Arbeitsmigration – ev. Forum Bochum 2016 Dietmar Petzina1 Arbeitsmigration – historische Befunde und neuere Erfahrungen Vortrag evangelisches Forum Westfalen, 7. Juli 2016 Vor wenigen Monaten war das Thema Flüchtlinge und Migration –ähnlich wie vor einem Jahr die Eurokrise- in aller Munde. Zwar ist es aktuell nicht verschwunden, doch wird angesichts der rückläufigen Zahlen weniger aufgeregt diskutiert, wird mehr über Lösungen für die bereits Angekommenen beraten – unbeschadet der schrillen Töne, die etwa die Debatte im Vorfeld des Brexit – Referendums bestimmten. Im Folgenden beschäftige ich mich nicht mit den Migrationsprozessen insgesamt, beschränke mich vielmehr auf das, was man als Arbeitsmigration bezeichnet. „Arbeitsmigration“ – so eine Definition der Bundeszentrale für Politische Bildung, „bezeichnet die Ein- und Auswanderung von Menschen, um in einem anderen als in ihrem Herkunftsland eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen“2. Erklärt werden kann diese Form der Migration durch das Konzept von Push and Pull, also dem Zusammenspiel von abstoßenden Faktoren im Herkunftsland und anziehenden im Aufnahmeland. Zu ersteren können Krieg und Verfolgung, gravierende Klimaveränderungen und Armut zählen – sie alle überlagerten sich in der Geschichte der europäischen Wanderungen; zu Anziehungsfaktoren im weiteren Sinn zählen die Hoffnungen auf Sicherheit und bessere Lebensbedingungen. Derartige Entscheidungen wurden und werden im Regelfall nicht isoliert vom Einzelnen getroffen, sondern, worauf der Bochumer Soziologe Ludger Pries verwiesen hat, „im Rahmen von Gruppen- und Netzwerkstrukturen“ 3, etwa innerhalb von Großfamilien, aber auch dank der Kontakte zu bereits emigrierten Verwandten und Freunden. Was dem Amerikaauswanderer im 19. Jahrhundert die briefliche Schilderung aus New York oder Chicago war, ist heute die Information über Smartphone! Wichtig ist mir der Hinweis, dass eine eindeutige Trennung zwischen Arbeitsmigranten und Flüchtlingen historisch und gegenwärtig schwierig ist – die Übergänge waren 1 Leicht veränderte Fassung eines Vortrags, der im Mai 2016 im Rahmen einer Ringvorlesung des Instituts für Deutschlandforschung der Ruhruniversität Bochum gehalten wurde. Der Vortragsstil wurde beibehalten und nicht alle Aussagen wurden im Einzelnen belegt. 2 Bundeszentrale für politische Bildung, Grundlagendossier Migration, 5.11.2007 3 Ludger Pries, Internationale Migration, Bielefeld 2001, S.14 f. 1 und sind fließend. Auch der politische Flüchtling oder der religiös Verfolgte mußte und wollte sich im Aufnahmeland eine neue wirtschaftliche Existenz aufzubauen. Und schließlich: Arbeitsmigration beruhte in den vergangenen Jahrhunderten nicht nur auf freiwilligen Entscheidungen, sondern auch auf politisch – militärischem Zwang – von der Sklavenwirtschaft in Übersee bis zur Zwangsarbeit im Europa des 20. Jahrhunderts. Ich werde deshalb diese düsterste Seite von erzwungener Migration in einem eigenen Teil ansprechen. Und unbeschadet der gesamteuropäischen Dimension der Migrationsbewegungen seit dem 19.Jahrhundert konzentriere ich mich auf den deutschen Fall, Neben pragmatischen Überlegungen ist diese Vorgehensweise auch von der Sache her zu rechtfertigen, da sich hier nicht nur die damit einhergehenden Veränderungsprozesse – von der Arbeitsemigration zur Arbeitsimmigration – verdeutlichen lassen, vielmehr das Deutsche Reich am Ende des 19. Jahrhunderts, ähnlich wie die Bundesrepublik seit den 1960er Jahren quantitativ zum wichtigsten europäischen Fall avancierte. Zudem lassen sich am deutschen Beispiel auch sehr unterschiedliche staatliche Politiken zur Steuerung von Arbeitsmigration erkennen – von der bloßen passiven Hinnahme von Fremden über die wirtschaftlich motivierte Zwangsarbeit in den beiden Weltkriegen bis zu den von vielerlei Lebenslügen gekennzeichneten Diskussionen seit den 1960er Jahren. Die Vorgehensweise orientiert sich am roten Faden der historischen Entwicklung. Dabei stelle ich vier Fragen: 1. Wie entwickelte sich die Migration im 19. Jahrhundert? Wie kam es zum Übergang vom Auswanderungsland zum „Arbeitseinfuhrland“? 2. Welche Kontinuitäten gab es im Einsatz ausländischer Arbeitskräfte in den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts? War Zwangsarbeit bereits 1914 vorgezeichnet? 3. Was waren die Hintergründe, Merkmale, Etappen und politischen Konzepte in der „Gastarbeiter“ zwischen 1955 und den 1990er Jahren? 4. Welche Weichenstellungen erfolgten seit 2000 in der Ausländerpolitik und was bedeuteten sie für die Arbeitsmigration? Und zum offenen Ende: 2 Welche Folgen für den Arbeitsmarkt könnte der Flüchtlingszuzug seit 2014 haben? I Damit komme ich zum ersten großen Thema, dem Übergang vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland an der Schwelle zum 20.Jahrhundert.4 Die damaligen Erfahrungen erleichtern es uns, mit historisch geschärften Augen auf die Migrationsprozesse hundert Jahre später zu blicken – nicht in der simplen Absicht, aus Geschichte zu lernen, wohl jedoch, die vergangenen fünfzig Jahre besser einordnen zu können. Das Reich entwickelte sich seit 1880 zu einem der bedeutendsten Industrieländer der Welt, hat nach der Jahrhundertwende auch das bis dahin führende Großbritannien überholt. Freilich blieb es im Selbstverständnis seiner politischen Eliten wie auch nach den geltenden rechtlichen Regelungen weiterhin ein Auswanderungsland, obgleich die Zahl der Arbeitsimmigranten bereits seit Mitte der 1890er Jahre jene der Auswanderer überschritt. Diskurse und Einstellungen- wir wissen das auch aus den Gastarbeiterdebatten der 1970er Jahre – nähern sich nur zeitverzögert den Realitäten an. Doch was waren die Migrationsrealitäten im 19. Jahrhundert, die für das kollektive Bewusstsein so bestimmend waren? Hierzu ein kurzer Rückblick. Zwischen den deutschen Territorien und den angrenzenden Ländern gab es bereits vor der Industrialisierung ein erhebliches Ausmaß an Arbeitsmigration – man denke an die aus Nordwestdeutschland stammenden Hollandgänger, die seit dem 18. Jahrhundert als Saisonarbeiter regelmäßig ins prosperierende Nachbarland zogen; oder an die lippischen Ziegler, die dank ihrer Spezialisierung die Ziegelherstellung und Verarbeitung im niederländischen Friesland und im Jütland monopolisierten; und schließlich ein drittes Beispiel: Die seit dem Mittelalter vertrauten Gesellenwanderungen, die auch noch bis Mitte des 19. Jahrhunderts zahlenmäßig bedeutend waren. Jochen Oltmer nennt für Wien eine Zahl, die – falls korrekt - heutige Erfahrungen mit Arbeitsmigration in den Schatten stellen würde: Bei einer Bevölkerung von 350. 000 seien im Vormärz jährlich 140 – 160 Tausend Handwerksgesellen in die Residenzstadt gekommen, die die in den Zunftbestimmungen festgelegte 4 Gute Überblicke zu den Wanderungen im 19. Jahrhundert bei Dirk Hoerder, Geschichte der deutschen Migration, München 2010; weiterhin Klaus Bade (Hg.), Deutsche im Ausland, Fremde in Deutschland, München 1992; Jochen Oltmer, Migration im 19. und 20. Jahrhundert, München 2013; Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerbeschäftigung in Deutschland 1880 bis 1980, Berlin – Bonn 1986. 