Geschichtsdenken und Ständekritik in apokalyptischer Perspektive

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Geschichtsdenken und Ständekritik
in apokalyptischer Perspektive
Martin Luthers Meinungs- und Wissensbildung
zur ‚Türkenfrage’
auf dem Hintergrund der osmanischen Expansion
und im Kontext der reformatorischen Bewegung
Dissertation
zur Erlangung der Doktorwürde
des Fachbereichs Kultur- und Sozialwissenschaften
der FernUniversität Hagen
- Arbeitsbereich Geschichte und Gegenwart Alteuropas -
vorgelegt von
Dr. Michael Klein
aus
Hamm/Sieg
Betreuer der Arbeit :
Professor Dr. Ludolf Kuchenbuch
1
1.
Einleitung und Forschungsgeschichte..........................5
2.
Das Verhältnis von Christentum und Islam bis zur
Reformation....................................................................18
2.1.
Die Entwicklung der islamischen Machtsphäre................18
2.1.1.
Aufstieg und Expansion...................................................18
2.1.2.
Die Kreuzzüge................................................................20
2.2 .
Verstärkte geistige Auseinandersetzungen mit dem
Islam.................................................................................21
2.2.1.
Die Muslime als Häretiker und/ oder apokalyptische
Gestalten: Johannes Damascenus, Pseudo-Methodius,
Alvar von Cordoba...........................................................21
2.2.2.
Die Suche nach Gemeinsamkeiten: Thomas von
Aquin und Raimundus Lullus………………………………27
2.2.3.
Geistige Zurüstung gegen den Islam: Ricoldus de Monte
Crucis...............................................................................31
2.3.
Christentum und Islam am Vorabend der Reformation....33
2.3.1.
Das Aufkommen des Osmanischen Reiches...................33
2.3.2.
Die militärischen Auseinandersetzungen zwischen dem
Osmanischen Reich und den christlichen Mächten ........34
2.3.3.
Theologische Auseinandersetzungen und Kreuzzugsaufrufe: Aeneas Piccolomini (Pius II.) und Nicolaus
Cusanus...........................................................................39
2.3.4.
Erfahrungsbericht und Apokalyptik: Georgius de
Hungaria..........................................................................48
2.3.5.
Apokalyptische Zeitdeutung: Alte Weissagungen,
Johannes Lichtenberger und andere Deuter...................49
2.4.
Zwischenbilanz................................................................66
3.
Die Heraufkunft des „Türken-Themas“ in Luthers
Denken 1517-1525..........................................................66
3.1.
Luthers Stellungnahmen gegen einen OsmanenKreuzzug..........................................................................66
3.1.1.
Die politischen Ereignisse................................................66
2
3.1.2.
Luthers Verbindung von „Türkenfrage“ und
Papstkritik........................................................................68
3.1.3.
Die Verknüpfung von „Türkenfrage“ und „Causa
Lutheri“.............................................................................78
3.2.
Andere geistige Stimmen der Zeit....................................84
3.2.1.
Die Humanisten Ulrich von Hutten, Erasmus von
Rotterdam und Philipp Melanchthon................................84
3.2.2.
Die „radikale Reformation“: Die „Zwickauer Propheten“
und Thomas Müntzer.......................................................92
3.3.
Zwischenbilanz................................................................99
4.
Die Wahrnehmung der türkischen Gefahr durch
Luther 1526-1528/29....................................................100
4.1.
Die Schlacht von Mohács..............................................100
4.1.1.
Die politischen Ereignisse und die Schlacht von
Mohács..........................................................................100
4.1.2.
Luther und Königin Maria von Ungarn...........................102
4.1.3.
Kritik an Luthers bisheriger irenischer Haltung:
Johannes Cochlaeus.....................................................107
4.2.
Luthers Eintreten für den militärischen Widerstand
gegen die Osmanen.......................................................113
4.2.1.
Die Ausbildung einer politischen Ethik...........................113
4.2.2.
Melanchthons und Luthers Visitationsschrift..................115
4.2.3.
Die Schrift „Vom Kriege wider die Türken“
und das „Christianus-Karolus-Modell“............................116
4.3.
Andere Stimmen............................................................124
4.3.1.
Apokalyptische Naherwartung bei den Täufern:
Hans Hut, Balthasar Hubmaier und Michael Sattler......124
4.4.
Zwischenbilanz..............................................................129
5.
Endzeitstimmung 1529-1532.......................................130
5.1.
Luthers Aufnahme apokalyptischer Vorstellungen.........130
5.1.1.
Die politischen Ereignisse..............................................130
5.1.2.
Die „Heerpredigt wider die Türken“................................136
3
Exkurs:
Die Bedeutung des biblischen Buches Daniel
für die Geschichtsauffassung der Reformation..............140
5.1.3.
