Wirtschafts- und Sozialgeschichte „Wealth of Nations“ oder Wealth of Regions“. Nationale versus regionale wirtschaftliche Entwicklung Wirtschaftliche und demographische Entwicklung Frankreichs in der Zeit von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart Margit Roy, 2006 Inhaltsverzeichnis 1 2 3 Geographie und Staat ......................................................................................... 3 1.1 Geographische Lage .................................................................................... 3 1.2 Staatsterritorium und Verwaltungseinteilung ................................................ 4 1.2.1 Regionen ............................................................................................... 4 1.2.2 Departements........................................................................................ 5 1.2.3 Die überseeischen Gebiete ................................................................... 5 Die Bevölkerung .................................................................................................. 6 2.1 Die Bevölkerungsentwicklung seit 1750 ....................................................... 6 2.2 Die Wanderungen zwischen Frankreich und dem Ausland .......................... 7 2.3 Auswanderungen ......................................................................................... 8 2.4 Einwanderungen .......................................................................................... 9 2.5 Bilanz der Wanderungsbewegungen.......................................................... 10 2.6 Regionale Bevölkerungsverteilung ............................................................. 10 2.7 Geburten- und Sterberate .......................................................................... 13 Die Wirtschaft .................................................................................................... 14 3.1 Die Bedeutung der Industrie vor 1851 ........................................................ 14 3.2 Die Dynamik des Binnenmarktes ............................................................... 15 3.2.1 4 3.3 Die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft ......................................... 15 3.4 Aufbau der Industrie nach dem Ersten Weltkrieg ....................................... 18 3.5 Die geographische Verteilung der Industrien ............................................. 19 Entwicklung Frankreichs seit dem Zweiten Weltkrieg ........................................ 21 4.1 Zusammenbruch und Erneuerung .............................................................. 22 4.2 Die Vierte Republik 1946 – 1958 ................................................................ 23 4.2.1 4.3 5 Die allgemeinen Bewegungen vor 1850 .............................................. 15 Politische Instabilität und Krisen.......................................................... 23 Die Fünfte Republik (seit 1958) .................................................................. 23 Wirtschaftsentwicklung Frankreichs seit dem Zweiten Weltkrieg ...................... 24 5.1 Staat und Wirtschaft ................................................................................... 24 5.2 Planification ................................................................................................ 24 5.3 Die wirtschaftliche Entwicklung .................................................................. 25 1 6 Die Wirtschaftszweige ....................................................................................... 26 6.1 Landwirtschaft ............................................................................................ 26 6.2 Industrie ..................................................................................................... 28 6.3 Der Dienstleistungsbereich ........................................................................ 30 7 Regionale Wirtschaftsstruktur ............................................................................ 32 7.1 Paris – Provinz ........................................................................................... 32 7.2 Probleme des Südwestens ......................................................................... 33 8 Frankreichs Wirtschaft heute ............................................................................. 35 9 Zusammenfassung ............................................................................................ 36 10 Literaturliste ................................................................................................... 39 2 1 Geographie und Staat Das französische Staatsgebiet (Mutterland) mit der Hauptstadt Paris umfasst 543.998 qkm und ist das größte Land in Westeuropa. In diesem Gebiet leben im Jahr 2006 etwa 59,64 Millionen Menschen. Amtssprache ist Französisch. Es gibt sprachliche Minderheiten, wie die okzitanische Sprache (Longue d’oc), welche von der aquitanischen Küste bis zur italienischen Grenze verbreitet ist – sie wird jedoch nur noch von wenigen Menschen gesprochen. Weitere sprachliche Minderheiten sind die Bretonen (etwa 1 Mio. Menschen), die etwa 400 000 Flamen (um Dünkirchen in Französisch-Flandern) sowie die 200 000 Katalanen im Roussillon und die etwa 100 000 Basken im äußersten Südwesten. Etwa 1 Mio. leben im deutschen Sprachbereich (Elsass, Ostlothringen); die deutsche Sprache ist jedoch stark zurückgedrängt. Etwa 1 Mio. Menschen sprechen Italienisch (Korsika, Gebiet um Nizza).1 1.1 Geographische Lage Frankreich grenzt im Norden an den Ärmelkanal, Im Nordosten an Belgien und Luxemburg, im Osten an Deutschland, die Schweiz, Italien und Monaco. Im Süden wird Frankreich vom Mittelmeer begrenzt, im Südwesten von Spanien und Andorra und im Westen vom Atlantischen Ozean. Die Insel Korsika liegt im Mittelmeer nördlich der italienischen Insel Sardinien. Die landschaftliche Vielfalt reicht von den Bergmassiven der Alpen und Pyrenäen, den Flusstälern der Loire, Rhône und Dordogne bis zur Côte d’Azur und den flacheren Regionen der Normandie und der Atlantikküste.2 1 Peter-Matthias Gaede (Hrsg.), GEO Themenlexikon in 20 Bänden, Band 1: Unsere Erde. Länder, Völker, Kulturen. Afghanistan bis Irak, Mannheim 2006, S. 323-333. 2 Ebd., S. 323. 3 1.2 Staatsterritorium und Verwaltungseinteilung Frankreich ist nicht nur auf das „Mutterland“ in Europa beschränkt. Frankreich hat aus seiner kolonialen Vergangenheit noch die Kontrolle über einige Überseegebiete, darunter sind vier Übersee-Departements und Überseeregionen. In den Departements Guadeloupe, Martinique, Guyana und La Réunion gelten die gleichen Gesetze wie im Mutterland. Die weiteren Übersee-Gebiete, die Inseln Saint-Pierre-et-Miquelon und Wallis-etFutuna, Mayotte, Französisch Polynesien, Neukaledonien, die Terres Australes und die französische Antarktis unterstehen dem „Überseeministerium“, dem „Ministre de l’outre-mer“.3 1.2.1 Regionen In den Jahren 1955/56 wurden 26 Regionen geschaffen, davon 22 im Mutterland und vier in Übersee, welche 1982 den Status einer Gebietskörperschaft erhielten.4 Jede der 22 Regionen in Frankreich hat durchschnittlich 2,47 Millionen Einwohner. Die größte der Regionen ist die Ile-de-France, der Pariser Großraum, mit über 10 Millionen Einwohnern. Die Region Korsika ist mit 250 000 Einwohnern die kleinste. In der Region Ile-de-France leben etwa 20 % der französischen Bevölkerung. Die Wirtschaftsentwicklung dieser Region verlief sehr ungleichmäßig und führte zu einem großen Wohlstandgefälle zwischen den Gemeinden des Pariser Großraums. Die Region Korsika bekam im Rahmen der Dezentralisierungsgesetze mehr Autorität bezüglich der Bereiche Umwelt, Kultur, Schulwesen, Wirtschaftsentwicklung und Finanzen, um die kulturelle Identität der Insel zu schützen.5 Daneben gibt es die Regionen Alsace, Aquitaine, Auvergne, Bourgogne, Bretagne, Centre, Champagne-Ardennes, Franche Comté, Languedoc-Roussillon, Limousin, Lorraine, Midi-Pyrénées, Nord-Pas-de-Calais, Basse-Normandie, Haute-Normandie, 3 Günther Haensch/Hans J. Tümmers (Hrsg.), Frankreich. Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, München 19983, S. 251f. 4 Stefan Grüner/Andreas Wirsching, Frankreich: Daten, Fakten, Dokumente, Tübingen – Basel 2003, S. 25. 5 Günther Haensch/Hans J. Tümmers (Hrsg.) Frankreich, S. 241f. 4 Pays de la Loire, Picardie, Poitou-Charentes, Provence-Alpes-Côte d’Azur und die Region Rhône-Alpes.6 1.2.2 Departements Die Regionen sind unterteilt in Departements. Es gibt 100 Departements, 4 davon in Übersee. Durchschnittlich leben etwa 565 000 Einwohner in jedem Departement. Nord in der Region Nord-Pas-de-Calais ist mit 2,5 Millionen Einwohnern das größte, Lozère in der Region Languedoc-Roussillon mit 72 860 Einwohnern das kleinste Departement. Auch bezüglich der Fläche gibt es größere Abweichungen. Die durchschnittliche Größe dieser Departements beträgt 5 666 qkm. Gironde in der Region Aquitaine ist mit 10 000 qkm das größte und Paris mit 105 qkm das kleinste Departement.7 1.2.3 Die überseeischen Gebiete Wie bereits erwähnt, gibt es die vier überseeischen Departements (départements d’outre-mer – DOM) Guadeloupe, Martinique, Guyane und La Réunion, die gleichzeitig auch eine Region bilden. Weiters gibt es noch die überseeischen Territorien (territoires d’outre-mer – TOM) Neukaledonien, Französisch-Polynesien, Wallis und Futuna, die Terres australes et antarctiques, die u.a. die Kerguelen Inseln beinhalten, die über eine größere Autonomie verfügen. Beide haben sie den Status von Gebietskörperschaften, die von einem Ministre des départements et territoires d’outre-mer verwaltet werden, und ihre Einwohner sind französische Staatsbürger.8 6 Stefan Grüner/Andreas Wirsching, Frankreich: Daten, S. 25. Günther Haensch/Hans J. Tümmers (Hrsg.), Frankreich, S. 236. 