Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Univ.-Doz. Dr. med. Dr. scient. pth. Dipl.-Psych. Reinhard J. Boerner SFU Vorlesung Psychosomatik Teil 1 Theoretische Grundlagen Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Die ehemalige Burgmanns- und Hansestadt Quakenbrück, begründet 1235, ist mit 13.000 Einwohnern durch ihre historische Fachwerk-Architektur geprägt. Sie liegt im Artland, einer landschaftlich reizvollen Region mit einem Ensemble historischer Bauernhöfe, 50km nördlich von Osnabrück, in Niedersachsen und ist verkehrstechnisch durch Autobahn und DB gut vernetzt. Es besteht eine lange Bildungstradtiton durch ein 1354 gegründetes Gymnasium. Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete (Fotos mit freundlicher Genehmigung der Samtgemeinde Artland) Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Zentrum für Psychologische und Psychosoziale Medizin Christliches Krankenhaus Quakenbrück GmbH Allgemeinkrankenhaus der Schwerpunktversorgung (400 Betten), Akademisches Lehrkrankenhaus der MHH 110 stationäre Betten, 24 Tagesklinikplätze Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie (80 stationäre Betten, 12 TK-Plätze) Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie (30 stationäre Betten, 12 TK-Plätze) Akutklinik mit sektorisiertem Versorgungsauftrag Klinische Spezialkompetenzen: Depressionen, Angststörungen ADHS, Demenzerkrankungen (Focusliste Topmediziner 2011 - 2016) Mehrfach als Topklinik Deutschlands für den Bereich Psychiatrie und Angststörungen ausgezeichnet (Focusliste 2011 - 2016) Verknüpfung biologischer, verhaltenstherapeutischer und psychodynamischer Konzepte Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Zentrum für Psychologische und Psychosoziale Medizin Christliches Krankenhaus Quakenbrück GmbH Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Vorlesung Psychosomatik Stand: 11.2.2016 1. Teil: Theoretische Grundlagen • Einführung • Philosophische und wissenschaftstheoretische Grundlagen (Leib-Seele-Problem) • Gegenüberstellung von monistischen, dualistischen u. vermittelnden Positionen • Bedeutung des Leib-Seele-Problems für die Psychotherapie am Beispiel von F. A. Mesmer • Anwendungsbeispiele für die Psychotherapie in Theorie u. Praxis • Geschichtliche Entwicklung • Definitionen von Psychosomatik • Biologische Grundlagen • Grundlagen psychodynamischer Psychosomatik • Grundlagen der Verhaltensmedizin • Schulenübergreifendes Vorgehen Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Vorlesung Psychosomatik Stand: 11.2.2016 2. Teil: Ausgewählte klinische Anwendungsgebiete • Kasuistik (Patient mit Koronarer Herzerkrankung) • Kardiale Erkrankungen • Risikofaktoren der KHK • Stresstheorien • Persönlichkeitstheorien • Depression • Angst und PTBS • Kasuistische Anwendung psychosomatischer Konzepte • Somatoforme Störungen im Überblick • Somatoforme Schmerzstörung am Beispiel chronischer Rückenschmerzen (CLBP) Ausgewählte Literatur Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Einführung Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Einführung Was ist Psychosomatik? • Zusammenhang von Psyche (Seele) und Geist sowie Körper, Biologie, Natur des Menschen Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Einführung Warum Psychosomatik? • Jeder von uns hat ein persönliches Verständnis (Konzept) des Zusammenhangs von Natur und Geist • Unsere eigene Definition prägt unser Menschenbild, wissenschaftliches Verständnis wie unseren professionellen Standpunkt • Unsere eigene Definition hängt ab von tradierten und diskutierten theoretischen Konzepten • Zum das Leib-Seele-Problem lassen sich unterschiedliche Antworten benennen. Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Einführung Unterschiedliche Gegenstandsbestimmungen und Verständnis von Psychosomatik 1 • Thema von Philosophie („Leib-Seele-Problem“) u. Wissenschaftstheorie • Anthropologisch-ganzheitliches Konzept als Teil der medizinischen Denktradition und –kultur • Spezifisches Verständnis des Zusammenhangs von psychischen und somatischen Erkrankungen – Psychoanalyse/Psychodynamik – Verhaltensmedizin Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Einführung Unterschiedliche Gegenstandsbestimmungen und Verständnis von Psychosomatik 2 • Eigenes medizinisches Fachgebiet bzw. Ausbildungsfach – Facharzt für Psychosomatik – „Psychosomatic medicine“ Eigene Facharztqualifikation für die Konsiliarpsychiatrie und – psychosomatik in den USA • Eigenständiges medizinisches Versorgungssystem neben der Psychiatrie (spezifisch für Deutschland, partiell auch in Österreich) Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Einführung Übung (Selbsterfahrung) • Erinnern Sie sich an Ihre erste (schwerwiegende) körperliche Erkrankung (ggf. Krankenhausaufenthalt) – Wie haben Sie Ihre Erkrankung wahrgenommen (erlebt)? – Welche Gefühle hatten Sie während Ihrer Erkrankung? – Welche Gedanken haben Sie begleitet? – Wie haben Sie sich als Kranker verhalten? Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Einführung Übung (Selbsterfahrung) • Psychosoziale Dimensionen des Krankseins – Übernahme der Krankenrolle – Erleben des körperlichen Krankseins – Spezifische Emotionen (Ängste, Hoffnungslosigkeit, neutrale Stimmung etc.) – Kognitionen (Erwartungen an den Krankheitsverlauf, Prognose, Heilung, Behinderung) – Verhalten (Vermeidung ärztlicher Behandlung, Widerstand, Offenheit, Compliance, Schonung, Krankschreibung, schneller Wiedereintritt ins normale Leben) Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Einführung Historische Entwicklung • Spätestens im 19. Jh.: Aufspaltung in eine naturwissenschaftliche („Maschinenmodell“, von Uexküll 2011) und nicht naturwissenschaftliche Medizin durch das Technikideal • Auf der Basis eines naturwissenschaftlichen Paradigmas ungeheure Fortschritte hinsichtlich Diagnose und Therapie somatischer Erkrankungen • Fortschreitende Technisierung, Professionalisierung und Spezialisierung der Medizin (früher Innere Medizin; heute Kardiologie, Diabetologie, Endokrinologie) „Verlust“ einer ganzheitlichen somatischen Perspektive • Zunehmende Spezialisierung und Abspaltung von „Körpermedizin“ und „Psychomedizin“ – Psychotherapie als eigene Fachrichtung mit eigener neuer Berufsgruppe neben den Ärzten – Verlust einer ganzheitlichen Sichtweise des „Kranken“ („Seelenlose“ Medizin) Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Einführung Zwei unterschiedliche Definitionen von Psychosomatik • Ganzheitliches Verständnis des (kranken) Menschen bei psychischen wie körperlichen Erkrankungen (1. Definition) – Anthropologischer Denkansatz aller beteiligten Professionen – Alle Fachrichtungen sind in gleicher Weise zur Zusammenarbeit gefordert – „Ringen“ um gemeinsame Antworten, sofern diese notwendig sind • Spezialisierte Psychosomatik (2. Definition) – Körperliche Erkrankungen ohne nachweisbaren medizinischen Befund Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Einführung Psychosomatisches Fallbeispiel 1 1. Definition • 38-jähriger verheirateter Patient wird mit akuten Herzbeschwerden (Druck- u. Engegefühl auf der Brust, Atemnot, Kreislaufversagen) in die Notfallambulanz eingewiesen • Bisher körperlich gesund, keine wesentlichen Erkrankungen bekannt • Medizinische Diagnose: Akuter Herzinfarkt Intensivstation Besserung Verlegung auf die Allgemeinstation nach klinischer • Medizinischer Befund: Risikofaktoren Adipositas (1,70m, 95 kg), Hypercholeserinämie • Nach Stabilisierung Einweisung in eine Reha-Klinik, dort weiterhin deutliche Einschränkung der Leistungsfähigkeit (Gehstrecke) längere Krankschreibung erneute Dekomensation Diagnose koronare Herzerkrankung Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Einführung Psychosomatisches Fallbeispiel 1 1. Definition • Derselbe Patient wird noch im Krankenhaus intensiver untersucht • Folgende psychosoziale Risikofaktoren werden bei genauerer Anamnese identifiziert: – Seit Jahren berufliche Anspannung (Stress) – Wenig Ruhe und Pausen – Ungünstige Ernährung (fett- und kalorienreich) – Deutliche Depressivität zwei Monate vor Herzinfarkt – Ausgeprägte Schlafstörungen Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Einführung Psychosomatisches Fallbeispiel 1 1. Definition • Entsprechend den Leitlinien der Deutschen Kardiologischen Gesellschaft handelt es sich um gesicherte Risikofaktoren für einen ungünstigen Krankheitsverlauf • Ergänzend zur medizinischen Therapie werden durchgeführt: Psychologische Beratung, Psychoedukation, Entspannungsverfahren, Ernährungsberatung und Schlafregulation (u. a. Medikation) • Der Patient nimmt diese Interventionen positiv an. Die Reha verläuft günstig, nach sechs Monaten ist der Patient wieder voll leistungsfähig. Im Follow-up zeigt sich ein unauffälliger EKG-Befund • Der Patient wurde mit einem ganzheitlichen Therapieansatz (biopsychosoziales Modell) optimal versorgt Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Einführung Psychosomatisches Fallbeispiel 2 (Rudolf 2008) 2. Definition • Eine junge Frau, kurz vor dem Abitur stehend, verunglückt auf der nächtlichen Heimfahrt von einem Disco-Besuch im Auto eines Freundes, der nicht ihr „richtiger“ Freund ist, sondern jemand, mit dem sie ersatzweise ausgegangen war. • Die Blasenlähmung, die sich nach einigen Tagen einstellte, lässt sich chirurgisch und neurologisch nicht ausreichend erklären. • Die körperliche Hilflosigkeit, welche eine Entlassung vorerst verzögert, schein geeignet, anstehende Auseinandersetzungen mit dem Freund und den Eltern hinauszuschieben, wobei das Mädchen zugleich seine körperliche Beeinträchtigung stark schuldgefühlshaft erlebt. Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Einführung Psychosomatisches Fallbeispiel 3a (Rudolf 2008) 2. Definition • Eine Patientin Ende zwanzig leidet seit mehreren Jahren unter einem schweren juvenilen Diabetes, sie muss strenge Diät halten und Insulin spritzen. • Sie wünscht sich dringend ein Kind, hat aber Angst vor den Geburtskomplikationen und insbesondere vor den körperlichen Spätfolgen des Diabetes. Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Einführung Psychosomatisches Fallbeispiel 3b (Rudolf 2008) 2. Definition • Ihr körperliches Leiden ist stark schambesetzt, sie fühlt sich körperlich nicht als vollwertige Frau und fürchtet, von einem gesunden Mann nicht akzeptiert zu werden. • Die Folge ist, dass sie in manchen Zeiten versucht, ihren Körper mit strikter Medikation und Diät unter Kontrolle zu bringen, gewissermaßen asketisch streng mit sich zu verfahren, während sie zu anderen Zeiten die Nächte durchmacht, viel Alkohol trinkt, sich relativ wahllos mit ihren jeweiligen Männerbekanntschaften abgibt, um sich hinterher die größten Vorwürfe zu machen. Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Einführung Psychosomatisches Fallbeispiel 4a (Rudolf 2008) 2. Definition • Ein erwachsener Mann verliert seine Mutter, die an einem inoperablen Gallengangskarzinom stirbt. • Seine Trauer ist übertönt von der Erbauseinandersetzung mit der bevorzugten Schwester. • Er beginnt zu kränkeln und entwickelt über Jahre hinweg eine Oberbauchsymptomatik mit Verdauungsstörungen und Darmkrämpfen. Seine Symptome kopieren genau das Beschwerdebild seiner Mutter. Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Einführung Psychosomatisches Fallbeispiel 4b (Rudolf 2008) 2. Definition • Er glaubt, ohne die Parallele selbst herzustellen, an Krebs erkrankt zu sein. Er drängt die Ärzte zu immer neuen Untersuchungen und misstraut zugleich ihren Befunden bzw. Mitteilungen. • Seine Verzweiflung ist so stark, dass er plant, sich das Leben zu nehmen. In einer Gruppenpsychotherapie werden die zugrunde liegenden Beziehungsprobleme bearbeitet und die Beschwerden klingen ab. Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Einführung Psychosomatisches Fallbeispiel 5a (Uexküll 2011) 2. Definition • Das Sprechzimmer betritt eine 52-jährige Frau und berichtet, dass sie in den letzten drei Wochen zweimal nachts Anfälle von akuter Atemnot bekommen habe. Die Luft sei ihr weggeblieben, und sie habe gemeint, sterben zu müssen. • Auf die Bitte des Arztes, die Umstände zu schildern, unter denen die Atemnotanfälle aufgetreten seien, berichtet sie unter tiefem Seufzen, dass sie mit einem Ausländer in schlechter Ehe verheiratet sei; er vernachlässige sie und bliebe oft nächtelang weg. • Die so bedrohlich empfundenen Atemnotanfälle seien aufgetreten, als ihr ältester Sohn (18 Jahre) erklärt habe, er wolle sich von der Familie trennen und wegziehen. • Nachdem sie dies alles in recht vorwurfsvollem Ton vorgebracht hat, bricht sie in Tränen aus. Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Einführung Psychosomatisches Fallbeispiel 5b (Uexküll 2011) 2. Definition • Während des Berichts der Patientin ändert sich die Stimmungslage des Arztes. Beim Eintreten nahm er eine kleine, adipöse – sie wog, wie sich später herausstellte, bei 161 cm Größe 108 kg – und kurzatmige Frau mit etwas zyanotischen Lippen wahr, die auf ihn zunächst einen „schmuddeligen“ und unsympathischen Eindruck machte, obwohl sie, wie er später bemerkte, keineswegs ungepflegt war. Diese ablehnende Stimmung des Arztes, die der erste Eindruck hervorgerufen hatte, wandelte sich während des Berichts der Patientin in wohlwollendes Interesse und Hilfsbereitschaft. Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Einführung Psychosomatisches Fallbeispiel 5c (Uexküll 2011) 2. Definition • Die weitere Untersuchung der Patientin ergab Anzeichen einer durch Adipositas und leichte Hypertonie bedingten Herzinsuffizienz mit Linkshypertrophie des Herzens sowie eine leichte Erhöhung der Blutfette. • Dieser „banale Alltagsfall aus der Sprechstunde“, der gerade seiner vermeintlichen Banalität wegen exemplarisch ist, enthält drei Geschichten: Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Einführung Psychosomatisches Fallbeispiel 5d (Uexküll 2011) 2. Definition • Die „Geschichte einer Krankheit“: Sie handelt von einem Betriebsschaden im Körper der Patientin. Eine Adipositas und leichte Hypertonie haben zu einer Überlastung des Herzens mit Linkshypertrophie und zu einer Erhöhung der Blutfette geführt. Da Zeichen einer Lungenstauung fehlen, ist es nicht wahrscheinlich, dass die nächtlichen Anfälle von Atemnot mit Todesangst damit erklärt werden können; • die „Geschichte einer Kranken“: Sie berichtet von einer 52-jährigen verbitterten Frau, die schon als Kind abgelehnt wurde und ihren Trost im Essen suchen musste, von ihrer unglükclichen Ehe und, als letzte Kränkung, von ihrem 18-jährigen Sohn, der die Familie verlassen will; Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Einführung Psychosomatisches Fallbeispiel 5e (Uexküll 2011) 2. Definition Die „Geschichte einer Arzt-Patient-Beziehung“: • In ihr erfahren wir von der ablehnenden Einstellung des Arztes zu einer „unsympathischen, kleinen, fetten, schmuddeligen Frau“, die ihre Klagen in einem vorwurfsvollen Ton vorbringt. • Die klassische Medizin verlangt vom Arzt, dass er seine persönlichen Gefühle ausschaltet und sich seinen Patienten gegenüber als neutraler Beobachter verhält. • Stattdessen sehen wir hier, dass der Arzt seine persönlichen Gefühle registriert und feststellt, dass sie in „wohlwollendes Interesse, Mitgefühl und Hilfsbereitschaft“ umschlagen, als er versteht, dass seine Ablehnung Ausdruck einer „Gegenübertragung“ war, d. h. seiner unbewussten Reaktion auf die Haltung der Patientin, die sie zwang, ihre negativen Erfahrungen mit anderen Menschen auch auf ihn zu übertragen. Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Einführung Psychosomatisches Fallbeispiel 6a (Boerner 2015) 2. Definition • 43-jähriger Arbeiter, befreundet, 2 Kinder aus 1. Ehe • Bis vor wenigen Monaten psychisch gesund, keine wesentlichen körperlichen Vorerkrankungen bekannt • Erste Auffälligkeiten in der Arbeit durch Vergesslichkeit sowie Orientierungsstörungen • Zunahme der Symptomatik mit Ratlosigkeit, Störungen der Alltagskompetenz • Stationäre Einweisung durch den Hausarzt mit Verdacht auf eine Demenzerkrankung Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Einführung Psychosomatisches Fallbeispiel 6b (Boerner 2015) 2. Definition • Aufgrund der Schwere der Symptomatik geschlossenen psychiatrischen Station Notaufnahme auf einer • Klinisch ausgeprägte Demenz (Orientierung, Gedächtnis, Affekt, Werkzeugstörungen) • Trotz umfänglicher Organdiagnostik (Labor, MRT-Schädel, Liquor) kein organischer Befund Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Einführung Psychosomatisches Fallbeispiel 6b (Boerner 2015) 2. Definition • Nach mehrwöchiger intensiver Untersuchung Hinweise auf ein unterschiedliches Verhaltensmuster teilweise demenzorientiert, teilweise unauffällig wirkend • Es gelingt schließlich, die klinische Symptomatik als Konversionsstörung zu identifizieren – Patientenäußerung: „Ich habe die Orientierung verloren“ – Deutliche Hinweise auf psychosoziale Probleme: Trennungsabsicht der Freundin, Schulden – Unfähigkeit des Patienten, seine Gefühle zu äußern Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Der psychosomatische Patient 1 (Rudolf 2008) 2. Definition • Für den Arzt ein „Problempatient“ • Symptomchronifiziert • Vielfach durchuntersucht • Von vielen Behandlungsversuchen enttäuscht Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Der psychosomatische Patient 2 (Rudolf 2008) 2. Definition • Verunsichert, weil er angeblich „nichts hat“ • Beunruhigt, weil ihm niemand helfen kann • Besorgt, dass man ihn für „verrückt“ halten könnte • Bereit, sich gegen diesen Vorwurf zu verteidigen Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Der psychosomatische Patient 3 (Rudolf 2008) 2. Definition • Bereit, sich defensiv-aggressiv gegen die Medizin zu wenden • Bereit, sich für diese Schwierigkeiten selbst die Schuld zu geben • Affektiv belastet durch Gefühle der Enttäuschung, Verunsicherung, Beschämung, Resignation, Selbstvorwürfe und defensiver Aggressivität Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Philosophische und wissenschaftstheoretische Grundlagen (Leib-Seele-Problem) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Gegenüberstellung von monistischen, dualistischen u. vermittelnden Positionen Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Philosophische Grundlagen Leib-Seele-Diskussion • Wie definieren wir Natur (Körper) und Geist (Seele)? • Wie verhalten sich Natur und Geist zueinander? Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Philosophische Grundlagen Leib-Seele-Diskussion Wie definieren wir Natur (Körper) und Geist (Seele)? • „Die Natur erklären wir, dass Seelenleben verstehen wir“ („Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie“ 1894) Wilhelm Dilthey (1833 – 1911) dt. Theologe u. Philosoph Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Philosophische Grundlagen Leib-Seele-Diskussion Wie definieren wir Natur (Körper) und Geist (Seele)? • Prinzipielle Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften • Unterscheidung von nomothetischer und idiographischer Forschung Wilhelm Windelband (1848 – 1915) dt. Philosoph • „Die einen suchen allgemeine Gesetze“ (generelles apodiktisches Urteil) „die anderen besondere geschichtliche Tatsachen“ (singulärer, assertonischer Satz) („Geschichte und Naturwissenschaft 1884) Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Philosophische Grundlagen Leib-Seele-Diskussion Wie definieren wir Natur (Körper) und Geist (Seele)? • Unterscheidung von Kultur- und Naturwissenschaft • „Die einen haben es mit der wert- und sinnfreien Natur zu tun, die anderen dagegen mit der sinnvollen und wertbezogenen Kultur“ (Rickert 1926) Heinricht Rickert (1863 – 1936) dt. Philosoph • Für Rickert kann im Unterschied zu Dilthey und Windelband „das Psychische auch als Natur“ konzeptionell verstanden werden Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Philosophische Grundlagen Leib-Seele-Diskussion Grundsätzliche Positionen • Soma (Natur) und Psyche (Geist) sind ihrem Wesen nach kategorial unterschiedlich und sind durch ein Erklärungsprinzip ausreichend verstehbar (monistisch) • Soma (Natur) und Psyche (Geist) sind ihrem Wesen nach kategorial unterschiedlich, konstituieren gemeinsam den Menschen, erfordern aber unterschiedliche Erklärungsprinzipien (dualistisch) • Soma (Natur) und Psyche (Geist) stellen unterschiedliche Facetten ein und desselben Gegenstandes dar („Zwei Seiten einer Medaille“) und erfordern zu ihrem vollständigen Verständnis alle möglichen Erklärungsprinzipien (vermittelnd, systemisch-integrativ) Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Monistische Position in der Psychiatrie Wilhelm Griesinger (1817 – 1868) & Emil Kraepelin (1856 – 1926) • „Krankheiten der Seele sind Krankheiten des Gehirns“ (Griesinger 1845, S. 6) • Psychische Prozesse sowie psychische Störungen lassen sich auf (gestörte) neurobiologische Prozesse zurückführen und sind hierdurch ausschließlich erklärt Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Monistische Position in der Psychiatrie (Griesinger 1845) • „Nach diesen Prämissen wird nun die von der deutschen Psychiatrie ungebührlich oft und weitläufig behandelte Frage, ob beim Irresein, bei den Anomalien im Vorstellen und Wollen, die Erkrankung auch wirklich die Seele betreffe, ihre einfache, bejahende Lösung finden [...] Nur wird man allerdings nicht von Krankheiten der Seele selbst zu sprechen haben [...] sondern nur von Krankheiten des Gehirns, durch welche jene Acte des Vorstellens und Wollens gestört werden.“ (Griesinger 1845, S. 6) Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Monistische Position in der Psychiatrie F. Holsboer (*1945) • „Moderne“ neurobiologische Position • „Personalisierte Medizin“ als Idee einer ausschließlich auf neurobiologischer Forschung (genetische Polymorphismen) begründeten, „maßgeschneiderten“ biologischen Therapie psychischer Störungen (Holsboer 2009) • Psychologisch–psychotherapeutische Interventionen danach sekundär Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Monistische Position in der Psychotherapie (Psychoanalyse) • Psychoanalyse als eigene „Wissenschaft des Unbewussten“ • Unterscheidung klinische Forschung „Genuin psychoanalytische Forschung in der psychoanalytischen Situation“ und extraklinische Forschung • Der naturwissenschaftliche Forschungsansatz wird für die Psychoanalyse als grundsätzlich ungeeignet bewertet - Positionierung gegen den evidenzbasierten Forschungsansatz in der Psychotherapieforschung (Prä-Post-Design in der sog. OutcomeForschung) (Leuzinger-Bohleber 2010) Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Monistische Position in der Psychotherapie (Gesprächspsychotherapie) • Betonung der Autonomie von Psychotherapie unabhängig und jenseits der biologischen Grundlagen psychischer Prozesse (Eckert et al. 2006) • Warnung vor einer „Medikalisierung“ der Psychotherapie durch das neurobiologische Paradigma bzw. die Übernahme eines naturwissenschaftlichen Forschungskonzepts (evidenzbasierte Medizin) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Monistische Position in der Psychotherapie (früher Behaviorismus) • „Behavioristisches Manifest“ (Watson 1913) • Psychologie als experimentelle Naturwissenschaft Positionierung gegen den „Mentalismus“ in der Psychologie • Behaviorismus als unabhängig von der Biologie bzw. Natur des Menschen Positionierung gegen das medizinische Paradigma • „Wir haben unseren Charakter, unser Temperament und unsere besonderen Fähigkeiten nicht ererbt. Sie werden uns von unseren Eltern aufgezwungen.“ (Watson ([1928-1929]/1985, S. 120) Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Dualistische Position René Descartes (1641) • Theoretische Grundlage ist der sog. kartesianische Dualismus: - res cogitans (meint die nicht zu den materiellen Vorgängen gehörenden geistigen Prozesse) - res extensa (meint die Materie mit ihrer räumlichen Ausdehnung) • Seele und Körper stellen somit verschiedene Wesenseinheiten dar, so dass beide Bereiche nur aus sich heraus erklärt werden können • Descartes legte die Grundlage für die naturwissenschaftliche Medizin (Mensch als Maschinenmodell) • Die Verbindung von Psyche und Soma existiert und definiert den Menschen als Ganzes, hat aber für die Erklärung des jeweiligen Bereichs keine Bedeutung Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Dualistische Position (C. G. Jung) • Entwicklung von einem naturwissenschaftlichen zu einem geisteswissenschaftlichen Konzept von Psyche und Soma • „...dass ein für uns völlig unüberbrückbarer Gegensatz zwischen stofflicher und seelischer Erscheinung besteht.“ (Jung 1936/1960, S. 588) • Carl Gustav Jung (1910) „Freud erlag leider der ärztlichen Versuchung, in humoralpsychologischer Weise die seelische Erscheinung auf den Körper zurückzuführen“ (Jung 1936/1960, S. 592) Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Anthropologische Tendenz zum Dualismus (Rudolf 2008) • Die grundsätzliche Möglichkeit, dass der eigene Körper vom „Ich“ wie ein Objekt der Außenwelt erlebt und behandelt werden kann, begünstigt (in unserem eigenen Erleben) eine dualistische Vorstellung und wirft die Frage auf, wie sich Seelisches auf Körperliches auswirkt oder umgekehrt. • Die Verwirrung in der Leib-Seele-Diskussion rührt nicht zuletzt aus der gegebenen Möglichkeit, gleichzeitig zu sein und zu haben. Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Anthropologische Tendenz zum Dualismus (Rudolf 2008) • Ich bin es, der denkt und ich bin körperlich anwesend (hier wird die Einheit von Ich und Denken oder Körperlich-Sein ausgedrückt) • In der Formulierung, ich habe diesen Gedanken und ich habe diesen Körper, scheint es, als wären wir zu zweit: Hier bin ich und dort sind meine Gedanken oder mein Körper. • Ein wesentliches Problem für das theoretische Verständnis für die Beziehung von Psyche und Soma ist, dass „die Gleichzeitigkeit von psychischem Erleben und körperlicher Funktion offenbar schwerer zu denken ist, als eine Abfolge von Ursache und Wirkungen.