzen war im 20. Jahrhundert die ideologische Auseinandersetzung getreten. Mit ideologischen Gegensätzen sind in diesem Fall unterschiedliche, einander bekämpfende politische und gesellschaftliche Weltanschauungen gemeint. Die Frage der nationalen Unabhängigkeit war im zweiten 30jährigen Krieg ebenfalls von großer Bedeutung, sei es in Irland, im vom Zarenreich beherrschten Polen oder in Österreich-Ungarn, wo Tschechen und Slowaken ebenso wie Slowenen und Kroaten nach nationaler Selbstbestimmung und staatlicher Unabhängigkeit strebten. SCHLAFWANDLER? Sind die Regierungen in Europa versehentlich, wie Schlafwandler, in den Weltkrieg gestolpert, obwohl sie gar keinen Krieg wollten? Ein jüngst erschienenes Buch des Historikers Christopher Clark vertritt die These, dass die europäischen Regierungen wie „Schlafwandler“ in den Krieg stolperten. Durch die Metapher des Schlafwandlers gerät leicht die Tatsache aus den Augen, dass die europäischen „Schlafwandler" jahrzehntelang - in wachem Zustand - eine Politik des Nationalismus, der imperialistischen Expansion und des militaristischen Wettrüstens betrieben haben. Auch wenn es für die Bevölkerung Afrikas vielfach zu einem Albtraum wurde, so sind die europäischen Mächte in den Jahrzehnten vor dem 1. Weltkrieg dennoch nicht im Schlaf nach Afrika gestolpert und haben dabei den ganzen Kontinent erobert. Schwer vorstellbar weiters, dass die europäischen Regierungen schlafend das Wettrüsten betrieben haben. Die Regierungen haben jedenfalls nicht verschlafen, rechtzeitig die Aufträge zum Bau immer neuer Kriegsschiffe und immer neuer und immer größerer 2 Hobsbawm 1995, S. 14, S. 21 Seit Frühjahr 1914 serienreif: Die 150 t schwere deutsche Artilleriewaffe „Dicke Berta", hergestellt von der Firma Krupp. 9 Nationalismus, Imperialismus und der Erste Weltkrieg Artilleriewaffen zu erteilen. Spätestens im März 1914, nach der Fertigstellung der neuen deutschen „Wunderwaffe", der 150 Tonnen schweren Artilleriewaffe "Dicke Bertha", war die deutsche Regierung ausgeschlafen und gefechtsbereit. SARAJEVO UND DER KRIEGSAUSBRUCH Verursachte das Attentat von Sarajevo den „Ausbruch" des Ersten Weltkriegs? „Als Ich nach drei Jahrzehnten segensvoller Friedensarbeit in Bosnien und der Hercegovina Meine Herrscherrechte auf diese Länder erstreckte, hat diese Meine Verfügung im Königreiche Serbien, dessen Rechte in keiner Weise verletzt wurden, Ausbrüche zügelloser Leidenschaft und erbittertsten Hasses hervorgerufen. Meine Regierung hat damals von dem schönen Vorrechte des Stärkeren Gebrauch gemacht und in äußerster Nachsicht und Milde von Serbien nur die Herabsetzung seines Heeres auf den Friedensstand und das Versprechen verlangt, in Hinkunft die Bahn des Friedens und der Freundschaft zu gehen.“ Kaiser Franz Joseph in seiner Erklärung „An meine Völker“ vom Juli 1914 „Denn die Schüsse von Sarajevo setzen im Epochenjahr 1914 einen Mechanismus in Gang, der die europäischen Mächte in den grausamsten Krieg stürzt, den die Menschheit bis dahin erlebt hat." So wird der „Ausbruch" des Ersten Weltkriegs in einer GEO-Spezial-Dokumentation erklärt. Die in Gang gesetzten „Mechanismen" legen die Vorstellung nahe, dass die Menschen, egal ob Regierungschef oder einfacher Staatsbürger, machtlos waren. Der Ausbruch des Krieges wird damit in die Nähe eines Vulkanausbruchs oder einer anderen Naturkatastrophe gerückt. Wieso zieht aber nicht jedes Attentat einen Krieg mit mehreren Millionen Toten nach sich? Oder warum war nicht das Attentat vom 31. Juli 1914 auf den französischen Kriegsgegner und sozialistischen Parteichef Jean Jaurès die „Ursache“ für den Ausbruch des Weltkrieges? Mit den „Schüssen von Sarajevo", die den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gattin töteten, und die vom serbischen Nationalisten Gavrilo Princip abgegeben worden waren, rückt auf jeden Fall die Verantwortung der Regierung von Österreich-Ungarn mit ihrer Kriegserklärung an Serbien aus dem Blickfeld. Aus dem Blickfeld rückt übrigens auch die Tatsache, dass der Attentäter Cabrinovic, der zuerst erfolglos eine Bombe auf das Fahrzeug geworfen hatte, österreichischer Staatsbürger war. Aus dem Blickfeld rückt weiters die Tatsache, dass die österreichische Polizei in Sarajevo so nachlässig bei den Sicherheitsvorkehrungen für die Fahrt durch die Stadt gewesen war. Wenn im Zusammenhang mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs das Attentat von Sarajevo einen prominenten Platz einnimmt, dann müsste zumindestens hinzugefügt werden, dass Sarajevo die Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina war (und bis heute ist), die Hauptstadt von dem Land also, das im Jahr 1908 völkerrechtswidrig von Österreich-Ungarn annektiert (angegliedert) worden war. Dieser Umgang mit Brüchen des Völkerrechts lässt sich bis in die jüngste Vergangenheit beobachten: Völkerrechtsbrüche werden in der Regel zwar beim „bösen Feind“ wahrgenommen, aktuell bei Russlands Annexion der Krim im Frühjahr 2014. Die „eigenen" Völkerrechtsbrüche (z.B. der NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999) und Eroberungskriege (Afghanistan, Irak) werden nicht als solche benannt, sondern sind z.B. „friedenserhaltende Maßnahmen“ oder sogenannte „Präventivschläge“, also „vorbeugende Maßnahmen“ gegen den Terrorismus. In dem etwa zu gleichen Teilen von Moslems sowie von katholischen Kroaten und orthodoxen Serben – sowie einer jüdischen Minderheit - bewohnten Bosnien-Herzegowina (Hauptstadt Sarajevo) hatte es schon jahrelangen Widerstand gegen die einheimischen Feudalherren und Adeligen sowie die mit ihnen verbündeten Habsburger gegeben. Es war jedenfalls die Regierung von Österreich-Ungarn, die „von dem schönen Vorrechte des Stärkeren Gebrauch gemacht“ und in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine Politik der Expansion auf dem Balkan verfolgt hat, mit dem Ziel, den Einfluss Russlands und seines Verbündeten Serbien, zurückzudrängen. Wer von dem „schönen Vorrecht des Stärkeren“ gebrauch macht, das kann man aktuell im Zusammenhang mit dem westlichen Engagement in der Ukraine auch sehr gut beobachten, sollte sich auf die Ausbrüche „erbittertsten Hasses“ gefasst machen, ob ihm das als „Stärkerem“ passt oder nicht. Als Reaktion auf die Expansionspolitik der Habsburger erhielten Bewegungen für das Selbstbestimmungsrecht der nicht-deutschsprachigen Völker auf dem 10 Nationalismus, Imperialismus und der Erste Weltkrieg Balkan Zulauf. Dazu zählte der serbische Nationalismus ebenso wie der sogenannte „Panslawismus", der einen Zusammenschluss der slawisch-sprachigen osteuropäischen Völker unter Führung Russlands anstrebte. Der von der österreichischen Regierung nicht ungern gesehene anti-serbische Chauvinismus erreichte in der Parole „Serbien muss sterbien" einen prägnanten und von Karl Kraus in seinem Werk „Die letzten Tage der Menschheit“ literarisch verarbeiteten Ausdruck. In der Dokumentation von Andreas Novak „Kaiser Franz Joseph und der Erste Weltkrieg“ wird dargestellt, dass einflussreiche Mitglieder der k.u.k. Regierung – z.B. der Außenminister Graf Berchthold und der Ministerpräsident Graf Stürgkh – um jeden Preis einen Krieg gegen Serbien führen wollten und nur auf eine passende Gelegenheit warteten. Deshalb wurde der Regierung von Serbien ein Ultimatum gestellt, das mehrere Punkte enthielt, welche die Souveränität Serbiens verletzten. Dennoch wurde das Ultimatum bis auf einen Punkt akzeptiert. Der eine Punkt war: Österreichische Polizeibeamte sollten auf dem Staatsgebiet von Serbien völlig freie Hand erhalten – sprich z.B. Verhaftungen durchführen - etwas, was heute selbst innerhalb der EU nicht möglich wäre. „Damit fällt jeder Kriegsgrund fort", meinte der deutsche Kaiser Wilhelm. Die überwältigende Zustimmung der serbischen Regierung zu den Punkten des Ultimatums stellte also selbst für die deutsche Regierung keinen ausreichenden „Grund" dar, um Serbien den Krieg zu erklären. Selbst ein österreichischer Regierungsberater, Graf Tisza, meinte in einem Schreiben an den Kaiser Franz Joseph, dass ein Angriff auf Serbien ein „verhängnisvoller Fehler" wäre, da „wir bisher keine genügenden Anhaltspunkte haben, um Serbien verantwortlich machen zu können."3 Bei Leuten, die sich mit der an „verhängnisvollen Fehlern“ reichen Geschichte Österreichs nicht kritisch auseinandersetzen wollen, ist die Erklärung des Kriegsausbruchs durch die „serbischen“ Schüsse von Sarajevo gerade deshalb so populär. Die österreichische Regierung erfand einen Angriff der serbischen Armee auf die Truppen der österreichischen Monarchie und verbreitete diese Falschinformation. Dieser Überfall der serbischen Armee hat in Wirklichkeit nie stattgefunden. Interessant ist dabei insbesondere die Tatsache, dass diese Falschmeldung durch die österreichische Regierung heute so gut wie unbekannt ist. Aber gerade deshalb spricht der aufgebrachte Wiener im August 1914 in „Die letzten Tage der Menschheit" von Karl Kraus davon, dass es sich um einen „heilingen Verteilungskrieg" von Österreich-Ungarn handelt. Erfundene Überfälle zählen inzwischen allerdings zum Standardrepertoire, wenn es darum geht, den Beginn eines Angriffskrieges zu rechtfertigen.4 Und wenn es keinen feindlichen Überfall gibt, dann wird zumindest die mehr oder weniger reale Aggression von außen betont. Auch gegenwärtig sieht sich der „Westen" und die NATO einer aggressiven Bedrohung durch Putins Russland ausgesetzt, ist selbst aber komplett friedfertig und möchte nur das Beste für die Ukraine – sie z.B. zu einem Mitglied der NATO machen. NATO-Generalsekretär Rasmussen rät inzwischen dringend zu einer Erhöhung der Rüstungsausgaben der NATO-Mitglieder. Warum verhielt sich die italienische Regierung bei Kriegsbeginn neutral? Im Gegensatz zur Regierung von Italien wurde die deutsche Regierung von den österreichischen Kriegsabsichten informiert. Die Regierung des ursprünglich mit den Mittelmächten verbündeten Italien hingegen wurde vor vollendete Tatsachen gestellt. Nachdem Italien von Österreich nicht über den Beschluss, Serbien anzugreifen, informiert worden war, erklärte die italienische Regierung, dass keine Bündnispflicht bestehe. Der wesentlich wichtigere Grund war jedoch die Tatsache, dass sich in Italien nicht nur die Sozialisten, sondern auch die Liberalen - die im Parlament einflussreichste Partei - gegen einen Kriegseintritt ausgesprochen hatten.5 Während sich in anderen Ländern schon seit 1915 die Stimmen gegen den Krieg vermehrten, passierte in Italien das umgekehrte. Niemand geringerer als der Begründer des Faschismus, Benito Mussolini, der bisherige Sozialist und spätere Führer der bewaffneten, rechts-extremen „fasci di combattimento“, gründete 1915 eine eigene Zeitung, die für den Kriegseintritt warb. Im Mai 1915 erklärte der italienische König gegen den Willen der Parlamentsmehrheit, also in einer Art Staatsstreich, den Eintritt in Italiens in den Krieg auf Seiten der Entente, nachdem diese Italien Gebietszuwächse, z.B. die Brennergrenze und Istrien, auf Kosten von Österreich-Ungarn versprochen hatte.6 3 Canfora 2010, S. 44f.; S. 53 4 Ein weiteres Beispiel dafür ist der sogenannte „Zwischenfall im Golf von Tonkin" vom August 1964. Nordvietnamesische Torpedoboote sollen dabei angeblich ein US-amerikanisches Kriegsschiff - den Zerstörer USS Maddox - in internationalen Gewässern beschossen haben. Dieser Vorfall hat so nie stattgefunden, er lieferte im VietnamKrieg allerdings den Vorwand für die USA, Krieg gegen Nord-Vietnam zu führen. 5 6 Canfora 2010, S. 57f. Canfora 2010, S. 96f. 11 Nationalismus, Imperialismus und der Erste Weltkrieg DIE DEUTSCHE KRIEGSVORBEREITUNG: DER SCHLIEFFEN-PLAN VON 1905 Auf deutscher Seite kam im Sommer 1914 der bereits im Jahr 1905 von General Schlieffen entworfene „Schlieffen-Plan“ zum Einsatz. Diese Kriegsstrategie hatte zum Ziel, die französischen Verteidigungsanlagen an der deutsch-französischen Grenze (westlich von Elsaß-Lothringen) zu umgehen. Deshalb sollten zuerst die neutralen Staaten Belgien und Luxemburg überrannt und dann Frankreich angegriffen werden. Nebenbei brachte die Kontrolle über Belgien auch die Kontrolle über den Kongo, das war die rohstoffreiche Kolonie Belgiens in Afrika. Dieser „Blitzkrieg" sollte im 2. Weltkrieg – in dem die Luftwaffe und Panzer eine wichtige Rolle spielten, was im 1. Weltkrieg noch nicht im selben Ausmaß der Fall war - erfolgreich sein. Im September 1914 wurde der deutsche Vormarsch jedoch schon wenige Wochen nach Kriegsbeginn beim Fluss Marne aufgehalten, nur wenige Kilometer nordöstlich von Paris. Der entscheidende Fehler bei dem Plan war die Annahme, dass sich Großbritannien in diesem Konflikt neutral verhalten werde, statt dessen wurden aber britische Truppen nach Frankreich entsendet. In der Tat war allerdings der britische Außenminister Lord Grey bis zuletzt gegen einen Kriegseintritt und für britische Neutralität. Die entschiedenste Stimme für den Kriegseintritt war der damalige Marineminister, Winston Chruchill. Aufgrund dieses „Schlieffen-Plans" für einen Angriffskrieg wurde nach dem Ersten Weltkrieg von den Siegermächten entschieden, dass Deutschland eine „Alleinschuld" am Ersten Weltkrieg treffe. Dennoch sollte dabei nicht übersehen werden, dass es tieferliegende Ursachen für die Rivalitäten zwischen den imperialistischen Mächten gab, ohne die es nicht zu einem Weltkrieg gekommen wäre. IMPERIALISMUS UND EXPANSIONSPOLITIK Der Weltkrieg hat seine tieferen Ursachen in der Expansion der imperialistischen Mächte (Frankreich, Großbritannien, Deutschland, usw.) und dem daraus resultierenden Konflikt um die Kontrolle über Rohstoffe, Absatzmärkte, Auslandsinvestitionen. Es war also ein Kampf um die wirtschaftliche, militärische und politische Vorherrschaft in Europa - und in der Welt. Der italienische Historiker Luciano Canfora meint, dass 1914 ein Gleichgewicht der imperialistischen Mächte zerbrochen sei. Es läge