8 Ebd., S. 251f. 7 5 2 Die Bevölkerung 2.1 Die Bevölkerungsentwicklung seit 1750 Im Jahre 1750 lebten schätzungsweise 25 Millionen Menschen in Frankreich. Damit war Frankreich das bevölkerungsreichste Land in West- und Mitteleuropa. Deutschland und Italien hatten ein Drittel weniger Bevölkerung und in England lebten sogar nur 9 Millionen Einwohner. Bis zum Jahre 1850 wuchs die französische Bevölkerung auf 37 Millionen Einwohner an. In den folgenden Jahrzehnten kam es nahezu zu einem Stillstand in der Bevölkerungsentwicklung, sodass bis Ende des Zweiten Weltkrieges die Bevölkerung auf nur 40 Millionen Menschen anstieg. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung in der Nachkriegszeit Bevölkerungszahl sehr schnell. Die Zuwanderung von wuchs auch die ausländischen Arbeitern verstärkte das Wachstum zusätzlich. Am 1. Januar 1996 wurden in Frankreich 58,3 Millionen Menschen registriert. Ein Vergleich mit der demographischen Entwicklung von Großbritannien, Italien und Deutschland zeigt uns, dass Frankreich in der Bevölkerungsentwicklung hinter diesen Ländern liegt. Großbritannien zählte im Jahr 1995 rund 58,6 Millionen, Italien 57, 3 Millionen und Deutschland 82 Millionen Menschen.9 9 Ebd., S. 254f. 6 Die Bevölkerungsentwicklung Frankreichs im europäischen Vergleich: Bevölkerungszahl in Millionen Quelle: M. L. Lévy, La population de la France des années 80, Paris 1982, aktualisiert 1997. 2.2 Die Wanderungen zwischen Frankreich und dem Ausland Die Wanderungsbewegungen zwischen Frankreich und dem Ausland waren im Vergleich zu vielen anderen westeuropäischen Ländern verschiedenartig. Die Auswanderungen nahmen nie das Ausmaß wie in den Ländern Großbritannien, Skandinavien, Deutschland oder Italien an. Dies war wahrscheinlich eine Folge des geringen Wachstums der französischen Bevölkerung. Auf der anderen Seite holte man ausländische Arbeitskräfte in das Land, so dass die Einwanderung schon bald ein bedeutendes Ausmaß annahm.10 10 Fernand Braudel/Ernet Labrousse (Hrsg.), Wirtschaft und Gesellschaft in Frankreich im Zeitalter der Industrialisierung. 1789 – 1880, Band 1, Frankfurt am Main 1986, S. 155. 7 2.3 Auswanderungen Aufgrund von unsicheren, unvollständigen und uneinheitlichen Quellen, ist es schwierig eine genaue Beschreibung der französischen Auswanderungen zu machen. Einige Ergebnisse sind indes relativ sicher. So weiß man, dass die Motive der Auswanderer im 18. Jahrhundert völlig andere waren, als die der Emigranten hundert Jahre später. Während des Ancien Régime verließen viele Menschen ihre Heimat aus politischen oder religiösen Gründen oder auch um in einem der Kolonieländer ihr Glück zu versuchen. Der Grund für die Auswanderungen im 19. Jahrhundert war hingegen vor allem die schlechte Wirtschaft. Elend durch schlechte Ernten und Arbeitslosigkeit veranlasste die Menschen ihr Land zu verlassen, um woanders ein besseres Auskommen zu finden. Nach dem Demographen Henri Bunle erreichte die Auswanderung pro Jahr folgende Durchschnittszahlen: 1821 – 1830 2.500 Personen 1831 – 1840 14.000 Personen 1841 – 1850 26.000 Personen 1851 – 1860 25.000 Personen 1861 – 1870 18.000 Personen 1871 – 1880 35.000 Personen 1881 – 1890 47.000 Personen Der Historiker Louis Chevalier kritisierte diese Zahlen, da sie ihm viel zu gering erschienen. Ungeachtet dieser Zweifel steht dennoch fest, dass die Auswanderungen niemals ein Ausmaß annahmen, das mit dem der Einwanderungen vergleichbar war.11 11 Ebd., S. 155f. 8 2.4 Einwanderungen Im 19. Jahrhundert gab es viele Faktoren, die Frankreich für Arbeiter aus dem Ausland attraktiv machten. Die Entwicklung der mechanisierten Großindustrie schuf viele Arbeitsplätze die keiner Fachausbildung bedurften. Durch das geringe Bevölkerungswachstum im Land konnten diese Arbeitsplätze nicht mit Einheimischen besetzt werden. Die Möglichkeit eines sozialen Aufstiegs lockte Arbeiter aus dem Ausland an. Die Einwanderung hing vom Bedarf an Arbeitskräften ab. Besonders seit der Mitte des 19. Jahrhunderts begann eine verstärkte Einwanderung. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts kamen anscheinend wenige Ausländer in das Land. Vorher war die industrielle Entwicklung relativ langsam vor sich gegangen und die benötigten Arbeitskräfte wurden in den überbevölkerten ländlichen Gebieten in den Klassen der armen Landbewohner gefunden. Bei der Volkszählung von 1851 wurden die Ausländer zum ersten Mal gezählt. Von da an kann man die zunehmende Zahl der in Frankreich lebenden Fremden verfolgen: Absolute Zahl Anteil an der Gesamtbevölkerung 1851 379.300 1,0 % 1861 506.400 1,3 % 1866 655.000 1,7 % 1872 741.000 2,0 % 1876 801.800 2,1 % 1881 1.001.100 2,6 % 1886 1.126.300 2,9 % Die Steigerung war so stark, dass es 1886 dreimal so viele Ausländer gab wie 1851. In diesem Zeitraum stieg die Zahl der Eingebürgerten von 13.000 im Jahr 1851 auf 104.000 im Jahr 1886 an. Wenn man die Eingebürgerten zu den Ausländern addiert, ergibt das für das Jahr 1886 3,24 Prozent der Gesamtbevölkerung Frankreichs. 9 Aus welchen Gebieten kamen diese Einwanderer? Es wird angenommen, dass etwa 85 % der Einwanderer aus Belgien, Deutschland, Schweiz, Italien und Spanien kamen.12 2.5 Bilanz der Wanderungsbewegungen Überschüsse an Einwanderungen (+) oder Auswanderungen (-) (absolute Zahlen in 1.000): insgesamt jährlicher Anteil am Bevölkerungsanstieg Durchschnitt insgesamt 1801 – 1821 + 171 + 8,6 5,5 % 1821 – 1831 + 288 + 28,8 13,7 % 1831 – 1841 + 272 + 27,2 16,4 % 1841 – 1851 + 90 + 9,0 5,8 % 1851 – 1861 - 36 - 3,6 1861 – 1972 - 300 - 27,3 1872 – 1881 + 422 + 46,9 26,9 % 1881 – 1891 + 133 + 43,3 19,8 % Folglich war die Einwanderung immer stärker als die Auswanderung, bis auf die Periode von1851 bis 1872. Außerdem war die Zahl der Einwanderer weit höher als die der Auswanderer. Aufgrund der schwachen Geburtenraten erscheint Frankreich seit dieser Zeit als Einwanderungsland.13 2.6 Regionale Bevölkerungsverteilung Im Jahre 1801 entsprach die Bevölkerungsdichte in den Departements derjenigen am Ende des Ancien Régime. Am dichtesten bevölkert waren die Zonen nördlich einer Linie Nantes - Méziéres, d.h. im wesentlichen in Flandern, in der Picardie, 12 13 Ebd., 156f. Ebd., S. 160. 10 Normandie und die Bretagne, wobei die Küstengebiete an der Spitze lagen, dann im Elsass, bis hin in den östlichen Teil Lothringens, und schließlich im Gebiet um Lyon. Am schwächsten bewohnt waren die Gebiete östlich und südlich des Pariser Beckens, einem Teil Burgunds, westliche Gebiete und das Becken nördlich von Aquitanien. Weiters wiesen auch die Alpen, Korsika, die Pyrénées-Orientales, der Aude und die Landes eine niedrige Bevölkerungsdichte auf.14 Gegen Ende des 20. Jahrhundert lebten in Frankreich auf 1qkm rund 106 Menschen. In Deutschland waren es pro qkm 228 Menschen. Die Bevölkerung ist jedoch unregelmäßig über die Departements und Regionen verteilt, ebenso wie die Industrie. In der Frühzeit der Industrialisierung bildeten sich regionale Schwerpunkte der Wirtschaftstätigkeit, so genannte Wachstumspole, heraus. In den Regionen Nord-Pas-de-Calais, Lorraine und Rhône-Alpes entstanden aufgrund von Kohle- und Eisenerzlager, sowie über das Vorhandensein von Wasserkraft große Wirtschaftszentren der Eisen- und Stahlindustrie sowie auch der Textilindustrie, in deren Umgebung sich dann weiterverarbeitende Industrien ansiedelten. Diese neuen örtlich konzentrierten Wirtschaftszentren brauchten Arbeitskräfte und lösten eine Binnenwanderung aus.15 Dadurch entstand eine große Bevölkerungsdichte vor allem im Norden und Osten, im Pariser Raum und in der Region Rhône-Alpes. Heute, 150 Jahre später, sind eine Vielzahl wirtschaftlicher Subzentren und Verwaltungspole in Frankreich entstanden, die auf Zuwanderer noch immer eine mehr oder weniger große Attraktivität ausüben. Diese Anziehungskraft zeigt sich u.a. in der Höhe des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf der Bevölkerung. 14 15 Ebd., S. 161. Günther Haensch/Hans J. Tümmers (Hrsg.), Frankreich, S. 264. 