3 mehrjährige Walz absolvierten, dabei auch den Wissenstransfer beförderten und zugleich den heimischen Arbeitsmarkt entlasteten. 5 Und 1851 schätzte ein französischer Zeitgenosse, Abbe´Cuny, dass seinerzeit die Zahl der Deutschen in Paris bei über 100.000 gelegen habe. „ Jene Deutschen“ so schreibt er, „ gehören fast sämtlich dem Handwerker- und Arbeiterstand an“.6 Der Münsteraner Historiker Ulrich Thamer versuchte, die Schätzungen zu den Wanderungszahlen zu bilanzieren – Zitat: „ Auch wenn man die große Fluktuation durch Arbeitswanderung einzubeziehen und damit Doppelzählungen von wandernden Gesellen zu vermeiden sucht, bleibt es bei dem erstaunlichen Tatbestand, daß in den zwei Jahrzehnten vor der Revolution von 1848 etwa eine bis anderthalb Millionen Deutsche ( Reisende, politische Flüchtlinge, Handwerker, Arbeiter) Europa durchwandert haben. Vor allem die Suche nach Arbeit und auskömmlicher Nahrung ... bestimmte ihre Wege ins europäische Ausland“7 Halten wir fest: Die deutschen Territorien waren bis Mitte des Jahrhunderts, vom Sonderfall Irland abgesehen, seinerzeit innerhalb Europas die größten Exporteure von Arbeitskräften, vor allem Richtung Frankreich und den Niederlanden. Das Migrationsgeschehen in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts war somit nicht wirklich neu, doch gab es zwei Besonderheiten: An die Stelle der innereuropäischen Wanderströme trat die Wanderung nach Übersee: zudem erreichte die Zahl der Arbeitsmigranten, die Deutschland verließen, eine neue Größenordnung. Das gelobte Land wurden die USA, die etwa 90% aller deutschen Auswanderer aufnahmen – ihre Gesamtzahl belief sich nach der amerikanischen Einwanderungsstatistik bis Ende des Jahrhunderts auf rund 4,7 Millionen. 8 Hierfür gab es vier Voraussetzungen: Die Verankerung des Rechts auf Auswanderung in den deutschen Staaten und deren Interesse, sich scheinbar überschüssiger Bevölkerung zu entledigen; die Bereitschaft der USA, Auswanderer willkommen zu heißen; die Professionalisierung der Auswanderungsorganisation durch einschlägige Agenten, u.a. die Entwicklung von Finanzierungsmodellen; die Verbesserung der Transporttechnik, sprich den Ausbau der hierfür bereitstehenden Schifffahrtskapazitäten; und schließlich der massenhafte Wunsch der Menschen, dem materiellen Elend im Deutschland der 5 Oltmer, S.16 Zitiert nach Wilfried Pabst, Subproletariat auf Zeit: Deutsche Gastarbeiter im Paris des 19.Jahrhunderts, in Klaus J. Bade ( Hg), Migration in Geschichte und Gegenwart, München 1992, S.263 7 Hans – Ulrich Thamer, Grenzgänger: Gesellen, Vaganten undfahrende Gewerbe, in: Klaus J. Bade (Hg.), Migration in Geschichte und Gegenwart, München 1992, S. 236 8 Handwörterbuch der Staatswissenschaften Bd. 1,, 2. Auflage, Jena 1898, Artikel Auswanderung, S.82 6 4 Frühindustrialisierung zu entfliehen – alles Faktoren also, die uns auch in der Gegenwart vertraut klingen. Auswanderung erfolgte zumeist im Familienverband; der sozialen Herkunft handelte es sich überwiegend um Kleinbauern, Handwerker und Kleingewerbetreibende, später auch – wenn auch zahlenmäßig überschaubar - um ländliche Unterschichten aus den preußischen Ostprovinzen. Eine Momentaufnahme aus dem Jahre 1887, als mehr als 100.000 Deutsche in die USA emigrierten, unterstreicht dies: Ein Viertel kam aus Industrie und Handel, ein Viertel zählte zur Kategorie Dienstboten, erstaunliche 35% wurden der Kategorie „freie Berufe“ zugeordnet – überwiegend Handwerker und Gesellen -, und nur 14% kamen aus der Landwirtschaft. 9Die zeitgenössische Debatte um „Leutenot“ auf den ostelbischen Gütern spiegelte nicht das Auswanderungsgeschehen wider, sondern die Landflucht in die neu entstehenden Industriereviere innerhalb des Reiches. Zur Zeit der großen Depression der 1880er Jahre erreichte die überseeische Massenauswanderung, die noch deutliche Züge eines Exports der Sozialen Frage trug, ihr Maximum, doch zeichnete sich dann in den 1890er Jahren, in der Phase der deutschen Hochindustrialisierung, ein deutlicher Rückgang ab. Das Reich blieb zwar auch weiterhin, wenn auch in geringerem Umfang, Auswanderungsland, wurde aber „ zugleich Arbeitseinfuhrland“ 10 Anders als in der Frühindustrialisierung wurden Arbeitskräfte zur Mangelware, womit zugleich die wichtigste Triebfeder für die Migration nach Übersee schwächer wurde. Der schnell wachsende Bedarf in Industrie und Bergbau konnte trotz des massenhaften Zuzugs aus den ländlichen Gebieten Deutschlands nicht mehr gedeckt werden, zugleich beförderte die Abwanderung aus den ländlichen Gebieten die Leutenot in den landwirtschaftlichen Betrieben Ostelbiens. Den Ausweg bildete trotz großer ideologischer Bedenken die Rekrutierung „billiger und williger“ Arbeitskräfte aus Rußland und der Donaumonarchie, in wachsendem Maße auch aus Italien. Zwischen 1890 und 1914 hat sich ihre Zahl auf etwa 1,2 Millionen verdreifacht. Sie leisteten einen bedeutenden Beitrag nicht nur als Erntehelfer, sie waren auch unentbehrlich im Bergbau, in der Schwerindustrie oder beim Kanalbau. Am stärksten vertreten waren Polen aus dem russischen Zentralpolen sowie Polen und Ruthenen aus Galizien. Sie arbeiteten vorrangig in der Landwirtschaft, eine Minderheit freilich auch im 9 Ebenda, S.86 Klaus J. Bade, „Billig und Willig“ – die ausländischen Wanderarbeiter im kaiserlichen Deutschland, in: Klaus J. Bade (Hg.), Migration in Geschichte und Gegenwart, München 1992, S. 311. Die folgenden Überlegungen orientieren sich an Bades Beitrag. 10 5 oberschlesischen Montanrevier, wo sie, anders als in den westlichen Provinzen, eine Arbeitserlaubnis erhielten, dabei auf die preußischen Polen trafen, die als deutsche Staatsbürger nicht diesen Restriktionen unterlagen. Was hier, angesichts des Arbeitskräftemangels und trotz der selbst von einem der Väter der modernen Sozialwissenschaft, von Max Weber beschworenen Furcht vor der „Polonisierung des Ostens“, 11zögerlich genehmigt wurde, blieb in den mittleren und westlichen Provinzen untersagt. Freilich änderte das nichts an dem ebenfalls ideologisch umkämpften Zuzug von Polen aus dem östlichen Preußen, doch gab es dagegen keine rechtliche Handhabe, da es preußische Staatsbürger waren. Das prominenteste Beispiel dieser innerpreußischen Wanderung war die Entstehung des Ruhrpolentums – geschätzt dürften 1914 etwa 350- 500.000 Polen und Masuren im deutschen Westen gearbeitet haben. Diese Unschärfe ergibt sich aus der Tatsache, dass sich die etwa 150.000 Masuren nicht eindeutig von den Polen im engeren Sinn abgrenzen ließen – ihrem Selbstverständnis nach waren sie nicht polnisch, sondern preußisch, unterschieden sich zudem in Sprache (altpolnisch) und Religion von den „eigentlichen“ Polen. So reizvoll es wäre, angesichts der Bedeutung dieser innerpreußischen Wanderung für das Ruhrgebiet näher darauf einzugehen, will ich es dabei bewenden lassen – die Prägekraft der Ruhrpolen für unsere Region ist Ihnen vermutlich bis hin zu den Namen im Telefonbuch und den Namen der Fußballer auf Schalke bestens vertraut. 