“ (Rudolf 2008, S. 13) Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Anthropologische Tendenz zum Dualismus (Rudolf 2008) • „Der lebende Körper ist nicht bloß Materie im physikalischen Sinne und das Psychische, das Mentale ist nicht Bestandteil einer höheren geistigen Welt.“ (Rudolf 2008, S. 12) • „In der Tat sind mentale Prozesse an die Architektur und die Funktionsweisen des zentralen Nervensystems gebunden.“ (Rudolf 2008, S. 12) Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Anthropologische Tendenz zum Dualismus (Rudolf 2008) • „Die ganzheitliche menschliche Person [kann] sowohl aus der psychischen wie aus der körperlichen Perspektive gesehen werden, wobei wir dazu tendieren, das Psychische als Subjekt (ich) und das somatische als Objekt (mein Körper) zu beschreiben.“ (Rudolf 2008, S. 13) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Vermittelnde (systemtheoretische) Position • Soma wie Psyche sind unterschiedlich, gehören aber untrennbar zusammen („Zwei Seiten einer Medaille“) Beispiel: Ängste sind auf dem Hintergrund neurobiologischer Prozesse ebenso beschreibbar wie gleichzeitig auch durch psychologische Begriffe • Psychische Vorgänge sind an neuronale Trägerprozesse gebunden, hierdurch aber nicht vollständig beschreib- und erklärbar • Körperliche Vorgänge können durch psychische Prozesse beeinflusst werden (Epigenetik), dies gilt auch umgekehrt (Stress) Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Vermittelnde (systemtheoretische) Position • Beispiele für diese Position: • Die Theorie von K. Jaspers • Die Theorie von Kandel (1996; 2012) • Das biopsychosoziale Modell von Engel (1977; 1992)) Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Vermittelnde systemtheoretische Position K. Jaspers • Philosoph und Psychiater • „Allgemeine Psychopathologie“ (1913) Phänomenologie als deskriptiver Ansatz Krankheit ist einerseits Ergebnis der Natur, andererseits sinnstiftend • Betonung der Notwendigkeit der Verbindung von Naturund Geisteswissenschaften • Hervorhebung der Bedeutung eines hermeneutischen Verständnisses von Krankheit und Therapie • Ablehnung der monistischen Idee der „natürlichen Krankheitseinheiten“ (s. Griesinger / Kraepelin) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Grundannahmen zur Beziehung von Psychotherapie und Neurobiologie „Ein faszinierender Gedanke ist dabei, dass Psychotherapie, sofern sie zu substantiellen Verhaltensänderungen führt, dies offenbar durch eine Veränderung der Genexpression in den Nervenzellen erreicht. Ein zu diesen Argumenten analoger Gedankengang besagt dann, dass neurotische Störungen mit Veränderungen der neuronalen Struktur und Funktion einhergehen, genau wie bestimmte Geisteskrankheiten strukturelle (anatomische) Veränderungen des Gehirns mit einschließen...“ (Kandel 1996) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Grundannahmen zur Beziehung von Psychotherapie und Neurobiologie „Eine psychotherapeutische Behandlung von Neurosen und Persönlichkeitsstörungen müsste dann, wenn sie erfolgreich ist, auch zu strukturellen Veränderungen der involvierten Neuronen führen. Wir stehen also vor der faszinierenden Möglichkeit, mit weiter verbesserter Auflösung von Brain-Imaging-Methoden diese nicht nur zur Diagnose diverser psychischer Erkrankungen einzusetzen, sondern auch zur Erfolgskontrolle bei Psychotherapien.“ (Kandel 1996) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Bedeutung des Leib-Seele-Problems für die Psychotherapie am Beispiel von F. A. Mesmer Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Mesmers Biografie Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Büste Franz-Anton Mesmers von Franz Xaver Messerschmidt 1770 Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ F. A. Mesmer Kupferstich um 1784; Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt a. M. Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Zur Person • Der deutsche Arzt Franz Anton Mesmer (1734 – 1815) gilt als Wegbereiter der modernen Psychotherapie • Dies gilt für die Hypnose, die Psychoanalyse Freuds und Jungs wie auch die Esoterik • Der „Mesmerismus“ stellte die erste neuzeitliche Psychotherapiebewegung dar, mit Verbreitung in Frankreich, Deutschland, Österreich, Niederlande, England, Schweden und Russland. Darüber hinaus gab es Zirkel in Haiti und den USA • Der „Mesmerismus nahm über fünf Jahrzehnte (zwischen ca. 1780 u. 1830) einen wichtigen Einfluss auf das kulturelle und geistige Leben in den europäischen Metropolen (Paris, Berlin) • Insbesondere in der Romantik (1800 – 1830) fand Mesmer eine breite Rezeption bei den wichtigsten Philosophen und Literaten der Zeit Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Einschätzung von Mesmers Werk • Arthur Schopenhauer (1788 – 1860) deutscher Philosoph, Autor u. Hochschullehrer Mesmers Lehre ist die „vom philosophischen Standpunkt aus betrachtet, die inhaltschwerste aller jemals gemachten Entdeckungen.“ (Schopenhauer 1851, S. 255) Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Mesmers Biographie • 23.5.1734 Geburt in Iznang/Bodensee als drittes Kind eines Aufsehers der Fürstbischhöflichen Jagd • Ab 1750 Studium der Theologie, Philosophie (Promotion) und Rechtswissenschaften (Mathematik, Physik u. Sprachen) in Dillingen u. Ingolstadt sowie ab 1760 Medizin in Wien • 1766 Medizinische Dissertation „De planetarum influxu“ (Mitglied der Medizinischen Fakultät) • 1759 – 1778 lebt Mesmer in Wien, heiratet und zieht in ein Palais, wo er seine ärztliche Praxis eröffnet Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Mesmers Residenz ab 1768, Wiener Landstraße 261 in Wien Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ x Wien: Haus und Garten des Dr. Mesmer, Rauchfangkehrer(jetzt Rasumofsky) Gasse. Aus der Vogelschau der Stadt Wien, gestochen von Joseph Daniel von Huber, um 1770 (In: Deutsch OE. Mozart und seine Welt, Bärenreiter 1961, S. 87) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Mesmers Biographie • 1774 Mit 40 Jahren erste Behandlung der 28-jährigen „Jungfer Franzl Oesterlin“, Entdeckung des „animalischen Magnetismus“, der Therapie ohne Magnete durch die Person Mesmers • Jan. 1775 Mesmer teilt seine Entdeckung („Magnetkur“) den ärztlichen Akademien von Paris, London, Berlin u. Zürich mit, stößt jedoch auf Desinteresse und Ablehnung • 1775 Mesmer wird Mitglied der „Kurbayerischen Akademie der Wissenschaften“ („Fall Gaßner“) • 1777 Letztlich erfolglose Behandlung der 17-jährigen jungen, blinden, prominenten Pianistin Maria Theresia Paradis in Wien • Mesmer wird durch die Ärzteschaft abgelehnt und verlässt enttäuscht Wien Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Mesmers Biographie Aufenthalt in Paris (1778 – 1785) • Gründung einer ärztlichen Praxis in verschiedenen Palais Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Hôtel Bullion, 9 rue Coq-Héron Mesmers Wohnsitz und Praxis ab 8. Aug. 1778, später Praxisräume des Mesmerschülers D´Eslon Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Mesmers Biographie Aufenthalt in Paris (1778 – 1785) • Konstituierung seiner berühmten Gruppentherapie („Baquet“) • Enormer Zustrom von Hunderten von Patienten aller Bevölkerungsschichten • Mesmer wird „Mode“, sämtliche Zeitungen und Journale befassen sich mit ihm (in Archiven sind 20.000 Seiten Pariser Journale nachweisbar!) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Bericht des englischen Arztes Dr. John Grieve einer Therapiesitzung in Mesmers Haus im Mai 1784 In Ramsey W. 1918, S. 84-85, zitiert in Ellenberger (1970/1996, S. 104) Mesmerische Gruppentherapie in Paris um 1784 Bibliothéque Nationale Paris, Collection De Vinck Nr. 900 Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Mesmers Biographie Aufenthalt in Paris (1778 – 1785) • Mesmer ist Freimaurer und hat Kontakt zur Freimaurerszene in Paris • Zeit der größten Triumphe, Mesmer und seine Therapie werden zu einem gesellschaftlichen Ereignis bis in das Königshaus (Marie Antoinette) hinein, aber auch schroffe Ablehnung von Seiten der Ärzte wie auch Öffentlichkeit Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Mesmers Biographie „Schicksalsjahr 1784“ • Gründung der „Gesellschaft der Harmonie“ (Verbreitung seiner Lehre in geheimen Zirkeln an zahlende Mitglieder) • Verbreitung des „Mesmerismus“ über Frankreich hinaus (Deutschland, Schweiz, Niederlande, England, Schweden, Russland, USA, Haiti) Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Verbreitung des Mesmerismus USA • General Lafayette wird einer der ersten begeisterten Schüler Mesmers • 17.8.1784 Treffen mit Washington auf dessen Wohnsitz Mt. Vernon mit Austausch über Mesmer • 25.11.1784 Brief Washingtons an Mesmer mit ausgesprochen positiver Einschätzung von dessen Werk und Wirken (Founders online, national archives) Lafayette und Washington bei deren Treffen auf Washingtons Landsitz Mt. Vernon, August 1784 Schlein (2007, S. 60-74) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Mesmers Biographie „Schicksalsjahr 1784“ • Ablehnung seiner Therapie durch die vom Ludwig XIV einberufenen wissenschaftlichen Kommissionen als unwissenschaftlich Verbot der Therapiedurchführung durch Mesmers Schüler d´Eslon • Beginn einer öffentlichen Rufmordkampagne gegen Mesmer (Vorwurf Scharlatanerie) Nachlassen seiner Therapieerfolge Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Karikatur der Mesmerschen Theorie des animalischen Magnetismus Kupferstich Jean-Jacques Paulet, London 1784 (Bayerische Staatsbibliothek, Signatur M. med. 45, Seite 112/113) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Mesmers Biographie • 1785 – 1790 Mesmer reist umher, besucht u. a. die „Gesellschaften der Harmonie“ in der Schweiz u. Deutschland • 1791/1793 Aufenthalt in Wien, dort wird er wegen des Vorwurfs revolutionärer Äußerungen ausgewiesen • 1792; 1799 – 1802 Letzter Aufenthalt in Paris, dort erhält er einen Ausgleich für sein verlorenes großes Vermögen mit einer lebenslangen Pension in beträchtlicher Höhe Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Mesmers Biographie • 1803 – 1815 Mesmer lebt zurückgezogen in der Bodenseeregion an verschiedenen Wohnorten (Riedetsweiler/Meersburg, Frauenfeld von 1804 - 1812, Konstanz, schließlich Meersburg) • Das „Walzmühlenkontor“ (Foto um 1940). Mesmers Frauenfelder Adresse zwischen 1804 u. 1812. 5.3.1815 Mesmer stirbt kinderlos nach einem Schlaganfall und wird in Meersburg begraben Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Mesmers Therapie Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Gängige Therapien des 17. Jahrhunderts • Aderlässe • Verabreichung von Tinkturen • Schröpfen • Behandlung mit Magneten • Behandlung mit „Elektrisiermaschinen“ • Für psychische Störungen existierten keine probaten Therapien Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Frühe elektrostatische Experimente Elektrostatische Entladung einer Leydener Flasche über einer Menschenkette, Kupferstich, Paris 1753, Bibliothek Deutsches Museum 1966 B 503 (Ausschnitt) Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Mesmers Therapie Der Fall Oesterlin - Entdeckung des „Animalischen Magnetismus“ • 28-jährige Bedienstete in Mesmers Haus. • Chronische Erkrankung („viele Jahre mit Gichtern“; Mesmer 1779/1781, S. 13) mit phasenhaftem Verlauf • „Mit einem hysterischen Fieber verbanden sich Zuckungen, anhaltendes Erbrechen, Schwermuth, Wahnwitz, manchmal Raserey, Starrsucht, Ohnmachten, Lähmungen, die etwelche Tage anhielten und andere dergleichen gräßliche Zufälle.“ (Mesmer 1775) • „Die schlimmsten Zustände bey ihr waren, daß das Blut ungestümm in den Kopf drang, und die fürchterlichste Zahn- und Ohren-Schmerzen verursachte, welche mit Wahnwitz, Wuth, Erbrechen und Ohnmachten verbunden waren.“ (Mesmer 1779/1781, S. 13) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Mesmers Therapie Der Fall Oesterlin - Entdeckung des „Animalischen Magnetismus“ • Die Behandlung erstreckte sich über 2 Jahre (1773 u. 1774; Mesmer 1779/1781, S. 13; Tischner u. Bittel 1941, S. 35 ff.) • 28.7.1774 Mesmer entdeckt bei der Therapie, dass nicht Magnete sondern er selbst den Therapieerfolg hervorruft („Fluidumtheorie“; Theorie des „Animalischen Magnetismus“) (Mesmer 1775, S.19-21; 1779/1781, S. 13 ff.; zitiert in Knubben 2015, S.56) • Der Patientin wurden zwei gebogene Magnete an die Füße und ein herzförmiger an die Brust gehängt. • Auslösung der therapeutischen „Krise“: „Diß verursachte ihr, in sehr kurzer Zeit, außerordentliche Empfindungen. Sie fühlte, innerlich, ein schmerzhaftes Strömen einer sehr feinen Materie, welches sich bald da, bald dorthin, endlich aber in die unteren Theile des Körpers zog und sie sechs Stunden von allen fernern Anfällen befreite.