11 Verfügbares Bruttoeinkommen je Einwohner im Jahr 1992: Quelle: INSEE, Tableaux de l’économie francaise 1996/97, S. 89. Die gegenwärtige Bevölkerungsverteilung regionalwirtschaftlichen ist Entwicklungsgeschichte, ein Resultat aber regionalcharakteristischer Sterbe- und Geburtenrate. auch der das ungleichen Resultat In der Bretagne und den angrenzenden Regionen ist die verhältnismäßig hohe Bevölkerungsdichte vor allem auf die ausgeprägte Geburtenfreudigkeit und weniger auf wirtschaftliche Gründe zurückzuführen. Auch in Longuedoc-Roussillon und in der Provence-Côte d’Azur hat die Bevölkerungsdichte weniger mit wirtschaftlicher Anziehungskraft, als vielmehr mit besonderer Lebensqualität in diesen landschaftlichen und klimatisch attraktiven Gegenden zu tun.16 Besonders junge Menschen drücken mit ihrer Abwanderung aus ihrem Wohnort Unzufriedenheit mit ihren dortigen Lebensperspektiven aus. Für Pensionisten spielt oft das Klima bei der Wahl ihres künftigen Wohnorts vordergründig eine Rolle.17 16 17 Ebd., S. 266. Ebd., S. 267. 12 2.7 Geburten- und Sterberate Zwischen 1750 und 1800 lag die Sterberate noch bei 35 Todesfällen auf 1000 Personen der Wohnbevölkerung. Bis Ende des Zweiten Weltkriegs halbierte sich die Sterblichkeitsrate durch medizinische Fortschritte und eine verbesserte Versorgung der Bevölkerung. Heute gibt es etwa 10 Sterbefälle auf 1000 Personen im Jahr. Der auffällige Rückgang der Sterblichkeit Kindersterblichkeit, die von 15 bis 20 % Gegenwart gesunken ist. liegt vor allem im Rückgang der im 19. Jahrhundert auf 1 % in der Die Differenz aus Geburten- und Sterberate war bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts immer positiv, was zu einem stetigen Anstieg der französischen Bevölkerung führte.18 Geburtenrate, Sterberate und Zahl der Eheschließungen in Frankreich seit 1750: Quelle: La population francaise de A à Z, Séries longues, cahiers francaise nr 219, Jan.-Feb. 1985, aktualisiert 1990. Von 1850 bis nach dem Zweiten Weltkrieg gab es zwar fast immer mehr Geburten als Todesfälle, jedoch starben in den Jahren 1870/71 im deutsch-französischen Krieg mehr Menschen als geboren wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die Geburtenrate im Gegensatz zur abnehmenden Sterberate wieder zu. Die Folge war ein hohes Bevölkerungswachstum. Während in der Mitte des 18. Jahrhunderts die durchschnittliche Lebenserwartung eines Franzosen etwa 30 Jahre war, konnten die Männer 1994 erwarten 74 Jahre und die Frauen über 82 Jahre alt zu werden. Durch 18 Ebd., S. 257. 13 den Rückgang der Geburtenziffern und die höhere Lebenserwartung der Menschen verschiebt sich der Altersaufbau der Bevölkerung. Mitte des 18. Jahrhunderts waren etwa 40 % der Gesamtbevölkerung unter 20 Jahre alt, heute sind das etwa nur noch 30 %. Währenddessen verdreifachte sich der Seniorenanteil von 5 % im Jahr 1750 auf heute etwa 15 %. Die vormals rasch anwachsende Bevölkerungszahl hatte von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg beinahe einen Wachstumsstillstand und erreichte dann durch ein erneutes schnellen Anwachsen danach, jetzt ein Stadium mit einer niedrigeren Geburtenzahl, als dies für eine dauerhafte beständige Bevölkerungszahl erforderlich wäre.19 3 Die Wirtschaft 3.1 Die Bedeutung der Industrie vor 1851 Während Paris bereits durch die industrielle Entwicklung einen hohen Bevölkerungsanteil hatte, waren Le Havre, Le Mans, Dijon und die industriellen Zentren im Norden und Osten noch kleine Provinzstädte. Außerhalb von Paris löste die industrielle Entwicklung in der ersten Hälfte des Jahrhunderts kein starkes plötzliches Bevölkerungswachstum aus. Die Industrie hatte damit bis zur Mitte des Jahrhunderts weder eine tief greifende Veränderung in der Bevölkerungsverteilung, noch ein massives städtisches Wachstum bewirkt. Der Grund dafür war, dass die Textilindustrie die meisten Arbeitsplätze bot und nicht die Schwer-, Hütten- und Metallindustrie. Diese waren weit verstreut, was erklärte, dass eher die ländlichen Regionen eine höhere Bevölkerungsdichte hatten.20 19 20 Ebd., S. 258. Ferdinand Braudel/Ernest Labrousse (Hrsg.), Wirtschaft und Gesellschaft in Frankreich, S. 168. 14 3.2 Die Dynamik des Binnenmarktes 3.2.1 Die allgemeinen Bewegungen vor 1850 Laut Maurice Lévy-Leboyer muss der nationale Verkehr im Jahr 1835 auf 2.760 Millionen Tonnenkilometer geschätzt werden. Davon wurden zwei Drittel auf dem Landweg und ein Drittel auf dem Wasserweg transportiert. Für die Zeit von 1815 – 1835 gibt es keine Daten. Es ist aber anzunehmen, dass der Landtransport noch viele Mängel aufwies und der Industrialisierungsprozess der Jahre 1820 – 1826 dadurch sehr erschwert wurde. Zwischen 1840 und 1851 kam es zu einer beachtlichen Ausdehnung des Binnenverkehrs und folglich auch des Marktes. So erhöhte sich der Güterverkehr auf dem Landweg gegenüber 1835 um 34,3 % auf 2.400 Millionen tkm. Auch auf den Wasserwegen stiegen die Transporte erheblich an. Waren es 1849 noch 1.495 Millionen tkm, so waren es 1851 bereits 1.718 tkm. Laut J. Gaspard hatten sich die Transporte auf dem Wasserweg somit seit dem Ersten Kaiserreich verdreifacht. Diese Erhöhung ist im Zusammenhang mit dem Aufschwung in der Dampfschifffahrt zu sehen. Der Eisenbahnverkehr spielte in dieser Zeit noch eine relativ kleine Rolle. Jedoch nahm er von 38 Millionen tkm im Jahre 1841 auf 462 Millionen tkm 1851 zu. Damit würden 1862 die gesamten Transporte zu Lande, zu Wasser und auf der Schiene 4.582 Millionen tkm betragen haben, gegenüber 2.760 Millionen im Jahr 1835. Das würde eine Gesamterhöhung von 60 % ergeben, was ein zuverlässiges Indiz für die Ausbreitung eines Binnenmarktes ist.21 3.3 Die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft Im 19. Jahrhundert war der Kohlemangel eine ernste Behinderung der industriellen Entwicklung. Trotz der Erschließung des Kohlevorkommens in den nördlichen Departements änderte sich die Lage nicht. Die Kohleförderung war schwierig, die Qualität schlecht, sodass die Verwendbarkeit zur Koksherstellung beschränkt war. Die Herstellungskosten waren im Vergleich zur deutschen oder englischen Kohle 21 Ebd., S. 220f. 15 sehr hoch. Bis zum Ersten Weltkrieg mussten ein Drittel des Gesamtkohleverbrauchs und etwa die Hälfte des Koksbedarfs eingeführt werden. Von 1904 bis 1913 stieg die Erzförderung von 7 Millionen auf 22 Tonnen an. Während Frankreich 1913 5 Millionen Tonnen Stahl produzierte, wurden in Großbritannien 7,5 Millionen und in Deutschland 17 Millionen Tonnen Stahl hergestellt. Aufgrund des Fehlens von Kohle und Koks musste ein großer Teil der Erzförderung exportiert werden, hauptsächlich nach Deutschland. Die zur Koksherstellung bestens geeignete Ruhrkohle ist ein komplementärer Grundstoff für die Erze, die im ehemaligen deutschen und französischen Lothringen gefördert wurden. Die gegenseitige Ergänzung der beiden Gebiete bildete vor dem Krieg die Grundlage der deutschen schwerindustriellen Herstellung. Durch die Rückgabe Lothringens an Frankreich wurde dieses System empfindlich gestört. Frankreich hatte in Voraussicht des Bedarfs an deutschem Ruhrkoks im Friedensvertrag Kohlenlieferungen für die, in französischen Besitz übergegangene, lothringische Industrie bis zum Jahre 1930 festgesetzt. Auf deutscher Seite musste die Schwerindustrie andere Länder, vor allem Schweden, zur Ersatzlieferung heranziehen. Währenddessen wurde die Veredlungsindustrie, die Textilindustrie so stark gefördert, dass von 1909 bis 1914 der Export von Baumwollerzeugungen wesentlich anstieg. Die wichtigsten Orte Baumwollverarbeitung sind Lille, Roubaix, Tourcoing, die Normandie22 der und Mülhausen im Elsass. Lyon ist das Zentrum der Seidenindustrie, St. Ètienne das Zentrum der Bandweberei. Die chemische Industrie sowie die Elektroindustrie konnten sich bis zum Krieg nur langsam entwickeln. Als während des Kriegs die industriell wichtigen Gebiete besetzt wurden, war eine Verlegung der Standorte vor allem der kriegswichtigen Industrien, notwendig. Nach Kriegsende entwickelten sich diese Industrien weiter, wie z.B. die chemische Industrie in Toulouse, deren Düngemittel nach dem deutschen Haber-Bosch-Verfahren die Landwirtschaft des Südens intensivierte. Die Weiterentwicklung dieser chemischen Industrie nach 1919 ist wahrscheinlich ein gutes Beispiel für die industriepolitischen Resultate des Weltkriegs. Nach dem Krieg entstand eine staatliche Arbeitsmarktpolitik, die durch Ein- und Rückwanderung ausländischer Arbeitskräfte, die wirtschaftlichen Krisen, die aufgrund mangelnder Arbeitskräfte auftraten, sehr stark einschränkte. Auch die Rohstoffbeschaffung war während des Kriegs unter staatliche Kontrolle gekommen. 