12 Was aber vielleicht nicht alle wissen: Der 1894 gegründete „Verband der Polen in Deutschland“ hatte seinen Sitz in Bochum und bis heute ist die Stadt die heimliche Hauptstadt der Mitbürger mit polnischen Wurzeln. Drei Hinweise sind zu ergänzen, um keine falschen Analogien mit der Frage der Gastarbeiter nach dem zweiten Weltkrieg herzustellen. Zum einen: Es handelte sich, wie erwähnt, trotz allem Fremdseins und aller alltäglichen Diskriminierung um preußische Staatsbürger. Sie hatten damit eine relativ gesicherte Rechtsposition – bis hin zum Wahlrecht und zum Recht auf eigene Interessenvertretungen. Des weiteren: Die politische Repression gegenüber diesen inneren „Reichsfeinden“, weil nationalpolnisch orientiert, erwies sich letztlich als stumpfe Waffe – die Ruhrpolen entwickelten ein enges Netz von Vereinen, Gewerkschaften und politischen Vertretungen; und schließlich: Aus dem Abstand einer Generation gesehen, erwies sich die Integration der Polen als erstaunlich problemlos. Gerade jene Einrichtungen, die von der Obrigkeit 11 Ausführlich zu dieser Frage Max Weber, Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, Gesammelte Politische Schriften, hg. von Johannes Winckelmann, UTB Tachenbücher1491, Tübingen 1988, S.1-25 12 Siehe Christoph Kleßmann, Einwanderungsprobleme im Auswanderungsland – das Beispiel der „Ruhrpolen“, in: Klaus J.Bade, Migration, 1992, S.303 ff. 6 mißtrauisch beäugt wurden – beispielsweise Turn- Gebets- oder Sportvereine – wurden zu Katalysatoren der Integration. Ein Indikator war der Anstieg sogenannter Mischehen, aber auch die Eindeutschung von polnischen Namen bereits in der Weimarer Republik. Hierzu ein prominentes Beispiel: Eine der wichtigsten Minister in der Ära von Bundeskanzler Schmidt in den 1970er Jahren war der in Bochum geborene Hans Matthöfer. Sein Vater war der Arbeiter Lorenz Maciejewski, der sich – als Preuße fühlend – nach 1918 zur Namensänderung entschloss.13 Was wir aus all dem lernen können, ist eine einfache Botschaft: Integration setzt einen gesicherten rechtlichen Status voraus, aber auch die Bereitschaft des Migranten, diesen Status zu nutzen, sich einzubringen und am Aufbau einer neuen Gesellschaft mitzuwirken. Ohne diese Bedingungen gäbe es die heutige Ruhrgesellschaft nicht. Wie reagierte der Staat auf den schnellen Anstieg der ausländischen Arbeitskräfte und was ließe sich daraus lernen? Die seinerzeitige Praxis Preußens bestand aus einem Dreischritt: Kontrolle durch Legitimationszwang mit Hilfe von Legitimationskarten; Rückkehrzwang bei Saisonarbeitern; scharfe polizeiliche Überwachung derer, die blieben – etwa die mehr als 100.000 italienischen Arbeitsmigranten. Dabei stieß staatliches Handeln angesichts der innergesellschaftlichen Interessenkonflikte freilich in der Praxis an Grenzen. Das waren die wesentlichen Konfliktfelder: • Die landwirtschaftlichen Verbände sowie die Schwerindustrie setzten im Gegensatz zur staatlichen Begrenzungspolitik auf eine aktive Einwanderungspolitik. Die Debatten um Überfremdung, Polonisierung und Gefährdung des Deutschtums liefen angesichts der wirtschaftlichen Interessen in die Leere deutschnationaler Stammtische; • Die Konkurrenz um Arbeitskräfte verschärfte sich zwischen Preußen - Ost und Preußen - West im säkularen Wirtschaftsaufschwung vor dem Weltkrieg. Das Bündnis von Korn und Eisen , zwischen Industrie und Landwirtschaft, wurde brüchig; • Gewerkschaften und Sozialdemokratie befanden sich im Dilemma zwischen proletarischem Internationalismus und der Furcht vor Lohndrückerei und einem neuen Subproletariat. Angesichts einer Arbeitslosenquote von weniger als 3% zwischen 1900 und 1913 waren diese Ängste freilich kaum begründet. Eine Einbindung in die eigenen Gewerkschaften gelang wegen dieser Ängste nur in Ansätzen; 13 Werner Abelshauser, Nach dem Wirtschaftswunder. Der Gewerkschafter, Politiker und Unternehmer Hans Matthöfer, Bonn 2009, S.29 7 Als Fazit bleibt festzuhalten: Das Deutsche Reich war vor 1914 das größte europäische „Arbeitseinfuhrland“, ohne dass Staat und Eliten darauf eine tragfähige politische Antwort gefunden hätten. Noch ein letzter Hinweis: An der seinerzeitigen Diskussion um die Ausländer- speziell die Polenfrage wird zugleich der spezifisch deutsche Begriff der Nation deutlich, der bis zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes im Jahre 2000 von Jus Sanguinis geprägt wurde: Zugehörigkeit zur Nation hängt vom Blut, von der Abstammung ab, d.h. Nation wird nicht auf Kultur, sondern auf biologische Faktoren zurückgeführt. Diese Vorstellung beschränkte sich vor hundert Jahren nicht nur auf Deutschland, sondern galt für viele andere Länder. Kein anderes großes Industrieland hat jedoch über ein volles Jahrhundert hinweg dieses Prinzip zum Leitbild seiner Migrationspolitik erhoben, obgleich Deutschland wie kaum ein anderes europäisches Land vom Zustrom ausländischer Arbeitsmigranten abhängig war. Das Prinzip des Jus Sanguinis, Gesetz geworden 1870 und befestigt im Staatsbürgerschaftsrecht von 1913, erklärt zumindest in Teilen den deutschen Sonderweg der Migrationspolitik und die damit verbundenen Probleme bis zu Beginn de 21. Jahrhunderts. II Ich komme zur zweiten Frage, jener nach der politisch erzwungenen Arbeitsmigration, also zum Problem der Zwangsarbeit. Sie werden vielleicht fragen, weshalb diese Form der Arbeitskräfterekrutierung, die nichts mit dem marktwirtschaftlichen Ansatz von Push and Pull zu tun hat, im Kontext der Arbeitsmigration angesprochen wird. Der Grund ist einfach: Versteht man unter dem Pull - Faktor alle, auch die von Zwang begleiteten Maßnahmen zur Arbeitskräfterekrutierung, dann sind diese historischen Erfahrungen nicht auszublenden. dies umso mehr, als sie nicht nur in den Jahrhunderten der Sklavenwirtschaft in Übersee, sondern auch im Europa des 20. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle gespielt haben. Das wichtigste Beispiel war Zwangsarbeit im nationalsozialistischen Deutschland zwischen 1940 und 1945. Freilich hat das NS - Regime dieses System nicht erfunden, jedoch perfektioniert und brutalisiert- das Vorbild war die gewaltsame Arbeitsverpflichtung von Kriegsgefangenen während des Ersten Weltkriegs – übrigens nicht nur in Deutschland. Der Erste Weltkrieg war in vieler Hinsicht ein Experimentierfeld des militärisch gesteuerten 8 Arbeitseinsatzes, der massenhaften Mobilisierung von Ressourcen für militärische Zwecke sowie in der Neuorganisation der Arbeitsmärkte. Das nationalsozialistische Regime konnte in den dreißiger und frühen vierziger Jahren an diese Erfahrungen anknüpfen, ihre führenden Repräsentanten waren biographisch von den je spezifischen „Fronterlebnissen“ geprägt. Auch für unser Thema gilt – so die These von Ulrich Herbert14 -, dass der Erste Weltkrieg als „Erfahrungsfeld“ für den massenhaften Einsatz von Kriegsarbeitern und zivilen ausländischen Arbeitern in der deutschen Kriegswirtschaft zu sehen ist, ohne dass freilich die Kontinuitäten im politischen Handeln zwischen Ersten und Zweiten Weltkrieg angesichts der Einmaligkeit des nationalsozialistischen Terrors überbetont werden dürfen. Während des Ersten Weltkriegs lassen sich drei Kategorien von erzwungener „Arbeitsmigration“ unterscheiden: • der Arbeitseinsatz der Kriegsgefangenen –wie gesagt, nicht nur eine deutsche Praxis; • zivile, teilweise zwangsverpflichtete Arbeiter in der deutschen Kriegswirtschaft; • schließlich die im Reich bei Kriegsausbruch vorhandenen polnischen Saisonarbeiter in der Landwirtschaft. Im August 1916 befanden sich 1,6 Mio. Gefangene in deutschen Lagern, die überwiegend zu Tätigkeiten in der Landwirtschaft, im Bergbau der Industrie oder bei sogenannten gemeinnützigen Arbeiten eingesetzt wurden. Typologisch waren dabei zwei wesentliche Kriterien von Zwangsarbeit, wie sie auch im Zweiten Weltkrieg galten, erfüllt: a) Die Ausschaltung des Marktes, womit Entlohnungen künstlich niedrig gehalten werden konnten; b) ein umfängliches Sicherungssystem, um die zwangsweise rekrutierten Arbeitsmigranten unter Kontrolle zu halten. Vor allem in der zweiten Hälfte des Weltkrieges, nach Ausschöpfung des deutschen Arbeitskräftepotentials, versuchten die Militärbehörden durch bescheidene Anreize -Auszahlung eines Teils des Lohnes zur Verbesserung der Versorgungssituation in den Lagern – die Arbeitsleistung zu steigern. Insgesamt kommt Ulrich Herbert zu der Bewertung, ich zitiere: „Die Beschäftigung von Kriegsgefangenen und ausländischen Zivilarbeitern ... mehr 14 Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerbeschäftigung in Deutschland 1880 bis 1980, Bonn 1986; ders.: „Ausländereinsatz“ in der deutschen Kriegswirtschaft, 1939 -1945, in: Klaus J. Bade (Hg.) 1992, S.354 ff. 9 als zwei Millionen Arbeitskräfte ...war insofern von erheblicher Bedeutung und nahezu unverzichtbar.“15 Zivile „Zwangsarbeiter“ im engeren Sinne der NS - Zwangsrekrutierung hat es während des Ersten Weltkrieges nicht gegeben, doch gab es fließende Übergänge: Ausländische Arbeitskräfte, die bei Kriegsausbruch im Reich lebten, wurden in den Status von Zivilgefangenen überführt, bildeten eine billige Manövriermasse, bei der das Prinzip marktgerechter Entlohnung noch weniger als bei den Saisonarbeitern vor 1914 galt. Arbeitgeber bezahlten vielfach nur in Naturalien, militärische Befehlshaber ordneten die Einbehaltung eines erheblichen Teils des Barlohnes ein, Entlohnung erfolgte teilweise mit Gutscheinen, die nach dem Krieg eingelöst werden sollten. Zwangsweise Rekrutierung von Zivilarbeitern im besetzten Polen oder Belgien hat es im engeren Sinne nicht gegeben, jedoch verschwimmen auch hier die Grenzen zwischen Zwang und Freiwilligkeit bei der Unterzeichnung von Arbeitskontrakten. Dabei waren die Unterschiede zwischen dem Westen und dem besetzten Polen bemerkenswert. Während in Polen erheblicher Druck auf die Bevölkerung ausgeübt werden konnte – zumindest bis zur Proklamation eines selbständigen Polen, waren in Belgien für Zwangsmaßnahmen enge Grenzen gesetzt, vor allem mit Rücksicht auf die Öffentlichkeit im neutralen Ausland. Insgesamt gilt, dass Zivilarbeit, vom Sonderfall der polnischen Landarbeiter abgesehen, während des Ersten Weltkriegs eine eher bescheidene Rolle spielten – quantitativ bedeutend war der in allen kriegsführenden Ländern praktizierte Einsatz von Kriegsgefangenen vor allem in der Landwirtschaft. Trotz der angesprochenen Kontinuitäten darf indes der historische Sonderfall von Zwangsarbeit nach 1939 nicht relativiert werden – sowohl bezüglich der schieren Zahlen als auch und vor allem wegen des früher unbekannten Terrors bei der Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte. Ihre Zahl betrug im Herbst 1944 7,6 Mio., davon 1,9 Mio. Kriegsgefangene und 5,7 Mio. zivile Arbeitskräfte, darunter 1,7 Mio. Polen, 2,8 Mio. sowjetische Zwangsarbeiter, 1,3 Mio. Franzosen, 600.000 Italiener und 250.000 Belgier.(Tabellen 1-4) Die Hälfte der polnischen und sowjetischen Zwangsarbeiter waren Frauen, ihr Durchschnittsalter lag bei etwa 20 Jahren. Zumindest quantitativ hat das Regime damit den Rückgang des deutschen Arbeitskräftepotentials von 39,1 Mio. 1939 auf 28,4 Mio. 1944 beinahe ausgleichen können, ohne gleichzeitig den Anteil deutscher Frauen wesentlich erhöhen zu müssen. Anders als im ersten 15 Ulrich Herbert, 1986, S.326 10 Weltkrieg, wo es zu einem beträchtlichen Zuwachs weiblicher Erwerbstätigkeit kam, überschritt die Zahl 1944 (14,9 Mio.) den Stand vom Mai 1939 (14,6 Mio.) nur geringfügig, während die Zahl männlicher deutscher Arbeitskräfte von 24,5 Mio. auf 13,5 Mio. auf 55 % des Ausgangswertes sank. Die dahinter stehende Logik war einfach und hatte mit den Erfahrungen von 1914/18 zu tun: Es sollte alles vermieden werden, was die Stabilität der Heimatfront gefährden konnte – deshalb keine signifikante Erhöhung des Einsatzes deutscher Frauen, ebenso die relative Stabilisierung des Lebensstandards zulasten des Auslands. Beides konnte bis 1944 erreicht werden!16 Die wirtschaftliche Bedeutung des Arbeitseinsatzes von Ausländern lässt sich exemplarisch an wenigen Daten erkennen: Fast die Hälfte aller in der deutschen Landwirtschaft Beschäftigten waren Ausländer, im Metall-, Chemie-, Bau- und Bergbau-Bereich etwa ein Drittel, im Bereich der Rüstungsfertigung bis zur Hälfte. Die Landwirtschaft wäre schon Ende 1940 ohne die etwa 2 Mio. beschäftigten ausländischen Arbeiter nicht mehr in der Lage gewesen, die Lebensmittelproduktion auf dem geforderten Niveau zu halten. Die gesamte Kriegswirtschaft war spätestens seit Herbst 1941 zwingend auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen, wenn das Potential der deutschen Frauen aus ideologischen Gründen nicht ausgeschöpft wurde. Um es zu unterstreichen: Diese Politik des Regimes bewusst zu Lasten ausländischer Arbeitskräfte und durch Ausbeutung der Ressourcen der besetzten Gebiete war Teil einer Pazifizierungsstrategie, die wesentlich vom Dolchstoß-Trauma des Ersten Weltkriegs geprägt war. An dieser Stelle kann ich nicht im Einzelnen über die soziale Lage und das menschliche Elend sprechen, diese wäre ein eigenes Thema. Zwischenzeitlich liegt aber dank einer Vielzahl regionaler, lokaler und betrieblicher Studien ein abgerundetes Bild vor, das einige Schlussfolgerungen erlaubt: a) Praktisch jeder Deutsche hatte während des Krieges direkt oder indirekt Kontakt mit ausländischen Arbeitskräften, hier vornehmlich mit sogenannten Ostarbeitern; die Bedeutung dieser Erfahrung für das kollektive Unterbewusstsein der Deutschen scheint mir bis heute nicht hinreichend geklärt zu sein. Was bedeutete für den deutschen Arbeiter oder die deutsche Arbeiterin innerhalb eines Betriebes die Erfahrung, dass 16 Dietmar