„Winde des Wandels“ Bei der 57. Jahrestagung der UN-Drogenkommission in Wien in der dritten Märzwoche ging es um eine Evaluierung der Drogenpolitik der letzten fünf Jahre. Dies nicht zuletzt im Hinblick auf eine für 2016 anberaumte Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen zum Thema. Robert Lessmann Die alljährliche „Commission“ gehört normalerweise zu den langweiligsten Presseterminen. Nur wenige Kolleginnen und Kollegen finden den Weg hinaus in die UNO-City. Dies liegt auch am „Wiener Konsens“, der die Drogenkonferenz regiert. Entscheidungen werden im Konsens getroffen. Veränderungen sind da schwierig bis unmöglich bei 53 Mitgliedern der Kommission an sich und über 180 Staaten, die das wichtigste Rahmenabkommen, die Single Convention on Narcotic Drugs von 1961, unterzeichnet haben. Doch diesmal weht ein „Wind des Wandels“ durch die Gänge und Hallen, und er weht besonders kräftig aus Lateinamerika: Der unilaterale Austritt Boliviens aus der Konvention (2012) und Wiedereintritt unter Vorbehalt (2013) in Sachen Kokakauen; die Cannabis-Legalisierung im vergangenen Dezember durch Uruguay, flankiert durch jene der US-Bundesstaaten Washington und Colorado. Aber auch die von der „Global Commission on Drug Policy“ der Expräsidenten Cardoso, Gaviria und Zedillo angestoßene Reformdebatte, die im Rahmen der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) eine realpolitische Ebene erreicht und Fahrt aufgenommen hat (wir berichteten darüber u.a. in unserer letzten Ausgabe). ZT: Gesundheit vor Strafverfolgung Um es gleich vorweg zu nehmen: Wer nicht draußen war, in der UNO-City, der sieht nur den „Wiener Konsens“ bestätigt. Die Abschlusserklärung liest sich – abgesehen von einigen Nuancen –, als wäre sie bereits vor 20 Jahren formuliert worden. Doch die Risse im Konsens sind unübersehbar. Bereits im Vorfeld hatte Mexiko damit gedroht, das Dokument nicht zu unterschreiben, wenn der OAS-Reformprozess nicht berücksichtigt würde und die Schweiz, wenn es keine Ablehnung der Todesstrafe für Drogendelikte beinhalten würde. Der umstrittene Präsident des Internationalen Suchtstoffkontrollrats (INCB), Raymond Yans, hatte sich im Vorfeld der CND gegen die Todesstrafe ausgesprochen (obwohl das gar nicht in das Mandat des INCB fällt) und der Hausherr und Exekutivdirektor des United Nations Office on Drugs and Crime (UNODC), Yuri Fedotov, hatte zum Auftakt der Konferenz ein Papier vorgelegt, indem er ungewöhnlich nüchtern Bilanz zog, auf viele Kritikpunkte der Reformer einging und dabei indirekt größere Auslegungsspielräume im Rahmen der Konventionen signalisierte. Die „Dramaturgie“ der Konferenz bestätigte diese neue Offenheit. Ein Sprecher der UNWissenschaftsforen forderte gleich als erster Redner ein Primat von Gesundheit vor Strafverfolgung. Haftstrafen seien kein effektives Mittel gegen Drogenkonsum. Es dürfe keine Gefängnisstrafen mehr für Drogenkonsumenten geben. Zur Eindämmung von HIV-Infektionen müsse mehr für „harm-reduction“ getan werden. Auch für Gefängnisinsassen müsse es Therapiemöglichkeiten geben. Zwei Vertreter des UN-Jugendforums stimmten gleich anschließend ein: Strafen seien teuer und ineffektiv. Der Stellvertreter des UN Generalsekretars, der Schwede Jan Eliasson, wünschte der Konferenz, sie möge eine nüchterne Bestandsaufnahme leisten und offen sein für neue Ideen. Fedotov und Yans, die beiden Chefs der Drogen-Unterorganisationen der UN, sprachen sich beide gegen die Verhängung der Todesstrafe bei Drogendelikten aus. Diese könne sogar kontraproduktiv wirken, weil sie von vielen Staaten mittlerweile als Hindernis für eine Kooperation mit den Strafverfolgungsbehörden der entsprechenden Länder gesehen wird. ZT: Das offizielle Kurzzeitgedächtnis Man habe nie einen „Drogenkrieg“ geführt, sagte INCB-Chef Yans. Das politisch-institutionelle Gedächtnis ist bekanntlich manchmal kurz. So erinnerte sich der Autor dieses Beitrags, dass er die nunmehr vom UNODC argumentierte Neuigkeit, Maßnahmen der Drogenprävention seien zehnmal kosteneffizienter als die Strafverfolgung, bereits vor vielen Jahren in einer Studie des Ökonomen Peter Reuter für die Rand Corporation gelesen hatte. In jener Zeit waren solche Studien noch nicht ins Internet gestellt worden. Groß war daher die Freude auf beiden Seiten, als er just diesen Professor Peter Reuter auf dem Podium eines „side-events“ antraf, das die NGO International Drug Policy Consortium zusammen mit der Regierung der Schweiz zum Thema: „Modernisierung der Strafverfolgung im Drogenbereich“ organisierte. Erheitert und gerne gab Professor Reuter die bibliographischen Daten seines damaligen Aufsatzes preis: Rydell/Everingham, 1994 – vor zwanzig Jahren! Ein Vertreter der Schweizer Polizei referierte auf diesem „side-event“, dass es in seinem Land längst gängige Praxis sei, was hier noch kontrovers diskutiert würde. