Wenn glauben dir hilft – glaube!

Werbung
C
4
Rems-Murr RUNDSCHAU
Nummer 287 – RMR3
Mittwoch, 11. Dezember 2013
EXTRA:
TELEFON 0 71 51 / 566 -275
FAX
0 71 51 / 566 -402
E-MAIL [email protected]
ONLINE www.zvw.de
Serie „Christentum heute“, Teil 26: Ein Psychiater erzählt
Wenn glauben dir hilft – glaube!
Ein Gespräch mit Dr. Dr. Peter Kaiser, Chefarzt im Winnender Zentrum für Psychiatrie, über Gefahren und Chancen der Religiosität
Von unserem Redaktionsmitglied
Peter Schwarz
Zur Person
Winnenden.
Reden wir über die Gefahren, die im
Glauben schlummern, und die Kräfte,
die er freizusetzen vermag – kaum einer kann das besser als Dr. Dr. Peter Kaiser, Chefarzt am Zentrum für Psychiatrie und Neurologie Winnenden. Dass
der Mann derartig faszinierend zu erzählen weiß, hängt mit seinem Horizont
zusammen: Er ist auch noch Religionswissenschaftler und Ethnologe.
t Hochspannender Lebenslauf? Na,
das klingt nun aber wirklich gar zu tiefgestapelt bei diesem Mann . . .
t Peter Kaiser (geboren 1961 in Stutt-
Risiko
Religion und Seelenkrankheit
Religion kann krank machen, für einen Psychiater ist das eine Binsenweisheit. Auch
Peter Kaiser kennt das Phänomen aus seiner Berufserfahrung. Übersteigerte Religiosität kann in Wahnvorstellungen münden
oder Depressionsschübe auslösen. Wenn
christliche Dogmen von Schuld und Sünde,
all die „du sollst“, die „du darfst nicht“ sich
verbinden mit einem „negativen Gottesbild“, das mit Strafe und ewiger Verdammnis droht, setzt sich bisweilen eine niederdrückende Dynamik in Gang.
Im Jahr 1897 veröffentlichte der französische Soziologe Emile Durkheim seine Studie „Le Suicide“ („Der Selbstmord“) – „er
konnte zeigen: Das kommt bei Evangelischen häufiger vor“ als bei Katholiken.
Kaiser erklärt das mit der entlastenden
Funktion der Beichte im Katholizismus:
Der Gläubige breitet seine Sünden aus, der
Geistliche spricht sein „ego te absolvo“.
Zwar konnte dieses Ritual vor allem früher
auch als „perverses System“ wirken – der
Büßer musste sich förmlich Verfehlungen
„aus den Fingern saugen“, ein Räderwerk
der zwanghaften Selbstherabsetzung begann zu mahlen. Aber im glückenden Fall
wirkt die Beichte befreiend: „Strich drunter, neu anfangen.“ Der Katholizismus
rechnet systematisch mit der Schwäche des
Menschen als Grundprinzip der conditio
humana und hat eine Mechanik installiert,
die immer wieder die Sünden-Uhr auf null
stellt. Im Protestantismus gibt es kein vergleichbar symbolstarkes Zeremoniell, „da
lebe ich mit der Schuld. Ich darf hoffen,
dass mir vergeben wird – aber wenn ich mir
sicher bin, geht es nicht.“
Symptome für ein Leiden an der Religion
tauchen im protestantischen Remstal häufiger auf als in katholischen Nachbargegenden, Kaiser beobachtet das bis heute „ganz
eindeutig“. Vor allem in sehr fest formierten religiösen Gemeinschaften mit massiver
innerer Gruppendynamik, straffer Normenkontrolle und ausgeprägten Verdammnisvorstellungen für Abweichler und Zweifelnde kann sich wuchtiger Schuld-Druck
aufbauen, „das können wir klar sagen.“
Traditionell ist der „Psychiater ein Feind
der Religion, weil er sie bloß negativ kennt“
– und doch wird all das für Kaiser zusehends zum „Nebenschauplatz“. Der normative Einfluss der Kirchen schwindet. Jugendliche heute schaffen es problemlos, einerseits Papst „Benedetto“ mit Sprechchören zu feiern und andererseits Kondome im
Rucksack zu haben. Glaubensvorstellungen
als „pathogener Faktor“? Etwas anderes interessiert Peter Kaiser viel mehr: Spiritualität als Kraftquelle, „Religion als Ressource. Danach fragen wir zu wenig.“
Ressource
Religion und Seelenkraft
Als Psychiater ist Peter Kaiser „eher eigentormäßig“ unterwegs: Er hat nicht nur Medizin, sondern auch vergleichende Religionswissenschaft studiert. Aber Spiritualität als therapeutischer Faktor – in der traditionellen Psychiatrie „interessiert das
keinen“. Noch vor ein paar Jahren durfte
darüber kaum laut nachdenken, wer sich
nicht als verkappter Esoteriker verdächtig
machen wollte. Die psychiatrische Kunstlehre „ist ja sowieso so schwammig“ im
Vergleich zum sauberen Schnitt eines Operationsskalpells oder den klaren Bildern einer Kernspintomographie – und Religion
„ist noch schwammiger“.