22 Ernst Robert Curtius/Arnold Bergsträsser, Frankreich. Staat und Wirtschaft Frankreichs, zweiter Band, Stuttgart – Berlin 1931, S. 96f. 16 Der staatliche Eingriff in die industrielle Entwicklung brachte eine Modernisierung mit sich. Durch die bessere Nutzung von Wasserkraft und Elektrizität, die bessere Verwertung der eigenen Kohle, der steigende Gebrauch des Automobils und die Durchsetzung der Serienfabrikation in der Automobilindustrie, die Entwicklung der Aluminiumindustrie unter Verwertung der Bauxitvorkommen und die eigene Herstellung von Produktionsmitteln, insbesondere Maschinen, waren das Ergebnis der staatlichen Einmischung.23 Die erfolgreiche französische Wirtschafts- und Währungspolitik hatte einen zweifachen Erfolg. Die Industrie wurde ausgebaut, aber unter Rücksichtsnahme darauf, dass das Land nicht von einem Gläubigerland zu einem Schuldnerland werden würde. Die ausdrückliche Ausnutzung des Friedensvertrages und der Reparationsverhandlungen sicherte dieses für die Zukunft wichtige Resultat. Der Friedensvertrag brachte die Kaliindustrie des Elsass, die alte elsässische Textilindustrie und die lothringische Eisenindustrie sowie die Ölquellen bei Pechelbronn an Frankreich. Die industrielle Gesamterzeugung steigerte sich von 1913 bis 1928 auf 135 %. Die Automobilherstellung und die Kautschukproduktion wurden auf 700 %, die Maschinenproduktion auf 150 % gesteigert. Der Export stieg von 1913 bis 1928 auf 200 %. Die Seetransporte und der Schiffbau erreichten 130 Prozent. Es gab in der folgenden Zeit keine Verlangsamung in der Entwicklung. Anfang 1930 ist Frankreich auf dem Weg zu den Weltmärkten. Die französische Industrie veränderte sich von den Verbrauchsgüterindustrien zu Kapitalgüterindustrien. Die Arbeitskräfte wanderten von der einen Gruppe in die andere ab. Die Kennzeichen des Wandels sind die Zunahme der Rohstoffeinfuhr, die Steigerung der Ausfuhr von Fertigprodukten, Luxuswaren und landwirtschaftliche Spezialerzeugnisse. Andererseits nahm die Einfuhr von Produktionsmitteln, besonders von Maschinen, ab.24 Die Versuche, die Landwirtschaft in einem ähnlichen Maße wie die Industrie zu verbessern, gelangen nicht. Nachdem die französische Landwirtschaft auf eine Gleichstellung mit der französischen Industrie drängte, hob man das Ausfuhrverbot für landwirtschaftliche Produkte auf. Damit erreichte man bereits nach einem Jahr eine wesentliche Exportsteigerung. Exportprodukte standen 23 24 An der Spitze der landwirtschaftlichen Kartoffeln, Weine, Käse und Früchte. Ebd., S. 98f. Ebd., S. 102. 17 Die agrarische Weltmarktposition Frankreichs beruht nicht auf dem Export großer Massen, sondern auf dem hoher Qualitäten. Die Probleme in der Landwirtschaft bestehen weiter. Von großer Bedeutung für die agrarische Entwicklung wurden die inneren Faktoren. Die wichtigste Ursache ist der Mangel an landwirtschaftlichen Arbeitskräften. Weiters ist die Rentabilität der landwirtschaftlichen Betriebe gering, und die französischen Kleinbauern sind nicht geneigt, Kapitalaufwendungen für die fehlende Arbeitskraft aufzuwenden. Die traditionell gebundene Landwirtschaft versucht eher das Vermögen zu erhalten als den Ertrag zu steigern. Althergebrachte Anbaumethoden werden behutsam beibehalten. Nur wo sich die Bodenbeschaffenheit für Gemüseund Obstanbau, sowie Blumenzucht eignet, entstanden kapitalintensive Betriebe, die große Erfolge erzielen konnten.25 3.4 Aufbau der Industrie nach dem Ersten Weltkrieg Die französischen Politiker legen seit dem Krieg besonderen Wert auf die Förderung der Industrie. Neben der Sicherung der erforderlichen Rohstoffquellen sollen die Eigenproduktion intensiviert und der Export gesteigert werden. Die Kohleeinfuhr wurde vermindert, die innerfranzösische Eisenproduktion und –verarbeitung, sowie die eigene Koksgewinnung gesteigert. Weiters wurde der Erdölbedarf durch Lieferungsverträge und Kapitalbeteiligungen im Ausland gesichert und die heimischen Wasserkräfte zur Energiegewinnung genutzt. All das enthielt das Programm der Wirtschaftspolitiker. Die Schifffahrt und die Luftschifffahrt sowie auch einzelne Industrien, vor allem die Eisenindustrie, bekamen Subventionen. Um die Industrialisierungsentwicklung anzuregen, wurden die Kartellgesetzgebung und das Aktienrecht neu geordnet und die Steuergesetzgebung reformiert.26 Nach der Zählung im Jahre 1921 arbeiteten 6.181.441 in der Industrie und im Handwerk, das waren rund 30 % aller Erwerbstätigen. Im Vergleich dazu, arbeiteten in Deutschland rd. 42 % in diesen Sparten. Bei den Betriebszählungen 1921 wurden 555.654 Betriebe des Bergbaus und der Verarbeitungsindustrien registriert, von denen jedoch 414.033 Firmen weniger als sechs Arbeiter und nur 282 Firmen mehr als hundert Arbeiter beschäftigten. Insgesamt wurden 35 Betriebe mit über 5 000 25 26 Ebd., S. 102f. Ebd., S. 226. 18 Arbeitnehmern gezählt, davon waren 15 im Bergbau und 10 in den verarbeitenden Industrien. Vor allem die eisenverarbeitenden Betriebe und die Textilindustrie waren vornehmlich mittlere Betriebe. Die in anderen Sparten Erwerbstätigen waren 1921 mit 5,45 Prozent auf das Verkehrswesen, 0,33 Prozent auf die Fischerei, 10,37 Prozent auf Handel, Bankgewerbe und Gastwirtschaften, 2,73 Prozent auf freie Berufe, 3,9 Prozent auf häusliche Dienste und 6,09 Prozent auf öffentliche Dienste verteilt.27 3.5 Die geographische Verteilung der Industrien Die Industrien wurden gerne in der Nähe der Standortslage ihrer Rohmaterialien oder wegen der Absatzchancen in großen Städten angesiedelt. Die Hauptindustriegebiete sind der Norden um Lille und Valenciennes, Lothringen, Paris und Lyon. Die Kohlelager im Pas-de-Calais und bei Valenciennes schufen die Basis für eine eisenschaffende und eisenverarbeitende Industrie. Im Norden, in den Zentren Lille, Roubaix und Tourcoing entstand eine große Textilindustrie. In Paris und seiner Umgebung sammelten sich die Metallindustrie, die Bekleidungs- und Parfumerieindustrie, die Nahrungsmittelherstellungsindustrie, die Möbelindustrie, die Industrie für chemische Erzeugnissen, Glas- und Bijouteriewaren, Instrumenten usw.. Hier in der Großstadt waren neben Fabriks- und Warenhaus- noch Atelier- und Heimarbeit gefragt. In der Normandie, einem Agrarland mit Viehzucht, gab es bedeutende Webereien in Rouen und Elbeuf. Weiters gab es in Le Havre und Cherbourg Schiffsbau, Eisenerzlager und Eisenindustrie und die traditionell verwurzelte Bonneterie und Dentellerie. In Lothringen war auf dem Minettevorkommen die Schwerindustrie im Becken von Briey und Longwy, bei Nanca und Diedenhofen angesiedelt. Im Elsass wuchs die alte Textilindustrie in Mülhausen weiter an. Die Kaligruben nördlich von Mülhausen waren besonders wichtig für die Wirtschaft Frankreichs und bei Pechelbronn war das einzige Petroleumvorkommen des Landes. Burgund hatte eine Schwerindustrie und Maschinenindustrie auf den Kohlelagern von Le Creusot. Lyon ist das Zentrum der Seidenindustrie, Saint-Ètienne der Bandweberei. In den Alpen 27 Ebd., S. 227. 19 entstanden durch die Ausnutzung der Wasserkraft Eisenwerke, chemische Fabriken und Papierindustrien. Die meisten Kohlevorkommen gab es in den Departements Pas-de-Calais und Nord, wo etwa zwei Drittel der Gesamterzeugung gefördert wurden, sowie bei SaintÈtienne und in Burgund. Der Kohlebedarf des Landes konnte jedoch nur 66 Prozent des Bedarfs decken. Durch den Ausbau des Bergbaus konnte die Fördermenge von 40,8 Millionen Tonnen im Jahr 1913 auf 52,4 Millionen Tonnen im Jahr 1928 erhöht werden. Die Ausbeutung war schwer, die Transportlage ungünstig und die Förderleistung des Arbeiters28 viel geringer als in den Konkurrenzländern. Hier zum Vergleich - die tägliche Arbeitsleistung eines Arbeiters im Kohlebergbau im Jahr 1927: in Frankreich 606 kg [1928: 650 kg], in England 1040 Kg, an der Ruhr 1132 kg. Durch technische Änderungen konnte in den folgenden Jahren eine bessere Arbeitsleistung erreicht werden. Um die ausländische Konkurrenz, die bessere Transportanlagen haben zu hemmen, wurde ein Kohlezoll gefordert. Der Kohleüberfluss in Europa steigerte die Absatzschwierigkeiten des französischen Kohlebergbaus und man versuchte diesen mit einer Verbesserung der Verwertungsmöglichkeiten der Kohle und ihrer Nebenprodukte zu verringern. Man wollte die Verkokung im eigenen Land vornehmen. Um den Kohleverbrauch zu steigern, schloss man an die Zechen Elektrizitätswerke an und erweiterte die Nutzung der chemischen Nebenprodukte aus dem Verkokungsprozess. Die in Straßburg ankommende Kohle wurde gleich vor Ort verkokst. Man wollte 75 % des Koksbedarfs im eigenen Land decken, bis dahin konnte man aber nur 55 % davon erzeugen. Die Kalivorkommen zwischen Mülhausen und den Vogesen erlaubten der Landwirtschaft eine große Steigerung des Kaliverbrauchs. In der Provence gibt es einige Bauxitvorkommen. Die Gewinnung stieg von 309.000 Tonnen im Jahr 1913 auf 597.000 Tonnen im Jahr 1926 an. Bauxit wird zur Aluminiumherstellung benötigt. In verschiedenen Gegenden kommen in geringen Mengen andere Mineralien wie Antimon, Blei und Zink vor.29 Das Eisenvorkommen war die Basis der Schwerindustrie zu Beginn der Industrialisierung. Das Minettegebiet in Lothringen stellte 95 Prozent der gesamten Erzförderung Frankreichs. Von 5,6 Millionen Tonnen im Jahr 1900 stieg die 28 29 Ebd., S. 228. Ebd., S. 229. 20 Förderung auf 35,598 Millionen Tonnen im Jahre 1925 und 49,328 Millionen Tonnen im Jahre1928 an. Auch die Normandie hatte Eisenerzvorkommen. Diese waren mit 45 Prozent Eisengehalt qualitativ sehr viel besser als die lothringische Minette. Die Förderung in der Normandie betrug 1928 zwei Millionen Tonnen, wovon etwa 500.000 Tonnen nach Deutschland exportiert wurden. 