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Polizei, Sozialarbeitern und Medizinern mit dem Ziel, Drogenabhängigen zu helfen statt sie einzusperren. Fast immer interessant und lehrreich, waren solche „side-events“ früher von Reform-NGOs angeboten worden. Vertreter der UNO oder der Regierungsdelegationen verirrten sich nur vereinzelt dorthin. Heute haben sich die NGO-Vertreter in ihrem Outfit angepasst und man organisiert hochprofessionelle Informationsveranstaltungen gemeinsam mit Regierungen. Auf einer solchen stellten Vertreter der Regierung von Uruguay sowie der US-Bundesstaaten Washington und Colorado ihre neue Cannabis-Gesetzgebung (Legalisierung) vor, zusammen mit Martin Jelsma vom Transnational Institute in Amsterdam. ZT: Kompetenzgefälle Nicht wenige Regierungsvertreter und -vertreterinnen schienen auf diesen „Klimawandel“ gar nicht vorbereitet. Schon in den Regionalgruppen, wie jener der Afrikanischen Länder sowie der Gruppe Lateinamerika und Karibik (GRULAC) konnte man sich nicht wirklich auf kohärente Positionen festlegen, schon gar nicht auf innovative. In der GRULAC, so sickerte durch, scheiterte dies vor allem an Peru. Ein Manko ist hier, dass das Thema Drogen in den einzelnen Ländern unterschiedlichen Ministerien zugeordnet ist: Mal Justiz, mal Inneres, mal Gesundheit. Nicht immer denken die Delegierten in ähnlichen Kategorien. Und selten genießt das Thema wirklich hohe Priorität. Die Personalfluktuation ist groß, „alte Hasen“ in den Delegationen sind selten. Daraus folgt ein mitunter krasser Kompetenzvorsprung der UNO-Bürokratien gegenüber den Delegierten und Entscheidungsträgern. Nachdem erstere sich unter dem Reformdruck nun geöffnet haben, stehen die Chancen nicht schlecht, dass der Funke auch auf letztere überspringt. Bemerkenswert kritisch und explizit waren einige UNO-Unterorganisationen. So wies die Vertreterin von UNAIDS darauf hin, dass die Weigerung einiger Länder, von UNAIDS empfohlene „harm-reduction“ - Maßnahmen für Drogenkonsumenten umzusetzen, Erfolge gegen AIDS im Rest der Welt konterkariere und für die Betroffenen letztlich ein Todesurteil darstellen könne. So schätzt UNAIDS die Zahl der jährlichen Neuinfektionen mit HIV durch unsterile Nadeln in Russland auf 50.000, während sie in westeuropäischen Ländern, wo sterile Spritzen für Drogenabhängige zur Verfügung gestellt werden, gegen Null gehen. Unter Menschenrechtsgesichtspunkten wurden Drogen-Internierungslager in Vietnam, Kambodscha und China angeprangert. Der UN Hochkommissar für Menschenrechte bezeichnete die Verhängung der Todesstrafe für Drogendelikte als Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention und andere internationale Menschenrechtsabkommen. Apropos: Die Ablehnung der Todesstrafe bei Drogendelikten fand zuletzt doch keinen Eingang in das im Konsens verabschiedete Schlussdokument. Unter Führung der EU brachte eine ganze Reihe von Ländern diese jedoch in einer Zusatzerklärung zum Ausdruck. Auf die gleiche Weise verteidigten verschiedene Länder die Verhängung der Todesstrafe als souveränes Recht, das außerhalb des Mandats der UN Drogenkommission liege. Es waren dies der Iran als Sprecher, Syrien, Saudi Arabien, Jemen, Malaysia, Vietnam, Libyen, Ägypten, China, Qatar, die Vereinigten Arabischen Emirate, Kuwait, Bahrain, Oman, Sudan, Indonesien und Singapur. Teilweise standen auch aufeinanderfolgende Regierungsstatements in scharfem Kontrast: Singapur trat für „Nulltoleranz“ gegenüber Drogen und „kriminalitätsfreie Straßen“ ein. Die Tschechische Republik forderte einen „Blick für das Machbare“. Drogenfreiheit durch Angebotsbekämpfung erreichen zu können, sei eine Illusion. Tschechien plädierte für Prävention und Therapie. Die USA, Führungsmacht der internationalen Drogenkontrolle und eiserner Verteidiger des Status quo, zeigte sich vage offen für Veränderungen, aber im Rahmen der bestehenden