Petzina, Soziale Lage der deutschen Arbeiter und Probleme des Arbeitseinsatzes während des zweiten Weltkriegs, in: Waclaw Dlugoborski (Hg.), Zweiter Weltkrieg und sozialer Wandel, Göttingen 1981, S.65 - 86 11 ausländische Arbeitskräfte sozial, psychisch und materiell nachhaltig diskriminiert wurden? Was bedeutete es für die Wahrnehmung der Gastarbeiter zehn Jahre später? b) Innerhalb der erzwungenen Arbeitsmigration gab es erhebliche Differenzierungen: Vereinfacht: Ostarbeiter – Polen, Russen, Ukrainer – waren die Opfer besonders ausgeprägter Repression, während Arbeitskräfte aus dem Westen und Norden Europas – Dänen, Niederländer oder Franzosen – nicht nur wegen ihrer im Regelfall höheren beruflichen Qualifikation zumindest materiell besser versorgt wurden, freilich systematisch gegenüber deutschen Arbeitskräften diskriminiert blieben. c) Die wirtschaftlichen Folgen seien noch einmal betont: Der erzwungene Arbeitseinsatz war die Grundlage des Überlebens des deutschen Kriegswirtschaftssystems bis Ende 1944. Ohne diese Massenmobilisierung wäre das System spätestens 1943 am Ende gewesen, zumal sich mit 1942 die kriegsstrategische Wende von der Blitzkriegsphase hin zum Krieg „in die Tiefe“ stattfand. d) Bilanzierend und einordnend bleibt festzuhalten: Nationalsozialistischer Arbeitseinsatz war die terroristische Variante erzwungener Arbeitsmigration, für die es welthistorisch nur die Parallele der Sklavenwirtschaft gegeben hat. Institutionelle Ansätze und gleichsam experimenthafte Vorerfahrungen wurden im Ersten Weltkrieg gesammelt, die in vielfacher Hinsicht die Fremdarbeiterpolitik des NS-Regimes vorgezeichnet haben. III Ich komme zur dritten Frage: Den Ursachen, Merkmalen und Folgen der Arbeitsmigration zwischen 1955 und den 1990er Jahre. Dabei lassen sich zwei deutlich unterscheidbare Etappen erkennen: Die „Gastarbeiterperiode“17 bis 1973 einerseits und die dann folgenden etwa fünfundzwanzig Jahre andererseits; die zweite Periode bringt Bade auf die griffige Formel: <Vom „Anwerbestopp“ zur Einwanderungssituation>.18 Vorweg: Arbeitsmigration war nach dem Zweiten Weltkrieg keine deutsche Besonderheit, sondern in unterschiedlichem Ausmaß eine gesellschaftliche und ökonomische Grunderfahrung vieler westeuropäischer Länder, sei es, dass sie als sogenannte Abgabeländer ihr 17 18 Bade 1992, S.393 Ebenda, S. 396 12 aktives Arbeitskräftepotential verminderten, sei es, dass sie als Aufnahmeländer wie etwa Großbritannien, Frankreich, die Benelux-Staaten, Skandinavien oder die Bundesrepublik, Engpässe am Arbeitsmarkt durch Import von Arbeitskräften zu korrigieren versuchten. Der wirtschaftliche Hintergrund dieses Prozesses war der rd. 25 Jahre währende Rekonstruktions- und Innovationszyklus, der den westeuropäischen Gesellschaften innerhalb eines Menschenalters bis dahin nicht gekannten Wohlstand bescherte. Der westliche Teil Deutschlands profitierte wie kaum ein anderes Land Europas zwischen 1950 und dem Beginn der 70er Jahre von diesem goldenen Zeitalter, was sich anhand weniger Daten verdeutlichen lässt. 1950 betrug das Sozialprodukt, gemessen an Preisen von 1962, 144 Milliarden DM, 1960 328 Milliarden, so dass ein durchschnittliches Wachstum von real mehr als 5% auch die Einkommen der Bevölkerung innerhalb eines Jahrzehnts verdoppelte. Und trotz des Zustroms von 10 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße bzw. bis 1961 aus der DDR gelang es unter dem Vorzeichen von sozialer Marktwirtschaft und europäischer Wirtschaftsintegration in erstaunlich kurzer Zeit, den großen Überhang an arbeitswilligen Menschen abzubauen. Zwischen 1950 und 1960 stieg das Angebot deutscher Arbeitskräfte um drei Mio., von 17,4 auf 20,4 Mio. die Nachfrage an Arbeitskräften im selben Zeitraum von 15,7 auf 20,9 Mio. Anders gesagt: Ende der 50er Jahre erfreute sich die bundesdeutsche Gesellschaft eines historischen Tiefstands der Arbeitslosigkeit von etwa 1 %, weiteres wirtschaftliches Wachstum stieß an die Grenzen des vorhandenen Arbeitskräftepotentials. Die sechziger Jahre wurden damit, sieht man von bescheidenen Vorläufern seit Mitte der 50er Jahre einmal ab, zum Jahrzehnt der Arbeitsimmigration, obgleich noch zu Beginn der fünfziger Jahre bei Fachleuten die Einschätzung vorherrschte, dass Deutschland ein strukturelles Auswanderungsland werden würde. Zwischen 1960 und 1973 stieg die Zahl der Arbeitsmigranten aus dem Ausland spektakulär auf das Neunfache, von 280.000 auf 2,6 Millionen, an. Wie wurde dieser Prozess gesteuert? 19 Bereits um 1955 verständigten sich Bundesregierung und Wirtschaftsverbände auf eine staatlich kontrollierte, vertraglich abgesicherte Anwerbestrategie. Konkretisiert wurde sie erstmals 1955 in einem zwischenstaatlichen Anwerbeabkommen mit Italien, es folgten 19 Guter Überblick in: Karl – Heinz Meier – Braun, Reinhold Weber (Hg.), Migration und Integration in Deutschland. Begriffe, Fakten, Kontroversen, bpb Schriftenreihe, Bonn 2014 13 1960 Spanien und Griechenland, 1961 die Türkei, 1964 Portugal, 1968 Jugoslawien. Ebenso kam es zu Vereinbarungen mit Marokko und Tunesien. Den Kern dieser Abkommen bildete jeweils drei Punkte: Zahlenmäßige Kontingente, Procedere der Auswahl vor Ort, Festlegung des Rotationsprinzips, d.h., Aufenthaltsbefristung. Übrigens gab es dabei nicht nur das Interesse der deutschen Seite, die seit dem Mauerbau immer größeren Lücken am Arbeitsmarkt zu schließen, sondern umgekehrt das Interesse der Abgabeländer an Entlastung, Hoffnung auf Deviseneinnahmen und Qualifizierung der Migranten in deutschen Unternehmen – von letzteren ging häufig die Initiative aus, selbst von Ländern wie Thailand, Sudan oder Bolivien gab es einschlägige Anfragen. Was dieser Transfer von Menschen in praxi bedeutete, wird an den nüchternen Zahlen deutlich: Zwischen 1955 und dem Anwerbestopp 1973 kamen 14 Millionen Migranten in die Bundesrepublik, elf Millionen verließen das Land, somit gab es einen Saldo von drei Millionen zusätzlicher Bürger. Die alte Bundesrepublik wurde damit zum bedeutendsten westeuropäischen Einwanderungsland, lebte aber zugleich mit der Lebenslüge, ein Nichteinwanderungsland zu sein. Erwartet wurde von Seiten der Politik, aber auch der breiten Bevölkerung, ausländische Arbeiter würden nach kurzer Zeit zurückkehren, doch ist zu ergänzen, dass auch viele der Migranten der ersten Generation mit dieser „Rückkehrillusion“ lebten. Tatsächlich scheiterte das Rotationsprinzip in der Praxis am an vielerlei: an den Unternehmen, die auf eingearbeitete Mitarbeiter nicht verzichten wollten; an der Eingewöhnung der Migranten in die neue Umwelt sowie dem beginnenden Familiennachzug; an fehlenden Alternativen im Herkunftsland – vor allem im Falle der Türkei. Der Anwerbestopp von 1973 – übrigens eine panikartige Reaktion auf die eher bescheidene Wirtschaftskrise – hat daran wenig geändert – im Gegenteil: Zwar sank die Zahl der ausländischen Erwerbstätigen von 2,6 Mill. 1973 auf 1,9 Mill. 1989, gleichzeitig stieg jedoch dank des Familiennachzugs die Zahl der Ausländer von 3,97 Mill. auf 4,9 Mill. – Bade spricht deshalb vom Bumerang des Anwerbestopps bezüglich der Arbeitsmarkt- und Ausländerpolitik. 