1928 wurden insgesamt 12,7 Millionen Tonnen nach der Belgisch-Luxemburgischen Zollunion und drei Millionen Tonnen nach Deutschland exportiert. Erzförderung im Land Es wurden also nur etwa zwei Drittel der verarbeitet. Die im Jahr 1928 beträchtliche Produktionssteigerung in der Eisenindustrie zeigte zugleich einen Zuwachs in der inländischen Nutzung des Erzes. In Lothringen wurden 75 Prozent der Gesamtproduktion von Roheisen, Stahl und Walzwerkzeugen hergestellt. Die restliche Eisenindustrie lag im Norden, auf den Kohlevorkommen zwischen Meubeuge und Lille, in der Normandie und Bretagne, bei Caen und Nantes, in Burgund bei Le Creusot. Während die innerfranzösischen Werke hauptsächlich den Binnenmarkt brauchten, exportierten die lothringischen nach der Belgisch-Luxemburgischen Union, nach Deutschland und Großbritannien.30 4 Entwicklung Frankreichs seit dem Zweiten Weltkrieg Frankreichs Geschichte nahm nach dem Zweiten Weltkrieg einen aufregenden Verlauf. Nach Beginn der IV. Republik erlebte das Land einen politischen Zerfall und daraufhin die Entstehung einer neuen, der V. Republik. Zusätzlich war Frankreich mehr als 15 Jahre lang in koloniale Kriege in Indochina und in Algerien verwickelt. Durch eine soziale Krise im Mai 1968 wurde das politische und gesellschaftliche System erschüttert. Auf der anderen Seite prägten Erneuerungs- und Modernisierungsversuche auf allen gesellschaftlichen Ebenen die Geschichte des Landes. Die Ergebnisse der Versuche waren unterschiedlich. • Wirtschaft und Gesellschaft durchliefen einen fortdauernden Wandlungsprozess; die Widerstände gegen die Veränderung waren teilweise beträchtlich. 30 Ebd., S. 230. 21 • Die Erneuerung auf dem politischen Gebiet erforderte einen zweiten Anlauf (1958), um nachwirkende Erfolge zu erzielen; denn der erste Erneuerungsversuch in der unmittelbaren Nachkriegszeit misslang schon nach wenigen Jahren. Im Folgenden wird das Geschehen der französischen Nachkriegsgeschichte aufgezeigt, deren Grundzüge von Erneuerung und Beständigkeit geprägt werden.31 4.1 Zusammenbruch und Erneuerung Die Menschenverluste Frankreichs während des Zweiten Weltkrieges trafen das Land schwer, da die Bevölkerung sich ohnehin sehr schwach vermehrte. Weiters war am Kriegsende die Wirtschaft völlig am Boden und das Institutionssystem der Dritten Republik hatte sich aufgelöst. Obwohl die Niederlage von 1940 das Selbstbewusstsein der Franzosen sehr erschütterte, war der Wille zur Erneuerung der französischen Wirtschaft, Gesellschaft und Politik groß. Unter General de Gaulle, der in den ersten Nachkriegsjahren die provisorische Regierung (1944/45) führte und dem Dreiparteienblock von Kommunisten, Christdemokraten und Sozialisten wurden die entscheidenden Impulse für einen erfolgreichen Neubeginn gesetzt. • Die Nationalisierungen der Jahre 1944 – 46 in der Industrie, im Energie-, Banken- und Versicherungssektor erleichterten den Konzentrationsprozess und erhöhten den Einfluss des Staates. Gelegentlich wurden sie durch staatliche Initiativen zum Vorreiter in der sozialen Entwicklung. • Die Planification, mit der im Januar 1946 begonnen wurde, spielte durch ihr Modernisierungskonzept eine wichtige Rolle bei der Erneuerung der wirtschaftlichen Strukturen. 31 Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Informationen zur politischen Bildung, Heft 186: Frankreich, Bonn 1980, S. 1. 22 • Die Sozialversicherung wurde eingeführt, die der Bevölkerung soziale Absicherung brachte. • Die Unternehmensausschüsse eröffneten im Februar 1945 den Arbeitern eine Kontrollmöglichkeit über die Unternehmen. Diese Maßnahmen waren entscheidende Voraussetzungen, um die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Nachkriegszeit neu zu gestalten. Diese ersten Ansätze blieben bis heute wichtig für einen Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft.32 4.2 Die Vierte Republik 1946 – 1958 4.2.1 Politische Instabilität und Krisen In der IV. Republik hatte die Erneuerung von Wirtschaft und Gesellschaft ungleichen Erfolg. In den sechziger Jahren erlebte die Bevölkerung einen ansehnlichen Aufschwung. Die Wirtschaft begann eine Umorientierung auf die industrielle Entwicklung, die bis in die Gegenwart reicht. Weiters öffnete sie sich zunehmend gegenüber dem Weltmarkt.33 4.3 Die Fünfte Republik (seit 1958) Die Fünfte Republik begann am 1. Juni 1958 mit der Wahl de Gaulles zum Ministerpräsidenten, der mit Sondervollmachten ausgestattet wurde, um den Militärputsch niederzuwerfen. Sie brachte eine Umkehr in der Nachkriegsentwicklung und einen zweiten Erneuerungsschub für Wirtschaft und Politik mit sich. Die Modernisierung Frankreichs wurde vorangetrieben. Nach der Gründung der EWG wurden die primären Ziele der Wirtschaftspolitik, der Gleichstand der französischen Industrie mit ihren europäischen Konkurrenten und ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit.34 32 Ebd., S. 2. Ebd. 34 Ebd., S. 4. 33 23 5 Wirtschaftsentwicklung Frankreichs seit dem Zweiten Weltkrieg 5.1 Staat und Wirtschaft Wie bereits erwähnt, wurde der wirtschaftliche Wiederaufbau des Landes nach 1944 vom Staat gelenkt. Dies ist in Frankreich schon fast traditionell. Schon in der Vorkriegszeit kam die Wirtschaft mit den Erfordernissen des modernen Zeitalters nicht zurecht. Aus dieser Zeit stammen zwei Grundsatzentscheidungen, die das französische Wirtschaftssystem noch immer prägen: die Einführung einer Wirtschaftsplanung (planification) und die Verstaatlichung eines Teils der Wirtschaft.35 5.2 Planification Mit Jean Monnet, dem Berater des ehemaligen Regierungschefs de Gaulle und späteren „Vater“ der europäischen Einigung, begann man 1946 mit der Planification. Monnet gelang es mit Hilfe dieser neuen Art von Wirtschaftsplanung die besonders schwierigen Aufgaben des wirtschaftlichen Neuaufbaus zu bewältigen. Im Jahr 1947 begann man mit dem ersten Vierjahresplan. In dem Plan wurden die primären Ziele der Wirtschaftspolitik für die kommenden Jahre bestimmt und die Finanzierung für die hierzu notwendigen Investitionen sichergestellt. In einem Plankommissariat, eine kleine Institution mit wenigen Mitarbeitern, die dem Premierminister zugeordnet sind, wird die Erstellung des Plans abgestimmt. Zusätzlich arbeiten auch fachlich spezialisierte Plankommissionen, denen Vertreter der Unternehmensverbände und Gewerkschaften, Experten und Hohe Beamte angehören, an dem Plan mit. Der Plan, der den Charakter eines Gesetzes hat, ist nicht verbindlich, sondern stellt einen Rahmenplan dar, dessen Ziele den Betrieben eine Orientierung geben sollen. Der Staat kann allerdings die Umsetzung der Planziele mit sanftem Druck fordern. Er hat die Möglichkeit die Unternehmen des staatlichen Sektors einzusetzen oder die Entscheidungen der privaten Unternehmen in seinem Sinne zu beeinflussen, zum 35 Ebd., S. 11. 24 Beispiel über die Vergabe von Subventionen, öffentlichen Aufträgen und Krediten an Unternehmen. Während die ersten Pläne wenige präzise Ziele zum Inhalt hatten, die sich insbesondere auf die Produktionssteigerung in den lebensnotwendigen Wirtschaftszweigen bezogen, sind die heutigen Pläne viel breiter gefächert. Sie beinhalten neben der Wirtschaftspolitik auch alle Bereiche der Sozial- und Gesellschaftspolitik.36 5.3 Die wirtschaftliche Entwicklung Ein Vergleich der wirtschaftlichen Nachkriegsentwicklung in Frankreich und Deutschlands zeigt anfangs ähnliche Entwicklungen. In beiden Ländern brachte der Wiederaufbau ein anhaltendes schnelles wirtschaftliches Wachstum. In 20 Jahren hatte sich die französische Wirtschaft mehr als verdreifacht. In Frankreich wie auch in Deutschland wurden zahlreiche traditionelle Firmen durch neue Unternehmen und Wirtschaftszweige verdrängt. In der Folge zählen beide Länder zu den reichen, modernen und hoch entwickelten Industriestaaten.37 Doch trotz dieser Parallelen waren die wirtschaftlichen Veränderungen in Frankreich weitaus größer, weil die Industrialisierung in Deutschland und in anderen europäischen Staaten schon vor dem Krieg viel weiter entwickelt war. In Frankreich hatte die Industrialisierung im 19. Jahrhundert beinahe einen Stillstand erlebt. Die Wirtschaft und die Gesellschaft setzten vor allem auf Sicherheit und suchten Schutz vor der Konkurrenz und der Veränderung. Über Jahrzehnte verzögerten sie damit die Modernisierung der französischen Wirtschaft. Kennzeichen dieser Entwicklung waren zum Beispiel: • Der geringe Bevölkerungsanstieg, welche das Wachstum des Binnenmarktes für die entstehende Konsumgüterindustrie wirtschaftliche Entwicklung hemmte. 36 37 Ebd. Ebd., S. 5. 