Aber allmählich gerät etwas in Bewegung; Kaiser hat maßgeblich daran mitgewirkt: Sein 2007 erschienenes, fast 700 Seiten dickes Buch „Religion in der Psychiatrie: Eine (un)bewusste Verdrängung?“ gilt
mittlerweile als Standardwerk.
Der klassische Arzt fragt: „Wo tut es
weh?“ Man kann aber auch anders formulieren: „Was tut Ihnen gut?“ Wo schlum-
Nächste Folge
Werner Dierlamm, ein großer Pazifist:
Samstag, 14. Dezember.
@ Die ganze Serie im Internet unter
www.zvw.de/christentum
Dr. Peter Kaiser, Psychiater und Religionswissenschaftler.
mern zum Beispiel in einem Depressionskranken Erfahrungen, die nutzbar gemacht
werden können? Bekommt ihm Malen gut?
Joggen? „Was gibt Ihnen Halt? Was hilft Ihnen?“ Auch Religiosität kann so eine „Ressource sein – und das muss ich ausnützen.“
„Wie stelle ich mir den Schöpfer vor?“ Als
jemanden, der autoritär sagt, „was Sache
ist“? Als jemanden, der „mich in die Welt
geworfen“ hat – und „jetzt muss ich selber
gucken“, wie ich zurecht komme? Beides ist
heikel. Aber es gibt ein „Zwischending der
Kooperation“: Ich tue, was ich kann – und
vertraue darauf, „dass er hilft, wenn’s
schwer wird“. An diesem Punkt wird es für
den Psychiater hochinteressant.
Ob ein Glaubensinhalt „wahr“ sei – das
ist für Kaiser dagegen irrelevant. Er denke
„rein funktionalistisch“: Verfügt jemand
über eine Spiritualität, die „tragfähig ist,
wenn’s ihm schlecht geht?“ Kann Religion
als „Baustein“ in der Heilungs-Architektur
dienen? Mit anderen Worten: Wenn es hilft,
„ist es mir komplett egal, was für eine Religion“ einer hat, ob er an Allah glaubt, an
Jesus oder die animistisch beseelte Natur.
Gipfel
Spirituelle Entgrenzungen
Zwei Liebende verschmelzen im Orgasmus;
ein Ausdauersportler läuft sich hinein in ein
„Runner’s High“; ein Sufi tanzt bis zur Ekstase, zum, wörtlich übersetzt, „Außersichgeraten“; ein Buddhist findet in der Meditation zu tiefster Stille und höchster Wachheit; die christlichen Mystikerinnen des
Mittelalters berichteten von zittern und beben machenden Gottesbegegnungen . . . all
diese Erfahrungen, sagt Peter Kaiser, sind
strukturell ähnlich: Die Gehirn-Aktivität,
die für die grenzziehende Wahrnehmung
von Raum, Zeit und Ich zuständig ist, arbeitet reduziert.