20 Dabei hatte es an Einsichten und zeitgenössischen Konzepten nicht gefehlt. Der wichtigste Beleg hierfür ist das heute weitgehend vergessene 60 – seitige Memorandum des ersten Ausländerbeauftragten der Bundesregierung vom 20 Bade 1992, S.396 14 September 1979, des langjährigen NRW – Ministerpräsidenten Heinz Kühn. 21 Eher beiläufig wurde dreißig Jahre später von der Bundeszentrale für politische Bildung daran erinnert22, obgleich es inhaltlich auch heute noch von geradezu atemberaubender Modernität und Aktualität ist. Erstmalig wurde eine konsequente Integrationsstrategie aufgezeigt und eingefordert – von der Bildungspolitik über die unbeschränkte Ausbildungs- und Arbeitserlaubnis für ausländische Jugendliche, eine offensive Einbürgerungspolitik bis hin zum kommunalen Wahlrecht für Ausländer. Sätze wie diese: „ Es muß anerkannt werden, daß hier eine nicht mehr umkehrbare Entwicklung eingetreten ist und die soziale Verantwortung gegenüber den heute ... in Deutschland lebenden und einstmals in der in der Mehrzahl gezielt ´angeworbenen` Menschen und ihren Kindern nicht eine Variable der jeweiligen Arbeitsmarktlage sein kann“, oder: „Undifferenzierte Konzeptionen einer Integration auf Zeit sind in sich widersprüchlich und unrealistisch und werden von den tatsächlichen Gegebenheiten permanent augenfällig wiederlegt“23 stellten die gesamte ausländerpolitische Praxis jener Jahre in Frage. Es verwundert deshalb nicht, dass die Stoßrichtung des Memorandums um1980 ins Leere lief. Weder die damalige Bundesregierung unter Helmut Schmidt noch die folgenden Kohl – Regierungen hatten ein Interesse, das in der Bevölkerung unbeliebte Thema lösungsorientiert aufzugreifen. Das Memorandum war seiner Zeit zwanzig Jahre voraus – für erfolgreiche Integrationspolitik verlorene Jahre! Die bundesdeutsche Gesellschaft war seinerzeit noch nicht in der Lage, sich von der langgehegten Illusion zu verabschieden, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei. Zwar gab es 1983 mit der Bund – Länderkommission „Ausländerpolitik“ einen neuerlichen Anlauf, die Probleme zu analysieren und Schlussfolgerungen zu ziehen, doch blieben diese in den vorgezeichneten Bahnen, die dem Credo des Nichteinwanderungslandes folgten. Dieses Credo lautete: Begrenzung des weiteren Zuzugs; Förderung der Rückkehr der Arbeitsmigranten; seit 1982 aber auch: Integration jener, die bereits lange Zeit in der Bundesrepublik lebten. Doch blieben die Integrationsmaßnahmen halbherzig, zumal sie nicht den bereits von Kühn aufgezeigten Widerspruch auflösen konnten, jenen zwischen der Forcierung der Rückkehr einerseits und der Integration andererseits. An diesen Widersprüchen sollte sich auch in den folgenden Jahren bis etwa 2000 wenig ändern. 21 Heinz Kühn, Stand und Entwicklung der Integration ausländischer Arbeitnehmer und ihrer Familien in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1979 22 Jan Motte und Rainer Ohliger, Rückblick: 30 Jahre Kühn – Memorandum, www.bpb.de/migration/ /57143/ rueckblick-30-jahre kuehnmemorandum 23 Kühn Memorandum, S.2f. 15 Doch was wissen wir eigentlich über die wirtschaftliche Bedeutung der Arbeitsmigranten bis in die 1990er Jahre? Stimmt das Klischee vom gering qualifizierten anatolischen oder süditalienischen Gastarbeiter, der ohne Schulbildung nach Deutschland kam? Wo war der typische Arbeitsmigrant beschäftigt? Und lag die verbreitete politische Meinung richtig, Gastarbeiter hätten ausschließlich jene Arbeitsplätze besetzt, die Deutsche nicht akzeptierten? Hierzu wenige Hinweise, die sich auf zeitgenössische Untersuchungen des Instituts für Arbeits-und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit stützen.24 Die ausländische Wohnbevölkerung hatte sich zwischen 1961 und 1995 mehr als verzehnfacht – von 686.000 auf 7,2 Mill. , die Zahl der ausländischen Arbeitnehmer von 550.000 auf 2, 1 Mill. etwa vervierfacht – was 9, 1% der Beschäftigten entsprach. Das Auseinandertriften beider Größen war die Folge des Familiennachzugs, während die Zahl der Beschäftigten nach 1973 auf hohem Niveau stagnierte. Das Gefälle in den Bildungsabschlüssen zwischen einheimischer Bevölkerung und Zuwanderern war zwar gegeben, doch nicht so dramatisch, wie es das Vorurteil gegenüber anatolischen Zuwanderern vermuten lässt: Praktisch alle Türken verfügten zumindest über einen ersten Schulabschluss – übrigens deutlich mehr als die zuwandernden Jugoslawen -, und immerhin 22% besaßen Abschlüsse, die der mittleren Reife oder dem Abitur entsprachen – bei Deutschen waren es 34 %. Problematisch war freilich selbst bei ausländischen Männern die sinkende Erwerbsquote -1976 betrug sie 64%, 1993 53%. Zu erklären ist dieser Trend aus dem Wegfall industrieller Arbeitsplätze, die vielfach – etwa in der Schwerindustrie - von Ausländern besetzt gewesen waren. Spiegelbildlich stieg die Arbeitslosigkeit dramatisch an: Von praktisch Null um 1970 auf eine halbe Million um 1995, und gravierender noch: Seit den 1980er Jahren war die Arbeitslosenquote jeweils signifikant höher als bei den deutschen Arbeitnehmern. Erklärbar war dies durch den beruflichen Status: Vier von fünf Türken arbeiteten zu Beginn der 1980er Jahre als An- oder Ungelernte. Doch gab es hier bis 1994 auch positive Trends: Dieser Anteil war deutlich rückläufig, zugleich stieg der Anteil der Facharbeiter- und Angestelltenpositionen auf ein Drittel, und nicht zu vergessen: Der Anteil der Selbständigen stieg bei Türken von gerade 1% in den 1980er Jahren auf 8% in den 90er Jahren, näherte sich damit dem Wert in der deutschen Gesellschaft an. 24 Beispielhaft die Untersuchung von Heinz Fassmann, Rainer Münz, Wolfgang Seifert, Die Arbeitsmarktposition ausländischer Arbeitskräfte in Deutschland (West) und Österreich, Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 30. Jg. /1997 16 Vermutlich war das zum Teil die Reaktion auf drohende Arbeitslosigkeit, deutet jedoch auch auf beachtliche Risikobereitschaft hin. Der große Strukturwandel der deutschen Wirtschaft, der nicht zuletzt das Ruhrgebiet prägte, hat auch bei den ausländischen Arbeitsmigranten der ersten und zweiten Generation die beruflichen Einsatzfelder grundlegend verändert. Bis 1980 gab es am deutschen Arbeitsmarkt eine stabile ethnische Unterschichtung – vereinfacht: Der typische Ausländer fand sich in einer unoder angelernten Position. Seither beginnt sich diese Rollenverteilung tendenziell aufzulösen, so dass bereits in der großen Untersuchung des IAB zur Lage der Arbeitsmigranten im Jahre 1994, denen ich die genannten Daten entnommen habe, einige vorsichtig optimistische Sätze zu finden sind: „ (Die) ethnische Unterschichtung des Arbeitsmarktes in Deutschland durch Zuwanderer aus den Mittelmeerländern und deren Kinder (beginnt) sich allmählich aufzulösen..