in der Logik der imperialistischen Konkurrenz und Expansion, dass ein dauerhaftes Gleichgewicht zwischen den imperialistischen Großmächten nicht möglich ist. Vielmehr könne ein abermaliges Gleichgewischt nur durch immer stärkere Beben wiederhergestellt werden, nur um dann erneut aus dem Gleichgewicht zu geraten. Er argumentiert auch gegen die Suche nach einem alleine Schuldigen am Weltkrieg. Beide Bündnisse - sowohl die Entente als auch die Mittelmächte - hatten das Ziel, für sich möglichst große Teile der Reichtümer der Welt zu sichern.7 "Expansion is everything", meinte der britische Kolonial-Politiker Cecil Rhodes (1853 – 1902), der im Auftrag der britischen Regierung große Teile des südlichen Afrikas unter Kontrolle brachte und die Forderung stellte, dass Afrika britisch werden müsse, „vom Kap bis Kairo“. Wenn es einen Mechanismus gegeben hat in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, dann den Mechanismus der imperialistischen Expansion. Es war diese Expansion, die zu einem britischen Kolonialbesitz von fast 12 Millionen Quadratkilometern führte. Die expansive Logik des Imperialismus kann jedenfalls als die tiefere Ursache für den Ersten Weltkrieg angesehen werden. Diese Logik der Expansion fasste der deutsche Politiker Eugen Richter folgendermaßen zusammen: „Weltpolitik, das ist für die Politik, was der Größenwahn für den einzelnen Menschen ist."8 Wie schon Shakespeares Hamlet formuliert hatte – „Ist es auch Wahnsinn, so hat er doch Methode“ - so war diese Expansionspolitik zwar „Wahnsinn“, doch hatte dieser Wahnsinn Methode. Es ging darum, neue Gebiete zu erobern, neue Kolonien zu errichten, Zugang zu immer mehr Rohstoffen für eine immer weiter steigende 7 8 Canfora 2010, S. 39 Arendt 1986, S. 287 12 Nationalismus, Imperialismus und der Erste Weltkrieg Industrieproduktion zu sichern. Wirtschaftliche Expansion erforderte es, neue Absatzmärkte für die immer weiter steigende Menge an industriell produzierten Waren zu erringen, auszuweiten und zu verteidigen. Nicht zuletzt ging es auch noch darum, neue Möglichkeiten für die Investition von Kapital zu finden, das in Europa „überschüssig" war und nicht mehr rentabel investiert werden konnte. In the latter half of the 19th century, within a short period of time (1870-1900), almost every corner of the Earth was taken over by European powers. Some of the countries became colonies of the Imperialist powers. Africa saw the most aggressive colonization. It was divided between the European powers in a process that became known as "the scramble for Africa." At the same time, many places in Asia – for example India - were conquered by Great Britain. In the year 1830, around 200 million people lived in countries dominated by European Imperialism. In 1880 the number had risen to more than 300 million and at the time of World War I the number was 550 million. Whereas knowledge, industrial production and wealth were concentrated in the "metropolitan nations” of Western Europe and the US, the colonies were mainly supplying agricultural products like tea, coffee, sugar and cotton as well as metals and other raw materials. Capital was invested in building an infrastructure (for example rail roads, canals) that was necessary to exploit the resources of the colonies. After the South American nations had gained independence from Spain and Portugal in the course of the 19th century, these states were coming under the growing influence of the U.S. government (-> Fallbeispiel einer Halbkolonie: Panama). Da Expansion alles war, die Oberfläche der Welt aber nur beschränkt, ging es darum, so viel davon zu beherrschen wie nur möglich. Die Tatsache der begrenzten Erdoberfläche hatte über kurz oder lang aber auch zur Folge, dass es zu Auseinandersetzung der imperialistischen Mächte über Ansprüche auf Kolonien, Besitzungen und Absatzmärkte kam. Die bereits etablierten Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich in Allianz mit ihren Juniorpartnern Russland und Italien sahen sich einer aggressiven Politik des „zu spät" gekommenen Deutschland gegenüber. Der Erste Weltkrieg war sozusagen die „Fortsetzung der Expansionspolitik mit anderen Mitteln.“ Im „Alldeutschen Verband" organisierten sich seit 1891 die Vertreter aus Industrie und Wirtschaft mit dem Ziel, Lobbying für eine kolonial-imperialistische Expansionspolitik zu betreiben. Eines der außenpolitischen Minimalziele war neben dem Erwerb von Kolonien in Übersee auch die Angliederung der belgischen und französischen Kohlereviere an Deutschland. Die ökonomisch und politisch einflussreichsten Kreise im Deutschen Reich wollten (gemeinsam mit den Juniorpartnern Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich) die industrielle und wirtschaftliche Expansion Deutschlands in eine militärisch-kriegerische und „außenpolitische" Expansion umsetzen und mit einem Sieg über Frankreich und Russland die politische (und wirtschaftliche) Herrschaft über Kontinentaleuropa erreichen. "I would annex the planets, if I could" war eine weitere Aussage von Cecil Rhodes. Die Eroberung der Planeten war zwar - noch? - nicht möglich, es kam aber zum Zwecke der Absicherung und Beherrschung der Kolonialreiche zu einem Wettrüsten. Es wurden immer neue Waffen entwickelt und produziert, Artilleriewaffen 13 Nationalismus, Imperialismus und der Erste Weltkrieg mit immer höherer Reichweite und immer größerer Zerstörungskraft. Der in ständiger Ausdehnung begriffene Außenhandel Deutschlands hing großteils vom „guten Willen“ Englands ab, da die deutschen Schiffe z.B. den - von Großbritannien kontrollierten Suezkanal benutzen mussten. Um vom guten Willen Englands unabhängig zu werden betrieb das Wilhelminische Deutschland eine Aufrüstungspolitik mit dem Ziel, die britische Marineüberlegenheit zu verringern. Das führte in den Jahren vor 1914 zu einem FlottenWettrüsten v.a. zwischen Deutschland und Großbritannien. Neben Kriegsschiffen („Kanonenboote“ „Panzerkreuzer" bzw. „Dreadnoughts“) wurden seit 1905 auch Kriegs-U-Boote gebaut, die Überlegenheit der britischen Kriegsmarine blieb aber bestehen. Eine der vielen Krisen in den Jahren vor 1914, die aber noch nicht zum Ausbruch des Krieges führten, war der sogenannte „Panthersprung nach Agadir". 1911 war es vor der marokkanischen Stadt Agadir beinahe zur kriegerischen Auseinandersetzung zwischen französischen und deutschen Kriegsschiffen gekommen. Aufstände im Landesinneren lieferten den Vorwand für die Entsendung französischer Kriegsschiffe und Truppen, woraufhin der deutsche Kaiser Wilhelm das Kanonenboot „Panther" nach Agadir schickte. Nach Verhandlungen zwischen Deutschland und Frankreich wurde Marokko zum französischen „Protektorat", Deutschland erhielt dafür Kolonien in Zentralafrika.9 Sozusagen im Schatten der Konflikte und Spannungen zwischen den Großmächten Deutschland, Frankreich und Großbritannien kam es am Balkan schon in den zwei Jahren 1912-1913, also unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg, zu zwei Balkankriegen, die aber - noch nicht - in einen Weltkrieg mündeten. 1912 besiegten Serbien, Bulgarien und Griechenland in einem Militärbündnis das Osmanische Reich und vertrieben es damit faktisch aus Europa. An Gangster in einem Hollywood-Film erinnernd, stritten sich die drei Sieger jedoch schon unmittelbar nach der türkischen Niederlage um die Beute. Bulgarien führte im Sommer 1913 Krieg gegen Serbien und Griechenland. Weil sich aber Rumänien auch gegen Bulgarien stellte, musste Bulgarien eine Niederlage einstecken. Insgesamt betrachtet war das Resultat eine wirtschaftliche und militärische Erschöpfung aller damals unabhängigen Balkanstaaten.10 Das war übrigens der Hintergrund, vor dem die k.u.k. Regierung zu dem Schluss gelangte, dass sie im Sommer 1914 - ohne größeres Risiko - eine militärische „Bestrafungsaktion" gegen Serbien durchführen könne. Auch wenn das Bild des Imperialismus nicht erst seit dem Ersten Weltkrieg ein ausgesprochen blutiges ist, soll der Vollständigkeit halber erwähnt werden, dass die großen profitversprechenden Unternehmungen, die im Laufe des 19. Jahrhundertst Regionen in aller Welt miteinander verknüpften, oft mit einem Fortschrittsoptimismus einhergegangen waren. Solche idealistischen Vorstellungen von Fortschritt sahen die Zukunft in einer prosperierenden menschlichen Gesellschaft, die durch eine weltumspannende Technologie und Wirtschaft zusammenwachsen würde. Der Erbauer des Suezkanals zum Beispiel, Ferdinand de Lesseps, war ein Anhänger der Ideen des französischen frühsozialistischen Denkers Saint-Simon, der seine Hoffnung auf eine bessere Welt und die Lösung der sozialen Ungerechtigkeiten an Industrialisierung und Transnationalisierung knüpfte. Ein Nachhall dieser Auffassung ist die gegenwärtig von manchen Seiten vertretene Theorie, dass der hohe Grad der weltwirtschaftlichen Integration und die gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit von z.B. China und den USA einen mit militärischen Mitteln ausgetragenen Krieg zwischen diesen Ländern unwahrscheinlich machen würden. Die in den letzten Jahren gestiegene wirtschaftliche Verbindung der beiden Kernländer der EU, Deutschland und Frankreich mit Russland ist aber derzeit eher kein Grund zur Annahme, dass eine militärische Auseinandersetzung besonders unwahrscheinlich geworden ist. 9 Canfora 2010, S.36f. Canfora 2010, S. 37f. 10 14 Nationalismus, Imperialismus und der Erste Weltkrieg FALLBEISPIEL EINER KOLONIE: ÄGYPTEN Am Beispiel Ägyptens lässt sich zeigen, wie sich der Kampf um die Sicherung der Transportwege für Rohstoffe nach Europa konkret abspielte und wie dadurch ein Land zu einer europäischen Kolonie wurde. Ägypten ist auch ein Fallbeispiel für die Suche nach neuen Möglichkeiten für die Investition von Kapital, das in Europa „überschüssig" war und nicht mehr rentabel investiert werden konnte. Auch der Zusammenhang zwischen Verschuldung und dem Verlust staatlicher Unabhängigkeit spielte bei der Kolonisierung Ägyptens eine wichtige Rolle. Mit der Fertigstellung des Suez-Kanals im Jahr 1869 wurde der Seeweg von Europa nach Indien und Ostasien wesentlich verkürzt. Nach zehn Jahren Bauarbeiten verband die seinerzeit mehr als 160 Kilometer lange künstliche Wasserstraße das Mittelmeer über das Rote Meer mit dem Indischen Ozean. Ein Dampfschiff brauchte nun um rund 30 Tage weniger lang um vom Mittelmeer nach Bombay zu gelangen. Dies hatte große Auswirkungen auf den Handel zwischen Europa und Ostasien. Insbesondere für Großbritannien, das den Handel mit Ostasien und insbesondere mit seiner Kolonie Indien beherrschte, war dies von zentraler Bedeutung. Um die enormen finanziellen Mittel für den Bau des Kanals aufbringen zu können, war 1858 eine ägyptische Aktien-Gesellschaft gegründet worden, deren Hauptverwaltungssitz aber in Paris war und die von einem Franzosen, Ferdinand Lesseps, geleitet wurde. Mit der Ausgabe der Aktien sollten möglichst viele internationale Investoren für eine Beteiligung gewonnen werden. Weil auf diesem Weg jedoch nur rund die Hälfte des notwendigen Kapitals von 200 Millionen Francs aufgebracht werden konnte, musste die ägyptischen Regierung unter dem Vizekönig (= Khedive) Said Pascha – die rein formal noch in Abhängigkeit vom Osmanischen Reich stand – rund 100 Millionen Francs beisteuern. Da dies aus den ägyptischen Staatseinnahmen nicht aufzubringen war, wurde das Geld in Form von Krediten, v.a. bei französischen aber auch bei britischen Banken, aufgenommen. Bis zur Eröffnung des Kanals – an dessen Fertigstellung mehrere hunderttausend Menschen gearbeitet hatten – waren die Baukosten auf über 400 Mio. Francs gestiegen und die ägyptische Regierung war bald darauf bankrott, da die Einnahmen aus den Benutzungsgebühren für den Kanal anfangs nur gering waren und nicht dafür ausreichten, auch nur die Kreditzinsen zu bezahlen. 