“ (Mesmer 1779/1781, S. 15) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Mesmers Therapie Der Fall Oesterlin - Entdeckung des „Animalischen Magnetismus“ • Bei der Behandlung zeigte sich, dass Mesmer bereits über seine Hand bzw. Finger (Übertragung der magnetischen Energie) die gewünschte therapeutische „Krise“ und den Therapieerfolg erreichte, also ein Magnet nicht unbedingt für den Therapieerfolg notwendig ist. • Das Durchströmen einer sehr feinen Materie, von der die Patientin berichtete, musste auf etwas anderes zurückgeführt werden. • „Die Beobachtung dieser Wirkungen […] bestätigte meine vorhergehende Gedanken, von dem Einfluß eines allgemein würkenden Principiums, überzeugte mich, daß ein vom Magnet ganz verschiedner Stof, (dann er für sich kann unmöglich auf diese Arzt auf die Nerven wirken) ihn wirksam mache.“ (dto., S. 15 f.) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Mesmers Theorie Das „Fluidum“ • Krankheiten entstehen aus der Ungleichverteilung des „Fluidums“ im menschlichen Körper. Die Therapie hat zu Ziel, dieses Gleichgewicht wieder herzustellen. • Das Fluidum entspricht einem unbekannten Prinzip, das Welt und Nerven durchdringt (Mesmer 1779, S. 74). Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Mesmers Therapie Grundlagen • Der „Magnetiseur“ verfügt über eine besondere Anreicherung des Fluidums, die er Kraft seiner Person auf Patienten wie auch Objekte übertragen kann. „Alles, was ich berührte [machte ich] so magnetisch, dass gedachte Körper für sich die nähmliche Wirkung auf die Kranke taten, als die Magnete selbst. Ich ladete Flaschen mit der magnetischen Materie, wie man solche bei der Elektrik zu thun pflegt.“ (Mesmer 1775, S.22) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Mesmers Therapie Universeller Therapieanspruch • „Die Natur bietet dem Menschen-Geschlecht ein allgemeines Heil- und Verwahrungs-Mittel gegen alle Krankheiten an.“ (Mesmer 1779/1781, S. 5) • „Daß dieß Principium, Nerven-Krankheiten unmittelbar, andere mittelbar heile.“ („27 Merksätze“; dto., S. 53) Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Mesmers Therapie Grundlagen • Die Übertragung des „Fluidums“ erfolgt durch den „Magnetiseur“: – Bereits durch Anwesenheit, Fingerzeig – Berührung des Körpers durch Handauflegen und Bestreichung der krankhaften Körperpartien – Magnetisierte Eisenteile und Magnete waren schließlich nicht mehr für den Therapieerfolg essentiell • Das „Fluidum“ kann aufbewahrt, kanalisiert und dann auf andere Personen und Objekte (Bäume etc.) übertragen werden („Baquet“ = „Gesundheitszuber“) Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Mesmers Therapie Grundlagen • Herstellung eines „Rapports“ steht am Beginn. • Die Energieübertragung bewirkt bei den Patienten zunächst „Krisen“ mit Exazerbationen der klinischen Symptomatik, die schließlich zur Heilung führen. • Ab 1778 (Pariser Zeit) Durchführung der Therapie in zwei Formen (Thullier 1990, S. 262ff.): – „Individueller Magnetismus“ (Für besonders befähigte sensible Menschen): Manuelle Therapie durch Mesmer persönlich – Neu: „Gruppentherapie“ („kollektiver Magnetismus“): • Am Baquet • Nicht an Gewittertagen • Geschlossene Vorhänge, Spiegel, musikalische Untermalung der „Krisen“ – Musikalische Untermalung (Orchester) bzw. Einsatz der „Glasharmonika“ (spezielles Instrument, das Mesmer perfekt beherrschte) beim Eintreffen von Mesmer Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Mesmers Therapie Grundlagen • Einsatz des Baquets erst in der Pariser Zeit • Standardisierte Herstellung • 10 Fuß Durchmesser, 18 Zoll hoch • Aufgefüllt mit zerstoßenem Glas, Sand, Siderit (Eisenkalk) und Eisenspähnen Letztes erhaltenes Baquet (Gesundheitszuber) aus der Zeit Mesmers Lyon um 1800 (mit freundlicher Genehmigung der Mesmer Ausstellung Meersburg 2015) (Thullier 1990, S. 260) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Glasharmonika unsigniert um 1810, Staatliches Institut für Musikforschung, Kat.-Nr. 812 Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Mesmers Therapie Grundlagen • Mesmer behandelte sowohl Patienten der Aristokratie für z. T. erhebliche Summen, arme und mittellose Patienten hingegen kostenlos • Seine Therapie erstreckte sich im Regelfall über mehrere Sitzungen, teilweise wurden Therapiezeiträume von über einem Jahr (Fälle „Oesterlin“ u. „Paradis“) oder Jahren (d`Eslon 1781; Hufeland 1809) berichtet • Eine wesentliche, insbesondere die Ärzteschaft provozierende Neuerung war, dass die Therapie nicht in erster Linie von Ärzten, sondern von Laien durchgeführt wurde. • Trotz aller vehementen Kritik wurden tatsächlich bei einer hohen Zahl dieser Patienten beeindruckende und nachhaltige Therapieerfolge erzielt (Ellenberger 1973/1996, S. 115; d´Eslon 1780/1781) • Die Therapie erstreckte sich über mehrere Sitzungen (Wochen bis Monate, teilweise auch Jahre) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Mesmers Therapie Berichte von Zeitzeugen Mesmerische Gruppentherapie in Paris um 1784 Bibliothéque Nationale Paris, Collection De Vinck Nr. 900 • „Von morgens um 6 Uhr bis in die Nacht wird sein Haus bestürmt, ist ein Schauplatz, wo die wunderlichsten Auftritte vorfallen. Der eine lacht, der andere weint, der dritte gähnt, der vierte schreyt. Vapeurs, Gichter, Rasen, Ohnmachten vereinigen sich wechselseitig, die Szene vollkommen zu machen. Oft genug befiehlt Er niemand vorzulassen, und immer wird durch unzählbare Bitten dieser Befehl durchbrochen“ (d´Eslon 1783, S. 78 f.) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Mesmers Therapie Behandelte Krankheiten • „Hysterisches Fieber“, „Zuckungen“, anhaltendes Erbrechen, „Schwermuth“, „Wahnwitz“, „Raserei“, „Starrsucht“, Ohnmachten, Lähmungen (z. B. Fall „Oesterlin“, Mesmer 1775; Knubben 2015, S.54) • Daneben „Gichter“, „Fallsucht“, Hemiplegie, „monatliche Blutungen“, Koliken, Krebs, „Gelbsucht“ und Taubheit (Mesmer 1779; 1781; d´Eslon 1780/1781; Tischner u. Bittel 1941, S. 86 f.) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Mesmers Theorie Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Mesmers Theorie Der „sechste Sinn“ • „Man giebt mir ein sehr zweydeutiges Betragen Schuld, weil ich die Theorie von meinem System nicht bekannt mache. Und ich antworte hierauf: Diß ist mir wirklich unmöglich […] sehnlich wünscht ich den Beweis davon ordentlich, deutlich und bestimmt geben zu können. Allein ich finde für meinen Gegenstand keine bestimmte eigentliche Ausdrücke. Will ich mich verständlich machen, so muss ich Bilder, Vergleichungen, Annäherungen zu Hülfe nehmen, und diese Sprache behält trotz allen genauen Berichtigungen, noch immer tausend Unvollkommenheiten […].“ (Mesmer 1781/1783, S. 45 f.) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Mesmers Theorie Der „sechste Sinn“ Wissenschaftstheoretische Auffassung • „Der thierische Magnetismus muss in meinen Händen als ein sechster künstlicher Sinn betrachtet werden. Sinne lassen sich weder erklären noch beschreiben - blos fühlen -. Vergeblich würde man sich bemühen einem Blindgebohrnen die Theorie der Farben begreiflich zu machen. Man muss ihn sehend, das ist Fühlen machen.“ (Mesmer 1781/1783, S. 46; Unterstreichung durch den Referenten) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Pariser Kommissionen Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Die Pariser Kommissionen 1784 • „Im Bezug auf die Existenz und den Nutzen des Magnetismus sind sie [die Kommissäre] zu dem einstimmigen Schlusse gelangt, dass das Vorhandensein eines tierischen Fluidums durch nichts bewiesen wird; dass diese Fluidum, da es nicht vorhanden ist, keine günstige Wirkung ausüben kann, und das die heftigen Wirkungen, welche an Kranken bei öffentlicher Behandlung wahrgenommen wurden, von der Berührung, der Erregung der Einbildungskraft und von der mechanischen Nachahmung herrühren.“ (Bailly et al. 4.9.1784; weitere Zitierung in Florey 1995, S. 150) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Die Pariser Kommissionen 1784 • „Wenn […] ein solcher Irrthum aus dem Gebiethe der Wissenschaften heraus kommt und unter dem gemeinen Haufen sich verbreitet, um die Gesinnungen zu theilen, und aufrührerisch zu machen, wenn er Kranken ein betrügerisches Heilmittel darbietet, und sie abhält, andere Mittel zu suchen […], so findet eine gute Regierung ihren Nutzen darin, ihn auszurotten.“ (Bailly nach Wolters 1988, S. 128) Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Wissenschaftliche Einordnung • Einwand von d´Eslon (1780), treuester Anhänger Mesmers: „Denn wann diese Art von Arzney, die in der Einbildung läge, für die Menschen wahrhaft das beßte Heilmittel wäre, warum sollen Wir also nicht diese Arzney der Einbildung in wirklichen Gebrauch setzen?“ (zitiert nach Schürer-Waldheim 1930, S. 119 ff.) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Wissenschaftliche Einordnung Welche Position nimmt Mesmer in der Leib-Seele-Debatte ein? Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Weiterentwicklung des Mesmerismus de Puységur • Amand-Marc-Jacques de Chastenet, Marquis de Puységur („ Marc “ nach Edelman 2015/ Sziede 2015, S. 89) • Schüler von Mesmer • Entdeckung des künstlichen „Somnambulismus“ • „Vollkommene Krise“ mit nachfolgender Amnesie • Luzidität (seherische Fähigkeiten des Patienten hinsichtlich seiner Erkrankungen, der notwendigen Therapie wie der Zukunft) Marquis de Puységur (1751–1825) Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Weiterentwicklung des Mesmerismus de Puységur In: A. M. J. de Puységur (1784 b) Mémoires pour servir à l'histoire et à l'établissement du magnétisme animal. • Erstbeschreibung bei dem jungen Bauern Victor Race auf seinem Schloss in Buzancy/Soissons (Puységur 1784 a) • Einführung einer öffentlichen Gruppentherapie um eine alte Ulme • Heilung von 300 Patienten mit 62 verschiedenen körperlichen und psychosomatischen Leiden innerhalb eines Monats (Ellenberger 1970/1996, S. 115). Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Weiterentwicklung des Mesmerismus de Puységur • Das für ihn entscheidende Wirkprinzip stellt der Wille des Magnetiseurs dar (Puységur 1784/1785; 1809, S. 39-52). • „Ich glaube an die Existenz einer Kraft in mir. Aus diesem Glauben leitet sich mein Wille ab, sie wirksam werden zu lassen. Die ganze Lehre vom thierischen Magnetismus ist in zwei Worten enthalten: Glauben und Wollen. Ich glaube, dass ich die Kraft habe, das vitale Prinzip meiner Mitmenschen in Gang zu setzen. Ich will diese Kraft gebrauchen; dies ist alles, was ich weiß, und dies sind alle meine Mittel. Glauben Sie und wollen Sie, meine Herren, und Sie werden ebenso viel tun, wie ich.“ (De Puységur in einem Vortrag vor der Freimaurergesellschaft Straßburgs 1785; 1807, S. 108-152; Ellenberger 1970/1996, S. 117) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete „Mesmerismus“ und Romantik • Der künstliche „Somnambulismus“ bzw. der „Mesmerismus“ wird zu einem wichtigen Thema in der Romantik • Philosophie: Fichte, Schelling, Schubert, Hegel, Schleiermacher, Schopenhauer • Literatur: Jean Paul, Novalis, ETA Hoffmann, Kleist Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Anwendungsbeispiele für die Psychotherapie in Theorie und Praxis Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Kombination von Psycho- und Pharmakotherapie aus wissenschafts- bzw. therapietheoretischer Sicht Psychoanalytische Positionen Ermann (1995) Medikamente be- oder verhindern die wirksame Durchführung psychoanalytischer Verfahren Hoffman & Bassler (1995) Medikamente können psychoanalytische Verfahren ermöglichen, ergänzen, behindern sie grundsätzlich nicht Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Kombination von Psycho- und Pharmakotherapie aus wissenschafts- bzw. therapietheoretischer Sicht Psychiatrische Positionen Griesinger (1817-1868) „Krankheiten der Seele sind Krankheiten des Gehirns.“ (Griesinger 1845, S. 6) Holsboer (2009) Psychische Erkrankungen sind neurobiologisch determiniert. Die Pharmakotherapie stellt dementsprechend einen kausalen und ausreichenden Therapieansatz dar. Psychotherapie ist ein komplementärer Ansatz, der letztlich auch nur auf die Regulierung neuronaler Netzwerke zielt. Kapfhammer (2011) Psychiatrie befasst sich mit der Diagnose und Therapie psychischer Störungen auf dem Hintergrund eines integrativen Modells biologischer, psychologischer und sozialer Faktoren Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Kombination von Psycho- und Pharmakotherapie aus wissenschafts- bzw. therapietheoretischer Sicht Gesprächspsychotherapeutische Positionen Yalom (2003) Eckert et al. (2007) Es ist die Beziehung, die heilt. Obwohl es sich hierbei um den zentralen Grundsatz der GT handelt kann die praktische Therapie sehr wohl andere Therapieansätze wie eine Medikation insbesondere bei schwer erkrankten Patienten einschließen. Das humanistische Paradigma der Gesprächspsychotherapie steht in unabdingbarem Gegensatz zu dem medizinischen Modell. Die „Medikalisierung“ der Psychotherapie durch Übernahme medizinischer Modelle der Diagnostik und Therapie ist absolut abzulehnen. Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Kombination von Psycho- und Pharmakotherapie aus wissenschafts- bzw. therapietheoretischer Sicht Verhaltenstherapeutische Positionen Grawe (2004) Die Psychotherapie hat sich durch empirische Forschung zu bewähren. Psychologische Interventionen sind durchaus auf dem Hintergrund der Veränderung neurobiologischer Netzwerke zu verstehen. Eine Kombination mit Medikamenten ist daher durchaus möglich und sinnvoll. Marks (1993); Margraf (2000) Verhaltenstherapie ist die einzig empirisch untermauerte Psychotherapieform bei psychischen Störungen und beansprucht daher die Priorität bei der Auswahl von Behandlungsverfahren. Medikamente sind grundsätzlich überflüssig und beinhalten die Gefahr der Symptomsuppression. Eine Ausnahme stellen höchstens schwerst erkrankte Patienten dar. Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Wissenschaftstheoretische-philosophische Positionen am Beispiel des Problems der Willensfreiheit • Der Mensch ist biologisch determiniert Es existiert kein freier Wille (monistisch-naturalistische Position, z. B. Roth (2009) • Der Wille des Menschen ist vollständig frei, da nicht an Natur oder Biologie gebunden (monistisch-psychologische Position) Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Wissenschaftstheoretische-philosophische Positionen am Beispiel des Problems der Willensfreiheit • „Vermittelnde modifiziert kompatibilistische Position“ (nach Fuchs 2006, S. 55) • Relative Unabhängigkeit der Subjektivität unter Respektierung der natürliche Grundlage psychischer Prozesse • Die neuronalen Trägerprozesse sind nicht ausschließlich durch physikalische Gesetzmäßigkeiten bestimmt jedoch auch nicht ausschließlich durch „rein“ psychische Prozesse • Die Bestimmtheit von Prozessen des Überlegens, Wertens, Vorziehens und Entscheidens sind nicht vollständig auf physikalisch-chemische Gesetzmäßigkeiten zu reduzieren aber auch nicht vollständig auf „rein“ psychologische Gesetzmäßigkeiten Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Geschichtliche Entwicklung Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Geschichtliche Entwicklung Frühe historische Theorien der Psychosomatik Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Geschichtliche Entwicklung Temperamentenlehre • Der griechische Arzt Hippokrates sowie der römische Arzt Galenus unterschieden vier Temperamente i. S. einer ersten Persönlichkeitstypologie – Choleriker – Sanguiniker – Melancholiker – Phlegmatiker • Ganzheitliche Auffassung psychischer und somatischer Prozesse durch die Verbindung der Temperaments- mit der „Säftelehre“: – Temperamentstyp als Ausdruck einer spezifischen Konstellation von Körpersäften – Psychische Erkrankungen als Ergebnis einer Pathologie von Körpersäften • Die Temperamentenlehre war in der Medizin wie Psychologie bis in das 20. Jh. hinein eine unbestrittene Grundlage zum Verständnis des Menschen wie auch von körperlichen und seelischen Erkrankungen Boerner RJ (2015) Temperament. Forschung-Klinik-Praxis. Springer, Heidelberg, Berlin. Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Geschichtliche Entwicklung Temperamentenlehre • Unter Temperament werden heute biologische Grundmerkmale der Persönlichkeit verstanden (Reaktivität, Tempo, Reaktionsgeschwindigkeit, etc.) (Boerner 2015) • Über CG. Jung (1921), Pawlow (1935), Eysenck (1953), Strelau (1990; 2008) besteht eine Kontinuität der Temperamentsforschung bis heute • Das Temperament ist auch heute für die psychologischen Wissenschaften wie die Psychotherapie hochrelevant (Boerner 2015) – Prägung der Psychopathologie – Assoziation mit psychischen Störungen – Markiert Grenzen der Veränderung Boerner RJ (2015) Temperament. Forschung-Klinik-Praxis. Springer, Heidelberg, Berlin. Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Geschichtliche Entwicklung Frühe psychosomatische Modellvorstellungen • 1776 Einführung des Neurosenbegriffs („neurosis“) alle nichtentzündlichen Nervenkrankheiten einschließlich psychischer Krankheiten • Idee, dass das Gehirn körperliche Organsysteme beeinflusst • Annahme sog. funktioneller psychischer Störungen bei somatisch nicht erklärbaren Körpersyndromen William Cullen (1710 – 1790) engl. Mediziner u. Chemiker Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Geschichtliche Entwicklung 18. u. frühes 19. Jahrhundert • Bolten „Gedanken von psychologischen Kuren“ (Halle, 1751) • J. C. Reil „Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen“ (Halle, 1803) – Forderung einer engen Verbindung von „Physiologie und Pathologie der Seele, psychische Heilmittellehre und psychische Therapie“ (Kronfeld 1928, S. 17) • „Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens“ (Johann Christian August Heinroth 1818) – Betonung der Rolle von Affekten und Leidenschaften der Persönlichkeit für die Entstehung und den Verlauf von körperlicher Erkrankungen Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Geschichtliche Entwicklung Romantische Medizin Carl Gustav Carus (1789-1869) • Hofarzt des sächsischen Königshauses • Breitgefächerte Interessengebiete neben der Medizin: Malerei, Mineralogie, Psychologie • Betonung der Bedeutung psychischer und sozialer Faktoren für die Entstehung und Therapie somatischer wie psychischer Erkrankungen Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Geschichtliche Entwicklung Psychosomatik und Psychiatrie Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Geschichtliche Entwicklung Adolf Meyer (1866 - 1950) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Geschichtliche Entwicklung Adolf Meyer (1866 - 1950) • Ausbildung zum Psychiater und Neuropathologen in Zürich (Forel und v. Monakow) • Emigration 1892 in die USA, 1893 Habilitation in Chicago • 1896 Studienreise durch Europa (Besuch verschiedener psychiatrischer Kliniken) sowie Besuch bei Kraepelin in Heidelberg • 1910 Lehrstuhl f. Psychiatrie, 1913 – 1941 Direktor der Psychiatrie an der Johns-Hopkins-University/Baltimore • Auf seine Initiative wurden S. Freud und CG. Jung 1909 zu ihrer ersten Vortragsreise in die USA eingeladen • Er stellte J.B. Watson ein psychologisches Labor für dessen Forschung zur Verfügung • Mehrere Generationen US-amerikanischer Psychiater wurden durch seine Ideen maßgeblich beeinflusst Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Geschichtliche Entwicklung Adolf Meyer (1866 - 1950) • Hervorhebung einer präzisen psychopathologischen Befunderhebung mit ausführlicher Anamnese einschließlich der Biografie • Akzeptierte die Grundgedanken von Freud zur Bedeutung der Sexualität in der menschlichen Entwicklung • In seiner „Psychobiologie“: – – Jeder Patient als untrennbare psychologische und somatische Einheit Krankheit als Resultat einer komplexen Interaktion von innerer Pathologie und äußerer Fehlanpassung Winters EE, Bowers AM (Hrsg.) (1957) Psychobiology: a Science of Man. Adolf Meyers „Thomas W. Salmon Memorial“ Vorlesungen (1931). Charles C Thomas, Springfield IL. Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Geschichtliche Entwicklung Adolf Meyer (1866 - 1950) • 1910 Forderung Meyers nach psychiatrischen Abteilungen in Allgemeinkrankenhäusern Keine Trennung von psychischer und somatischer Medizin • 1911 Einführung eines psychiatrischen bzw. psychologischen Unterrichts für Medizinstudenten (z. B. „Psychobiologie“ im ersten klin. Medizinsemester) • Einführung einer spezifischen psychiatrischen Facharztweiterbildung • Begründung einer medizinischen Psychologie (initial mit J.B. Watson) • Initiierung einer Konsiliar- und Liaisonpsychiatrie Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Geschichtliche Entwicklung Psychosomatik und Innere Medizin Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Geschichtliche Entwicklung Beiträge der Inneren Medizin • Innere Medizin wurde bis vor wenigen Jahrzehnten als umfassende medizinische Grunddisziplin verstanden, die verschiedene Teilaspekte heutiger Einzeldisziplinen (Kardiologie, Rheumatologie, Diabetologie, physikalische Medizin, Endokrinologie) umfasste. • Viele Internisten verstanden sich von daher als „Generalisten“, denen eine ganzheitliche Wahrnehmung des somatisch Kranken wichtig war. • Ludolf von Krehl (1932) postulierte: „Es gibt keine Krankheit per se, wir kennen nur kranke Menschen.“ Hiermit wird die Bedeutung von der Persönlichkeit sowie der Lebensumstände für die Entstehung und die Therapie somatisch Kranker hervorgehoben. Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Geschichtliche Entwicklung Viktor von Weizsäcker (1886 - 1957) Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Geschichtliche Entwicklung Viktor von Weizsäcker (1886 - 1957) • Philosoph, Neurologe und Internist • 1932 stellte er seine Ideen zum sog. Gestaltkreis vor, mit dem er die Einheit von Wahrnehmung und Bewegung theoretisch zu erfassen suchte (publiziert 1940) • Mit seiner „Anthropologischen Medizin“ begründete er das Primat des Subjekts in der Medizin als gleichberechtigt dem objektiven, organmedizinischen Denken. • Hauptthese bildet der erste Satz des Gestaltkreises: „Um Lebendes zu erforschen, muss man sich am Leben beteiligen.“ Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Geschichtliche Entwicklung Viktor von Weizsäcker (1886 - 1957) • Entwicklung einer „Tiefenpsychologischen Körperpsychotherapie“ mit funktioneller Entspannung • 1945: Ordinariat für allgemeine klinische Medizin an der Uni Heidelberg, aus der die psychosomatische Abteilung der heutigen Krehl-Klinik entstanden ist. • 1950: Eröffnung der ersten Klinik für Psychosomatik, deren Leitung später Mitscherlich übernahm. Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Thure von Uexküll (1908 - 2004) Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Geschichtliche Entwicklung Thure von Uexküll (1908 - 2004) • Medizinstudium 1928-1934 • 1935 Tätigkeit an der Charité Berlin • 1948 Habilitation, Medizinische Poliklinik Uni-München • 1966 Lehrstuhl für Innere Medizin, „Reformuniversität“ • 1979 Erstausgabe seines Lehrbuchs „Psychosomatische Medizin“ (7. Aufl. 2011) • Begründung einer ganzheitlichen, psychosomatischen Medizin auf seiner Ulmer Modellstation Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Geschichtliche Entwicklung Thure von Uexküll (1908 - 2004) • Sein Credo: Überwindung des Maschinenmodells für den Körper durch eine ganzheitliche Sichtweise und Medizin. Überwindung der Aufspaltung des heutigen Gesundheitswesens in eine somatische und psychologische Medizin (Uexküll 2011, S. 6) • „Die Medizin verliert einen beharrlichen Anwalt der Sache des Individuums, das auf seine ganz eigene Art die Welt und sich selbst versteht. Er beklagte das Verschwinden des Menschen aus der Medizin, die sich einem „Körper ohne Seele“ widmet.“ (Langewitz 2004) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Geschichtliche Entwicklung Pioniere der psychoanalytischen Psychosomatik Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Geschichtliche Entwicklung Sigmund Freud (1856 – 1939) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Geschichtliche Entwicklung Sigmund Freud (1856 - 1939) • Begründung einer psychodynamischen Konversionstheorie – Krankheit als Symptom eines unbewussten Konflikts – Verschiebung der Bedeutung von realen Traumatisierungen hin zu innerseelischen, bewussten und unbewussten Verarbeitungsmöglichkeiten • Betonung des eigenständigen aktiven Lösungsmodus von speziell aus frühen Entwicklungsabschnitten fortdauerndes Konflikten • Konversionsmechanismus: Umwandlung einer ödipalen Vorstellung mit sexuellen und aggressiven Triebwünschen in körperliche Symptome • Die körperliche Symptomatik ist ein Kompromiss zwischen dem unbewussten ödipalen Konflikt und dessen Abwehr durch Verdrängung und schafft einen primären Krankheitsgewinn • Starke Assoziation mit der Idee der hysterischen Persönlichkeit Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Geschichtliche Entwicklung Sigmund Freud (1856 - 1939) • Freud war durchaus skeptisch hinsichtlich der Idee einer generellen Übertragbarkeit seiner theoretischen Annahmen auf alle körperlichen Erkrankungen • In der frühen Psychoanalyse gab es jedoch sehr spekulative Konzepte einer allgemeinen unbewussten Krankheitslehre – Die Theorie zur Bioanalyse (Sandor Ferenczi), – zum vitalistischen Panpsychismus (Groddeck 1923) – sowie einer universellen Konversion bei allen organischen Erkrankungen (Felix Deutsch) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Geschichtliche Entwicklung Helen Flanders Dunbar (1902 - 1959) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Geschichtliche Entwicklung Helen Flanders Dunbar (1902 - 1959) • Hauptwerk: „Emotions and bodily changes“ (1935), führte die Ideen Meyers fort • Sie absolvierte in Europa eine psychoanalytische Ausbildung • Überzeugt davon, dass frühe biografische Erfahrungen die Persönlichkeitsstruktur prägen und damit auch psychophysiologische Reaktionsmuster • Sie untersuchte den Zusammenhang von emotionalen Reaktionsstilen (Persönlichkeitsprofilen) und somatischen Erkrankungen • Es konnten signifikante Zusammenhänge zwischen spezifischen Persönlichkeitsprofilen und z.B. Angina pectoris und Herzinfarkt gesichert werden. Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Geschichtliche Entwicklung Helen Flanders Dunbar (1902-1959) • 1942: Begründung der „Society for Research in Psychosomatic Problems“ sowie Übernahme der Schriftleitung der „Psychosomatic Medicine“ (begründet 1939) • Ihr Ziel war es, eine empirische und experimentelle Psychophysiologie zu entwickeln • Psychosomatik sollte keine eigenständige medizinische Disziplin, sondern eine grundlegende Perspektive und Denkweise ganzheitlicher Medizin darstellen Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Geschichtliche Entwicklung Franz Alexander (1891 - 1964) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Geschichtliche Entwicklung Franz Alexander (1891 - 1964) • Aufgewachsen in Budapest, Medizinstudium in Berlin • Erster Ausbildungskandidat des Berliner Psychoanalytischen Instituts (Leitung: K. Abraham), dort Dozent und Lehranalytiker • 1930 verließ Alexander Berlin und wurde Prof. für Psychoanalyse an dem Chicagoer Institut für Psychoanalyse • Sein Hauptwerk „Psychosomatic medicine“ (1950) Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Geschichtliche Entwicklung Franz Alexander (1891 - 1964) • Konzept der psychosomatischen Störungen („holy seven“): – Asthma bronchale – Ulcus pepticum – Colitis ulcerosa / Morbus Crohn – Neurodermitis – Rheumatoide Arthritis – Hypertension – Hyperthyreose Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Geschichtliche Entwicklung Franz Alexander (1891 - 1964) • Verstand den Körper in einer strikten Dualität des physiologischen Organismus • Ging hierbei von der Unterscheidung in ein sympathisches und parasympathisches Nervensystems aus • Er postulierte die prinzipielle Hemmbarkeit von zwei grundlegenden Handlungstendenzen – Flucht und Angriff (sympathikoton) – Aufgabe und Rückzug (parasympathikoton) Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Geschichtliche Entwicklung Franz Alexander (1891 - 1964) • Das somatische Symptom bedeutet für Alexander im Gegensatz zur Konversionsneurose nicht den Versuch „eine Emotion zum Ausdruck zu bringen, sondern die physiologische Reaktion der vegetativen Organe auf anhaltende und periodisch wiederkehrende emotionale Zustände.“ (Alexander 1951, S. 22-23) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Geschichtliche Entwicklung Franz Alexander (1891 - 1964) • Für Alexander ist das körperliche Symptom Ergebnis einer vom Über-Ich gesteuerten Blockade der psychischen Verarbeitung emotionaler Konflikte. • Gehemmte Emotionalität ist somit die Zentrale Ursache psychosomatischer Störungen. • Eine beständige physiologische Erregung als Affektkorrelat führt zur funktionellen Störung bzw. Organneurose mit struktureller Läsion in einem Organsystem. Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Geschichtliche Entwicklung Franz Alexander (1891-1964) • Zentral war seine Konfliktspezifitätshypothese: – Danach liegen den sieben psychosomatischen Störungen spezifische, typische Konfliktkonstellationen vor • Zwei zentrale theoretische Entwicklungsstränge – Beschränkung der psychosomatischen Perspektive auf lediglich 7 Erkrankungen – Einschränkung der therapeutischen Perspektive auf ausschließlich psychodynamische Erklärungen Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Geschichtliche Entwicklung Franz Alexander (1891-1964) • Tatsächlich ließen sich Assoziationen von typischen Konflikten bei einzelnen psychosomatischen Störungen nachweisen (Weiner 1977) • Tatsächlich aber zeigten sich eher allgemeine Konfliktdimensionen (Kapfhammer 2011, S. 1280): – Konflikt von selbstbehaupteter Unabhängigkeit vs. infantiler Abhängigkeit – Unspezifische Themen aus der oralen und analen Entwicklung – Emotionale Bestrebungen zwischen progressiver und regressiver Ausrichtung – Häufige Schuld- und Schamaffekte mit damit verbundenen Über-Ich und Selbstwertproblemen Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Geschichtliche Entwicklung Alexander Mitscherlich (1908 - 1982) Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Geschichtliche Entwicklung Alexander Mitscherlich (1908 - 1982) • Arzt und Psychoanalytiker • Bedeutsamer Vertreter einer psychoanalytisch orientierten Psychosomatik bzw. Medizin • 1947: Herausgeber der Zeitschrift „Psyche“ • 1949: Begründung der Abteilung Psychosomatische Medizin an der Universität Heidelberg • 1960 – 1967 Leiter des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt/ Main Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Geschichtliche Entwicklung Alexander Mitscherlich (1908 - 1982) • Für Mitscherlich waren psychosomatische Störungen ausschließlich psychodynamisch bzw. psychoanalytisch zu verstehen / gleichzusetzen. • Andere theoretische Einflüsse wurden negiert. • Prägend für die Generation von sich ausschließlich analytisch verstehenden Psychosomatikern Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Geschichtliche Entwicklung Alexander Mitscherlich (1908 - 1982) • Modelltheorie der zweiphasigen Verdrängung als Grundlage chronifizierter psychosomatischer Störungen mit folgenden Merkmalen: – Vorausgehende grobe neurotische Fehlhaltung – Somatisierung der Affekte – In der Auslösesituation realer oder phantasierter Objektverlust – Grundstimmung von Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit • Mitscherlich verstand seinen Ansatz als auf alle somatischen Erkrankungen bezogen („Krankheit als Konflikt“, 1966) Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Geschichtliche Entwicklung Alexander Mitscherlich (1908 - 1982) • Für ihn war seine Psychosomatik ein emanzipatorischer, auf die Aufdeckung unbewusster Konflikte zielender Ansatz • Als Ausdruck seines emanzipatorisch-gesellschaftskritischen Ansatzes publizierte er einige wichtige sozial- und gesellschaftskritische Arbeiten: – „Medizin ohne Menschlichkeit“ (1960) – „Auf dem Weg zur Vaterlosen Gesellschaft“ (1963) – „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“ (1965) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Geschichtliche Entwicklung Pioniere der Verhaltensmedizin Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Geschichtliche Entwicklung Iwan Petrowitsch Pawlow (1849 - 1936) • Studium der Physiologie u. Medizin • Forschungsaufenthalte bei den deutschen Physiologen Ludwig u. Heidenhain 1877, 1884, 1886 • Kenntnis der Werke von Freud, Kraepelin u. Kretschmer • 1895 Lehrstuhl der Physiologie an der Universität Petersburg • 1904 Nobelpreis f. Medizin • Zahlreiche Auslandsreisen (z. B. USA 1926, 1929) Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Geschichtliche Entwicklung Iwan Petrowitsch Pawlow (1849 - 1936) Klassische Konditionierung • Erstmaliger Nachweis der Lernbarkeit körperlicher Vorgänge (1903) Blick vom Platz des Experimentators durch die geöffnete Tür in den Versuchsraum (aus Pavlov SW IV, 373) Bildquelle: Zeier 1984 Bd. 1, S. 32 – Hunde reagierten beim Anblick von Futter oder Geruch mit Speichelfluss (autonomer Reflex) – Bei Kombination mit einem neutralen Stimulus in enger zeitlicher Kontingenz mit dem Futterreiz löst dieser nach einer Reihe von Wiederholungen als diskriminativer Reiz allein die physiologische Reaktion aus (bedingter Reflex) Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Geschichtliche Entwicklung Iwan Petrowitsch Pawlow (1849 - 1936) Klassische Konditionierung • Auf der Grundlage jahrzehntelanger Forschung bei Hunden Feststellung der unterschiedlichen individuellen Konditionierbarkeit • Grundlegung einer Typologie des Nervensystems: – Erregter-, gehemmter und zentraler Typ • Anwendung des Konditionierungsparadigmas auf psychische Störungen in den 20er- u. 30er-Jahren des 20. Jh. – Experimentelle Neurosen bei Hunden – Diskussion der Erklärung von Hypnose und psychotischen Störungen Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Klassische Konditionierung Erstbeschreibung des Erwerbs der psychophysischen Furchtreaktion (Phobie) bei Kleinkindern • Konditionierung eines 14-Monate alten Babys durch den Pawlow-Schüler Krasnogorski (1907) • US-amerikanische Studie durch die Psychologin F. E. Mateer (1918) an „mentally deficient“ (geistig behinderten) und „normalen“ Kindern unterschiedlichen Alters, Geschlechts und Intelligenz – Methodisch fundierte Studie unter Beachtung ethischer Gesichtspunkte wie der sog. Rekonditionierung Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Klassische Konditionierung Erstbeschreibung des Erwerbs der psychophysischen Furchtreaktion (Phobie) bei Kleinkindern • Das Watson-Experiment der Erwerb phobischer Reaktionen bei einem 9-Monate alten Kleinkind (Watson u. Rayner 1920) • Bei dem vermeintlich körperlich wie seelisch gesunden Kleinkind wurden durch furchterregende Reize (Glockenschlag) Furchtreaktionen gelernt • Von Watson als alternative Erklärung zu Freuds Darstellung einer kindlichen Phobie („Kleiner Hans“ Freud 1907) positioniert • Das am häufigsten zitierte psychologische Experiment überhaupt erwies sich jedoch als methodisch und ethisch fragwürdig (Boerner 2014) • In den USA erfuhr das Experiment jedoch eine unkritische Popularität, insbesondere zur Begründung einer verhaltensorientierten Psychotherapie Boerner RJ (2014) Watsons „Behavioristisches Manifest“ von 1913. Die Entwicklung des Behaviorismus in den USA Anfang des 20. Jahrhunderts. In: Karenberg A, Kumbier E (Hrsg.) Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde, Band 20. Königshausen & Neumann, Würzburg, S. 191 -216. Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Das Experiment „Little Albert“ (1920) (Watson u. Rayner 1920) Watson mit dem „kleinen Albert“ (Bildquelle: Artikelmagazin.de) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Geschichtliche Entwicklung Burrhus Frederic Skinner (1904 - 1990) Operante Konditionierung • Leitidee Verhalten wird über die erlebten Konsequenzen erworben (erlernt) (sog. S-R-Ansatz) • Tierexperimenteller Forschungsansatz (s. Abb.) Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Experimentelle Anordnung der „Skinnerbox“ nach Zeier (1984), 183 Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Geschichtliche Entwicklung Burrhus Frederic Skinner (1904 - 1990) Operante Konditionierung • Gesetz der operanten Konditionierung: – Unmittelbar an Verhaltensweisen anschließende belohnende Konsequenzen führen zu einer erhöhten Auftrittswahrscheinlichkeit dieser Verhaltensweisen. – Unmittelbar an Verhaltensweisen anschließende negative Konsequenzen führen zu einer verringerten Auftrittswahrscheinlichkeit bis Löschung dieser Verhaltensweisen. • Skinners Experimente wurden ausschließlich bei Tieren durchgeführt, die Übertragbarkeit auf Menschen wurde jedoch in mehrfacher Hinsicht bestätigt – Pädagogik (Entwicklung systematischer Lernprogramme) – Klinische Psychologie (Psychische Störungen als Fehlverhalten) – Gesundheits- u. Krankheitsverhalten als Ergebnis systematischer Lernprozesse (Patientenrolle, Symptomverstärkung, sekundärer Krankheitsgewinn) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Geschichtliche Entwicklung Albert Bandura (geb. 1925) Modelllernen Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Geschichtliche Entwicklung Albert Bandura (geb. 1925) Modelllernen • Entdeckung des Prinzips des Imitationslernens (Lernen am Modell) (Bandura 1960): – Sog. Bobo-Doll-Experiment: Kinder imitieren das aggressive Verhalten von „Modellkindern“ in einer experimentellen Situation – Menschen kopieren das Verhalten des gezeigten Modells (Verhalten eines anderen Menschen), wenn dieses bestimmte Eigenschaften aufweist: Attraktivität, Erfolg, Sympathie. – Praktisches Beispiel in der Psychosomatik: Erwachsene imitieren das Krankheitsverhalten ihrer Eltern, sofern dies erfolgreich war (z. B. Symptomschilderung bzw. Klagen führt zu Zuwendung) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Geschichtliche Entwicklung Pioniere der psychosomatischen Stresstheorie Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Gruppenübung: Definieren Sie Stress Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Geschichtliche Entwicklung Walter Cannon (1871 - 1945) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Geschichtliche Entwicklung Walter Cannon (1871 - 1945) • Erster Wissenschaftler, der das Stressphänomen (Cannon 1915; 1939) beschrieb • Das Stammhirn reagiert reflexartig auf alles überraschend Neues • Zwei Verhaltensalternativen: Fliehen oder Kämpfen • Die Entscheidung erfolgt reflexhaft aufgrund der Einschätzung der Gefährlichkeit der Situation • Durch den Stressor werden alle notwendigen Organe in eine „Alarmbereitschaft“ gesetzt • Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin sowie die Aktivierung des Sympathikus Durchblutungserhöhung, Konstriktion der peripheren