Weitere apokalyptisch geprägte literarische
Äußerungen Luthers......................................................152
5.2.
Endzeitstimmung und Historiographie:
Philipp Melanchthon.......................................................156
5.2.1.
Das „Siebend Capitel Danielis“ von Justus
Jonas und Philipp Melanchthon.....................................156
5.2.2.
Das „Chronicon Carionis“ von Johannes
Carion und Philipp Melanchthon....................................164
5.2.3.
Weitere Schriften und Aktivitäten Melanchthons............171
5.3.
Andere Reformatoren und ihre Stellung zur
„Türkenfrage“................................................................174
5.3.1.
Der „Türkenprediger“ Johannes Brenz..........................174
5.3.2.
„Türkenfrage“ und politische Ratio: Huldrych
Zwingli............................................................................178
5.4.
Spirituale und apokalyptische Zeitdeutung...................186
5.4.1.
Das Wirken des Geistes in allen Völkern:
Sebastian Franck...........................................................186
5.4.2.
„Der Türke“ als „der andere“: Paracelsus......................191
5.4.3.
Die „Türken“ im Endkampf: Melchior Hoffmann.............194
5.5.
Zwischenbilanz..............................................................198
6.
Luthers verstärkte theologische Auseinandersetzung mit dem Islam ab Mitte der 1530iger
Jahre.............................................................................199
6.1.
Der islamische Schöpfungsglaube als Ergebnis der
Rationalität....................................................................199
6.2.
Der „usus politicus legis“ bei den Osmanen..................204
6.3.
Die Frage der „Abrahams-Kindschaft“ der
Osmanen.......................................................................211
6.4.
Zwischenbilanz..............................................................212
4
7.
Letzte politische Stellungnahmen, verschärfte Polemik
gegen den Islam und massive Ständekritik Luthers ab
1539 bis zu seinem Tode 1546....................................213
7.1.
Luthers Stellungnahmen ...............................................213
7.1.1.
Die politischen Ereignisse seit 1539..............................213
7.1.2.
„Eine Vermanung D. Martini an alle Pfarrhern“ 1539....214
7.1.3.
Die „Vermanung zum Gebet wider die Türcken“
1541...............................................................................216
7.1.4.
Die Vermahnung an die Pfarrherrn in der
Superattendenz der Kirchen zu Wittenberg 1543..........220
7.2.
Luthers verstärkte Anti-Islam-Polemik...........................223
7.2.1.
Die „Verlegung des Alkoran Bruder Richardi“ 1542.......223
7.2.2.
Weitere Polemik.............................................................228
7.3.
Andere Stimmen........................ ...................................229
7.3.1.
Der Islam aus religionsgeschichtlicher Sicht: Theodor
Bibliander.......................................................................229
7.3.2.
Warnung vor dem „Türgg“: Heinrich Bullinger...............236
7.3.3.
Weiterwirken der apokalyptischen Vorstellungen:
Andreas Osiander..........................................................244
7.3.4.
Veränderte lutherische Sicht der Rolle des
Papsttums in der Auseinandersetzung mit den
Osmanen: Veit Dietrich..................................................248
7.3.5.
Jenseits einer „Reichstheologie“: Johannes Calvin.......250
7.4.
Zwischenbilanz..............................................................253
8.
Schluss:........................................................................254
Quellen und Literatur:......................................................................261
Erklärung:
5
1.
Einleitung und Forschungsgeschichte
„Luthers Stellung zum Türkenkrieg ist eines der eindrücklichsten
Beispiele dafür, dass er auf der Scheide zwischen den Zeiten stand, auf
der sich in unterschiedlichster Weise die Linien kreuzten. Einerseits
machte er dem mittelalterlichen Krieg um Christi willen, dem Kreuzzug
als einem religiösen, sühnenden Dienst, ein Ende. Der Kampf gegen
die vordringenden Türken ist vielmehr wie jeder andere Krieg nach
politischem, modernen Verständnis ein rein weltlicher Schutz des
Landes und seiner Leute. Andererseits aber gehört er nach
überliefertem biblischen Weltverständnis in den Plan Gottes, den uns
die Weissagungen begnadeter Propheten durch gewisse Zeichen
ankündigen.“1
Diese Feststellung trifft Heinrich Bornkamm in seinem 1979 posthum
herausgegebenen Werk „Martin Luther in der Mitte seines Lebens“.
Bornkamm weist hier auf die Ambivalenz der Weltwahrnehmung
Luthers am Beispiel seiner Haltung zur osmanischen Expansion im 16.