“ Und durchaus ambivalent: „Auch in Westdeutschland können die hier untersuchten Zuwanderergruppen nicht als optimal integriert gelten...Fortschritte zeigen sich am ehesten bei der der beruflichen Integration.“ 25 Angesichts der großen Defizite bei der Integrationspolitik der 1980er und 1990er Jahre war dies immerhin ein bescheidener Lichtblick: Die Botschaft lautete, Integration gelingt am besten über den Arbeitsplatz – ein Satz, der auch heute noch gilt. IV Ich komme zur vierten Frage und damit zum letzten Punkt – dem Zeitabschnitt der vergangenen zwei Jahrzehnte. Zu fragen ist: Welche wesentlichen politischen Weichenstellungen gab es seither und was bedeuteten sie für die Arbeitsmigration? In welchem Verhältnis steht Arbeitsmigration zum Wanderungsgeschehen insgesamt? Und schließlich zum offenen Ende: Welche Folgen für den Arbeitsmarkt könnte die aktuelle Flüchtlingskrise haben? Angesichts der Verdichtung der Maßnahmen und Einschnitte seit der Jahrtausendwende beschränke ich mich auf die wichtigsten Stichworte. Drei große Ereignisse bestimmten in den 1990er Jahren das bundesdeutsche Migrationsgeschehen: Der Balkankrieg und die davon ausgelösten Asylanträge; der Zusammenbruch des Ostblocks und die massenhafte Zuwanderung von Spätaussiedlern; schließlich die Gründung der Europäischen Union 1992 und die 25 IAB 1997, S.743 17 schrittweise Umsetzung der vier Grundfreiheiten – bei Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen. Jeder EU – Bürger hat seither das Recht, sich seinen Wohnort und Arbeitsplatz in jedem Land der Union zu wählen – Europa wurde damit zum grenzenlosen Raum für Millionen! Eine Momentaufnahme für das Jahrfünft 1991 – 1995 verdeutlicht die Dramatik der Entwicklung: Die Statistik des Migrationsberichts 2010 26 weist für diesen Zeitraum annähernd 1,3 Millionen Asylanträge aus, gestellt vor allem von Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem zerfallenden Jugoslawien; die Zahl der Spätaussiedler, vor allem aus der ehemaligen Sowjetunion, betrug 1,2 Millionen, die Zahl der EU – Binnenmigranten belief sich auf rund 700.000; und nicht zu vergessen: jährlich kamen annähernd 250.000 Werkvertragsarbeitnehmer und Saisonarbeiter nach Deutschland – kurz: polnische, bulgarische und rumänische Spargelstecher und Bauarbeiter, ohne die die billige Versorgung der Supermärkte oder das florierende Geschäft von Subunternehmern am Bau nicht möglich gewesen wären. Ergänzend sei angefügt, dass im Jahrzehnt nach 1990 auch 150.000 Juden vor allem aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland kamen, die hierzulande den jüdischen Gemeinden neue Vitalität und Überlebenskraft verliehen. Zwischen 2000 und 2005 erfolgten während der Kanzlerschaft Schröder wichtige politische Weichenstellungen, die im Kern bis heute gültig sind: • Am Bedeutendsten: Die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts zum 1.1.2000; An die Stelle des Abstammungsprinzips (jus sanguinis) trat das Prinzip des Geburtsrechts (jus soli = Recht des Bodens). Das Staatsangehörigkeitsrecht von 1913 wurde damit in seiner entscheidenden Substanz verändert, was als „ein historisch bedeutsamer Kurswechsel in der Migrationspolitik“ - so der Migrationsexperte Meier – Braun einzuordnen ist. Zugleich wurden die Fristen für Einbürgerung verkürzt, ebenso wurde das eigenständige Aufenthaltsrecht ausländischer Ehepartner gestärkt; • Im selben Jahr erfolgte die Einführung der Green Card speziell für IT – Experten, die später auf weitere Berufe ausgedehnt wurde; Bayern folgte mit einer eigenen Blue Card; • 2004 verabschiedet und zum 1.1. 2005 in Kraft getreten ist schließlich das Zuwanderungsgesetz; sein sperriger Titel lautete: „ Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und 26 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Jahresbericht 2010, S.42 18 der Integration von Unionsbürgern und Ausländern“. Es stützte sich zumindest in Teilen auf die Empfehlungen der unabhängigen Kommission „Zuwanderung“, benannt nach ihrer Vorsitzenden, der früheren Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth. Bei allem folgenden Streit um deren Umsetzung bildete sich doch ein neuer Basiskonsens zumindest in zwei wichtigen Punkten heraus: Zum einen trat an die Stelle der nicht mehr haltbaren Beschwörungsformel „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ die pragmatische Einsicht, dass es im Interesse des Landes liege, jene Ausländer, die hier seit vielen Jahren lebten und arbeiteten, durch entsprechende Angebote zu integrieren; zum anderen, dass es angesichts der Engpässe speziell im Segment der Hochqualifizierten dringlich sei, attraktiv für Arbeitsmigranten zu werden. Dass Einwanderung dennoch ein emotional aufgeladenes Thema blieb, zeigte sich an den Kampagnen „Kinder statt Inder“, aber auch der Ausländerkampagne des seinerzeitigen hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch im Jahre 2008. • Zeitlich vorlaufend erfolgte 1993 und danach über die Jahre hinweg in mehreren Paketen spezifiziert die faktische Eingrenzung des Asylrechts gemäß 16, 2 des Grundgesetzes. Aus dem prägnanten Satz „Politisch Verfolgte genießen Asyl“ von 1949 wurde ein Wust von Einzelbestimmungen gemäß dem neuen Artikel GG 16 a, in denen u.a. das Prinzip sicherer Drittstaaten festgelegt, aber auch Kriegsflüchtlingen nicht mehr automatisch der Status von Asylanten im Sinne des GG zugebilligt wurde. Diese Hinweise zum veränderten rechtlichen Rahmen des Migrationsgeschehens mögen genügen – ich erspare Ihnen ein Kolleg über die Fülle daraus folgender Erlasse und Verordnungen, die nur für Verwaltungsjuristen interessant wären. Immerhin wird daran deutlich, dass sich Deutschland seither bezüglich der Themen Migration und Integration „mitten in einem gesellschaftlichen Paradigmenwechsel befindet“27, sprich: dabei ist, sich den Realitäten einer Zuwandergesellschaft anzunähern. Doch wie hat sich angesichts der veränderten politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen die Arbeitsmigration entwickelt und war Deutschland dabei in den vergangenen 15 Jahren der 27 Ausführlich hierzu Ludger Pries, Teilhabe in der Migrationsgesellschaft, IMIS,47/ 2015, S.7-36, hier S.8 19 Normalfall oder beschritt es einen Sonderweg? 28 Vier Fragen stellen sich, um das Gewicht der Arbeitsmigration für den Arbeitsmarkt sichtbar zu machen. 1. Wie entwickelte sich in Fünfjahresschritten die Bilanz der Zu-und Fortzüge als Indikator für die Attraktivität des Standorts Deutschland? 2. Was bewirkte die Freizügigkeit innerhalb der EU für Deutschland? 3. Gab es den erhofften Zuzugs von Qualifizierten oder gab es umgekehrt auch einen brain drain von Deutschen ins Ausland? 