1875 verkaufte der Khedive die ägyptischen Anteile an der Suezgesellschaft, was aber immer noch nicht reichte, um die Schulden bei den europäischen Banken zu begleichen. Stattdessen musste Ägypten neue Anleihen aufnehmen um die Zinsen für die Kredite bezahlen zu können. Der Suezkanal war damit jedenfalls zu einem guten Geschäft für zahlreiche europäische Banken geworden. Schließlich drängten aber die Regierungen von Großbritannien und Frankreich darauf, Ägypten unter eine „Finanzaufsicht“ zu stellen. Zwei „Finanzfachleute“ aus GB und Frankreich wurden nach Ägypten entsandt und erhielten weitgehende Befugnisse bei den Regierungsfinanzen. Die Europäer setzten durch, dass rund 3/5 des gesamten ägyptischen Steueraufkommens dafür verwendet werden musste, um die Schulden bei den europäischen Gläubigern zu begleichen. Die ägyptische Regierung hatte damit ihre Souveränität und Unabhängigkeit zum Großteil an die europäische „Finanzaufsicht“ abtreten müssen. Ägypten war damit zu einer „Halbkolonie“ geworden. Eine „Halbkolonie“ ist ein Land, das zwar formal weiterhin politisch unabhängig ist, das aber bei wirtschaftlich mächtigeren „Geberländern“ stark verschuldet ist oder dessen Wirtschaft von mächtigen Ländern dominiert wird. Nachdem die ägyptische Regierung aufgrund der hohen Summen für die Kreditzinsen bzw. für die Rückzahlung u.a. mit der Bezahlung der Beamten in Rückstand geraten war, formierte sich Widerstand gegen die europäische Bevormundung. Es entstand eine Bewegung, die für die Errichtung eines unabhängigen ägyptischen Staates mit einer Verfassung (nach europäischem Vorbild) kämpfte. Diese Unabhängigkeitsbewegung wurde von zahlreichen Offizieren der ägyptischen Armee unterstützt. Zur Niederschlagung dieser Bewegung wurde ein britischer Flottenverband entsendet, der 1882 u.a. die Hafenstadt Alexandria eroberte und den Aufstand erfolgreich unterdrückte. In der Folge wurde in Ägypten ein Regime installiert, das unter der Kontrolle der britischen Regierung stand und von britischen Kolonialbeamten geführt wurde. Ägypten war damit zu einer Kolonie Großbritanniens geworden und Frankreich – das Tunesien zuvor als Kolonie annektiert hatte – war damit im Rennen um die Kolonisierung Ägyptens geschlagen. Seit den 1880er Jahren stieg aufgrund der Ölvorkommen das Interesse der europäischen Großmächte am Nahen Osten und Ägypten erhielt dadurch eine wachsende geo-strategische Bedeutung. Zwischenzeitlich war auch der Betrieb des Suezkanals, inzwischen unter Kontrolle der britischen Armee, mit einem jährlichen Überschuss von rund 30 Mio. Francs rentabel geworden. Auch nachdem 1922 das 15 Nationalismus, Imperialismus und der Erste Weltkrieg Königreich Ägypten formell unabhängig geworden war, behielt Großbritannien die Kontrolle über die Kanalzone. Eigentümer und wirtschaftlicher Nutznießer des Kanals, der inzwischen hohe Gewinne abwarf, blieb weiterhin die Suez-Gesellschaft. Nach dem 2. Weltkrieg wurde unter dem ägyptischen Präsidenten Nasser der Suez-Kanal 1956 verstaatlicht, dies löste die Suezkrise aus. Israelische, britische und französische Truppen griffen Ägypten an. Durch das Eingreifen der UNO, der USA und der Sowjetunion wurde die Auseinandersetzung jedoch relativ rasch beendet und der Krieg bereits im Dezember 1956 beendet. Durch die Nationalisierung des Kanals ging das Vermögen der Gesellschaft, auf die ägyptische Suez Canal Authority über. Die Aktionäre der SuezkanalGesellschaft erhielten dafür Enteignungsentschädigungen. FALLBEISPIEL EINER HALBKOLONIE: PANAMA In der Epoche des „klassischen“ Imperialismus errichteten die europäischen Großmächte Kolonien, das heißt die entsprechenden Länder verloren jede Souveränität und wurden von europäischen Beamten – mit Unterstützung einer einheimischen Elite, die aber auf den Status von „Befehlsempfängern“ beschränkt war – verwaltet. Dies konnte ganze Länder wie Indien oder Ägypten betreffen oder auch nur das Gebiet wichtiger Handelsplätze und Hafenstädte betreffen. Ein Beispiel dafür ist die britische Kronkolonie Hong Kong, die in den 1990er Jahren an China „rückerstattet“ wurde. Die USA mussten bei ihrem Versuch, ihre ökonomische Expansion auf Mittel- und Südamerika auszudehnen auf die Tatsache Rücksicht nehmen, dass die lateinamerikanischen Länder erst im Laufe des 19. Jahrhunderts in jahrzehntelangem Kampf ihre staatliche Unabhängigkeit von Spanien bzw. im Falle von Brasilien von Portugal errungen hatten. Ergebnisse dieses Kampfes waren in der Regel unabhängige Republiken mit – mehr oder weniger – demokratischen Verfassungen nach dem Vorbild der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung oder der europäischen demokratischen Verfassungen. Diese u.a. von Simon Bolivar stark beeinflussten und angeführten Befreiungskämpfe waren Großteils auch demokratische Revolutionen gegen das Feudalregime der spanischen Kolonialherren. Der Versuch, diese Länder auf den Status von Kolonien nach „europäischem Vorbild“ zu bringen wäre also auf erheblichen Widerstand gestoßen, weshalb die USA sich in erster Linie auf ihre wirtschaftliche und militärische Überlegenheit und einen Weg der „indirekten“ politischen Einflussnahme verließen. Hauptziele der USA waren die Öffnung der Märkte für U.S.-amerikanische Waren und die gewinnbringende Investition von U.S.-amerikanischem Kapital. So kaufte die „United Fruit Company“ riesige Ländereien in Mittelamerika für die Produktion von Obst für den weltweiten Verkauf. Dabei blieben die Staaten politisch unabhängig, Vertreter U.S.-amerikanischer wirtschaftlicher und politischer Interessen erhielten aber ein großes, teilweise sogar verfassungsrechtlich garantiertes „Mitspracherecht“ bei der Gestaltung der Politik der Länder. Dieses „Mitspracherecht“ wurde durch die Präsenz U.S.-amerikanischer Kriegsschiffe oder die Errichtung von U.S.-amerikanischen Militärstützpunkten auf dem Gebiet der jeweiligen Länder „unterstrichen“. Vor allem aber die Abhängigkeit der Wirtschaft dieser Länder von U.S.-amerikanischen Investitionen bzw. die Verschuldung bei den USA war entscheidend für den Status vieler lateinamerikanischer Länder als „Halbkolonien“. Diese Form der wirtschaftlichen Abhängigkeit bei gleichzeitiger politischer Unabhängigkeit ist in ähnlicher Form bei zahlreichen Länder der „Dritten Welt“ vorhanden, deren (Export-)Landwirtschaft von europäischen oder U.S.amerikanischen Konzernen beherrscht wird und die oft hoch verschuldet sind und einen Großteil ihrer Staatseinnahmen für die Bezahlung von Kreditzinsen aufwenden müssen. Ein Beispiel für die Entstehung einer Halbkolonie ist Panama, wo 1914 der Panamakanal eröffnet wurde, eine 83 Kilometer lange künstliche Verbindung zwischen Atlantik und Pazifik. Die heute von knapp 15 000 Schiffen im Jahr genutzte Wasserstraße ermöglichte nach ihrer Fertigstellung die Vermeidung der Route um das gefährliche und entlegene Kap Horn am Südzipfel Südamerikas. Damit wurden auf der Strecke New York – San Francisco 20 000 von insgesamt 30 000 Kilometern Seeweg, d. h. rund drei Wochen Fahrzeit, eingespart. Das machte den Panamakanal neben dem Suezkanal zur bis heute bedeutendsten, von Menschen geschaffenen Wasserstraße. Der Errichtung des Kanals war der Bau der 1855 eröffneten Eisenbahnlinie auf dem Gebiet des heutigen Panama, das damals noch zu Kolumbien gehörte, durch U.S.-amerikanische Unternehmen vorangegangen.11 1903 sollten die Verhandlungen zwischen den USA und Kolumbien über den Bau des Kanals als 11 Den hohen menschlichen Preis, der für Fortschritte wie den Eisenbahnbau bezahlt wurde in Form zahlreicher tödlicher Arbeitsunfälle, fasste der amerikanische Schriftsteller Thoreau in den Worten aus: „Jede Schwelle, über die sie auf ihren Schienen dahin rauscht, um den Bourgeois an sein Ziel zu bringen, ist ein toter Ire; die Eisenbahn fährt über 16 Nationalismus, Imperialismus und der Erste Weltkrieg staatliches Projekt abgeschlossen werden. Washington bot einen einmaligen Betrag von zehn Millionen US-Dollar und die Zahlung einer jährlichen Pacht von 250 000 US-Dollar an. Das war weniger als ein Zehntel der Summe, die von der für den Bau beauftragten französischen Baufirma veranschlagt wurde, weshalb dieses Angebot der USA im kolumbianischen Parlament auf Widerstand stieß. Die Parlamentarier forderten nicht nur einen höheren Betrag, sie hatten auch Bedenken in Bezug auf die Gebietsansprüche, die die USA stellten. Eine Mehrheit der kolumbianischen Abgeordneten stimmte gegen das Projekt, worauf U.S. Präsident Teddy Roosevelt meinte: „Ich glaube nicht, dass man es diesem Haufen Karnickel in Bogotá erlauben sollte, auf Dauer einen der großen künftigen Verkehrswege der Zivilisation zu versperren.“ Die Kolumbianer hätten einen „kriminellen Fehler“ begangen. Die USA bereiteten daraufhin mit Hilfe einer kleinen Gruppe kolumbianischer Militärs, Politiker und Unternehmer einen Putsch vor, mit dem die Macht im Panama-Gebiet übernommen werden sollte. Die Regierung Roosevelt gab den Putschisten vorab Garantien, dass man eine separatistische Staatsgründung sofort anerkennen würde. Nachdem die Putschisten am 3. November 1903 die Kontrolle über die lokalen Regierungsgebäude von Panama erlangt hatten, erkannte die US-Regierung – gänzlich ohne Debatte im Kongress – bereits eine Stunde nach der Meldung des Putscherfolges die Unabhängigkeit Panamas an. Die US-Kriegsflotte unterstützte den Putsch, indem sie die kolumbianischen Truppen mit dem Schlachtschiff „U.S.S. Nashville“ von einer Rückeroberung der Region abhielt. Der U.S.-Kommandant hatte den Befehl, „die Landung jedweder bewaffneter Kräfte mit feindlicher Intention – auch kolumbianische Regierungstruppen - zu verhindern.“ Mit Roosevelts Panama-Politik belasteten die Vereinigten Staaten die Beziehungen zu Kolumbien auf Jahre. Erst als der USKongress sich 1921 offiziell bei der Regierung in Bogotá entschuldigte und das Land mit 25 Millionen US-Dollar entschädigte, erkannte das südamerikanische Land schließlich die „Souveränität“ des Staates Panama an. In Verträgen mit der neuen Regierung von Panama erlangten die USA das Exklusivrecht auf Gesetzgebung und Rechtsprechung innerhalb eines 22-Meilen-Korridors entlang des Kanals (…) sowie die Autorität, die Zone auf alle Gebiete auszuweiten, welche die USA als „notwendig und nützlich erachteten für den Schutz des besagten Kanals." Zudem ließen die USA nach dem Vorbild der kubanischen Verfassung – Kuba war 1898 nach dem siegreichen Krieg gegen Spanien in die U.S.-Einflusssphäre integriert worden – eine Klausel in die neue Verfassung von Panama aufnehmen. Diese Klausel erteilte der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika das Recht auf militärisches Eingreifen, um die öffentliche Ruhe und die verfassungsgemäße Ordnung wiederherzustellen. Seit dem Jahre 1913 zahlten die USA eine Pacht von 250 000 US-Dollar an Panama, das war dieselbe Summe, die 1902 von Kolumbien noch zurückgewiesen worden war. Der Panamakanal wurde zum zentralen Bestandteil der „Großmarine-Strategie“ der USA, da sie eine Handels- und Militärmachtstellung im Atlantik und im Pazifik ermöglichte. Durch den Kanal und die angrenzende Militärbasen wurde es den USA wesentlich erleichtert, ihre internationalen ökonomischen Interessen durchzusetzen und ihre strategische Position zu verbessern. Heute herrscht nur wenig Zweifel daran, dass Roosevelts Panamapolitik einen imperialistischen Verstoß gegen geltendes internationales Recht darstellt. Damit scheint auch die These des österreichischen Ökonomen Joseph Schumpeter widerlegt, dass der Imperialismus nicht aus der Expansion des Kapitalismus erwachse, sondern bloß die Folge der „ruhmsüchtigen“ Politik europäischer feudaler „Kriegerklassen“ sei. Leichen.“ Der „tote Ire“ spielt auf die Tatsache an, dass beim Bau der Eisenbahn in den USA neben Arbeitern aus China zahlreiche irische Immigranten beschäftigt waren. 17 Nationalismus, Imperialismus und der Erste Weltkrieg RACISM AND “WHITE SUPREMACY” Imperialism, conquest and colonial genocide before 1914: The decades of "peace" before 1914 were decades of mass murder in the European colonies in Africa and Asia, justified by an alleged “racial supremacy” of Europeans In his search for the "Origins of Nazi Violence" the historian Enzo Traverso has taken a look at the history of European colonial expansion in the 19th century. Traverso contends that Nazis during World War II were basically applying the same principles and methods in Eastern Europe and in Russia as those already adopted by France, the United Kingdom and other imperialist powers in Africa and Asia in the 19th century."12 In the decades before 1914, the local native populations of the European colonies were denied civil and political rights. Many natives lost their land as it was taken and given to European colonists. Many natives were forced to pay taxes and to work on the plantations or in mines owned by Europeans. On several occasions, natives tried to resist the conquest, but the Europeans crossed any resistance they encountered. During this period of colonization and conquest, European powers had launched countless military operations. In their colonial wars, European powers for the first time made massive use of machine guns and other automatic weapons. In 1898, a British unit of a few hundred soldiers armed with machine guns defeated tens of thousands of Sudanese warriors, killing 11.000 of them. On the eve of that battle, the young Winston Churchill declared: "We shall mow them down like ripened wheat."13 In the colonies, Europeans also demonstrated their lack of any consideration for the life and the well-being of the colonial working class. An estimated number of 25 million people starved to death in India due to a famine that was seen by the colonial British ruling class as "a salutary cure for overpopulation". In the Congo, controlled by Belgian troops, the population was reduced by half between 1880 and 1920, from 20 million to 10 million. Many people were worked to death in the copper mines belonging to the Belgian King Leopold II. All this was rationalized as the "redemption" of the African continent. The massacres of the native African and Asian population were seen as "regrettable necessities" of the process of civilizing the "barbarians". Native Africans and Asians were constructed as “inferior races” and were attributed with inferior features and characteristics (laziness, lower intellectual capacity etc.) and these features were thought to be natural, immutable and global. Such racist attitudes of “white supremacy” had first developed as an ideology to justify slavery in the early modern period. White European people were constructed a “superior race” of people, superior to people of colour and were therefore "justified" and right to enslave them. Still, it took a long time before this ideology was commonly accepted. In America, the concept of the African race having a lower status was not widely accepted before the 18th century. Many white Europeans had come to America as indentured servants14 and their status was only slightly better when compared to that of African slaves. Racism was strongly promoted in the 18th century in order to divide white and black people who had originally stood together in fighting for better living conditions against the powerful and rich elite in the Northern American colonies. As the people in the colonies were seen as inferior, it was therefore permissible to exterminate them like "game" (= Wildtiere). A vast arsenal of ideological legitimation (justification) for the project of conquest and colonial genocide was produced in the course of the latter half of the 19th century in Europe. In 1892, an article in the French "Revue scientifique" dealing with the "fatal impact" of civilization upon "savages" read: "All inferior peoples put in contact with superior people are fatally condemned to perish." This is but one example of the vast literature that fostered the belief in the principle of the West’s right to dominate the world, to colonize the planet, and to subjugate or even eliminate “savage peoples”. 