25 und damit die gesamte • Das vorhandene Kapital wurde gerne in Bodenspekulationen, Staatsanleihen oder aber im Ausland angelegt, weniger jedoch für die Finanzierung der heimischen Industrialisierung verwendet. • Es wurde am Ideal der Kleinproduktion festgehalten. Länger als in anderen Ländern blieb der kleine Familienbetrieb die Basis der industriellen Produktion, was der Ausbreitung von modernen Großunternehmen und der wirtschaftlichen Konzentration hinderlich war. Frankreich war industriell gegenüber seinen europäischen Nachbarländern weit im Rückstand. Spätestens nach der militärischen Niederlage Frankreichs im Jahre 1940 war den Politikern klar, dass sich etwas ändern musste. So wurde nach dem Krieg die Modernisierung der Wirtschaft vorrangig in Angriff genommen. Es galt, aus einem noch stark landwirtschaftlich geprägten Land mit überwiegend traditionellen Produktions- und Verhaltensweisen eine moderne Industriegesellschaft zu machen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass der wirtschaftliche Strukturwandel nach dem Kriege für Frankreich wesentlich einschneidendere Veränderungen mit sich brachte und eine ungleich höhere Bedeutung hat als in der Bundesrepublik. Die nachgeholte und beschleunigte Industrialisierung mit ihren Leistungen, Gegensätzen, Problemen und Lücken stellt einen Schlüssel zum Verständnis des heutigen modernen Frankreich dar.38 6 Die Wirtschaftszweige 6.1 Landwirtschaft Gerade die Landwirtschaft ist ein gutes Beispiel um die extreme wirtschaftliche Veränderung Frankreichs seit dem Kriegsende aufzuzeigen. Zunächst setzte eine starke und bis heute andauernde Landflucht ein. Dabei Menschen die Landwirtschaft hinter sich. Innerhalb ließen fünf Millionen kurzer Zeit war der landwirtschaftliche Sektor nicht mehr der führende. Am Ende des Krieges waren noch über ein Drittel der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft tätig, während in den 38 Ebd., S. 6. 26 80er Jahren die Beschäftigungszahl in diesem Sektor unter einem Zehntel lag. Gleichzeitig begann eine umfangreiche Modernisierung in den landwirtschaftlichen Betrieben. Neben verbesserten Anbaumethoden wurden zur besseren wirtschaftlichen Nutzung, Gründstücke zusammengelegt (Flurbereinigung). Weiters wurden Betriebe vergrößert und letztendlich führte deren Ausstattung mit modernen Maschinen zu einer beträchtlichen Steigerung der Erträge. Vor dem Krieg gab es im ganzen 35.000 Traktoren; 1954 waren es schon 250.000, 1967 1,1 Mio. und 1973 waren es bereits 1,3 Millionen. Diese Entwicklung brachte eine gewaltige Steigerung der Produktion. Zwischen 1949 und 1974 stieg die Produktion auf mehr als das zweifache an. Der heimische Verbrauch stieg nicht im gleichen Umfang an und so entwickelte sich der Export in andere Länder immer stärker. Mussten 1958 noch viele Nahrungsmittel importiert werden, so ist Frankreich heute mit den Niederlanden hinter den USA der zweitgrößte landwirtschaftliche Exporteur der Welt. Die französische Landwirtschaft zeichnet sich durch eine große Vielfalt aus. Sie ist besonders begünstigt durch die geographische Lage, die Bodenbeschaffenheit und die Klimaverhältnisse. 39 Die Betriebe im Norden betreiben gemischte Landwirtschaft, d.h. Ackerbau und Viehzucht, mit hohen Produktionsergebnissen. In der Bretagne überwiegt ebenfalls die auf tierische Produkte ausgerichtete Landwirtschaft. Im Pariser Becken werden mit Hilfe von landwirtschaftlichen Arbeitern auf extrem großen Flächen Getreide und Mais angebaut. Im Longuedoc ist man spezialisiert auf Weinbau, wobei gleichermaßen sehr kleine und sehr große Betriebe Lohnarbeiter beschäftigen. Die großen Betriebe befinden sich vor allem im Pariser Becken, d.h. in der Pariser Region, in der Champagne-Ardennes und in der Picardie. Die durchschnittliche Größe dieser Höfe beträgt etwa 40 ha. Indessen sind die Betriebe im Süden – Longuedoc-Roussillon, Provence-Alpes-Côtes d’Azur – und im Elsass eher klein. Die Durchschnittsgröße dieser Höfe ist rund 10 ha und über die Hälfte dieser haben weniger als 5 ha. Das Durchschnittseinkommen je Arbeitskraft ist im „reichsten“ Departement Seine-et-Marne bei Paris zehnmal so hoch wie im „ärmsten“ Lozère.40 In keiner anderen sozialen Gruppe sind die Einkommen derart unterschiedlich wie in der Landwirtschaft. Die Entwicklung der französischen Landwirtschaft ist eng an den EG-Agrarmarkt und die damit verbundene gemeinsame Preispolitik gekoppelt. 39 40 Ebd. Ebd. 27 Frankreich engagiert sich in den 60er Jahren sehr für die Errichtung des gemeinsamen Agrarmarktes. Man erhofft sich für die riesigen Überschüsse in der Landwirtschaft sichere Absatzmärkte. 75 Prozent der Agrarprodukte werden in EGLänder exportiert. Zu den Exportschlagern zählen neben Weizen, Gerste, Körnermais auch Milchprodukte, Wein und andere Getränke. Insgesamt können die Erwartungen der Wirtschaftspolitiker aber noch nicht erfüllt werden. Viele Exportmöglichkeiten werden nur unvollkommen genutzt. Gründe dafür sind die teilweise noch immer ungenügende Modernisierung der Landwirtschaft, die mangelhafte Vermarktung der Produkte und letztlich eine fehlende leistungsfähige Nahrungsmittelindustrie.41 6.2 Industrie Viel mehr als die Landwirtschaft, hat die Industrie seit dem Krieg die französische Wirtschaft umgeformt. Die Wirtschaftsplanung sowie die intensive staatliche Industriepolitik seit den 60er Jahren machte die Industrie zum dynamischen Motor der gesamten Wirtschaft. Gleichzeitig begann eine umfassende Modernisierung der Industriestruktur: • Zu den führenden industriellen Investitionsgüterindustrien, wie Sektoren gehören Elektroindustrie, heute die Maschinenbau, Automobilindustrie u.a., in der Maschinen, Fabrikanlagen und andere wichtige Ausrüstungen für Betriebe hergestellt werden. • Die Familienbetriebe, deren Unternehmensführung unbeweglich und wenig auf die Eroberung neuer Märkte ausgerichtet war, wurden verdrängt. An ihre Stelle kamen Großunternehmen, deren Entstehung staatlich gefördert wurde und die heute das Bild der französischen Wirtschaft prägen.42 All diese Veränderungen tragen dazu bei, dass Frankreich heute hinter den USA, Japan und Deutschland, das viertgrößte Industrieland der westlichen Welt ist. Fast 41 42 Ebd., S. 6f. Ebd., S. 7. 28 nichts erinnert mehr an die traditionelle, rückständige, an der Landwirtschaft orientierte Wirtschaft. Es gibt bereits viele französische Unternehmen, die in Europa führend sind. Zu ihnen gehören in der Automobilindustrie Renault und PeugeotCitroen. Auch in der Flugzeugindustrie gibt es zwei führende Unternehmen. Dazu zählt neben dem Betrieb Dassault, der Militärflugzeuge herstellt, auch die staatliche SNIAS, die maßgeblich am Überschallflugzeug Concorde und am Großraumflugzeug Airbus beteiligt ist. Im Bereich der Raumfahrttechnik steht das europäische Satellitenprogramm „Ariane“ unter französischer Führung und in der Atomkraftindustrie ist die Firma Framatome einer der größten Hersteller von Kernreaktoren. Dass in allen Bereichen staatliche Unternehmen beteiligt sind, ist ein Hinweis auf die besondere Rolle des staatlichen Wirtschaftssektors für die industrielle Entwicklung des Landes. Auch wenn die schnelle Industrialisierung und Modernisierung der französischen Wirtschaft sehr erfolgreich ist, gibt es auch negative Seiten:43 • Der Wohlstand ist ungleich verteilt, worunter besonders die Arbeiter der Industrie unter der, im europäischen Vergleich, deutlichen Unterbezahlung, leiden. • Man kann der staatlichen Industriepolitik entgegen halten, dass sie Prestigeobjekte, wie z.B. die „Concorde“ in Milliardenhöhe subventioniert, während sie die für Bevölkerung und Wirtschaft wichtige Versorgung mit öffentlicher Infrastruktur (Telefon- und Verkehrsnetz, Schulen, Wohnungen usw.) vernachlässigt. • Die staatliche Konzentrationspolitik bedroht bzw. vernichtet viele Klein- und Mittelbetriebe. So wird der Modernisierungsprozess der französischen Industrie von vielen sozialen Konflikten begleitet. Es trifft besonders die Arbeiter, Bauern, Kleinhändler und Kleinunternehmer.44 43 44 Ebd. Ebd. 29 6.3 Der Dienstleistungsbereich Im tertiären Sektor findet in den westlichen Industrieländern gegen Ende des 20. Jahrhunderts über die Hälfte der Erwerbstätigen Arbeit. Auch in Frankreich wächst der Dienstleistungsbereich sehr stark an. Beschäftigte dieser Sektor 1973 etwa 50 % der Erwerbstätigen, so waren es im Jahre 1994 bereits 68 %, die etwa 70 % des Bruttoinlandprodukts erwirtschafteten. Anfänglich gab es nur wenige Bereiche, die in diesen tertiären Sektor fielen. Zwischenzeitlich umfasst dieser Bereich das Friseurhandwerk, die Telekommunikation, das Tourismusgewerbe, die Industrieconsulting, die Forschung und vieles mehr. Es gibt Dienstleistungen, die einen Markpreis erzielen, wie zum Beispiel das Bankwesen, und es gibt Dienstleistungen, die staatlich finanziert werden, zu dem die verschiedenen staatlichen Einrichtungen zählen. Die erste Gruppe wird unterteilt in einen handwerklichen und einen intellektuellen Bereich, wie etwa die Forschung, die Softwareentwicklung, das Beratungswesen usw.. Diese Unterscheidung ist für Untersuchungen des tertiären Bereichs einer entwickelten Industriegesellschaft äußerst wichtig. Der staatliche Sektor stieg von 1960 bis 1995 von 16,7 % auf 28 % an. Im Jahre 1995 fanden 28 % der Erwerbstätigen in diesem staatlichen Sektor Arbeit. Dies zeigt, dass der Staat als Arbeitgeber eine große Rolle spielt.45 In der zweiten Gruppe waren im Jahr 1995 rund 2,6 Millionen Menschen beschäftigt. Die Marktanteile des Groß- und Einzelhandels nahmen zwischen 1970 und 1994 stark zu. 45 Günther Haensch/Hans J. Tümmers (Hrsg.), Frankreich, S. 373f. 30 Die Entwicklung