Gefäße, vermehrte Herzaktivität, sowie Durchblutung von Muskeln Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Geschichtliche Entwicklung Hans Selye (1907 - 1982) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Geschichtliche Entwicklung Hans Selye (1907 - 1982) • Der aus Ungarn stammende Mediziner entwickelte das Stresskonzept Cannons weiter – Beobachtung im zweiten Jahr seines Medizinstudiums (1926) • Experimentelle Ableitung der allgemeinen Stresstheorie (1926; 1936; 1953; 1957) • Entdeckung stereotyper somatischen Stressreaktionen auf belastende Aufgaben – Patienten mit höchst unterschiedlichen Krankheiten zeigen viele einheitliche Symptome Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Stresstheorie nach H. Selye • Beschreibung des Allgemeinen Anpassungs- und Adapationssyndroms • Beschreibung von drei Phasen: – Alarmreaktion (Sympathicus, Katecholamine, Adrenalin) – Widerstandsphase (Parasympathicus-Aktivierung, hohe Cortisol-Ausschüttung) – Erschöpfungsphase (Adaptive Kapazität geht verloren, Energiebereitstellungsprobleme, Cushing-Syndrom, Langzeitfolgen: Hypertonie, Herz-, Nieren- u. Entzündungserkrankungen) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Geschichtliche Entwicklung Richard Lazarus (1922 - 2002) Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Stresstheorie nach R. Lazarus • Transaktionales Stressmodell (Lazarus 1974) • Stress als komplizierte Wechselwirkung zwischen Anforderungen der Situation und der handelnden Person (emotional-kognitive-Bewertung) • Im Gegensatz zu Selyes Stresstheorie ist nicht der objektive Reiz oder Situation für eine Stressreaktion relevant, sondern die subjektive Bewertung Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Stresstheorie nach R. Lazarus • Lazarus differenziert drei Stufen der Bewertung (Appraisal) • Primäre Bewertung: – Zunächst Situationseinschätzung (positiv, irrelevant oder gefährlich) – Anschließend Bewertung als Herausforderung, Bedrohung oder Schädigung • Sekundäre Bewertung (Coping): – Einschätzung, ob die Situation mit den vorhandenen Ressource bewältigt werden kann (Abhängig von Situation, Persönlichkeitseigenschaften und kognitiven Strukturen) – Aggression oder Flucht, Änderung der Bedingungen oder Verleugnung Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Stresstheorie nach R. Lazarus • Lazarus differenziert drei Arten des Copings: – Problemorientiertes Coping (Informationssuche, Aktivitäten oder Unterlassung von Handlungen) – Emotionsorientiertes Coping (Abbau emotionaler Erregung) – Bewertungsorientiertes Coping (Neubewertung = reappraisal) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Geschichtliche Entwicklung Das Biopsychosoziale Modell von Engel Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Geschichtliche Entwicklung George L. Engel (1913 - 1999) • US-amerikanischer Psychiater und Psychoanalytiker • 1934- 1938 Studium der Medizin an der Johns-HopkinsUniversity/Baltimore (s. A. Meyer!) • 1946 Gründung des Instituts f. Psychiatrie in Rochester/New York • Führender Psychosomatiker in den USA Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Geschichtliche Entwicklung George L. Engel (1913 - 1999) • Entwicklung eines biopsychosozialen Entwicklungsmodells für die Psychosomatik (systemtheoretisches Modell) (Engel 1977; 1997; Novack et al. 2007) • Hierarchisches Modell von aufeinander aufbauenden Systemebenen (Biologie, personale Ebene, soziale Ebene) • Jede Stufe des Systems schließt alle anderen ein, ist aber durch die vorangegangenen nicht ausschließlich erklärbar. Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Geschichtliche Entwicklung George L. Engel (1913 - 1999) • Die personale Ebene mit ihren psychologischen Merkmalen wird maßgeblich von der Neuro- und Molekularbiologischen Ebene bestimmt, ist aber durch diese nicht voll erklärbar. • Überwindung des Leib-Seele-Dualismus durch Integration der verschiedenen Ebenen • Die verschiedenen Prozesse laufen parallel auf den verschiedenen Systemebenen ab, aus der zeitlichen Kontingenz ist nicht notwendigerweise eine kausale Relation abzuleiten. • Das Modell erlaubt keine Aussagen darüber, ob und wenn ja, in welchem Umfang Störungen auf der einen Ebene von Störungen auf anderen Ebenen begleitet oder gefolgt werden. Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Geschichtliche Entwicklung Etablierung des Fachs Psychosomatik in der Medizin (in Deutschland) • 1950: Begründung der ersten Psychosomatischen Universitätsklinik in Heidelberg (Leitung: Prof. Mitscherlich) • 1970: Einführung der Fächer Psychosomatische Medizin, Medizinische Psychologie und Medizinische Psychologie in die Approbationsordnung für Ärzte • 1992: Einführung des Facharztes Psychosomatische Medizin • 2007: Einführung des Facharztes Psychiatrie und Psychosomatische Medizin (in Österreich) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Biopsychosoziales Modell (Engel 1977; 1997; mod. nach Novak et al. 2007) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Definitionen von Psychosomatik im Überblick Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Definitionen von Psychosomatik Gruppenübung • Was verstehen Sie unter Psychosomatik? Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Psychosomatische Medizin Systemisch-integrative Position „Psychosomatische Medizin stellt eine ärztliche Perspektive dar, die systematisch biologische, psychologische und soziale Einflussfaktoren auf die Entstehung, die Auslösung und den Verlauf von körperlichen Erkrankungen und funktionellen Körpersyndromen untersucht und behandelt.“ (Kapfhammer 2011, S. 1273) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Psychosomatische Medizin Systemisch-integrative Position „Gesundheit und Krankheit müssen als ein komplexes, vielfach verwobenes Gefüge verstanden werden, in dem biologische, psychologische und soziale Elemente von Gesundheit und Krankheit als gleichwertige Bedingungen der menschlichen Existenz zu begreifen sind.“ (Wissenschaftsrat 1992) Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Psychosomatische Medizin Psychodynamisch-psychoanalytische Position „Psychosomatische Medizin ist die Lehre von den körperlichseelisch-sozialen Wechselwirkungen in der Entstehung, im Verlauf und in der Behandlung von menschlichen Krankheiten. Sie muss ihrem Wesen nach als eine personenzentrierte Medizin verstanden werden.“ (Hoffmann et al. 2009, S. 9) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Psychosomatische Medizin Psychodynamisch-psychoanalytische Position „Psychosomatik ist bemüht, die bewussten und unbewussten Bedeutungen von Lebensereignissen und intrapsychischen Prozessen für das psychische und somatische Gleichgewicht zu verstehen.“ (Rudolf 2008, S. 13) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Psychosomatische Medizin Verhaltensmedizin „Im Kontext einer biopsychosozialen Sichtweise von Gesundheit und Krankheit ist die Verhaltensmedizin das interdisziplinäre Arbeitsfeld, in dem Gesundheits- und Krankheitsmechanismen unter Berücksichtigung psychosozialer, verhaltensbezogener und biomedizinischer Wissenschaften erforscht werden und die empirisch geprüften Erkenntnisse und Methoden in der Prävention, Diagnostik, Behandlung und Rehabilitation eingesetzt werden.“ (Ehlert 2003, S. 4) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Psychosomatische Medizin Verhaltensmedizin (Ehlert 2003) Gemäß einer engen Definition im Kontext von Verhaltenstherapie und Verhaltensmodifikation umfasst die Verhaltensmedizin: • die klinische Anwendung von Techniken, die aus der experimentellen Analyse von Verhalten abgeleitet und zur Evaluation, Prävention und Behandlung körperlicher Erkrankungen oder physiologischer Funktionsstörungen eingesetzt werden • die empirische Erforschung der Zusammenhänge zwischen Verhalten, somatischen Erkrankungen und Problemen der Gesundheitsversorgung Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Psychosomatische Medizin Verhaltensmedizin (Ehlert 2003) Im Kontext einer biopsychosozialen Sichtweise von Gesundheit und Krankheit ist die Verhaltensmedizin das interdisziplinäre Arbeitsfeld, in dem: • Gesundheits- und Krankheitsmechanismen unter Berücksichtigung psychosozialer, verhaltensbezogener und biomedizinischer Wissenschaften erforscht werden • die empirisch geprüften Erkenntnisse und Methoden in der Prävention, Diagnostik, Behandlung und Rehabilitation eingesetzt werden Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Biologische Grundlagen Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Biologische Grundlagen Die wichtigsten Hirngebiete (nach Kosslyn u. Rosenberg 2001) (Heim & Meinschmidt, 2003) Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Das Biologische Grundlagen Nervensystem (Heim u. Meinschmidt 2003) Darstellung der chem. Übertragung eines einkomemnden elektrischen Signals auf ein anders Neuron über die Synapse (nach Rosenzweig et al. 2001) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Biologische Grundlagen Die wichtigsten Neurotransmitter und Neurotransmitterfamilien (nach Rosenzweig et al. 2001) (Heim u. Meinschmidt 2003) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Biologische Grundlagen Die neurobiologische Stressachse (nach Ladd et al. 2000) (Heim u. Meinschmidt 2003) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Biologische Grundlagen Psychophysiologische Grundlagen: Vom Stressor zur Stressreaktion (Rueg 2008) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Grundlagen psychodynamischer Psychosomatik Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Psychosomatische Medizin Psychodynamisch-psychoanalytische Position „Psychosomatische Medizin ist die Lehre von den körperlichseelisch-sozialen Wechselwirkungen in der Entstehung, im Verlauf und in der Behandlung von menschlichen Krankheiten. Sie muss ihrem Wesen nach als eine personenzentrierte Medizin verstanden werden.“ (Hoffmann et al. 2009, S. 9) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Psychosomatische Medizin Psychodynamisch-psychoanalytische Position „Psychosomatik ist bemüht, die bewussten und unbewussten Bedeutungen von Lebensereignissen und intrapsychischen Prozessen für das psychische und somatische Gleichgewicht zu verstehen.“ (Rudolf 2008, S. 13) Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Grundlagen psychodynamischer Psychosomatik Beschreibung der vier Grundkonflikte (Rudolf 2008) • Frühe Konflikte • Depressiver Grundkonflikt • Grundkonflikt der Autonomie • Grundkonflikt der Identität Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Grundlagen psychodynamischer Psychosomatik Frühe Konflikte (Rudolf 2008) • Enge Verknüpfung mit somatoformen Störungen • Auf der Basis gestörter früher Objektbeziehungen entwickelt sich das Körperselbst nicht in den üblichen Schritten • Das Kind lernt daher nicht, über die gestörte Beziehung zur Mutter seinen eigenen Körper und seine eigenen Emotionen kennen und differenzieren • Der Zugang zur eigenen Emotionalität und eigenen Körperlichkeit ist eingeschränkt • Die Möglichkeit von Verständigung, Austausch und Bezogenheit wird angezweifelt • Die Unlusterfahrung wird weniger psychisch als vielmehr körperlich repräsentiert Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Grundlagen psychodynamischer Psychosomatik Frühe Konflikte (Rudolf 2008) • Typisch sind hierfür somatoforme Störungen (das Geschehen im eigenen Körper bleibt unverständlich) • Das Körpererleben ist nicht integriert in das Gesamterleben • Das Körpergeschehen hat keine zum ICH dazugehörige emotionale Bedeutung sondern ist von heftigen schwer verstehbaren und fassbaren Affekten begleitet • Der Körper wird rein objekthaft erlebt, wodurch das SELBST bedroht wird • Die bedrohliche Körpererfahrung wird durch forcierte kognitive Bemühungen bewältigt • Zugleich sucht das bedrohte SELBST mächtige Helfer (Ärzte), die ihm eine organische Erklärung und Therapie vermitteln können Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Grundlagen psychodynamischer Psychosomatik Depressiver Grundkonflikt (Rudolf 2008) • Enge Verknüpfung mit Schmerzzuständen • Zentrale Angst vor Verlust des Sicherheit gebenden Objekts • Intrapsychisch frühe Möglichkeit zu klagen und zu fordern emotionale Daueranspannung Verarbeitungsmodus des Durchhaltens und des forcierten altruistischen Angebots Selbstverleugnung/ Selbstüberforderung psychische und somatische Erschöpfung (Selbstausbeutung) • Sympathikotone und muskuläre Daueranspannung führt zu chronifiziertem Schmerzgeschehen autoaggressive Dynamik überflüssige Operationen, schmerzhafte medizinische Interventionen chronisch-destruktiver Verlauf Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Grundlagen psychodynamischer Psychosomatik Grundkonflikt der Autonomie (Rudolf 2008) • Enge Verknüpfung mit angstbezogenen Körperbeschwerden, z.B. somatoformen autonomen Funktionsstörungen, Hypochondrien, Essstörungen • Kampf um die Selbstständigkeit der eigenen Person, Angst, einen Verselbstständigungsschritt zu gehen, bzw. das Sicherheit gebende Objekt hierdurch aufzugeben • Charakteristisch sind widerstreitende Affekte wie Angst und Wut • Die Angst wird körpernah erfahren: Angst vor Herztod, Ersticken, umzufallen, keine Luft zu bekommen etc. • Auch eine Entkoppelung von Angst und Körperbeschwerden und Fehlfunktionen ist möglich: „Im Darm bewegt sich etwas, die Gallenblase krampft sich zusammen.“ Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Grundlagen psychodynamischer Psychosomatik Grundkonflikt der Autonomie (Rudolf 2008) • Diese Vorgänge führen zu körperbezogenen Ängsten und hypochondrischen Krankheitsüberzeugungen • Ausgeprägte Autonomieproblematik (Kontrolle behalten, Kontrolle abgeben) als Hauptthema der Psychotherapie • Häufig Chronifizierung mit zirculärer Selbstverstärkung Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Grundlagen psychodynamischer Psychosomatik Grundkonflikt der Identität (Rudolf 2008) • Enge Verknüpfung mit Konversionssymptomen: – Störungsbilder, die neurologisch anmuten, ohne organisch erklärt zu werden, z.B. Lähmungserscheinungen in Gliedmaßen, Gang-, Schluck-, Blasenentleerungsstörungen, Blindheit, Dämmerzustände, phobischer Attackenschwindel • Im Symptom ist „etwas untergebracht“ (Affekt, Begierde, ein Handlungsentwurf, eine Vorstellung) – Elemente der eigenen Identität sind herausgebrochen, werden nach außen gezeigt • Psychotherapie besteht darin, dem psychosexuellen Kern der Identität zu bestätigen, widersprüchliche Affekte zu integrieren (Ambivalenzfähigkeit), eine „Klarifizierung von Affekten“ zu erreichen. Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Alexithymie (Nemiah u. Sifneos 1970) Frühe Konflikte und ihre strukturellen Folgen: Der Ausfall der emotionalen Bedeutungsfunktion Schwierigkeiten: • eigene Gefühle zu identifizieren und zu differenzieren • zwischen Gefühlen und Körpersensationen zu unterscheiden • positive Emotionen zu erleben (Anhedonie) • Traurigkeit anders als Leere, Überdruss, Schmerz wahrzunehmen • Angst anders als Spannung, Unruhe wahrzunehmen Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Alexithymie (Nemiah u. Sifneos 1970) Frühe Konflikte und ihre strukturellen Folgen: Der Ausfall der emotionalen Bedeutungsfunktion Schwierigkeiten: • sich in die Gefühle anderer empathisch einzufühlen • Zugang zu Fantasien, Träumen, Idealitäten und Zukunftsentwürfen zu finden • sich in Übergangswelten zu begeben und mit Übergangsobjekten zu beschäftigen • Die Notwendigkeit, innere Leere durch Handlung auszufüllen • Die Notwendigkeit, sich in hohem Maße sozial konform zu verhalten • Die Notwendigkeit, Sprache möglichst konkret und handlungsnah einzusetzen Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Geschichtliche Entwicklung Psychosomatische Persönlichkeit Alexithymie-Konzept • Nichtdifferenzierung zwischen Affekt und körperlichem Korrelat • Mangelnde Verbalisierung des affektiven Erlebens • Eingeschränkte Symbolisierung und reduziertes Phantasieerleben • Operativer Denkstil und konkretistischer Realitätsbezug Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Grundlagen der Verhaltensmedizin Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Verhaltensmedizin Allgemeine Definition • Verhaltensmedizin stellt die Anwendung der Verhaltenstheorie/Verhaltenstherapie auf medizinische Fragestellungen dar. Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Definition der Verhaltensmedizin 1 • VT basiert auf psychologischen Theorien (Lernen, Gedächtnis, Emotionen, Verhalten) • VT versteht sich als systematische, zielgerichtete Veränderung von Verhalten, Emotionen und Kognitionen auf der Grundlage empirischen Wissens bzw. psychologischer Gesetzmäßigkeiten • Theoretische Grundlage bildet das Wissen aus den psychologischen Fachdisziplinen sowie anderen Fachgebieten – Lerngesetze – Erkenntnisse aus der psychologischen Forschung über die Entstehungsmechanismen normalen und pathologischen Verhaltens Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Definition der Verhaltensmedizin 2 • Fokus der VT ist nicht nur die Veränderung von Verhalten, sondern beinhaltet eine ganzheitliche Sichtweise sowie Störungsperspektive für den Klienten/Patienten • Ausgangspunkt der Therapie stellt die umfassende Verhaltensanalyse dar, einschließlich der biographischen Anamnese sowie der biologischen Faktoren • Zielparameter ist ein operationales Verhaltensmodell, das eine Überprüfung des Therapieprozesses und eine gezielte Evaluation ermöglicht • Therapie wird als kontinuierlicher Prozess von Diagnose und Therapie mit der Festlegung von mit dem Patienten vereinbarten Therapiezielen verstanden • Dem Patienten kommt eine aktive Rolle sowohl bei der Therapiezielbestimmung sowie im Therapieprozess zu Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Grundlagen der Verhaltensmedizin 3 • Ausgangspunkt der Therapie ist die umfassende Verhaltensanalyse • S – O – R – C – K – Modell – S= Situations- und Ausgangsvariable – O= Organismusvariable – R= Reaktion – C= Kontingenz – K= Konsequenz Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Verhaltensmedizin Definitionsansätze (Ehlert 2003) Gemäß einer engen Definition im Kontext von Verhaltenstherapie und Verhaltensmodifikation umfasst die Verhaltensmedizin: • die klinische Anwendung von Techniken, die aus der experimentellen Analyse von Verhalten abgeleitet und zur Evaluation, Prävention und Behandlung körperlicher Erkrankungen oder physiologischer Funktionsstörungen eingesetzt werden • die empirische Erforschung der Zusammenhänge zwischen Verhalten, somatischen Erkrankungen und Problemen der Gesundheitsversorgung Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Die Verhaltensmedizin und beteiligte Disziplinen und Unterdisziplinen (Leupoldt u. Ritz 2008) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Abgrenzung der Verhaltensmedizin zur Psychosomatik als medizinischem Fach (Ehlert 2008) Unterschiede zwischen den Disziplinen ergeben sich aus: • der bedeutend längeren Tradition der psychosomatischen Medizin und der daraus resultierenden stärkeren Etablierung in der Medizin • dem geringeren Stellenwert präventionsorientierter Fragestellungen in der psychosomatischen Medizin • der expliziteren Orientierung der Verhaltensmedizin an naturwissenschaftlichen Methoden • dem multidisziplinären Selbstverständnis der Verhaltensmedizin und • der Tatsache, dass die psychosomatische Medizin im deutschsprachigen Raum stark an psychoanalytischen Konzepten orientiert ist, wohingegen wichtige psychotherapeutische Grundlagen der Verhaltensmedizin aus der Lerntheorie und Psychophysiologie abgeleitet sind Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Biopsychosoziales Model der Verhaltensmedizin Patientenbeispiel (Leupoldt u. Ritz 2008) • Engel (1980) explizierte seine Sichtweise am Beispiel eines Patienten mit akutem Verschluss der Koronararterien • Nach organmedizinischer Untersuchung höherer Ebenen • Typische Persönlichkeitseigenschaften/Bewältigungsmechanismen des Patienten (Bedürfnis nach Kontrolle, Erleben der Krankheit als Schwäche) • Behinderung einer früheren Untersuchung z.B. durch unbeachtete Gefühle der Ohnmacht während einer misslungenen arteriellen Punktierung im Krankenhaus auf niedrigerer Ebene Mobilisierung des sympathischen Nervensystems Instabilität des kardialen Systems • Berücksichtigung sozialer Einflussfaktoren (stabilisierende Rolle von Ehepartnern; Beachtung der Gesundheit, Ressourcenstärkung) • Durch dieses Vorgehen insgesamt sehr komplexe Informationserhebung notwendig im Einzelfall partielle Reduktion Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Biopsychosoziales Model der Verhaltensmedizin Die Bedeutung körpertherapeutischer Ansätze (Leupoldt u. Ritz 2008) • Unabhängig von der psychoanalytisch bzw. psychodynamischen Grundorientierung sind Körpertherapien, wie etwa Bioenergetik (Lowen 1975) und Biodynamik (Boyesen u. Boyesen 1977) von Bedeutung • Häufig in der Nachfolge Reich in den verschiedenen Varianten angereichert durch isolierte medizinische und neurowissenschaftliche Erkenntnisse sowie pragmatische Übernahme von systemtheoretischen Ideen und fernöstlichen Energetik-Philosophien für eine Behandlung psychischer und psychosomatischer Störungen wünschenswert. • USA: 1988 Gründung des National Center for Complementary and Alternative Medicine (NCCAM) des National Institutes of Health. Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Verhaltensmedizin Gesundheitsängste: Ätiologische Faktoren (Hautzinger 2008; Boerner 2011) • Ängstlichkeit als emotionaler Ausdruck zwischen gesunder Befürchtung und pathologischer Überängstlichkeit • Erhöhte vegetative Irritabilität, erhöhtes Arousal (Temperament), zerebrale Hirnschädigung (Alkohol) • Aktivierung kognitiver Schemata (z.B. körperliche Symptome stellen eine Gefahr dar) • Differenzierung von „Repressor/Blunter“ und „Sensitizer/Monitors“: Risiken verleugnend oder beachtend (Rief 2005) • Problemlösekompetenz vorhanden oder nicht vorhanden Sorgenverhalten negative Verstärkung von Angst Aktivierung der Stressachse Arousalsteigerung Angstverstärkung Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Verhaltensmedizin Gesundheitsängste: Therapie (Hautzinger 2008; Boerner 2011) • Entspannungsverfahren, Biofeedback, körperbezogene Therapieformen Arousalreduktion • Förderung ressourcenschonender und salutogenetischer Lebensführung (körperlicher Ausgleich, ausreichender Schlaf, Vermeidung von Stressoren, Vermeidung übermäßiger Genussmittel) • Bearbeitung dysfunktionaler Kognitionen Sorgenexposition zur Bewältigung katastrophisierender Kognitionen Selbstkontrolle Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Verhaltensmedizin Beispiele für verhaltensmedizinische Interventionen (Ehlert 2003) Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Verhaltensmedizinische Therapie „Stress-Impfungstraining“ Meichenbaum (1985/2012); Kaluza (2004) • Empirisch geprüftes, strukturiertes verhaltenstherapeutisches Verfahren • Phase 1 („Informationsphase“) – Erörterung der Bedeutung psychologischer Faktoren für die Krankheitsentstehung und den Verlauf – Erarbeitung der Bedeutung eigener Gedanken und Bewertungen für die Stressbewältigung – Individuelle Problemanalyse mit der Herausarbeitung konkreter stressinduzierender Gedanken • Phase 2 („Übungsphase“) – – – – Erlernen von Entspannungsverfahren sowie Techniken der Atemkontrolle Rollenspiele Erlernen der Gedankenstopp-Technik Individuelle Erarbeitung einer konstruktiven Stressbewältigungssituation mit dem Ziel „Lernen am Erfolg“ • Phase 3 („Anwendungsphase“) – Stufenweise Konfrontation des Patienten mit den für ihn relevanten Stresssituationen mit anschließender therapeutischer Diskussion und Anleitung Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Schulenübergreifendes Vorgehen Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Allgemeine psychosomatische Perspektive: Der psychosoziale Standpunkt (Kapfhammer 2011) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Strategien zur Verbesserung der Compliance 1 (nach Petermann u. Mühling 1998) • Patientenschulung zur Wissensvermittlung und Aufklärung über die Krankheit bzw. die Behandlung mit Diskussion und Vereinbarung der Therapieziele • Interozeptionstraining zur Wahrnehmungsverbesserung relevanter Körperprozesse, z.B. von Prodromalsymptomen oder indirekten Indikatoren für eine Erkrankung • Praktische Verhaltensübungen zum richtigen Umgang mit Medikamenten, Hilfsmitteln, Selbstbeobachtungsinstrumenten • Gedächtnishilfen zur Erinnerung an Behandlungsschemata, Termine, Informationen (Ehlert 2003) Boerner RJ Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Strategien zur Verbesserung der Compliance 2 (nach Petermann u. Mühling 1998) • Kognitive Therapietechniken zur Veränderung unangemessener Krankheitskonzepte, irrationaler Vorstellungen und zum Aufbau von Veränderungserwartung und Kontrollüberzeugung • Verhaltensmodifikation durch Einsatz von kontingenter Verstärkung und Erfolgsrückmeldung • Selbstkontrolltechniken wie z.B. Selbstbeobachtung mit Hilfe von Tagebüchern, Selbstinstruktionen, Stressimmunisierung • Monitoring im Sinne stärkerer Überwachung z.B.durch den Arzt • Einbeziehung des sozialen Netzwerkes, um die Behandlung des Patienten zu unterstützen (Ehlert 2003) Psychosomatik Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsgebiete Boerner RJ Prägnante Coping-Muster (Rudolf 2008) • Nicht wahrhaben wollen, Verleugnung • Isolierung von Gefühlen (Gleichgültigkeit, Neutralität) • ablenkende Aktivität, Übertönen • ablenkende soziale Kontakte • Grübeln, Schuld suchen, Schuld zuschreiben • Klagen, Passivität • sozialer Rückzug, vermehrter Gebrauch von Alkohol und Medikamenten • aktive Informationssuche, Problemanalyse • positive Fantasien über die verbleibenden Möglichkeiten • Suche nach sozialer Unterstützung, Suche nach emotionaler Entlastung • religiöse Sinngebung