12 Traverso 2003, S.70 Traverso 2003, S. 64 14 Ein „indentured servant“ (Bedeutung: Knecht mit gezahntem Zeitvertrag) war ein unter Vertrag stehender Arbeiter, der für eine bestimmte Zeit (meist mehrere Jahre) für eine andere Person oder ein anderes Unternehmen arbeitete, ohne dafür Lohn zu erhalten. Im Gegenzug erhielt insbesondere die Kosten für den Transport in die englischen Kolonien nach Nordamerika im Voraus bezahlt, darüber hinaus auch Unterkunft und Lebensmittel. Diese Form der Vertragsknechtschaft gab es im englischen Rechtssystem vom 16. bis 18. Jahrhundert. 13 18 Nationalismus, Imperialismus und der Erste Weltkrieg AFRIKA UND AFRIKANER IN FRANKREICHS "GRAND GUERRE" (GREAT WAR) "France will bring civilization, wealth and peace to Morocco" Front page of a French Journal in 1911 TASKS How is the French nation presented in the picture? How are the native people presented in the picture? Does the picture promote racism? Schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die „Tirailleurs Sénégalais" (Senegalschützen) aus Westafrika zu einer Truppe der französischen Armee zusammengefasst. Seitdem trugen alle westafrikanischen Kolonialsoldaten ungeachtet ihres Herkunftslandes diesen Namen. Bis zum Ersten Weltkrieg waren die Tirailleurs im wesentlichen schlecht bezahlte Söldner, die vor allem in Afrika, aber auch in der Karibik und Indochina rekrutiert wurden und bald schon rund eine Million Mann zählten. Überwiegend waren diese Soldaten auch in den Kolonien selbst im Einsatz. Schon 1912 führte die französische Republik auch in den Kolonien eine eingeschränkte Wehrpflicht ein. Im Ersten Weltkrieg galt ab 1916 auch in den Kolonien die allgemeine Wehrpflicht für alle Männer ab 20 Jahren. Die Bevölkerungszahl in Frankreich stagnierte und die Afrikaner sollten diese Lücke füllen. Es ging um die Aufstellung einer „Schwarzen Armee" durch eine systematische Rekrutierung von „Kanonenfutter" in den Kolonien. Anders als die Briten schickten die französischen Regierungen Kolonialsoldaten auch in europäische Kriege. Die Briten vermieden es, nichtweiße Truppen für die Armee einzusetzen. Die Franzosen taten etwas, was andere Kolonialmächte nicht wagten: Sie bewaffneten und trainierten eine große Zahl potentiell rebellischer kolonialer Untertanen in dem, was man ‚moderne Kriegsführung‘ nannte. Wie viele der mehr als 500.000 französischen Soldaten aus Afrika im Ersten Weltkrieg gefallen sind, verletzt oder vermisst wurden, ist nie offiziell bekannt gemacht worden. Die Zahl wird auf mindestens 100.000 geschätzt. Der deutsche General Erich Ludendorff notierte in seinen Memoiren, dass Frankreichs Nutzen aus seinem Kolonialreich nicht hoch genug einzuschätzen sei. Immerhin habe der Feind vor allem im entscheidenden Sommer 1918 den Krieg „in weiten Teilen mit farbigen Truppen geführt". AUFGABE Erörtern Sie die Zielsetzungen der Kolonialmächte - insbesondere Frankreichs - für den Einsatz afrikanischer Kolonialsoldaten im Ersten Weltkrieg. 19 Nationalismus, Imperialismus und der Erste Weltkrieg THE FINEST RACE IN THE WORLD "I contend that we are the finest race in the world and that the more of the world we inhabit the better it is for the human race. Just fancy those parts that are at present inhabited by the most despicable specimens of human beings what an alteration there would be if they were brought under Anglo-Saxon influence, look again at the extra employment a new country added to our dominions gives. [...] Africa is still lying ready for us, it is our duty to take it. It is our duty to seize every opportunity of acquiring more territory [...] more territory simply means more of the Anglo-Saxon race, more of the best, the most human, most honourable race the world possesses." Cecil Rhodes in 1877 Cecil Rhodes became Prime Minister of the British Cape Colony in 1890. TASKS What reasons does Cecil Rhodes give for the British Empire to take control of Africa? Compare and contrast Cecil Rhodes' arguments with what you know about racism! NATIONALISM – THE NATIONALIZATION OF THE MASSES World War I was a laboratory for new forms of nationalist and chauvinist propaganda. The propaganda aimed at the “racist” dehumanization (Entmenschlichung) of the enemy. Multiracial French and British armies lead to German propaganda claiming the defence of European culture against the threat of "cannibalistic tribesmen" ("menschenfressende Stämme in Uniform"). Chauvinist French propaganda aimed at the innate barbarity of the Germans who were labeled as "boches" (= Schweine). “The First World War marked a decisive stage in the process of the nationalization of the masses. Nationalism became more aggressive than ever before. It reproduced the logic of the front. National rivalry was seen as an ‘existential’ conflict with the enemy that could only be resolved by the total defeat or annihilation of that enemy” schreibt der Historiker Enzo Traverso. Der Erste Weltkrieg wäre nicht möglich gewesen ohne „Vorbereitung“ durch nationalistische Propaganda. Mit Nationalismus und Chauvinismus wurde in den Bevölkerungen der europäischen Staaten Hass und Ablehnung gegen „feindliche" Nationen, gegen nationale oder religiöse Minderheiten (z.B. Juden) erzeugt. So kam die in Wien gerufene chauvinistische Parole „Serbien muss sterbien" vom Sommer 1914 nicht von ungefähr, sondern war durch jahrelange Propaganda gründlich vorbereitet worden. In den drei Worten ist bereits die Vernichtungslogik der Kriegsideologie zum Ausdruck gebracht. Unmittelbar vor dem Ausbruch des Krieges erreichte die nationalistische Propaganda in allen beteiligten Ländern neue Höhepunkte. Die Deutschen wurden von der Propaganda der Entente-Staaten gerne mit den barbarischen Hunnen gleichgesetzt, die unter ihrem König Attila zur Zeit der Völkerwanderung Angst und Schrecken in Europa verbreitet hatten. Anlass dazu hatte die berühmte „Hunnenrede" des Kaisers Wilhelm aus dem Jahr 1900 gegeben. In einer Ansprache anlässlich der Entsendung einer europäischen (!) Militärexpedition nach China zur Niederschlagung des Boxeraufstands, an der auch deutsche Soldaten beteiligt waren, sagte Wilhelm: „Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht! [...] Wie vor tausend Jahren die Hunnen ... sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen lässt, so möge der Name Deutscher in China in einer solchen Weise bestätigt werden, dass niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel [schief] anzusehen.“ Die deutsche Kriegspropaganda setzte diesem Vorwurf entgegen, dass es sich bei Deutschland um eine Kulturnation handle, und nicht um ein zweites „Hunnenreich“. Für den deutschen Kaiser Wilhelm II. stand wiederum der Kampf gegen die „zaristische Unterdrückung“ nicht so sehr im Vordergrund. Vielmehr betrachtete 20 Nationalismus, Imperialismus und der Erste Weltkrieg er den Weltkrieg als ein „Endkampf“ zwischen Slawen und Germanen. Beim Weltkrieg ging es für ihn um nichts weniger als die Frage von „Sein oder nicht Sein der germanischen Rasse in Europa". Weiters meinte er, Friede sei zwischen „Slawen und Germanen überhaupt unmöglich". Deutsches Kriegsziel im Osten war jedenfalls die „Dekomposition Russlands", das heißt Russland sollte als einheitlicher Staat „zerlegt" werden.15 Nach dem Friedensschluss mit der nach-revolutionären russischen Regierung von Brest-Litowsk im März 1918 war man diesem Ziel schon ein Stück näher gerückt. Mit der deutschen Niederlage im Weltkrieg ging allerdings auch der Traum von der Beherrschung Osteuropas zu Ende. Mit dem Friedensvertrag von Versailles 1919 wurde Deutschland selbst „Opfer“ der Siegermächte. So gab es Gebietsverluste - z.B. die Abtretung von Elsass-Lothringen an Frankreich - und die Festlegung einer obersten Truppenstärke, wodurch Deutschland dauerhaft als militärische Macht ausgeschaltet werden sollte. Hitler verfolgte zwei Jahrzehnte später abermals dieselben Kriegsziele in Osteuropa und verwendete für seinen auch als „Unternehmen Barbarossa“ bekannt gewordenen „Russlandfeldzug“, also für den Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941, auch eine sehr ähnliche Propagandasprache. 1941 ging es darum, die slawischen Untermenschen zu „Sklaven der deutschen Kultur“ zu machen, außerdem noch um die Beseitigung der „jüdisch-bolschewistischen“, sprich kommunistischen Bedrohung Europas und der ganzen Welt.16 Der Erste Weltkrieg war geradezu ein „Laboratorium für neue Formen der Propaganda“, dabei vermischten sich nationale Stereotypen mit der Verbreitung von Rassestereotypen. In der französischen Propaganda wurden die Deutschen als „boches“, also Schweine, bezeichnete, die durch eine barbarische Natur charakterisiert sind. In diesem Zusammenhang spricht man auch von „naturalistischer Despezifikation“, weil den Mitgliedern einer religiösen, kulturellen oder in diesem Fall ethnischen Gruppe die Zugehörigkeit zur Spezies Mensch abgesprochen wird. In dieser Hinsicht sehr interessant ist auch die in mehreren Sprachen veröffentlichte Erklärung mit dem Titel „An die Kulturwelt", auch bekannt als das „Manifest der 93". Es handelt sich dabei um eine von 93 namhaften deutschen Akademikern verfasste und von tausenden weiteren unterzeichnet Rechtfertigung des Krieges von deutscher Seite. So heißt es in der Erklärung: „Es ist nicht wahr, dass unsere Kriegsführung die Gesetze des Völkerrechts missachtet. (...) Sich als Verteidiger der europäischen Zivilisation zu gebärden, haben die am wenigsten das Recht, die sich mit Russen und Serben verbündeten und der Welt das schmachvolle Schauspiel bieten, Mongolen und Neger auf die weiße Rasse zu hetzen.“17 Das Manifest wurde u.a. von renommierten Wissenschaftlern wie dem Universitätsprofessor für Physik, Max Planck, unterschrieben. Während sich zahlreiche deutsche Universitätsprofessoren im Manifest der 93 hinter die Kriegsanstrengungen ihrer Regierung stellten, war Albert Einstein, Professor an der Universität in Berlin, im Gegensatz zu seinem Kollegen Planck ein konsequenter Kriegsgegner. Ebenso wie eine wachsende Zahl von Kriegsgegnern auf der ganzen Welt, z.B. die US-amerikanischen Gewerkschafter und Sozialisten, meinte Albert Einstein in einem Briefwechsel mit Siegmund Freud: „Die Massen sind niemals kriegslüstern, solange sie nicht durch Propaganda vergiftet werden. Wir müssen sie gegen Propaganda immunisieren. […] Die Menschen müssen weiterhin kämpfen, aber nur, wofür zu kämpfen lohnt: und das sind nicht imaginäre Grenzen, Rassenvorurteile oder Bereicherungsgelüste, die sich die Fahne des Patriotismus umhängen“.18 Exkurs: Die katholische Kirche und der Erste Weltkrieg In gewisser Hinsicht vergleichbar mit der Situation der international organisierten Sozialdemokratischen Parteien war die Situation der Katholischen Kirche. Auch sie war mit der Frage konfrontiert, was sie dazu sagen sollte, dass zum Kriegsdienst verpflichtete Katholiken sich gegenseitig im Namen ihrer Nationen als Soldaten bekämpfen mussten. Der im September 1914 gewählte Papst Benedikt XV. bemühte sich um Unparteilichkeit und 15 Losurdo 2013, S. 167 16 In der aktuellen Berichterstattung und in den offiziellen Verlautbarungen der EU und der deutschen Regierung über die - angeblich – „von Russland ausgehende Gefahr“ bzw. Bedrohung für den Rest Europas findet sich dieses Vokabular zweifellos nicht mehr. Womöglich haben sich die westeuropäischen Regierungen und insbesondere diejenige Deutschlands - trotz NATO-Mitgliedschaft – inzwischen realpolitisch damit abgefunden, dass eine „Dekomposition" Russlands als Ziel ein wenig zu ehrgeizig gewesen sein könnte. 17 Canfora 2010, S. 78 - Manche Sätze könnten durchaus auch aus Büchern wie Hitlers "Mein Kampf" stammen, ein Buch übrigens, in dem sich tatsächlich kein einziger neuer Gedanke findet, der nicht schon zuvor von anderen Rassisten so oder so ähnlich gesagt oder geschrieben worden wäre. 18 Einstein 1996, S. 3 21 Nationalismus, Imperialismus und der Erste Weltkrieg sprach sich spät aber doch, im Sommer 1917, gegen die „grauenhafte Schlächterei" des Krieges aus sowie für einen Waffenstillstand.19 Die einflussreichsten Bischöfe sowohl in Deutschland und in Österreich, als auch in Italien und in Frankreich stellten sich allerdings hinter den Krieg ihrer eigenen Regierung. Die meisten befürworteten den Krieg öffentlich und zahlreiche Priester segneten die Waffen, mit denen sich die Soldaten im Krieg gegenseitig töten sollten. Ein Bischof meinte: „Was soll so schlimm sein an einem Krieg, wenn in ihm Menschen sterben, die ja ohnehin sterblich sind?" PROPAGANDA UND KRIEGSRECHTFERTIGUNG Argumentationsmuster zur Rechtfertigung von Krieg: Von Freiheit und Demokratie („Freedom and democracy“) bis zum „Präventivschlag“ In Frankreich und Großbritannien wurde der Krieg von der Propaganda als ein Kampf „für die Demokratie“ und gegen das „autokratische", also undemokratische deutsche Kaiserreich verkauft. In den USA spielte der Kampf für die Demokratie – und gegen das „undemokratische“ Deutschland – bei der Rechtfertigung für den Eintritt in den Weltkrieg 1917 eine besonders große Rolle. „To make the world safe for democracy“ – diese Parole wurde von US-Präsident Woodrow Wilson ausgegeben. Als Krönung wurde pauschal allen Kriegsgegnern in den USA – insbesondere den Gewerkschaftern und den Mitgliedern der Socialist Party – unterstellt, Sympathien für das deutsche Kaiserreich zu haben. Das ist aber nur ein Beispiel dafür, wie wahllos sich die Propaganda ihre Feindbilder zusammenzimmert. In der Propaganda des „Krieges für die Demokratie“ übersahen die Regierungen der USA, Frankreichs und Großbritanniens ihrerseits freilich, dass sie sich mit der am wenigsten demokratischen Regierung Europas, nämlich mit der zaristischen Regierung Russlands, verbündet hatten. Im zaristischen Russland wurden alle nach einer demokratischen Republik strebenden politischen Bewegungen verfolgt und tausende politische Gefangene nach Sibirien deportiert. Um nicht selbst zum Angriffsziel des Unmuts und der Unzufriedenheit seiner Untertanen zu werden, waren im russischen Zarenreich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg regelmäßig von der Regierungsstellen (und der Polizei) antisemitische Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung angezettelt worden. Diese, selbst zum Großteil in Armut lebende Bevölkerungsgruppe, wurde für wirtschaftliche und soziale Missstände verantwortlich gemacht. Die Kriegspropaganda in Deutschland und Österreich stellte – wie könnte es anders sein – den Krieg als einen Kampf gegen den rückständigen und unterdrückerischen Zarismus dar. Dass es z.B. den politischen Antisemitismus nicht nur im russischen Zarenreichen – sondern ebenso in der österreichischen Monarchie und in Deutschland (und nebenbei bemerkt auch im republikanischen Frankreich) gab, spielte dabei keine Rolle. Die deutsche Rechtfertigungspropaganda suchte nach Möglichkeiten, wie sie den völkerrechtswidrigen Überfall auf das neutrale Belgien durch die deutsche Armee im Sommer 1914 in einen Akt der Verteidigung uminterpretieren konnte. Dabei fanden die Universitätsprofessoren in dem schon weiter oben erwähnten Manifest der 93 eine wahrhaft akademische Lösung für das knifflige Problem des Völkerrechtsbruchs durch das Deutsche Reich. So heißt es im Manifest in Bezug auf den deutschen Überfall auf Belgien: „Es ist nicht wahr, dass wir freventlich die Neutralität Belgiens verletzt haben. Nachweislich waren Frankreich und England zu ihrer Verletzung entschlossen. [….]