In welcher Welt wollen wir leben

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In welcher Welt wollen wir leben ?
Zwischen Transhumanismus und Selektion
Wir leben in einer Zeit des entfesselten Kapitalismus. Einer Zeit, in dem jeder und alles der
kapitalistischen Profitmaximierung untergeordnet wird.
Menschen werden zur Ware Arbeitskraft reduziert. Der Mensch von heute soll sich den
herrschenden Marktanforderungen unterwerfen. Tut er es nicht oder entspricht er nicht dem
geforderten Profil, wird er aus dem gesellschaftlichen Leben verbannt. Ihm wird die
Lebensgrundlage und die Teilhabe an der Gesellschaft entzogen.
Der Mensch wird zum betriebswirtschaftlichen Faktor. Er muss funktionieren und wenn seine
Fähigkeiten und Talente nicht mehr gebraucht werden, wird er abgeschoben und als
Kostenfaktor oder Sozialschmarotzer bezeichnet.
Diese Form des Marktradikalismus, des entfesselten Kapitalismus, der Entsolidarisierung der
Gesellschaft, dieser Barbarei hat DIE LINKE den Kampf erklärt.
Sie zeigt auf, klagt an und entwickelt Alternativen zu der unmenschlichen Politik der
Ausgrenzung. Sie stellt sich konsequent gegen die Ausbeutung von Mensch und Natur. Sie
kämpft für die sozial-ökologische Wende. DIE LINKE geht von der Frage aus
,‚Was brauchen Menschen, um selbstbestimmt leben zu können?“
Sie kämpft dafür, dass jeder Mensch das Recht auf gesellschaftliche Teilhabe hat, die
Demokratie demokratisiert werden muss und Menschen unabhängig ihrer Herkunft, Ethnie,
ihres Geschlechts und Religion die gleichen Rechte haben.
Sie stellt sich gegen die Diskriminierung, Ausgrenzung und Unterdrückung von Menschen.
Sie kämpft für eine pluralistische, freiheitliche Gesellschaft, in der jeder Mensch, egal ob alt
oder jung, gesund oder krank, Mann oder Frau, behindert oder nicht behindert, seinen Platz
hat. Gemeinsam mit den sozialen Bewegungen und den Gewerkschaften kämpft sie für eine
solidarische Gesellschaft, in der die Starken für die Schwachen, die Gesunden für die
Kranken, die Jungen für die Alten stehen.
Das Gesellschafts- und Menschenbild der Linken speist sich aus dem Bewusstsein, dass
Menschen in ihrer vielfältigen Form Individuen sind und sich eine menschliche Gesellschaft
dann entwickelt, wenn die Gesellschaft den Menschen in seiner Individualität auch als
solchen respektiert, akzeptiert und aufnimmt.
Die Diskriminierungen, Ausgrenzungen und die Selektion von Menschen, die in ihrem
Aussehen, Verhalten oder ihren Lebensweisen, der so genannten Norm oder der
kapitalistischen Verwertungslogik nicht entsprechen, bekämpft DIE LINKE mit ganzer
Kraft.
Durch den Aufbau einer Sozialstaatlichkeit, die dem Sozialdarwinismus und der
Familienökonomie gegenüber steht, werden die Rahmenbedingungen für eine
Solidarisierung der Gesellschaft geschaffen.
Doch muss sich DIE LINKE die Frage stellen, ob allein die Sozialstaatlichkeit, die
Kapitalismuskritik und die alternativen Wirtschaftskonzepte im Fokus der Diskussion stehen
sollen. Denn ganz leise, fast unbemerkt, macht sich eine Technologie auf den Weg, die das
Menschsein an seiner Wurzel angreift und deren Anwendung zum Teil schon jetzt eine
radikale Veränderung der Gesellschaft zur Folge hat. Ich möchte hier auf nur drei
Technologien fokussieren, die derzeit in der Diskussion stehen.
Die Pränataldiagnostik:
Unter Pränataldiagnostik versteht man die Untersuchung des ungeborenen
Lebens.
Sie wird durchgeführt, um im vorgeburtlichen Stadium nach Erkrankungen,
Fehlbildungen oder Chromosomenbesonderheiten des Ungeborenen zu
fahnden. Sie dient fast ausschließlich der Diagnostik, ohne einen
therapeutischen Handlungsrahmen zu besitzen.