Jahrhundert hin, ohne jedoch diese Frage in seinem Werk weiter zu
verfolgen. Wie entscheidend Luthers Geschichtsverständnis durch „die
Türken“ profiliert worden ist und wie der Protestantismus gerade auch
durch die „Türkenproblematik“
ein
Bestandteil der politischen
Geschichte wurde, wird deshalb nicht weiter ausgeführt. Insgesamt
kann hinsichtlich Luthers Meinungsbildung zum „Türken-Thema“
weitgehend
von
einem
internen
Desinteresse
der
Forschung
gesprochen werden, das meist externe Faktoren infrage gestellt wurde.
Weitere Beispiele belegen dies: Heiko A. Oberman, der in seiner
Luther-Biographie diesen als „Mensch zwischen Gott und Teufel“2
charakterisierte
und
damit
die
tiefe
Verwurzelung
Luthers
im
mittelalterlichen Denken neu deutlich machte, misst aber in diesem
Zusammenhang der „Türkenproblematik“ im Leben und Werk Luthers
ebenfalls keine große Bedeutung bei. Ähnliches gilt für Walther von
Loewenich, der in seiner Luther-Biographie3 dessen Stellung zur
osmanischen Expansion fast vollständig ausblendet. In Bernhard
1
2
3
Bornkamm, Mitte, 526.
Oberman, Luther.
Loewenich, Luther.
6
Lohses Einführung in Luthers Leben und Werk4 fehlt in der Darstellung
vom Lebensgang des Reformators jeder Bezug auf die „Türkenfrage“
und in Martin Brechts großer dreibändiger Luther-Biographie5 werden
die Auseinandersetzungen mit dieser Problematik, wie sie sich für
Luther insbesondere mit der Belagerung Wiens 1529 stellte zwar kurz
dargestellt, doch bleibt der Eindruck bestehen, dass es sich für Luther
hier eher um Nebensächlichkeiten gehandelt habe.
Jenseits der eigentlichen Reformationsgeschichtsschreibung ist Luthers
Haltung zu den Türkenkrieg ebenfalls kein herausgehobenes Interesse
gewidmet worden. Wieder mögen dies einige Beispiele belegen:
Gerhard Ritter erwähnt in seiner Luther-Biographie, die „TürkenThematik“ in einem Nebensatz.6 Heinrich Lutz hat in seinem Werk über
die deutsche Geschichte von Maximilan I. bis zum Westfälischen
Frieden zwar die mannigfachen Verknüpfungen zwischen dem
politischen Protestantismus und der Frage einer reichseinheitlichen
Gegenwehr gegen die Osmanen beleuchtet, Luthers eigenes Verhältnis
zur „Türkenproblematik“ kommt aber nicht in den Blick.7 Anders sieht es
in Heinz Schillings Darstellung der deutschen Geschichte der frühen
Neuzeit - „Aufbruch und Krise“ – aus. Er führt aus:
„Weltgeschichtlichen Rang erhielten die Türkenkämpfe schließlich auch
durch ihre indirekte Wirkung auf die deutsche Reformation, denn Luther
deutete sie als Zeichen einer apokalyptischen Endzeit. Paradoxerweise
sind es dann aber gerade die Türken gewesen, die Luthers Lehre
retteten, denn der Kaiser und sein Bruder sahen sich immer aufs neue
zu Zugeständnissen an die protestantischen Reichsstädte gezwungen,
um deren Hilfe gegen den muslimischen Feind zu gewinnen.“8
Luthers Bedeutung wird hier betont, doch die ungeheure Dramatik, die
nun gerade durch Luthers Stellung zur „Türkenproblematik“ für die
deutsche
und
europäische
Geschichte
bestand,
scheint
einer
vertiefenden Betrachtung nicht würdig. Die vom Kaiser und den
altgläubigen Ständen bedrohten Lutheraner blieben trotz aller Konflikte
4
5
6
7
8
Lohse, Luther.
Brecht, Luther.
Ritter, Luther, 179.
Lutz, Einheit, bes. 246ff.
Schilling, Aufbruch, 27f.
7
reichstreu und loyal gegenüber dem Kaisertum. Die Arbeit wird zeigen,
dass dies vor allem in Luthers Reichs- und Kaisertreue begründet war,
die ein Bündnis mit den Kaisergegnern - und das waren in besonderer
Weise
die
Osmanen
–
definitiv
ausschloss.
Ein
keineswegs
undenkbares Bündnis der Lutherischen mit den Osmanen oder
zumindest indirekt mit dem mit diesen alliierten französischen Königtum
hätte für die mitteleuropäische Geschichte
unabsehbare Folgen
gehabt. Luthers Kaisertreue soll in dieser Arbeit hinsichtlich seiner
Haltung gegenüber den Osmanen besonders beleuchtet werden.
Josef Engel hingegen hat besonders die Frage der religiösen
Begründung des „Türkenkrieges“ untersucht und die komplexe
Wechselwirkung u.a. mit der Reformation dabei herausgehoben.9
Die apokalyptische Grundhaltung Luthers wird in dieser Arbeit eine
besondere
Beachtung
erfahren.