. Selbstvernichtung wäre es gewesen, ihnen nicht zuvorzukommen."20 Mit anderen Worten: Deutschland ist seinen Feinden nur zuvorgekommen, es war also ein „Präventivschlag“, wie man heute sagen würde. In der Tat ist bis heute weder Politikern noch Universitätsprofessoren eine wirklich bessere Erklärung eingefallen, wenn ein Land aus der tatsächlichen oder nur behaupteten Einflusssphäre eines anderen Landes „befreit" werden soll oder gleich ganz erobert werden möchte. Nach der selben Logik musste sich die EU auch deshalb mit der Zusage von militärischer und wirtschaftlicher Unterstützung in die ukrainischen Machtkämpfe zum Jahreswechsel 2013/14 einmischen und den verfassungswidrigen Sturz der Regierung Janukowitsch nach Kräften befördern. Weil dasselbe hätte ansonsten - womöglich „nachweislich" - der russische Präsident Putin gemacht hätte. Weitere Beispiele für präventive militärische Operationen sind die Angriffe der NATO auf Afghanistan und den Irak. Sie wurden als „Präventivschläge“ im „Krieg gegen den Terrorismus“ („war on terror“) ausgegeben, den Präsident Bush 2001 ausgerufen hatte. 19 20 Canfora 2010, S. 108 f. Canfora 2010, S. 83. 22 Nationalismus, Imperialismus und der Erste Weltkrieg WETTLAUF ZWISCHEN KRIEG UND REVOLUTION Der Erste Weltkrieg war auch ein – nicht nur europäischer – Bürgerkrieg der Konterrevolution gegen die Arbeiterbewegung und ihren „Internationalismus“ “I suggest compulsory military training for all males to avert the danger that these people of ours shall be divided into classes. We must let our young men know that they owe some responsibility to this country." U.S. Senator James Wadsworth of New York in 1916 Außenpolitisch war das Kräfteverhältnis zwischen den konkurrierenden Großmächten vor dem Ersten Weltkrieg aus dem Gleichgewicht geraten, was eine wichtige Ursache dafür war, dass der Krieg ausbrach. Die Begehrlichkeiten der ökonomisch vorherrschenden Klassen, also der Unternehmer und Bankiers, richteten sich aber nicht nur nach außen in Form der Eroberung von Einflussgebieten und Kolonien. Innenpolitisch führte das Profitstreben dazu, dass eine zahlenmäßig wachsende Klasse von ArbeiterInnen zum Leben in Armut verurteilt war. Für tägliche Arbeitszeiten von mehr als 12 Stunden erhielten die ArbeiterInnen gerade genug, um zu überleben. Kinderarbeit stand auf der Tagesordnung, da Familien ansonsten nicht genug Geld hatten um für Miete, Kohle und Lebensmittel bezahlen zu können. Eine stärker werdende ArbeiterInnenbewegung, v.a. Gewerkschaften und sozialdemokratische Parteien, organisierten in den Jahrzehnten vor dem 1. WK eine immer größer werdende Zahl von ArbeiterInnen für einen Kampf um wirtschaftliche und soziale Verbesserungen. Ein erster Erfolg war die Reduktion der täglichen Arbeitszeit auf 10 Stunden oder das Verbot von Kinderarbeit. Da die Verbesserungen für die ArbeiterInnen in vielen Fällen aber auf Kosten der Profite der Industriellen ging, wurde die ArbeiterInnenbewegung innenpolitisch von den ökonomisch einflussreichen Klassen bekämpft. In Deutschland war die Sozialdemokratie jahrelang verboten, ihr Aufstieg konnte dadurch aber nicht gebremst werden. Bei den Wahlen zum deutschen Reichstag 1912 wurde die Sozialdemokratie zur stärksten Partei, die Zahl ihrer Abgeordneten wurde mehr als verdoppelt und stieg von 43 auf 110 Abgeordnete. Aber nicht nur in Deutschland, auch in den USA, Großbritannien, Österreich, Italien und Frankreich und zahlreichen anderen Ländern entstand eine Arbeiterbewegung. Nach dem Motto: „ArbeiterInnen aller Länder, vereinigt euch" (im Kampf für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen) hatten die sozialdemokratischen Parteien 1889 die „2. Internationale" gegründet. Ziel war es, soziale Verbesserungen, Arbeitszeitverkürzungen und Lohnerhöhungen über die Grenzen der Nationalstaaten hinweg zu erkämpfen. Deshalb sollte verhindert werden, dass ArbeiterInnen verschiedener Nationen „gegeneinander ausgespielt“ werden – Stichwort „Standortlogik“. Delegierte aus dutzenden Ländern aus der ganzen Welt trafen sich dafür regelmäßig auf Kongressen der „Internationale". Dort war u.a. im Jahr 1908 beschlossen worden, dass die sozialdemokratischen Parteien mit geeigneten Mitteln einen drohenden Krieg bekämpfen und nach Möglichkeit verhindern sollten. Aufgrund der Erfolge der ArbeiterInnenbewegung war in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg – aus Sicht der ökonomisch einflussreichsten Klassen, der Unternehmer und Bankiers - auch innenpolitisch in den meisten Ländern das „soziale Gleichgewicht" dabei, zu zerbrechen. Das Erstarken der Arbeiterbewegung führte dazu, dass sich das innenpolitische Kräfteverhältnis zu verschieben begann, und zwar zugunsten der ArbeiterInnen. So wurde die Arbeiterbewegung nicht nur in Deutschland, sondern z.B. auch in den USA und in Großbritannien – diesen aufgrund ihrer langen parlamentarischen Geschichte als demokratische Musterländer geltenden Staaten – von den Regierungen und den Unternehmern bekämpft. Aber obwohl unzählige OrganisatorInnen von Streiks für Lohnerhöhungen und Aktivisten für eine gewerkschaftliche Organisierung der ArbeiterInnen vor Gericht gestellt und zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden, war der Aufstieg der Arbeiterbewegung nicht wirklich aufzuhalten. 23 Nationalismus, Imperialismus und der Erste Weltkrieg In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg deutete jedenfalls vieles darauf hin, dass es nur eine Frage der Zeit sein könnte, bis die ArbeiterInnen so viel Kraft gewinnen würden, um selbst die politische Macht zu übernehmen und damit zugleich das kapitalistische Wirtschaftssystem durch ein sozialistisches zu ersetzen. Der Britische Historiker Herbert Fisher meinte: „Am 8. Juli 1914 brach in den Fabriken von St. Petersburg (Russland) ein gefährlicher Streik aus. [...] Man mochte den Eindruck gewinnen, dass in dem Wettlauf zwischen Krieg und Revolution die Revolution zuerst ans Ziel kommen werde."21 Der Historiker Fernand Braudel schrieb über das Jahr 1914: „Europa stand an der Schwelle zum Sozialismus, aber auch zum Krieg; innerhalb weniger Tage, weniger Stunden, stürzte es in den Abgrund." In diesem Zusammenhang zeigt sich auch die „innenpolitische“ Dimension des – bereits weiter oben behandelten – aggressiver werdenden Nationalismus. Der Nationalismus wurde nämlich nicht zuletzt auch „nach innen“, im Kampf gegen die ArbeiterInnenbewegung eingesetzt. Die nationalistische Mobilisierung der Bevölkerung für den Weltkrieg sollte dem „Internationalismus“ der Arbeiterbewegung ein Ende bereiten. Zweifellos herrschte – nicht nur in Österreich und Deutschland – im Sommer 1914 eine begeisterte Stimmung für einen Krieg für das Vaterland. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die international organisierten Sozialdemokratischen Parteien mehrheitlich einem „Burgfrieden“ mit den anderen Parteien und den Regierung ihrer „Vaterländer“ zugestimmt hatten. Nach der überwältigenden Zustimmung zu den Kriegskrediten im deutschen Reichstag meinte Kaiser Wilhelm II: „Ich kenne keine Parteien mehr, nur noch Deutsche." Von den sozialdemokratischen Abgeordneten im Deutschen Reichstag war Karl Liebknecht im Sommer 1914 der einzige, der sich an diesen Beschluss der Internationale gebunden fühlte, weshalb er seine Zustimmung zu den Kriegskrediten, sozusagen die Widmung (zukünftiger) Steuergelder für Kriegszwecke, verweigerte.22 In diesem Wettlauf zwischen Krieg und Revolution kam also im August 1914 der Krieg vorläufig zuerst ins Ziel. Interessant in diesem Zusammenhang, dass viele historische Darstellungen Bilder von kriegsbegeisterten Menschen vom August 1914 zeigen, die es nicht erwarten können, in den Krieg zu ziehen. Bilder von streikenden Arbeitern wurden dagegen schon von der damaligen Kriegspropaganda zensiert. DER WELTKRIEG ALS BOMBENGESCHÄFT Die Rüstungsindustrie profitierte vom Krieg, während der Krieg für den Großteil der Bevölkerung auch abseits der Schlachtfelder millionenfaches Elend bedeutete: Überarbeitung (100-Stunden-Woche), Hunger, Kälte und Krankheiten forderten Millionen Tote Im Vergleich mit dem Stellenwert des Attentats von Sarajevo hat die de-humanisierende Wirklichkeit des Krieges einen vergleichsweise geringen Stellenwert im kollektiven geschichtlichen Bewusstsein. In diesem Krieg wurden mehrere Millionen Menschen mit industriellen Massenvernichtungstechniken getötet. Die Dehumanisierung des Krieges hat aber noch weitere Dimensionen. Aufgrund des Krieges wurde der Rüstungsproduktion absolute Priorität eingeräumt mit teilweise verheerenden Folgen für die Zivilbevölkerung, allen voran für die IndustriearbeiterInnen, insbesondere in Deutschland, Österreich und Russland. Für die Regierungen der kriegführenden Länder stand im Sommer 1914 zunächst nur eine Frage im Vordergrund: Wie sollte der Krieg finanziert werden? Sollten Kriegsanleihen ausgegeben werden, die von den wohlhabenderen Teilen der Bevölkerung gezeichnet werden konnten oder sollte der Krieg v.a. durch direkte Besteuerung finanziert werden? Im Laufe des Krieges kamen zahlreiche weitere offene Fragen dazu. The mass mobilization of manpower put enormous strains on the labour force, which is why modern mass wars generally strengthened the powers of organized labour and produced a revolution in the employment of women outside the household. Mass war brought "Materialschlachten", and mass war required mass production. 21 Canfora 2010, S. 11; S. 17 Der im Frühjahr 2014 eingebrachte Antrag, für Karl Liebknecht deshalb im deutschen Bundestag eine Gedenktafel zu widmen, wurde von allen Fraktionen außer der Fraktion „Die Linke“ abgelehnt. Es gibt als Gründe, anzunehmen, dass die übergroße Mehrheit der deutschen Abgeordneten auch heute ohne viel Zögern der Finanzierung eines neuerlichen (Welt-)Krieg zustimmen würde. 22 24 Nationalismus, Imperialismus und der Erste Weltkrieg Before World War I, France had a munitions output of around 10.000 shells a day, during war its industry had to produce 200.000 shells a day. Even the clothing industry was required to produce military garments far beyond any conceivable peacetime capacity. Already in the latter half of the 19th century a sort of symbiosis had developed between government and private enterprise producing armaments, especially in the high-tech sectors such as artillery and the navy. This phenomenon became known as the "military-industrial complex”. There were substantial "economic necessities" behind U.S. President Wilson's decision to enter the war in 1917 as well. In 1914 a serious recession had begun in the United States, the industries were working far below capacity. But by 1915, war orders for the Allies (mostly GB) had stimulated the economy, and by April 1917 more than $2 billion worth of goods had been sold to the Allies (“Entente-Mächte”). GB had also become a market for American loans at interest. The J.P. Morgan bank was lending money in such great amounts as to both make great profit and tie American finance closely to the interest of a British victory in the war against Germany. Up to the World War, the basic assumption was that the economy would more or less continue to operate in wartime as it had in peacetime. The First World War, which lasted so much longer than governments had anticipated, made "business as usual" impossible. The politicians’ readiness to pursue victory without counting the financial costs resulted in four years of warfare with waging “Materialschlachten” to total exhaustion. When it turned out that "business as usual" did not work, governments started to act as a managers, planning important parts of the national economy. Governments learnt this only by experience in the course of the First World War. Nevertheless, it only gradually became clear to what extent governments had to take over the economy, and how essential planning and the allocation of resources now were.23 The British and the French governments proved to be superior to Germany managing the government-run planned war economies. Germans were hungrier during World War I, and their workers' real income had fallen. The French and British