Obwohl sie, da sie eine auf Selektion ausgerichtete Diagnostik ist, umstritten
ist, befindet sie sich auf einem Siegeszug durch gynäkologische Praxen und
Kliniken und trägt somit zur gesellschaftlichen Meinungsbildung bei.
Da einige der gängigen Pränataldiagnostikverfahren erst zu einem
fortgeschrittenen Schwangerschaftszeitpunkt angewendet werden können,
stellt sich hier auch das Problem der Spätabtreibung.
In manchen Ländern wird die Pränataldiagnostik zur geschlechtlichen Auslese
genutzt. Tausende von Mädchen kommen dadurch nicht auf die Welt
Präimplantationsdiagnostik PID
Dies ist ein Verfahren, bei dem bei einer in-vitro-fertilisation (Befruchtung im
„Reagenzglas“) eine zytologische und genetische Untersuchung unternommen
wird, um danach zu entscheiden, ob der entstandene Embryo in die
Gebärmutter eingepflanzt wird. In Deutschland ist die PID bisher verboten,
weil auf diese Weise Embryonen anhand genetischer Eigenschaften selektiert
werden.
Die in-Vitro-fertilisation ist in Deutschland bei der Behandlung ungewollter
Kinderlosigkeit Routine. Die Krankenkasse übernimmt die Hälfte von drei
Behandlungszyklen.
Beide Technologien haben m. E. eines gemeinsam. Sie dienen einer Urteilsfindung zwischen
„gesundem“ und „krankem“ Leben. Es wird suggeriert, dass das gesunde Leben, ein
gesunder Mensch in der Lage sei, sich stark und klug dem „Überlebenskampf“ der
Gesellschaft zu stellen und zu behaupten. Der gesunde Mensch könne ohne große
Unterstützung ein erfülltes und glückliches Leben führen.
Das „kranke Leben“, dem kranken oder behinderten Mensch wird unterstellt, dass er unter
seiner Erkrankung oder Behinderung leide. Der erkrankte oder behinderte Mensch könne
kein glückliches und erfülltes Leben leben. Zusätzlich werden ökonomische Gesichtspunkte
mit in die Diskussion eingebracht, wie z.B. die Frage, ob die Gesellschaft einer Familie, die
sich dafür entschieden hat, ein behindertes Kind auf die Welt zu bringen, die Kosten für
Schule, Pflege und Hilfsmittel finanzieren will und ob es eine gesellschaftliche Verpflichtung
sei, hilfebedürftigen Menschen zu unterstützen.
Langsam macht sich sogar die Frage nach dem gesellschaftlichen Nutzen von Menschen mit
Behinderungen oder Erkrankungen breit.
Schwangeren Frauen wird suggeriert, dass es gesellschaftlich nicht vertretbar sei, in der Zeit
der leeren Kassen hilfebedürftige Menschen auf die Welt zu bringen. Frauen sehen sich
zunehmend nicht mehr allein mit der Frage konfrontiert, ob sie ein Kind auf die Welt bringen
wollen, sondern welches. Innerhalb unseres Gesundheitssystems ist unter dem Deckmantel
der freien und individuellen Entscheidung ein Prozess im Gange, der selektiv ist.
Wenn man Menschen mit Erkrankungen oder Behinderungen gar nicht erst auf die Welt
kommen lässt, braucht man sich nicht mehr darum zu kümmern, wie man die berechtigte
Forderung nach Unterstützungen eines selbstbestimmten Lebens aller Menschen
nachzukommen hat. Folge der Pränataldiagnostik ist, dass durch die Selektion von
behinderten oder kranken Menschen immer weniger Menschen mit Behinderungen oder
Erkrankungen auf die Welt kommen und somit die Wahrnehmung des Erscheinungsbildes
des Menschseins auf einen kleinen Rahmen reduziert wird.
Es besteht die Gefahr, dass je nach Marktlage, nur Menschen auf die Welt kommen, die den
Bedürfnissen der kapitalistischen Verwertungslogik entsprechen.
Die Pränataldiagnostik, sowie die Präimplantationsdiagnostik, stellen somit einen
Angriff auf das Lebensrecht kranker und behinderter Menschen dar.
Stammzellenforschung
Unter dem Überbegriff Stammzellenforschung verbirgt sich eine Technologie,
die, so ihre Befürworter, in Zukunft eingesetzt werden soll, um erkranktes,
defektes oder abgestorbenes menschliches Gewebe mit Hilfe der
Stammzellen durch gesundes und funktionierendes Gewebe zu ersetzen.