Solche Zustände sind ungeheuer schwer
zu verbalisieren. Die mittelalterlichen Mystikerinnen haben sich daran abgearbeitet,
und es ist sicher kein Zufall, dass in ihren
Schriften religiöser und sexueller Wortschatz ununterscheidbar ineinandergreifen.
Mechthild von Magdeburg beschrieb, wie
Gott – „du brennender Gott in deiner Begier“ – seine Liebe in sie „ergießt“: „O Herr,
minne mich gewaltig, oft und lang. Je öfter
du mich minnest, umso reicher werde ich. Je
gewaltiger du mich minnest, um so schöner
werde ich. Je länger Du mich minnest, umso
heiliger werde ich.“
So etwas wie Ganzheit zu erleben, Entgrenzung, Einssein mit der Welt, angeschlossen zu sein an etwas, das „größer ist
als ich selber“ – darum geht es bei all diesen
„Peak Experiences“, Gipfelerfahrungen.
Der Begriff der „Religion“ als Bündel aus
Kindheitsprägungen und Glaubensdogmen
greift hier zu kurz, sagt Peter Kaiser. Er
spricht von „Spiritualität“.
Der moderne Mensch steckt oft wie gefangen in seinem Subjektpanzer, in der
Rüstung seiner Indivdualität. Kaiser hat
festgestellt, dass vor allem gebildete und
emanzipierte Frauen zwischen 30 und 40
Jahren „sehr viel Spirituelles wollen“. Sie
vereinbaren Beruf und Familie, sollen
toughe Leistungsträgerin und fürsorgliche
Beschützerin zugleich sein – und das Ich,
hineingespannt zwischen all die widerstreitenden Anforderungen, gerät unter Dauerstress. Sei es Gebet oder Yoga oder Wandern – viele empfinden derlei als stärkend.
Kaiser findet es stimmig, dass „der Jakobsweg so einen Boom erlebt“ – der meditative Schritt, bei dem jedes Zeitgefühl un-
Bild: Schneider
term Schuh zerfließt, das Naturerlebnis,
das Gefühl, eingebunden zu sein in eine
größere Pilgertradition: All das löst Knoten.
Die Extrembergsteigerin Gerlinde Kaltenbrunner erzählte im Gespräch mit dieser
Zeitung von der „Geborgenheit“, die sie in
der Todeszone jenseits der 8000 Meter empfinde; von einer „Energie“, die sie da strömen fühle; einem „Aufgehobensein“ in der
„Schöpfung“. Peter Kaiser leuchtet das
vollkommen ein: Die körperliche Anstrengung, die Einsamkeit inmitten einer erhabenen Gebirgswelt, dazu die Sauerstoffarmut in höchsten Höhen – all das kann eine
„ultimative harmony“ aufblühen lassen, die
auch „der Sufi nach dem Tanz“ kennt.
Wenn Menschen so etwas schon einmal
erlebt haben, dann können sie gerade in
schwierigen Lebensphasen versuchen, zurückzukehren zu dieser Quelle der Kraft.
Wahn
Kulturelle Übereinkünfte
Kaiser hatte mal einen Patienten, der von
einem Wahn befallen war: Der Mann hielt
sich für Michael Jackson.
Wahn lässt sich nach dem deutschen Psychiater und Philosophen Karl Jaspers etwa
so definieren – erstens: „absolute Glaubensgewissheit“; zweitens: „totale Unmöglichkeit des Glaubensinhalts“; drittens: „Unkorrigierbarkeit“, rationale Einwendungen
verpuffen. So. Und nun glaubt jemand mit
unerschütterlicher Überzeugung, dass ein
Mensch am Kreuz zu Tode gefoltert und in
eine Grabkammer gelegt wurde – bis die
Leiche nach drei Tagen lebendig wieder
aufstand. Wahn? Moment, sagt Kaiser, es
gibt ein viertes Definitionsmerkmal: „Der
gart, evangelisch, verheiratet, zwei
Kinder) machte nach dem Abitur zunächst eine Ausbildung als Koch. Danach studierte er Medizin, forschte
am Deutschen Krebsforschungszentrum und bei Auslandssemestern in Indien, Indonesien und Australien.