workers’ real income had risen. Egal aber ob die Reallöhne gestiegen waren oder gesunken waren, wie z.B. in Deutschland, so wurden die Menschen, die in der Industrie arbeiteten, in fast allen kriegführenden Ländern zu „Anhängseln der Kriegsproduktion“ und wurden teilweise unmenschlichen Arbeitsbedingungen unterworfen. Die wöchentlichen Arbeitszeiten beliefen sich oftmals auf über 100 Stunden, um kriegswichtige Materialien zu produzieren. Aufgrund von Lebensmittelmangel hungerten Millionen Menschen vier Jahre lang, aufgrund des unzureichenden Angebots an Kohlen froren Millionen Menschen jeden Winter. Besonders anfällig für hungerbedingte Krankheiten mit tödlichem Ausgang waren Kinder, weshalb zahlreiche Industriearbeiterfamilien in Deutschland gibt ein Kind während des Krieges verloren haben. Um das Ausmaß des Anwachsens der kriegswichtigen Industrieproduktion zu veranschaulichen, können folgende Zahlen helfen: Hatte das deutsche Heer 1914 über 7 300 Geschütze verfügt, so betrug ihre Zahl 1918 schon knapp 19 000. Die Zahl der Minenwerfer erhöhte sich von 50 auf beinahe 12 000, diejenige der schweren Maschinengewehre von 2 700 auf 36 000, diejenige der Flugzeuge von 200 auf 4 800. Kleines Detail am Rande: Deutsche Rüstungsgüter wurden auch an feindliche Armeen verkauft, wenn diese einen guten Preis dafür bezahlten. So wurden nicht wenige deutsche Soldaten von französischen Granaten verletzt oder getötet, von denen zumindest Bestandteile aus deutscher Rüstungsproduktion stammten. Diese Dimension des Krieges drückte Karl Kraus in dem Satz aus: „Es handelte sich in diesem Krieg, ja, es handelte sich sehr gut in diesem Krieg." Für die Unternehmen des „militärisch-industriellen Komplexes“ brachte der Krieg jedenfalls Bombenprofite. Unternehmen wie z.B. die Firma Krupp, die Firma Deutsche Waffen- und Munitionsfabriken und die Firma Sprengstoff AG machten jährlich viele Millionen Mark Reingewinne. Die Firma BASF (Badische Anilin- und Sodafabrik) profitierte vom Krieg in Form einer staatlichen Unterstützung von 360 Millionen Mark für den Bau der Leunawerke. 23 Hobsbawm 1995, S. 70 25 Nationalismus, Imperialismus und der Erste Weltkrieg IN STAHLGEWITTERN – HURRICANES OF STEEL Industrialized Violence lead to impersonal mass murder on a new scale. Oder: Die Auswirkungen technischer Entwicklungen auf die Gesellschaft World War I marks a decisive leap forward in the industrialization and dehumanization of warfare: Once warfare was industrialized (machine guns, heavy artillery, chemical weapons - Giftgas), the dehumanization ("Entmenschlichung") of the enemy and his carefully planned destruction took a great leap forward. Due to the startling advance in technology and the modernization of armies, violence became impersonal and more efficient than ever before.24By the year 1914, the European armies were on their way to being transformed into "factories of death". Henry Ford had introduced the “production line” using conveyer belts in order to maximize the output of serial industrial production in his factories. With "Fordism", the production in factories was divided into a series of operations controlled solely by a handful of engineers and executives who were in command. Production capacity rose to enormously high levels, making the cost of each product much lower than previous forms of production. Maximizing the output of production and raising competitiveness were not the only benefits: With the introduction of the conveyer belt, workers lost control over the work progress and unskilled workers were easily replaceable. In a similar way, soldiers in modern armies became mere handlers of machines. A major part of the troops again consisted of factory workers trained as soldiers. They waged war like they used to work on the productions lines. This fusion of the soldier and the worker was – for the first time – realized in World War I. With violence becoming mechanized and serialized, the Great War marked a qualitative leap in both the development and the perception of violence. The machine gun automatically completed in a single cycle all the operations previously executed separately, making it possible to fire 700 rounds a minute. The firepower of machine guns had certainly been tested in Africa at the time of the colonial wars, but the racist prejudices of the military leaders had prevented them from drawing full conclusions from the experience. It was not until the outbreak of the World War in 1914, that the military leaders came to realize what changes this technical revolution implied on the battlefield. The generals – still assigning a crucial role to the infantry (and the cavalry) – still persisted in launching bayonet charges involving hundreds of thousands of soldiers who were regularly scythed down by the fire of machine guns and artillery. So far, machine guns had only been used to kill Africans by the thousands. With World War I, the European ruling elites extended to their "own" soldiers of the "civilized" European peoples some of the methods hitherto reserved for the "savages" living in the colonies outside the socalled civilization. The shocking discrepancy between the strategic ideas of the military leaders and the reality of industrialized warfare was eventually rectified – at the technical level – by the introduction of tanks. From September 1914 onwards the battle lines remained virtually stationary in France for three years. Each side would push forward, and then back, then forward again- for a few yards, a few miles, while the corpses piled up. From the first days of the war, the killing started very fast, and on a large scale. In August 1914, a volunteer for the British army had to be 5 feet 8 inches to enlist. By October, the requirement was lowered to 5 feet 5 inches. That month there were thirty thousand British casualties, and then one could be 5 feet 3. In the first three months of war, almost the entire original British army was wiped out. The Western Front saw days and even weeks of unceasing artillery bombardement - what the German writer Ernst Jünger later called "hurricanes of Steel" (Stahlgewitter) - aiming at "softening up" the enemy and drive him underground. At "the right moment", waves of men were ordered to climb out of the trenches, usually protected by coils and webs of barbed wire, into "noman's-land". In "no-man's land", a chaos of waterlogged shell craters and ruined tree-stumps, machine-guns mowed down the soldiers. In 1916 the Germans tried to break through at Verdun; the British and French counterattacked at the river Somme. On the first day of the British Somme-Offensive alone, 60.000 British and French soldiers lost their lives or were severely injured. 24 The history of violence becoming impersonal and serialized goes back to the French Revolution of 1789. The guillotine was the result of the struggle against the inhumanity of the "punitive festival", of the practice of torturing people to death in public. The guillotine was an anthropological turning point. It marked the end of death (or the death-penalty) as a spectacle. It marked the beginning of indirect and impersonal execution, accomplished by technical means and thus removing ethical responsibility for the act of killing from the executioner. 26 Nationalismus, Imperialismus und der Erste Weltkrieg In 1909, Italian “Futurists” had hailed warfare as the “only hygiene for the world”. Social Darwinism – that had developed in the latter half of the 19th century - justified war as an “instrument of racial selection.” It was also seen as "an essential opportunity for the regeneration of humanity". War assured "the superior nations the supremacy they deserved."In a speech called “war and civilization” a British philosopher represented warfare as a “means of getting the best elements of humanity to triumph”. War was said to be “implacable for the extermination of the beings of inferior nations”. In his novel “In Stahlgewittern” – Hurricanes of Steel – published shortly after the end of the war, Ernst Jünger compared warfare with “a howling storm, a furious sea, and rumbling thunder” only comparable to the forces of nature. Soldiers were referred to as “acrobats of death” moving in fields of „flaming orchids flowering from machine guns“. For Ernst Jünger, war was a “creative experience” that would lead to the “rebirth of the German soul” and to an authoritarian order. Ernst Jünger represents some kind of a “philosophy of death” which emerged at the time of World War I. It idealized battle, destruction, and death as a “primordial experience” (UrErlebnis). For this strand of thinkers, warfare “broke the silence of nature with the symphony of cannons”. They were featuring a new kind of anti-humanism combined with technological nihilism in which extermination became an end in itself. This “philosophy of death” can be seen as another “anthropological turning point” that prepared the way for the genocides of the 20th century. It played an important role for the emerging fascist movement which chose “Viva la muerte!” – “Long live death!” – as their battle call. While Ernst Jünger thought of the soldiers of the World War as heroes – “Es sind die Besten des modernen Schlachtfeldes, von rücksichtslosem Kämpfertum durchflutet, deren starkes Wollen sich in einem geballtem, zielbewusstem Energiestoß entlädt“ – there are different points of view as well. Considering the “heroes” in this war, they turned out not be the brave fighters, but the “unkown soldiers”, buried in anonymous mass graves. Fighting as a soldier in WWI had “lost all its epic dimensions and had been converted into a planned mass slaughter”.25 The rising number of casualties was accompanied by the soldiers becoming mechanical figures stripped of all humanity. Warfare against an anonymous enemy, an enemy firing from a large range and remaining “invisible”, introduced an anthropological break, revealing a new perception of human life that also paved way for the genocides of the future. Back home, the British were not told of the slaughter. One English writer recalled: "The most bloody defeat in the history of Britain . . . might occur . . . and our Press come out bland with nothing to show that we had not had quite a good day - a victory really..." The same thing was happening on the German side; as Erich Maria Remarque wrote in his great novel, on days when men by the thousands were being blown apart by machine guns and shells, the official dispatches announced "All Quiet on the Western Front." 25 Traverso 2003, S. 78 27 Nationalismus, Imperialismus und der Erste Weltkrieg THE SOMME OFFENSIVE OF 1916 The Somme offensive - named after the French river Somme where it took place was planned by General Haig as the big "breakthrough", the decisive blow that would pave the way to victory against Germany. As barbed wire and the machine guns had made impossible the war of dramatic advances and glorious cavalry charges that General Haig had dreamed of, he made up a plan of how to eliminate the German machine gun fire. A torrent of supplies was pouring into the area during spring and summer of 1916 to equip half a million British troops involved, of whom 120,000 would attack on the first day alone. Days and weeks ahead of the planned offensive, British soldiers rehearsed their attacks on practice fields, inspected by General Haig. Haig's plan was to destroy the Germans' barbed wire as well as the bunkers that sheltered their machine guns by one week of ceaseless pre-attack artillery bombardment - as seen on the picture above. There was one piece of heavy artillery - batteries of 9-inch howitzers - for every 17 yards. 1.5 million shells were fired at the German trenches within the course of one week prior to July 1st. Some gunners bled from the ears after seven days of nonstop firing. Within the last hour before the attack started, 225,000 shells were fired; the rumble could be heard as far away as Hampstead Head in London. 28 Nationalismus, Imperialismus und der Erste Weltkrieg It was planned that - at 7:30 AM on July 1st, 1916 - British troops would climb out of the trenches and move across no-man's-land in successive waves. One wave would advance one hundred yards in front of the next. A final "creeping barrage" of shells would precede them, a "moving curtain of fire" killing any surviving German soldier who emerged from the trenches or underground shelters to try to fight. Left picture below: German shells landing on the British positions killed or wounded many soldiers even before they could leave the trenches. The dead were thrown over the side of the trenches to be dealt with later. Right picture below: As a German barrage on no-man's land began, a mass of shells from the German artillery was bursting among the advancing lines of British soldiers. Plans for the orderly march forward were quickly abandoned as men separated into small groups seeking the shelter of shell holes or hillocks. 29 Nationalismus, Imperialismus und der Erste Weltkrieg "I feel that every step in my plan has been taken with Divine help", General Haig wrote in a letter to his wife. But the weeklong bombardment, it turned out, had been impressive mainly for its noise as the multiple belts of barbed wire in front of the German trenches and the well fortified machine gun bunkers were still largely intact. "They came on at a steady pace as if expecting to find nothing alive in our front trenches," recalled a German soldier of the British advance. Instead of finding most of the German soldiers dead, the leading wave of British soldiers almost immediately came under fire from German machine-guns. Of the 120,000 British troops who went into battle on July 1st, 1916, almost 60,000 were dead or severely wounded before the day was over. Soldiers were instructed not to stop for the wounded. If they survived, most of the wounded in no-man's land would not be collected until night fall. An overflow of badly injured wait at the casualty clearing station to see doctors. Many remain untreated and die. Those who have died at the casualty clearing station are buried nearby. 