Dadurch sollen chronische Krankheiten geheilt werden.
Bis jetzt gibt es keine Untersuchungsergebnisse, ob die Stammzellen-Therapie mittel- bis
langfristig erfolg versprechend ist. (Siehe „Ausarbeitung des wissenschaftlichen Dienstes
des Deutschen Bundestages aktualisiert im Januar 2007, Der Stand der Forschung zu und
Potenziale von embryonalen und adulten Stammzellen.“)
Kritiker dieser Technologie befassten sich überwiegend mit der Frage der Gewinnung der
Stammzellen aus Embryonen, mit der Problematik der Embryonen als industrieller Rohstoff,
weniger mit der Frage, ob die genetische Umprogrammierung adulter Stammzellen, die
Genmanipulation und das Klonen zur Stammzellenliniengewinnung und somit das Eingreifen
in die Lebensbausteine der Menschen, ethisch vertretbar sei und welche Folgen diese
Technologien für das Menschenbild einer Gesellschaft haben wird.
Die Stammzellenforschung, das Lieblingskind der Pharmakonzerne, stellt mich vor die
Frage, ob DIE LINKE eine Technologie unterstützen sollte, die in Ihrer Philosophie
Menschensein als reparaturbedürftige Wesen sieht, falls Mensch nicht ein Optimum an
körperlicher oder kognitiver Leistung besitzt.
Doch wenn ich mich rein hypothetisch damit auseinandersetze, also davon ausgehe, dass
die Stammzellenforschung dahingehend erfolgreich wäre, dass Stammzellen umfassend
therapeutisch einsetzbar seien, also Stammzellen eingesetzt werden, um kranke oder
defekte Zellen zu ersetzten, stellen sich mir folgende Probleme:
Erstmal müsste die Frage der Definition geklärt werden, was überhaupt kranke oder defekte
Zellen sind. Eine gängige Definition ist, dass die Zellen krank oder defekt sind, die eine
Störung besitzen und dadurch ihre maximale Leistungsfähigkeit gemindert ist.
Als zweites müsste man davon ausgehen, das Zellen, die aufgrund der „Inneren Uhr“ auf
natürlichem Weg altern und dadurch nicht mehr hundertprozentig funktionstüchtig sind und
absterben, auch unter diese Definition fallen und dann durch leistungsfähige Stammzellen
ersetzt werden könnten.
Ergo birgt die Stammzellentechnologie in sich den alten Traum der Menschheit der ewigen
Jugend, ewigen Gesundheit und Unsterblichkeit. Sie suggeriert den Sieg über den Tod. Den
Sieg über die Vergänglichkeit allen Lebens.
Zwangsläufig kommt man zu der Fragestellung, wie kann eine Gesellschaft aussehen, in der
es Unsterblichkeit gibt und welche Auswirkung hätte das auf Natur und Umwelt? Und ob man
in einer Welt leben möchte, in der der Mensch seine Evolution bestimmt. Wir sind also
mittendrin in der Transhumanistischen Diskussion.
Doch zuerst muss sich DIE LINKE im Jetzt, wo die Weichen für die Zukunft gestellt werden,
die Frage stellen, ob sie im Namen des Fortschritts und der Freiheit der Forschung, die
unumkehrbaren Folgen dieser Technologie in blinder Technologiegläubigkeit als
vernachlässigbar einstuft.
Sie muss sich die Frage stellen, ob eine standortpolitische Sichtweise zur Ansiedelung
dieser Risikotechnologie nicht eine sehr kurzsichtige ist und warum sie den
Heilsversprechungen der Pharmakonzerne und Medizintechnologien Glauben schenken
sollte?
Und sie muss sich die Frage gefallen lassen, ob die Unterstützung solcher Technologien den
Anspruch der Linken an eine menschlichen Gesellschaft entspricht, oder ob sie diesen
Anspruch nicht konterkariert und so zum Helfer der kapitalistischen Verwertungslogik und
Selektion wird.
Für mich gilt nach wie vor der Grundsatz:
Mensch muss nicht alles machen was machbar ist, denn sonst ist Mensch dabei, sich selber
auszulöschen.
Britta Pietsch
Mitglied des Parteivorstandes DIE LINKE
Behindertenpolitische Sprecherin
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