t Nun studierte er Ethnologie und
vergleichende
Religionswissenschaft und erwarb den Doktortitel in
Philosophie, bevor er als Arzt unter
anderem an den Instituten für Hirnforschung und für Tropenmedizin in Tübingen arbeitete und seinen Dr. med.
machte. Er bildete sich unter anderem
in Naturheilverfahren, Psychiatrie
und Psychotherapie weiter und habilitierte in Religionswissenschaft (Thema
„Psychiatrie und Religion“).
t In Indien, Indonesien und Thailand
arbeitete er als Tropen-Mediziner, in
Kambodscha und Vietnam als ethnologischer Feldforscher (zu Themen
wie Ernährung und TheravadaBuddhismus) und in der Leprahilfe,
im Kongo in Kriegsflüchtlingslagern,
in Mozambique nach einer Flutkatastrophe. Und als Dozent an der Führungsakademie der Bundeswehr
Hamburg lehrte er über die Kooperation zwischen Nichtregierungs- und
staatlichen Organisationen.
t Aktuell ist er Chefarzt der Klinik für
Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Ost des Zentrums für Psychiatrie und Neurologie Winnenden,
Privatdozent für Religionswissenschaft an der Uni Bremen und Mitglied
des Fachreferats „Religiosität und Spiritualität“ der Deutschen Gesellschaft
für Psychiatrie, Psychotherapie und
Neurologie.
Wahn ist nur der Wahn des einzelnen. Wenn
es alle glauben, ist es kein Wahn mehr.“
Aber das hieße ja, dass der Unterschied
zwischen Wahn und Glaube schlicht eine
kulturelle Übereinkunft wäre?! „Genau“,
sagt Kaiser. Wenn ein Mensch in Deutschland sich von einem Geist besessen sieht,
„dann läuft er unter wahnhaft und wird behandelt“. Auf Bali – kein Problem. Die Vorstellung ist dort „kulturell akzeptiert“.
Kaiser ist sich klar, dass viele Christen
solch Betrachtungen irritierend, womöglich
provozierend finden. Aber er wolle Glaubensinhalte überhaupt nicht bloßstellen,
„ich entwerte das nicht.“ Ihn interessiere
schlicht: Was hilft? In der klassischen Medizin und auch Psychiatrie wird fleißig
schubladisiert und medikamentiert, du hast
dies, also nimm das, „dieses Schulmeisterliche“ ist allgegenwärtig – dabei „weiß ich
doch nicht, was richtig ist“ für einen Menschen! Wenn dein Glaube dir hilft – glaube!
Psychiater haben oft mit Menschen zu
tun, die Stimmen hören. Das gängige Reaktionsschema funktioniert so: Wahnvorstellung – Behandlungsbedarf. Aber „wieviele
Ehepartner reden mit ihrem verstorbenen
Geliebten?“ Und macht ihnen das Angst,
fragt Kaiser – oder tröstet es sie? Müssen
wir wirklich unter allen Umständen versuchen, das wegzutherapieren? Ist Stimmenhören einfach bloß ein „Wahn“? Oder kann
es auch ein Kraftquell sein?
Ein Ehepaar setzt sich jeden Abend gemeinsam hin, beide trinken ein Achtel Wein
und lassen den Tag Revue passieren: Der
Alkohol hat in dem intimen Ritual seinen
guten Platz – wenn die Dämmerstunde damit endet, „dass nachher immer die ganze
Flasche leer ist“, wird er zur Gefahr.
Genau so, sagt Kaiser, ist es mit der Religiosität. Sie kann „Ressource sein oder Risikofaktor: Dazwischen bewegt es sich.“
Gestalten und Dimensionen der
Spiritualität (von
links): Die mittelalterliche Mystikerin Hildegard
von Bingen, erhabene Gebirgslandschaft (Bild:
Zürn), Jakobusfigur am Jakobsweg in Winnenden.
Herunterladen