21,000 men have been killed outright in the attack or would die of their wounds. 30 Nationalismus, Imperialismus und der Erste Weltkrieg TOTAL WARFARE AND CONCENTRATION CAMPS World War I marks the beginning of the age of "total warfare" – Total warfare tended to efface (auslöschen) all distinctions between the military and civilians. It lead to internment (Internierung) and deportation of civilian populations of the occupied territories. The expression "Concentration Camp" (= Konzentrationslager) entered the vocabulary of Western civilization. The camps were a response to the ever-increasing number of prisoners in a war that lasted much longer than had been foreseen. Although these camps were not part of any planned strategy of annihilation, they were places of corporal punishments and of forced labor. The link between warfare and genocide - for example the killing of 1.5 Mio. Armenians - was to become a typical feature of the 20th century just like the “effacement” (= Auslöschung) of the legal principle of individual accountability (= Verantwortlichkeit) With the war lasting for years – instead of months like the 19th century wars – hundreds of thousands of soldiers were mobilized, supported by a gigantic logistic apparatus. Britain mobilized around 13% of its men for the armed forces, Germany around 15% and France almost 17%. Such a level of mass mobilization, lasting for the matter of years, could not have been maintained except by a modern high-productivity industrialized economy. World War I was the first mass war, embracing all society and thus resulting in “total warfare” The war was - for the first time in history - waged with armaments which required a diversion of the entire economy to produce them. Thus the war utterly dominated and transformed the live of the countries involved in it. This dimension of “total warfare” resulted in the fact, that the boundary between battlefield and civilian society was effaced (ausgelöscht). World War I brought into question a number of past achievements - banishing torture, respect for the lives of prisoners and civilian populations - that had been considered irreversible since the French Revolution and the Age of Enlightenment. Although on a far smaller scale than in World War II, the bombing of towns, the number of civilian casualties, the internment of nationals of enemy countries, and the deportation and forced labor of civilians and prisoners of war marked a turning point in the escalation of violence. Internment camps for displaced civilian populations and concentration camps for prisoners of war multiplied not only in Europe but also in India, Australia and Africa. The camps were a response to the ever-increasing number of prisoners in a war that lasted much longer than had been foreseen. It was a common belief in Austria as well as in Germany that the soldiers would return home "before Christmas" 1914. By January 1915, there were already 600,000 prisoners of war in Germany. Another 600,000 Italian soldiers were captured between 1915 and 1918. Close to 100,000 perished in the camps from cold, hunger and diseases. Although these camps were not part of any planned strategy of annihilation - like the Nazi camps were - they did constitute a "field of experimentation" for the concentration systems later put up by the Nazis. The camps were at once places of "disciplinary training" i.e. corporal punishments and of forced labor. The prisoners were deployed in all kinds of work from tree felling to road or railway construction. Some were hired out as cheap labor to companies. From 1915 onwards, almost 400.000 Belgian civilians were deported and forced to work in factories in Germany. Unlike captured soldiers who were protected by international law as “prisoners of war”, deported civilians were not protected by the law. Depriving humans of all legal existence was to become one of the essential conditions of modern genocides. After the defeat of the Ottoman armies against the Russians in 1915, millions of Armenian civilians - accused of conspiring with the Russian enemy - were deported from Armenia resulting in the deaths of a vast number of people. It is estimated that 1.5 million Armenians were killed in this genocide. A considerable number of displaced and deported civilians found themselves “outlawed” although they were not guilty of transgressing the law. Es kam damit zu einer „Auslöschung“ des Prinzips der individuellen rechtlichen Verantwortlichkeit (oder Schuld). Staatsbürgern „feindlicher" Nationen konnte es passieren, dass sie in einem Lager interniert wurden, ganz egal, wie sie sich individuell verhalten hatten. Es war also unerheblich, ob einem Individuum mit der Staatsbürgerschaft eines feindlichen Staates z.B. „feindliche Propaganda zugunsten des Kriegsgegners“ oder Spionage nachgewiesen werden konnte. Vielmehr konnten fremde Staatsbürger kollektiv 31 Nationalismus, Imperialismus und der Erste Weltkrieg deportiert werden. Das ist ein Beispiel dafür, wie das Prinzip der individuellen rechtlichen Verantwortlichkeit durch das Prinzip der kollektiven Verantwortung oder Verantwortlichkeit ersetzt wurde. Ein anderes Beispiel der Auslöschung des Prinzips der individuellen Verantwortlichkeit ist die während des Ersten Weltkriegs z.B. im italienischen Heer angewandte Strafmaßnahme der „Dezimation". Kamen bei einer Kompanie in der italienischen Armee Fälle von Befehlsverweigerung oder Desertion vor, so wurde nicht nur der dafür verantwortliche Soldat bestraft, sondern oft auch die ganze Kompanie einer Dezimation unterzogen. Dabei wurden einzelne Soldaten der betroffenen Kompanie wahllos bzw. zufällig ausgewählt, die dann von einem Exekutionskommando erschossen wurden. Von den rund 10 Millionen „auf dem Schlachtfeld“ getöteten Soldaten kam also eine Anzahl aufgrund von Bestrafungsmaßnahmen der eigenen Heeresführung ums Leben, dazu konnten auch sogenannte „Himmelfahrtskommandos“ zählen. Die direkt (= z.B. durch „ethnische Säuberungen“ in Osteuropa) oder indirekt (= aufgrund von Unterernährung, Krankheiten) durch den Weltkrieg getöteten Zivilisten wird auf 13 Millionen geschätzt. Dabei sind allerdings die im ersten Winter nach dem Weltkrieg 1918-19 der Spanischen Grippe weltweit zum Opfer gefallenen 25 Millionen Menschen noch gar nicht mit eingerechnet. THE ANTI-WAR MOVEMENT IN THE U.S. AND THE ESPIONAGE ACT In Kriegszeiten können sich auch Rechtsstaaten mit langer Tradition von demokratsichen Verfassungen relativ rasch in Polizeistaaten verwandelt. Verfassungsmäßig garantierte Grundrechte wie die Meinungsfreiheit werden stark eingeschränkt aufgrund der „Notwendigkeit“, Kriegshindernisse wie den Widerstand von Kriegsgegner zu brechen. Ein wesentliches Ergebnis des Feldzugs gegen die US-amerikanische Arbeiterbewegung und andere Kriegsgegner war der sogenannte "Espionage Act" von 1917, ein Gesetz, das immer noch in Kraft ist und nach dem Chelsea Manning verurteilt wurde und nach dem aktuell auch der ehemalige NSA-Mitarbeiter und Whistleblower Eduard Snowden angeklagt werden In praktisch allen europäischen Staaten, egal wie alt (z.B. Großbritannien) oder wie jung (z.B. Deutschland) ihre Traditionen der parlamentarischen Kontrolle der Regierung und der demokratischen Verfassungen im Jahr 1914 auch immer gewesen sein mögen, wurden mit Kriegsbeginn im Sommer 1914 nach und nach viele, von der Verfassung garantierte Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit oder die Meinungsfreiheit bis auf weiteres außer Kraft gesetzt. Es herrschte ein Ausnahmezustand. In Österreich wurde der Regierung mit dem „kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetz" ermöglicht, sämtliche Entscheidungen autoritär, das heißt ohne Zustimmung des Parlaments, zu treffen. In Deutschland ging viele Entscheidungsbefugnisse von der Regierung auf die oberste Heeresleitung unter der Führung von Feldmarschall Hindenburg über. Spätestens seit Ende 1914, als sich der deutsche Regierungschef Bethmann Hollweg beunruhigt darüber zeigte, dass der Krieg noch nicht, wie versprochen, mit einem Sieg geendet hatte, wurden wichtige Entscheidungen alleine von der obersten Heeresleitung getroffen. Am Beispiel der USA kann beispielhaft gezeigt werden, dass sich in Kriegszeiten ein Verfassungsstaat und damit ein Rechtsstaat mit langer Tradition – „die älteste Demokratie der Welt" - relativ rasch in einen Polizeistaat verwandeln kann, in dem verfassungsmäßig garantierte Grundrechte stark eingeschränkt werden. Ursache dafür war der massenhafte politische – zu Beginn äußerst wirksame - Widerstand der US-amerikanischen Arbeiterbewegung gegen den Eintritt der USA in den Weltkrieg. Ein wesentliches Ergebnis des Feldzugs gegen die Kriegsgegner war der sogenannte „Espionage Act" von 1917, ein Gesetz, das immer noch in Kraft ist und 32 Nationalismus, Imperialismus und der Erste Weltkrieg nach dem Chelsea Manning verurteilt wurde und nach dem aktuell auch der ehemalige NSA-Mitarbeiter und Whistleblower Eduard Snowden angeklagt werden soll. 26 President Woodrow Wilson had promised that the United States would stay neutral in the war: "There is such a thing as a nation being too proud to fight." But in April of 1917, the Germans had announced they would have their submarines sink any ship bringing supplies to their enemies ("uneingeschränkter U-Bootkrieg"); and they had already sunk a number of merchant vessels. Wilson now said he must stand by the right of Americans to travel on merchant ships in the war zone. According to historian Howard Zinn, it was unrealistic to expect that the Germans should treat the United States as neutral in the war when the U.S. had been shipping great amounts of war materials to Germany's enemies. In 1915, the British liner Lusitania was torpedoed and sunk by a German submarine, causing the deaths of 1,198 people, including 124 Americans. The United States claimed the Lusitania carried an innocent cargo. Actually, the Lusitania had carried thousands of cases of shells and other war materials. Her manifests were falsified to hide this fact, and the British and American governments lied about the cargo. Entering the war in 1917 demanded the creation of a national consensus for war in the U.S. That there was no spontaneous urge to fight is suggested by the strong measures taken: a draft of young men, an elaborate propaganda campaign throughout the country, and harsh punishment for those who refused to get in line. Despite the words of Wilson about making "the world safe for democracy," Americans did not rush to enlist. A million men were needed, but in the first six weeks after the declaration of war only 73,000 volunteered. Congress voted overwhelmingly for a draft (= Verpflichtender Kriegsdienst). George Creel, a veteran newspaperman, became the government's official propagandist for the war; he set up a Committee on Public Information to persuade Americans the war was right. It sponsored 75,000 speakers, who gave four-minute speeches in five thousand American cities and towns. The national press cooperated with the government. The New York Times in the summer of 1917 carried an editorial: "It is the duty of every good citizen to communicate to proper authorities any evidence of sedition (Aufruhr) that comes to his notice." In 1918, the Attorney General said: "It is safe to say that never in its history has this country been so thoroughly policed." Why these huge efforts? On August 1, 1917, the New York Herald reported that in New York City ninety of the first hundred draftees claimed exemption. Senator Thomas Hardwick of Georgia said "there was undoubtedly general and widespread opposition on the part of many thousands ... to the enactment of the draft law. Numerous and largely attended mass meetings held in every part of the State protested against it." Ultimately, over 330,000 men were classified as draft evaders. The day after Congress declared war (in April 1917), the Socialist party had met in emergency convention in St. Louis and called the declaration "a crime against the people of the United States." In the summer of 1917, Socialist antiwar meetings in Minnesota drew large crowds - twenty thousand farmers-protesting the war. In the municipal elections of 1917, against the tide of propaganda and patriotism, the Socialists made remarkable gains. Their candidate for mayor of New York, Morris Hillquit, got 22 percent of the vote, five times the normal Socialist vote there. Ten Socialists were elected to the New York State legislature. In Buffalo (NY), the party vote went from 2.6 percent in 1915 to 30.2 percent in 1917. In Chicago, the party vote went from 3.6 percent in 1915 to 34.7 percent in 1917. Schools and universities discouraged opposition to the war. At Columbia University, J. McKeen Cattell, a psychologist and an opponent of the war, was fired. A week later, in protest, the famous historian Charles Beard resigned from the Columbia faculty, charging the people responsible with being "reactionary and visionless in politics, narrow and medieval in religion. ..." In Congress, a few voices spoke out against the war. The first woman in the House of Representatives, Jeannette Rankin, did not respond when her name was called in the roll call on 26 Artikel in "The Guardian" vom 22. Juni 2013, abgerufen am 1.9.2014 unter http://www.theguardian.com/commentisfree/2013/jun/22/snowden-espionage-charges Chelsea (vormals Bradley) Manning (geb. 1987 in Oklahoma) ist eine US-amerikanische IT-Spezialistin und ehemalige Angehörige der US-Streitkräfte. Sie wurde im Mai 2010 unter dem Verdacht verhaftet, Videos und Dokumente kopiert und der Website WikiLeaks zugespielt zu haben. In dem daraus resultierenden Verfahren wurde in insgesamt 21 Punkten Anklage gegen sie erhoben. Nach einem Teilgeständnis erging Ende Juli 2013 ein Urteil, durch das sie in 19 Punkten schuldig gesprochen wurde. Das verhängte Strafmaß beträgt 35 Jahre Freiheitsstrafe. Zu den von Manning an Wikileaks weitergegebenen Videos zählen unter anderem die Videoaufnahmen des Beschusses und Todes irakischer Zivilisten und Journalisten der Nachrichtenagentur Reuters durch einen amerikanischen Kampfhubschrauber am 12. Juli 2007 in Bagdad, die von WikiLeaks unter dem Titel „Collateral Murder“ bearbeitet und veröffentlicht wurde. 