des tertiären Sektors von 1960 bis 1995 – Anteil der Beschäftigten in %: Jahr 1960 1974 1980 1987 1995 Dienstleistungen ohne Marktpreis 16,7 16,5 21,8 25,6 28,0 Andere Dienstleistungen 26,6 35,3 35,1 38,1 41,7 Dienstleistungen insgesamt 43,3 51,8 56,9 63,7 69,7 Quelle: Zusammengestellt aus: Capul/Meurs, Les grandes questions de l’Economie francaise, Paris 1988 und INSEE, Tableaux de l’economie Francaise, versch. Jahrgänge. Die kleinen Betriebe können mit den großen nicht mithalten. Der Strukturwandel stärkt die Super- und Hypermärkte, die meisten Tante-Emma-Läden können nicht überleben. Es gibt neben kleinen und mittleren Banken auch viele Großbetriebe, wie Crédit Agricole, Crédit Lyonnais usw., die zu den renommiertesten in Europa gehören. Weiters haben viele der größten Versicherungen, wie z.B. die Axa, Generali, usw. ihren Sitz in Frankreich. Im Telekommunikationsbereich gibt es in Frankreich im Jahr 1995 32,4 Millionen Telefonanschlüsse.46 Im Gegensatz zu den Transporten auf der Straße, die um die Hälfte zunehmen, gehen die Bahntransporte zurück. Beim Flugverkehr liegt Frankreich hinter den USA, Großbritannien, Japan und der Russischen Föderation auf Platz fünf. Die nationalen Ausgaben für Forschung und Entwicklung erreichten im Jahr 1994 eine Quote von 2,38 %.47 Wie bereits zu Beginn erwähnt, nahm die Beschäftigungszahl im tertiären Sektor seit 1970 immer mehr zu. Besonders in den Bereichen Finanzwesen, Telekommunikation und anderen Hochtechnologiebereichen finden die Erwerbstätigen Arbeitsplätze. Ein typisches Phänomen dieser Entwicklung sind die Technologieparks. Hier treffen Produktions-, Forschungs- und Entwicklungsunternehmen zusammen. So wurden mehrere Forschungszentren nach dem Vorbild des Silicon Valley geschaffen: „Sophia Antipolis“ bei Nizza im Jahre 1969, „Zirst de Melan“ bei Grenoble 1974 und „Nancy Brabois“ 1977. In Zirst de Melan sind etwa 10 000 Wissenschaftler tätig, die durch ihre Verbindung mit den regionalen Universitäten einen wichtigen Beitrag zum Technologie-Transfer leisten. In den folgenden Jahren wurden noch viele weitere 46 47 Ebd., S. 375ff. Ebd., S. 378. 31 Forschungszentren geschaffen. Die Veränderungen des tertiären Sektors wirken sich natürlich auf die Wirtschaftsgeographie Frankreichs aus. War das industrielle Frankreich früher eher östlich von Le Havre / Marseille angesiedelt, so gibt es heute viele High-Tech-Zentren in Paris, Rennes, Nantes, Bordeaux, Toulouse, Montpellier, Avignon, Marseille, Grenoble, Lyon und Annecy.48 7 Regionale Wirtschaftsstruktur Ein Hauptproblem, das eng mit der wirtschaftlichen Modernisierung des Landes der Nachkriegszeit verflochten ist, ist die extreme regionale Ungleichheit in der Wirtschaft. Es gibt ein traditionelles, doppeltes Wirtschaftsgefälle: einmal zwischen Paris und der Provinz, zum anderen zwischen dem industrialisierten Norden und Osten sowie dem landwirtschaftlich geprägten West-Südwestraum.49 7.1 Paris – Provinz Die Pariser Region ist ein gewaltiges wirtschaftliches Zentrum, Hauptsitz nahezu aller wichtigen Konzerne und Banken und erwirtschaftet ein Viertel des französischen Sozialproduktes. Es ist klar, dass der politische Zentralismus diese Neigung gefördert hat, da alle wichtigen Entscheidungen in Paris fallen. Die Konzentration auf den Pariser Raum wird für die französische Wirtschaft als negativ empfunden. In Paris gibt es dadurch schwierige Verkehrs- und Umweltprobleme, als auch Raum- und Wohnungsmangel. Die anderen Regionen werden durch die Attraktivität der Hauptstadt in ihrer wirtschaftlichen Entfaltung eingeschränkt. Seit den 60er Jahren versucht der Staat mehr oder weniger erfolglos eine Dezentralisierung des Pariser Raums zu fördern, indem er Industrieunternehmen in die Provinz verlagert. Meist profitieren die Regionen rund um die Hauptstadt.50 48 Ebd., S. 378f. Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Informationen zur politischen Bildung, S. 8. 50 Ebd. 49 32 7.2 Probleme des Südwestens Eine gedachte Linie, die Frankreich zwischen den Städten Caen (im Nordwesten) und Marseille (im Südosten), diagonal zerschneidet, symbolisiert ein Problem. Östlich dieser Linie liegt der größte Teil des industrialisierten Frankreich, westlich davon die landwirtschaftlich unterentwickelten Gebiete. Es ist zwar heute nicht mehr so extrem, doch existiert nach wie vor ein solches Wirtschaftsgefälle. Die größten Industrieregionen außer Paris liegen nördlich, östlich und südöstlich der Hauptstadt. Die Region Rhône-Alpes mit den Städten Lyon, Grenoble und Saint-Etienne ist ein mannigfaltiges industrielles Gebiet mit den Schwerpunkten Energiewirtschaft, Metallverarbeitung, Textil- und chemische Industrie. Diese Region zählt zu den Gebieten mit dem größten Wachstum seit dem Krieg und ist heute der zweitwichtigste Wirtschaftsraum nach Paris.51 Die Region Nord-Pas-de-Calais im Norden Frankreichs mit den Städten Lille, Roubaix und Tourcoing als Zentrum ist weitgehend von der Textil-, der Kohle- und Stahlindustrie sowie dem Maschinenbau geprägt. Ähnlich wie die Region Lorraine (Lothringen) im Osten mit den Schwerpunkten Kohlebergbau, Stahl- und Textilindustrie, leidet sie unter einem Übergewicht „traditioneller“ Industriezweige. Diese Industriezweige sind überall in Europa in schwere Krisen geraten. Es gehen jährlich viele Tausende von Arbeitsplätzen in der Kohle-, Stahl- und Textilindustrie verloren. Beide Regionen haben das Problem, ihre einseitige Wirtschaftsstruktur durch Ansiedlung anderer Industrieunternehmen zu verbessern und damit neue Arbeitsplätze zu schaffen. Leider gelingt dies nur teilweise.52 Der Westen und der Südwesten Frankreichs haben ganz andere Probleme. In dieser Gegend war kurz nach dem Krieg der Großteil der Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt. Der starke Rückgang der Landwirtschaft machte viele Arbeitskräfte arbeitslos. Da die Industrie in dieser Gegend schlecht entwickelt war, verließen viele, vor allem jüngere Menschen ihre Heimat, um in den Industriezonen im Norden und Osten eine neue Existenz zu finden. Das Ergebnis war eine immer schwächere Besiedlung und eine Überalterung der verbliebenen Bevölkerung. Die ohnehin schwache Infrastruktur – Verkehrswege, Bildungseinrichtungen - verfiel zusehends. Es ist wohl die schwierigste Aufgabe der Nachkriegszeit für die Wirtschaftspolitiker, 51 52 Ebd., S. 9. Ebd. 33 dieses Gebiet industriell zu besiedeln. Bis jetzt sind die Erfolge begrenzt. Durch die Fortschritte in der industriellen Entwicklung konnte in der Region Midi-Pyrénées die Industrie durch die Ansiedlung wichtiger Flugzeugbau- und Rüstungsbetriebe in Toulouse und durch die Erdgasproduktion bei Lacq einen Auftrieb erleben. Ebenso sind in den Regionen Pays de la Loire (mit Nantes und Saint-Nazaire) und Bretagne (mit Rennes) neue industrielle Zentren entstanden. Der wirtschaftliche Aufschwung erfasst aber längst nicht alle Gebiete und teilweise steht die Industrialisierung noch auf schwachen Füßen. So kann das Ost-West-Gefälle der französischen Wirtschaft nicht annähernd beseitigt werden. Ursache einer zum Teil noch hohen Arbeitslosigkeit ist nach wie vor die wirtschaftliche Unterentwicklung in manchen Regionen. Auch sind die Einkommen in den Regionen des Westens und Südwestens deutlich niedriger als im übrigen Frankreich.53 Der Beitrag der Wirtschaftszweige zur Wirtschaftsleistung (in %): Wirtschaftszweig Frankreich BR Deutschland 1960 1974 1960 1974 1. Landwirtschaft 11,2 6,4 5,3 3,9 2. Nahrungsmittelindustrie 7,7 6,2 7,2 6,7 3. Energie 6,5 7,3 5,8 5,9 4. Grundstoffindustrie 10,9 12,0 13,4 15,2 5. Investitionsgüterindustrie 11,3 15,1 16,1 19,9 6. Konsumgüterindustrie 8,3 7,5 9,2 8,3 7. Bauindustrie 10,0 11,3 9,8 8,9 8. Verkehr, Nachrichtenwesen 6,4 6,4 6,8 6,7 9. Dienstleistungen 15,3 15,2 10,6 9,8 10. Handel 12,3 12,6 15,8 14,7 Quelle: INSEE. Nicht berücksichtigt: Banken/Versicherungen; Staat und öffentliche Dienstleistungen. 53 Ebd. 34 8 Frankreichs Wirtschaft heute Nach wie vor ist die Agrarwirtschaft für die französische Volkswirtschaft von großer Bedeutung. Etwa 60 % der Fläche Frankreichs werden landwirtschaftlich genutzt und ca. 3 % der Erwerbstätigen finden in diesem Bereich Beschäftigung. Frankreich ist mit 20 % der Gesamtproduktion größter Produzent landwirtschaftlicher Erzeugnisse in Europa. Exportiert werden vor allem Wein, Fleisch und Fleischwaren, Getreide und Getreideerzeugnisse, Milch- und Molkereiprodukte, Zucker, Gemüse und Obst. Vor allem in der Weinerzeugung ist Frankreich weltweit sehr bedeutend. Die großen Weinbaugebiete sind Burgund, die Champagne, das Bordelais, das Tal der Loire, das Elsass und das Longuedoc. Frankreich deckt 22 % des Weinbedarfs weltweit, und 52 % des Bedarfs der Europäischen Union. Auch wenn Frankreich selbst über Bodenschätze, wie Uran, Bauxit, Blei, Zink, Barium und Wolfram verfügt, müssen Rohstoffe zusätzlich eingeführt werden. Der Steinkohle- und Eisenerzabbau geht seit 1970 immer mehr zurück, 2004 schloss die letzte Kohlenzeche. Auch die früher beachtliche Kalisalzförderung, besonders in Mülhausen, verliert heute an Bedeutung. Seit den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts setzte Frankreich energiepolitisch auf Kernenergie und deckt heute damit 80 % des Energiebedarfs des Landes. Damit ist Frankreich der weltgrößte Erzeuger von Kernkraft. Der wichtigste Bereich der Investitionsgüterindustrie ist die Automobilindustrie. Sie ist nach Deutschland der zweitgrößte Hersteller in Europa. Weiters ist die chemische, pharmazeutische und kosmetische Industrie beachtlich. Auch die Bekleidungsindustrie hat in Europa eine Führungsrolle. Ein neuer Industriezweig – die technologische Industrie - hat sich südlich der Loire, in Nizza, Bordeaux und Toulouse angesiedelt. Gegenüber der seit langem zurückgehenden Landwirtschaft, wächst der Dienstleistungssektor stark. Ewa 70 % der Erwerbstätigen werden in diesem Bereich beschäftigt. Mit über 75 Millionen Besuchern konnte Frankreich 2003 weltweit die meisten Touristen verbuchen. Besonders beliebt bei den Touristen sind Paris, die Mittelmeerküste, die Normandie, die Bretagne, das Loiretal, die Atlantikküste, Burgund und die Provence. 