4. Was könnte der Flüchtlingszuzug seit 2014 für den Arbeitsmarkt bedeuten? Gibt es realistische Szenarien oder lediglich falsche Erwartungen? Zum Ersten: Die Bilanz der frühen 2000er Jahre ist ernüchternd und entspricht nicht der Vorstellung vom attraktiven Wirtschaftsstandort Deutschland. Zwar gab es zwischen 2000 und 2005 einen Einwanderungsüberschuss von etwa einer Million – jährlich 200.000 – doch mit sinkender Tendenz und war vor allem dem Zuzug von außerhalb der EU geschuldet. Der Wanderungssaldo gegenüber den EU – Ländern wurde negativ, und besonders brisant: anders als in den 1990er Jahren wurde der Migrationssaldo bei deutschen Staatsbürgern seit 2005 ebenfalls negativ – anders gesagt: seit 2005 wanderten mehr qualifizierte Deutsche – Ärzte , IT – Fachleute, Ingenieure – in die Schweiz, nach Skandinavien oder Großbritannien aus als einwanderten, während überwiegend geringer Qualifizierte nach Deutschland kamen. Diese wenig beachtete Abwanderung – der Höhepunkt wurde übrigens zwischen 2006 und 2009 erreicht – hält bis heute an – Deutschland verliert unter dem Strich seit mehr als einem Jahrzehnt gut Ausgebildete, z. B. jährlich 2-3000 Ärzte und saugt geringer Qualifizierte an. Darüber sollte politisch offen und mit dem Ziel diskutiert werden, diese Schieflage zu korrigieren! Damit habe ich bereits zur zweiten und dritten Frage eine indirekte Antwort gegeben, Ja, Deutschland hat in den 2000er Jahren zahlenmäßig mehr Zuwanderer aufgenommen als andere EU – Länder – kumuliert von 2004 bis 2013 sechs Millionen, gefolgt von Spanien und Großbritannien mit je 5,5 Millionen. Doch war in keinem großen EU – Land der Saldo zwischen Zu- und Abwanderung so gering wie hierzulande – Spanien, das Vereinigte Königreich oder selbst Italien waren zumindest bis 2006 als Zielland attraktiver als der damals „kranke Mann Europas“ – wir haben diese Erfahrung der jüngsten 28 Materialien hierzu vor allem in den Veröffentlichungen des IAB. Die Beiträge, erschienen zwischen 1972 und 2015, sind im Netz zugänglich – www.iab.de; Hilfreich die seit 2001 jährlich erscheinenden Migrationsberichte der Bundesregierung, ebenfalls im Internet verfügbar. 20 Vergangenheit offenkundig erfolgreich verdrängt. Und noch deutlicher wird das Selbstbild vom am stärksten belasteten Einwanderungsland korrigiert, wenn die Zahlen auf die Bevölkerungsgröße bezogen werden. Bei den Zuzügen je 1000 Einwohner findet sich Deutschland in diesem Jahrzehnt gerade auf Platz 10 unter den EU - Ländern, und rechnet man die Schweiz und Norwegen hinzu, auf Platz12. 29 Freilich droht in dieser auf ein Jahrzehnt bezogenen Betrachtung das Besondere der letzten Jahre unterzugehen. Das bedeutet: Seit 2010 ist eine deutliche Tendenzwende gegenüber den frühen 2000er Jahren erkennbar. Ähnlich wie zu Beginn der 1990er Jahre verstärkte sich der Zuzug von Ausländern – zwischen 2010 und 2014 gab es einen Überschuss von 1,7 Millionen, während noch 2008/09 mehr ab- als zugewandert waren. Die Gründe sind bekannt: Europäische Wirtschafts- und Finanzkrise; freier Zuzug aus den osteuropäischen EU – Ländern; Anstieg der Zahl der Asylsuchenden. Eine Momentaufnahme für 2014 macht diese Tendenz sichtbar:30 Zuwanderer kamen vor allem aus Polen, Rumänien, Kroatien und Bulgarien, nachdem die Zuzugsbeschränkungen weggefallen waren; eine zweite Gruppe kam aus den südeuropäischen Krisenländern Griechenland, Italien und Spanien; und schließlich der dritte Block: etwa 100.000 stellten Antrag auf Asyl, darunter vor allem Syrer und Afghanen, aber auch Armutsflüchtlinge aus den Ländern des Westbalkan, deren Zahl dann 2015 wegen des Status des sicheren Herkunftslandes drastisch zurückgehen sollte. Und für das Ausnahmejahr 2015 haben wir die Zahlen noch präsent: 1,1 Millionen Flüchtlinge suchten hierzulande Schutz oder beantragten Asyl. Dabei hat die deutsche Gesellschaft ihre besten Ressourcen mobilisiert – das freundliche Angesicht jener, die sich engagierten. Bemerkenswert für das Referenzjahr 2014: Entgegen den Ängsten, die Zugewanderten seien vor allem außereuropäische Muslime, kamen fast drei Viertel aus einem europäischen Staat, 60% aus einem EU – Land. 31 Und wiederum entgegen den pauschalierenden Behauptungen, Südosteuropäer wanderten primär in die deutschen Sozialsysteme ein: Bei den im August 2015 in Deutschland lebenden 637.000 Bulgaren und Rumänen lag die Beschäftigungsquote bei über 50%, was dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung entsprach – bei einer Arbeitslosenquote, die mit 9% sogar 29 Migrationsbericht der Bundesregierung 2014, S.166f. Ebenda S.22 31 Ebenda, S.15 30 21 niedriger als im Ruhrgebiet war. 32 Die Bundesagentur für Arbeit wollte damit Probleme nicht „schönrechnen“, vielmehr verdeutlichen, dass Arbeitsmigration aus EU – Ländern unter dem Strich eine win – win – Situation bedeutet. Ein vergleichbarer Befund ist im Falle der der Flüchtlingsmigration in kurzer Frist nicht zu erwarten – sei es, dass rechtliche Hürden bestehen, sei es, dass zentrale Voraussetzungen – Sprachkenntnisse, erforderliche Qualifikationen –fehlen. Die Beschäftigungsquote betrug hier lediglich 24,6 %, die Arbeitslosenquote hingegen 42%. Das Institut für Arbeits- und Berufsforschung soll deshalb am Ende erneut zitiert werden, da es realistisch die Herausforderungen benennt: „Die Erfahrungen mit der Flüchtlingsmigration aus der Vergangenheit zeigen, dass die Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen längere Zeiträume in Anspruch nehmen kann. In den vergangenen Jahrzehnten waren fünf Jahre nach dem Zuzug rund 50 Prozent der Flüchtlinge im erwerbsfähigen Alter erwerbstätig, nach zehn Jahren gut 60 Prozent, und nach 15 Jahren rund 70%“33 Im selben Bericht wird aber auch unterstrichen, dass dies nicht fatalistisch hingenommen zu werden braucht. Er benennt zugleich das Lastenheft der aufnehmenden Gesellschaft: „ Erfolg und Geschwindigkeit der Arbeitsmarktintegration werden wesentlich von der Länge der Asylverfahren, der Sprachförderung, den Investitionen in Bildung und Ausbildung, der Arbeitsvermittlung und der Aufnahmebereitschaft der Wirtschaft abhängen.“ Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Ich hoffe. dass Politik und Gesellschaft, das heißt wir alle, dazu unseren Teil beitragen. Dann könnte zugleich eine produktive Lehre aus einer vielfach problembehafteten 150 – jährigen Geschichte deutscher Arbeitsmigration gezogen werden. Die abschließende Botschaft stammt von einem der wichtigsten Vertreter der Migrationsforschung, von Klaus Bade. Unter dem Eindruck der Flüchtlingskrise zog er im März 2016 eine kritische Bilanz der einschlägigen deutschen Debatte und verband dies mit einem Appell, dem ich mich nur anschließen kann: „Wenn wir uns nicht um die Existenzbedingungen der Menschen in der sogenannten dritten und vierten Welt kümmern, dann kommen sie zu uns, zumal sie nicht nur von westlichen Fernsehwelten träumen, sondern in ihren kollektiven Erzählungen auch nicht vergessen haben, was unsere Vorfahren, zum Teil aber auch wir selbst im ´Westen` ihnen und ihren Vorfahren angetan... haben.“34 32 IAB, Zuwanderungsmonitor Bulgarien und Rumänien, September 2015 IAB, Zuwanderungsmonitor November 2015 34 Klaus J. Bade, Von Unworten zu Untaten, IMIS, 48/2016, S.171 33 22 23