33 Nationalismus, Imperialismus und der Erste Weltkrieg the declaration of war. On the next roll call she stood up: "I want to stand by my country, but I cannot vote for war. I vote No." In June of 1917 Congress passed the Espionage Act. From its title one would suppose it was an act against spying. However, it had a clause that provided penalties up to twenty years in prison for "Whoever, when the United States is at war, shall willfully cause or attempt to cause insubordination, disloyalty, mutiny, or refusal of duty in the military or naval forces of the United States." The same penalty was provided for anyone who "shall willfully obstruct the recruiting or enlistment service of the U.S." The Espionage Act was used to imprison Americans who spoke or wrote against the war. Two months after the law passed, a Socialist named Charles Schenck was arrested in Philadelphia for printing and distributing fifteen thousand leaflets that denounced the draft law and the war. The leaflet “Assert you rights” recited the Thirteenth Amendment provision against "involuntary servitude" and said the Conscription Act (Verpflichtung zum Wehrdienst) violated this. Conscription, it said, was "a monstrous deed against humanity in the interests of the financiers of Wall Street. […] A conscript (zum Wehrdienst verpflichteter) is deprived of his liberty and of his right to think and act as a free man. He is forced into involuntary servitude. He is deprived of all freedom of conscience in being forced to kill against his will.” And: "Do not submit to intimidation." Schenck was indicted, tried, found guilty, and sentenced to six months in jail for violating the Espionage Act. It turned out to be one of the shortest sentences given in such cases. Schenck appealed, arguing that the Act, by prosecuting speech and writing, violated the First Amendment to the constitution: "Congress shall make no law ... abridging (einschränken) the freedom of speech, or of the press." The Supreme Court's decision was unanimous and was written by its most famous liberal judge, Oliver Wendell Holmes. He said the leaflet was undoubtedly intended to "obstruct" the carrying out of the draft law. Was Schenck protected by the First Amendment? Holmes said: "The most stringent protection of free speech would not protect a man in falsely shouting fire in a theatre and causing a panic. ... The question in every case is whether the words used are used in such circumstances as to create a clear and present danger that they will bring about the substantive evils that Congress has a right to prevent." Holmes's analogy was clever and attractive. Few people would think free speech should be conferred on someone shouting fire in a theater and causing a panic. But did that example fit criticism of the war? Was not Schenck's act more like someone shouting, not falsely, but truly, to people about to buy tickets and enter a theater, that there was a fire raging inside? Was not the war itself a "clear and present danger," indeed, more clear and more present and more dangerous to life than any argument against it? Did citizens not have a right to object to war, a right to be a danger to dangerous policies? The most famous case that came before the Supreme Court was that of Eugene Debs. In June of 1918, Debs spoke to an audience for two hours about his comrades who were in jail for violating the "Espionage Act". In his speech, he dealt with the charges that Socialists were pro-German. “And these (US-American) landlords who toil not and spin not are supreme among American ‘patriots.’ The landlord is indeed a super patriot. This lord who practically owns the earth tells you that we are fighting this war to make the world safe for democracy—he who shuts out all humanity from his private domain; he who profiteers at the expense of the people who have been slain and mutilated by multiplied thousands, under pretense of being the great American patriot. […] It is he who 34 Nationalismus, Imperialismus und der Erste Weltkrieg is a far greater menace to your liberty and your well-being than the Prussian Junkers (adelige Großgrundbesitzer in Preußen) on the other side of the Atlantic Ocean. And still our plutocracy, our Junkers, would have us believe that all the Junkers are confined to Germany. It is precisely because we refuse to believe this that they brand us as disloyalists. They want our eyes focused on the Junkers in Berlin so that we will not see those within our own borders. […] I have no earthly use for the Junkers of Germany, and not one particle more use for the Junkers in the United States. […] They tell us that we live in a great free republic; that our institutions are democratic; that we are a free and self-governing people. This is too much, even for a joke. But it is not a subject for levity; it is an exceedingly serious matter. [...] Wars throughout history have been waged for conquest and plunder. And that is war in a nutshell. The master class has always declared the wars; the subject class has always fought the battles." Debs was arrested for violating the Espionage Act. There were draft-age youths in his audience, and his words would "obstruct the recruiting or enlistment service." Debs refused at his trial to call a witness on his behalf. He denied nothing about what he said: "I have been accused of obstructing the war. I admit it. Gentlemen, I abhor (verbscheue) war. I would oppose war if I stood alone.... I have sympathy with the suffering, struggling people everywhere. It does not make any difference under what flag they were born, or where they live." The jury found him guilty of violating the Espionage Act. The judge denounced those "who would strike the sword from the hand of this nation while she is engaged in defending herself against a foreign and brutal power." He sentenced Debs to ten years in prison. Debs appeal was not heard by the Supreme Court. After three years in jail, he was released by President Harding in 1921. Several thousand people were tried and around 900 went to prison under the Espionage Act. In 1917, Kate Richards O'Hare, spoke out against "the women of the United States [being] nothing more nor less than brood sows, to raise children to get into the army and be made into fertilizer." She was arrested, tried, found guilty, and sentenced to five years in the Missouri state penitentiary. In Los Angeles, a film was shown that dealt with the American Revolution and depicted British atrocities against the colonists. It was called "The Spirit of '76". The man, who made the film, Frank Montgomery, was prosecuted under the Espionage Act because, the judge said, the film tended "to question the good faith of our ally, Great Britain." He was sentenced to ten years in prison. The Post Office Department began taking away the mailing privileges of newspapers and magazines that printed antiwar articles. "The Masses", a socialist magazine of politics and literature, was banned from the mails. It had carried an editorial in the summer of 1917, saying, among other things: "For what specific purposes are you shipping our bodies, and the bodies of our sons, to Europe? For my part, I do not recognize the right of a government to draft me to a war whose purposes I do not believe in." This substantial opposition was put out of sight, while the visible national mood was represented by military bands, flag waving and the mass buying of war bonds (Anleihen). A popular song of the time was: "I Didn't Raise My Boy to Be a Soldier." It was overwhelmed, however, by songs like "It's a Grand Old Flag," and "Johnny Get Your Gun." But the magnitude of the campaign to discourage opposition says something about the spontaneous feelings of the population toward the war. The war ended in November 1918. Fifty thousand American soldiers had died, and it did not take long, for bitterness and disillusionment to spread through the country. This was reflected in the literature of the postwar decade. A Hollywood screenwriter named Dalton Trumbo would write a powerful and chilling antiwar novel about a torso and brain left alive on the battlefield of World War I, "Johnny Got His Gun".27 27 Zinn 2003, S. 267 - 271 35 Nationalismus, Imperialismus und der Erste Weltkrieg VERWENDETE LITERATUR Arendt 1986: Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (München 1986) Canfora 2010: Luciano Canfora, August 1914 oder: Macht man Krieg wegen eines Attentats? (Köln 2010) Einstein 1996: Albert Einstein und Siegmund Freud, Warum Krieg (Zürich 1996) Hobsbawm 1995: Eric Hobsbawm, The Age of Extremes 1914-1991 (London 1995) Traverso 2003: Enzo Traverso, The origins of Nazi violence (New York 2003) Kolonien 2008: „Unsere Kolonien militärisch voll ausnutzen" - Kolonialsoldaten im Ersten Weltkrieg, in: Rheinisches JournalistInnenbüro (Hg.), Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg (Köln 2008), S. 39-43 Losurdo 2013: Domenico Losurdo, Kampf um Geschichte (Köln 2013) Zinn 2003: Howard Zinn, A People's History of the United States. Abridged Teaching Edition (New York 2003) VOCABULARY Amendment to the constitution – Zusatzgesetz zur Verfassung sedition - Aufruhr barrage - Sperrfeuer, Bombardement Supreme Court – Verfassungsgerichtshof der USA conscript – Zum Wehrdienst Verpflichteter trench – Schützengraben despair – Verzweiflung draft – Verpflichtender Wehrdienst to be ephemeral – kurzlebig, flüchtig sein howitzer - Haubitze, Artilleriewaffe indentured servants - Vertragsknecht auf Zeit insubordination – Ungehorsam levity – Leichtfertigkeit mutiny – Meuterei, Befehlsverweigerung in der Armee shell - eine Granate bzw. Artilleriegranate pretense (under pretense) – Unter Vortäuschung 36 Nationalismus, Imperialismus und der Erste Weltkrieg MATURAAUFGABE: EXPANSIONSSTRATEGIEN UND IMPERIALISMUS Aus der Zeitung „Vorarlberger Wacht" - die politisch der Sozialdemokratie zuzuordnen ist - vom 9. Juli 1914: Die Klerikalen [= die katholische Kirche und die Christlich-Sozialen] wollen für Österreich ein Ausnahmegesetz, das jedes sozialdemokratische oder auch nur antiklerikale Blatt verbietet, jede freie, den Klerikalen schädliche Rede unterdrückt, das alle Menschen zu Zwangskatholiken macht, das jedem verwehrt, aus den ökonomischen Tatsachen die Schlüsse zu ziehen und den Menschen zu sagen, warum Wenige im Überflusse schwelgen, während die Massen hungern, ein Ausnahmegesetz endlich, das jede Bestrebung der Menschen nach politischer Freiheit, nach dem Rechte der Selbstverwaltung und Selbstbestimmung als Hochverrat an den Prälaten, Bischöfen und Kapitalisten und Großgrundbesitzern erklärt, die nach klerikaler Auffassung berufen sind, zu regieren und zu herrschen. Die Ursache der Ermordung des Erzherzog-Thronfolgers ist [...] in der unseligen Balkanpolitik ÖsterreichUngarns zu suchen, wodurch die Leidenschaften der Serben bis aufs äußerste aufgepeitscht wurden. Wegen dem Attentat sind die Klerikalen, die lehren: „Du sollst nicht töten" gleich bereit, einen Massenmord anzuzetteln, der unabsehbare Folgen nach sich ziehen würde, denn ein Angriff auf Serbien hat sicher einen Weltkrieg zur Folge. Aber eben das wollen ja die blutgierigen Klerikalen, damit sie nach dem Kriege, wenn das Volk total verarmt und geistig heruntergekommen ist, ihre Herrschaft, die jetzt stark erschüttert ist, wieder aufrichten können. [...] Österreichs Trauer um den ermordeten Erzherzog Franz Ferdinand ist so seltsam, wie alles in diesem seltsamen Lande. In den Zeitungen trompetet laut der „Schmerz aller Völker", in den Kundgebungen der Landtage und Gemeindevertretungen wird immer und immer wieder vom „tiefen Schmerze" gesprochen, in Wirklichkeit gewinnt dieser Schmerz aber ein höchst merkwürdiges Ansehen. Die patriotischen schwarzgelben Christlich-Sozialen hetzen aus lauter Trauer zum Kriege, in Agram [Zagreb in Kroatien], Mostar [Bosnien], Sarajevo usw. plündert man Läden und schlägt Fenster ein, zündet gar serbische Kirchen und Schulen an natürlich nur aus Trauer, und zwar tun dies Mitglieder der „besten Gesellschaft“, sogar „feine Damen“ nehmen an der Vernichtung der Kaufläden der Serben teil. AUFGABEN 1. Fasse zusammen, was im vorliegenden Zeitungsarktikel vom 9. Juli 1914 über das die politische Situation in Österreich, über das Attentat von Sarajevo und die mögliche weitere politische Entwicklung steht. 2. Analysiere im vorliegenden Text, wer - nach Auffassung des Autors - für die politische Situation und die weitere politische Entwicklung die Verantwortung trägt und welche Motive die politisch Verantwortlichen für ihr Handeln haben. 3. Rekonstruiere anhand der Quelle die sozialdemokratische Ausrichtung der Zeitung. 4. Erörtere und beurteile die Plausibilität der im Zeitungstext vorgenommenen Einschätzung der politischen Situation vom Sommer 1914! 37 Nationalismus, Imperialismus und der Erste Weltkrieg France: Value of national (private and public) capital - % national income Great Britain: Value of national (private and public) capital - % national income 38 Nationalismus, Imperialismus und der Erste Weltkrieg Germany: Value of national (private and public) capital - % national income World: Value of private capital - % world income