35 Frankreich verfügt trotz geringer Bevölkerungsdichte über ein sehr gutes Straßenund Eisenbahnnetz. Das Straßennetz ist über 980.000 km lang, davon sind 9.300 km gebührenpflichtige Autobahnen. Die Eisenbahnstrecken sind über 30.000 km lang. Seit 1981 verkehrt zwischen den großen Städten Frankreichs der Hochgeschwindigkeitszug TGV (Train à Grande Vitesse). Frankreich verfügt auch über ein dichtes Netz von Binnenwasserstraßen. Die Hauptflüsse Seine, Loire, Garonne und Rhône und ihre Nebenflüsse sind durch Kanäle miteinander verbunden, welche heute aber großteils veraltet sind. Von den rund 8.500 km Wasserwegen werden etwa 6.700 km genutzt, davon sind 3.800 km Kanäle. Am bedeutendsten sind die Seine zwischen Paris und Le Havre, die Rhône und der elsässische Teil der Rhein-Rhône-Verbindung. Marseille ist der drittgrößte europäische Seehafen. Frankreich ist bei den Fluggästen die Nummer Eins in Europa. Mit über 73 Millionen Passagieren nimmt Paris jährlich den ersten in Kontinentaleuropa, weltweit den sechsten Platz ein. Weitere bedeutende Flughäfen sind in Nizza, Marseille, Lyon und Toulouse.54 9 Zusammenfassung Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges hatte Frankreich noch ein großes Kolonialgebiet. Nach 1945 erhielten die Unabhängigkeitsbewegungen in den Kolonien rasch Bedeutung. Trotz vieler Reformversuche und Verfassungskonstruktionen konnte Frankreich viele koloniale Gebiete nicht im eigenen Einflussbereich halten. Frankreich wurde in langjährige Kolonialkriege verwickelt, wie etwa in Indochina. Eine Reihe überseeischer Territorien blieb aber freiwillig bei Frankreich, sie sind heute Teil der französischen Republik: vier Überseedepartements (Guadeloupe, Guyane, Martinique, Réunion), vier Überseeterritorien (Nouvelle-Calédonie, Polynésie francaise, Wallis-et-Futuna, Terres australes et antarctiques francaises). Die Nachkriegszeit war für Frankreich ein Zeitabschnitt vieler und rascher Veränderungen. An der Verfassungsentwicklung zeigt sich, dass es nicht ohne Spannungen und Krisen ablief. Die im Jahre 1946 gegründete IV. Republik konnte 54 Peter-Matthias Gaede (Hrsg.), GEO Themenlexikon in 20 Bänden, Band 1: Unsere Erde, S. 331ff. 36 keine stabilen Institutionen herausbilden. Nach einem Putschversuch wurde 1958 Charles de Gaulle als Regierungsoberhaupt gewählt. Diese V. Republik brachte u.a. einen Erneuerungsschub für die Wirtschaft. Die Modernisierung des Landes wurde vorangetrieben. Für die Wirtschaftspolitiker wurde der Gleichstand der französischen Industrie mit ihren europäischen Nachbarn vorrangiges Ziel. Frankreich stand nach 1945, anders als Deutschland, nicht nur vor dem Problem des wirtschaftlichen Wiederaufbaus, sondern es hatte auch ein Modernisierungsproblem. Die Industrialisierung im 19. Jahrhundert war ins Stocken geraten und hatte sich in vielen Bereichen nur zögernd bzw. nicht vollständig durchgesetzt. Für die Verantwortlichen in Politik, Verwaltung und Wirtschaft war klar, dass Frankreich sich aus dieser Rückständigkeit frei machen und seine Wirt- und Gesellschaft mit aller Kraft modernisieren musste. Man wollte innerhalb kurzer Zeit den Vorsprung der anderen aufholen und traditionelle, stark landwirtschaftlich geprägte Produktions- und Verhaltensweisen überwinden. Die Wirtschaftspolitiker waren sich einig, dass diese Modernisierung nicht allein dem Markt überlassen werden konnte. Daher wurde diesbezüglich dem Staat und der Verwaltung eine führende Rolle zugewiesen. Der Wiederaufbau und die Modernisierung wurden also durch staatliche Initiativen und Lenkungsmaßnahmen vorangetrieben. Ein Sinnbild für die staatliche Modernisierungspolitik war der verstaatlichte Wirtschaftssektor. Ein großer Teil der Unternehmen wurde unter öffentliche Kontrolle gestellt. Die zentralistisch gelenkte Modernisierung von oben hatte Erfolg. In nur drei Jahrzehnten gelang es, Frankreich aus einer traditionalistischen in eine moderne Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft zu verwandeln. Die Landwirtschaft war nach 1945 noch stärkster Sektor und hatte mehr Menschen als die Industrie beschäftigt. Doch durch den Strukturwechsel verlor sie relativ schnell ihre Führungsrolle. War nach dem Zweiten Weltkrieg noch jeder Dritte in der Agrarwirtschaft tätig, so ist es heute nur noch jeder Fünfundzwanzigste. Durch eine grundlegende Modernisierung der Anbaumethoden, der Ausstattung der Betriebe mit Maschinen, durch Flurbereinigungen und eine dementsprechend höhere Produktion je Beschäftigtem wurden nicht mehr so viele Arbeiter benötigt. Es wäre jedoch falsch, das Gewicht des Agrarwesens nur an ihrem relativ geringen Beitrag zum Sozialprodukt zu messen. Die französische Landwirtschaft ist sehr leistungsfähig. Sie bietet die Basis für die Nahrungsmittelindustrie, die die landwirtschaftlichen Produkte verarbeitet. Firmen wie Danone, Pernod-Ricard oder Nestlé-France prägen das Bild 37 einer erfolgreichen Branche, die gemeinsam mit der Landwirtschaft große Exportüberschüsse erzielt. Die Industrie war seit 1944 Zentrum der Modernisierungspolitik. Traditionelle Sektoren, etwa die Textil- und Bekleidungsindustrie oder die Lederverarbeitung, aber auch die Eisen- und Stahlindustrie, litten unter einer nachlassenden Nachfrage und wachsender Konkurrenz. In anderen Sektoren, wie dem Maschinenbau, elektronischen Geräten, aber teils auch Automobilen, waren es Rationalisierungen und technische Innovationen, die die Leistungsfähigkeit, also die Produktionsmenge je Beschäftigten stark erhöhten. Unabhängig davon nahm mit der Modernisierung die Bedeutung der Dienstleistungen, wie beispielsweise Forschung, Entwicklung, Werbung und Marketing für die industrielle Produktion zu. Heute zeigt sich die französische Industrie in vielen Bereichen als hoch leistungsfähig und weist eine Reihe weltweit führender Unternehmen auf. Die Bevölkerung Frankreichs ist seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges sehr rasch angewachsen. Zu diesem Bevölkerungswachstum kam es durch einen explosionsartigen Anstieg der Geburtenrate und die längere Lebenserwartung der Menschen. Dies beruht auf einer Abnahme der Sterblichkeitsrate in allen Altersgruppen, insbesondere auf dem starken Absinken der Kindersterblichkeit. Ein weiterer Grund für das Bevölkerungswachstum ist die große Anzahl der Einwanderer. Die französische Raumordnungspolitik ist bemüht, das Gefälle zwischen Paris und der „Provinz“ auszugleichen, jedoch mit begrenztem Erfolg. Im Pariser Großraum, der Region Île de France, leben heute etwa 20 % der Einwohner Frankreichs, doppelt so viel wie in der nächst großen Region Rhône-Alpes. Das Problem ist qualitativ. Der Großraum Paris zieht die strategischen, höchstqualifizierten Tätigkeiten in einem Maße an sich, die den übrigen Ballungsgebieten nur wenig Entfaltung lässt. Dennoch konnten die übrigen Regionen vom wirtschaftlichen Aufstieg nach 1944 profitieren. Die Provinz hat ihr Gesicht gründlich geändert – gefördert von der Politik, die Firmenansiedlungen in diesen Regionen vorantrieb und die auch großstädtische Ballungsräume wie Straßburg, Lille, Nantes, Bordeaux, Marseille oder Lyon als so genannte Ausgleichsmetropolen förderte. 38 10 Literaturliste Braudel, Ferdinand/Labrousse, Ernet (Hrsg.), Wirtschaft und Gesellschaft in Frankreich im Zeitalter der Industrialisierung. 1789 – 1880, Band 1, Frankfurt am Main 1986. Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Informationen zur politischen Bildung, Heft 186: Frankreich, Bonn 1980. Curtius, Ernst Robert/Bergsträsser, Arnold, Frankreich. Staat und Wirtschaft Frankreichs, zweiter Band, Stuttgart – Berlin 1931. Gaede, Peter-Matthias (Hrsg.), GEO Themenlexikon in 20 Bänden, Band 1: Unsere Erde. Länder, Völker, Kulturen. Afghanistan bis Irak, Mannheim 2006. Gründer, Stefan/Wirsching, Andreas, Frankreich: Daten, Fakten, Dokumente, Tübingen – Basel 2003. Haensch, Günther/Tümmers, Hans J. 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