Konventionen. Der schwindende Widerstand Washingtons ist sicher ein entscheidender Faktor für den Aufwind der Reformkräfte. Man hat dort einstweilen genug „Hausaufgaben“ mit den abtrünnigen Bundesstaaten und den Widersprüchen mit der Bundesgesetzgebung, die sich daraus ergeben. Lateinamerika – Vorhut der Reformer ohne gemeinsame Linie Lateinamerikanische Länder führten die Reformdebatte an, doch Lateinamerika war – wie immer weit von einer gemeinsamen Linie entfernt, die nicht einmal innerhalb von Bündnissen wie der ALBA erkennbar war. So wartete das von der Drogenproblematik noch vergleichsweise unberührte Ecuador mit einer Fundamentalkritik am vorherrschenden, prohibitionistischen Ansatz und seinen „verheerenden Folgen“ auf: Im Kampf gegen die Drogen versteckten sich und verstecken sich hegemoniale Interessen, wo sich Länder des Nordens zum Schiedsrichter über Demokratie und Transparenz machen wollen. Venezuela kritisierte die UN-Methodologie und zweifelte die Korrektheit der Zahlen des UNODC an. Kuba betonte die Suche nach drogenpolitischem Konsens. Im Vordergrund müsse das Wohlergehen der Menschen stehen und die Reduzierung der Gewalt. Darüber hinaus sei die Eigenständigkeit bei der Lösung der verschiedenen Probleme zu respektieren. Geisterfahrer? Eine große Überraschung – und Enttäuschung für die Reformländer - war Bolivien, das in den letzten Jahren durch Besuche von Präsident Morales bei der CND für Furore, Fernsehkameras und volle Säle gesorgt hatte. Das Statement von Innenminister Carlos Romero war ein trockener Rechenschaftsbericht über die Reduzierung von Kokaanbauflächen und die Beschlagnahmungen von Kokain und seinen Vorläuferprodukten ohne jede politische Forderung. Auf einem „side-event“ stellte Bolivien seine im letzten November mit 3 Jahren Verspätung vorgelegte Studie zum traditionellen Kokagebrauch vor (vgl. letztes PANO) und erläuterte seine Drogenkontrollpolitik. Zur Forderung, das Kokablatt von der Liste der kontrollierten Substanzen der UN Drogenkonvention zu streichen, wurde kein Wort verloren. Bolivien hatte das Kokablatt mit seiner neuen Verfassung vom Jänner 2009 zum schützenswerten „andinen Natur- und Kulturerbe“ erklärt und gleich danach im März bei der CND den Antrag auf Streichung zweier Unterparagraphen gestellt, die das Kokakauen verbieten. Der Antrag wurde abgelehnt und Bolivien trat daraufhin 2012 aus der Konvention aus – ein einmaliger Präzedenzfall – und mit Wirkung zum Februar 2013 unter Vorbehalt gegenüber den beiden fraglichen Unterparagraphen wieder bei. Nachdem man auf diese Weise schließlich „mit blutiger Nase“ nichts weiter erreicht hat, als die internationale Anerkennung des seit vielen Jahren herrschenden Status quo im Land, hat man nun offenbar beschlossen „den Ball flach zu halten“. In die lateinamerikanische Reformdebatte hatte sich La Paz ohnehin auch in den Jahren vorher nicht eingemischt. Völlig irritierend waren Aussagen von Romero nach seiner Rückkehr, die Staaten hätten in Wien die Forderungen nach Entkriminalisierung zurückgewiesen. Bolivien wolle die illegalen Märkte nicht regulieren, sondern abschaffen. (La Razón, 21.3.) Entweder wurde er von der Presse falsch zitiert, oder er muss auf einer anderen Veranstaltung gewesen sein. Denn auch wenn es keinen Konsens gab und es sich wahrscheinlich auch noch nicht um eine Mehrheitsposition handelt: Nie waren auf einer CND die Stimmen gegen den alten polizeilich-juristischen Ansatz und für einen gesundheitspolitischregulierenden lauter und vielfältiger. Oder gibt es gar einen politischen Kurswechsel in La Paz in Sachen Koka? Vizeminister Felípe Cáceres verneinte das gegenüber dem Autor und hatte weiterhin Koka-Anstecknadeln im Gepäck. Es zeigt sich jedenfalls, dass medienwirksame Präsidentenbesuche kein Ersatz für eine kohärente Strategie sind. Verkehrte Welt: Während Bolivien auf diplomatischer Ebene ein konfuses Bild abgab, seine Kokareduzierung aber friedlich und im Konsens mit den Bauern vornimmt, dauert in Kolumbien, einem der Wortführer der Reformkräfte, die Politik der Zwangseradikation und der Besprühung mit Pflanzengift aus der Luft an. Neben Kolumbien, gehörten Uruguay, Mexiko und Guatemala zu den Reformern, die die Suche nach drogenpolitischen Alternativen mit einem Primat der Gesundheitspolitik, dem Schutz der Menschenrechte und der Reduzierung von Gewalt forderten.