Sie
wird
erst
hinsichtlich
der
„Türkenproblematik“ voll erschließbar. Horst Rabe erwähnt die weit
verbreitete apokalyptische Stimmung der radikalen Reformatoren und
den Zusammenhang von osmanischer Bedrohung und Stabilisierung
des Protestantismus, von Luthers durch die Osmanen geprägter
apokalyptischer Weltsicht ist jedoch keine Rede.10
Worin das alles in allem eher marginale Forschungsinteresse
gegenüber der Thematik dieser Arbeit begründet liegt, lässt sich nur
vermuten. Möglicherweise ist darin ein Hinweis zu finden, dass die
„Türkenfrage“
erschien.
Die
lediglich
große
für
historische
westeuropäische
Reminiszenzen
geeignet
„Meistererzählung“11
der
Bedrohung aus dem Osten, bestand im Blick auf die Osmanen
spätestens seit dem „Untergang des Morgenlandes“ (Bernard Lewis) –
dem Verfall der osmanischen Macht seit dem 18. Jahrhundert zunächst überhaupt nicht mehr.
Als die „Luther-Renaissance“12 in den zwanziger Jahren des 20.
Jahrhunderts einsetzte, wurde durch Kemal Atatürk gerade das
Osmanische Reich liquidiert. Die „Türken“, schon lange nur noch „der
9
10
11
12
Engel, Mächte-Europa, 274ff.
Rabe, Glaubensspaltung, 232, 211.
Gabriel Motzkin, Meistererzählungen, 371ff.
Vgl. dazu Assel, Aufbruch.
8
kranke Mann am Bospurus“, konnten damit selbst scheinbar endgültig
zur geschichtssymbolischen Chiffre werden, die lediglich in anderen
„Bedrohungszusammenhängen“ Bedeutung gewannen. Es waren
externe Anlässe, die neues Interesse weckten. Mit der Entstehung der
Sowjetunion ballte sich im Osten ein großer Machtfaktor zusammen,
der unberechenbar und mit seiner Aussage von der „kommunistischen
Weltrevolution“ potentiell gefährlich war. Die große Meistererzählung
von der Bedrohung aus dem Osten in Gestalt von „Hunnen“,
„Mongolen“ und eben auch den „Türken“ wurde neu aktualisiert. So ist
es auffällig, dass die wenigen Arbeiten, die der „Türkenthematik“
gewidmet wurden, im zeitlichen Umfeld des Diskurses über eine
„bolschewistische Bedrohung“ vor und im Zweiten Weltkrieg, bzw. dann
im Kalten Krieg erschienen. Während Hanns Lilje in seinem Buch
„Luthers Geschichtsanschauung“ (1932) die „Türkenproblematik“ nur in
einigen Nebenbemerkungen behandelte, wurde das Thema einige
Jahre später aktuell. Dass gilt besonders für die drei sich vorwiegend
auf deskriptiver Ebene bewegenden Dissertationen von Vielau (1936),
Lamparter und Lind (jeweils 1940)13.
Ausdrücklich behauptet Richard Lind in der Einleitung zu seiner
Dissertation „Luthers Stellung- zum Kreuz- und Türkenkrieg“ 1940 die
Aktualität des Themas als eine „gegenwärtig höchst brennende Frage“:
„Noch heute lebt die Vorstellung des heiligen Krieges fort als eines
Krieges, in dem ein Volk um seine Existenz kämpft, was gut von Luther
her verstanden werden kann. Manchmal wird dieser Krieg, der
eigentlich nur um die weltlich-volklichen Belange geführt wird, auch
zugleich religiös als Kreuzzug verstanden oder dafür ausgegeben, um
eigentlich politische Ziele zu tarnen. Dabei schwingt die uns allen im
Blute liegende Vermischung von religiösem und Politischem mit, bzw.
es wird damit gerechnet.“14
Lind geht dann in seiner allerdings knappen Arbeit dezidiert auf den
mittelalterlichen Kreuzzugsgedanken und die Ablehnung durch Luther
ein.
11
14
Lamparter, Türkenkrieg; Lind, Türkenkrieg; Vielau, Türke.
Lind, Türkenkrieg, 5.
9
Vom quantitativen Aspekt her verdient am ehesten die Arbeit von
Lamparter
eingehende Beachtung. Eine im eigentlichen Sinne
historische Arbeit ist sie allerdings nicht, da sie in der Art ihrer
Darstellung deutlich die Haltung der Dialektischen Theologie und ihr
distanziertes Verhältnis zur Geschichtswissenschaft verrät.15 In seiner
Dissertation „Luthers Stellung zum Türkenkrieg“, ebenfalls von 1940,
heißt es gleich zu Beginn:
„Der aktuelle Anlaß dieser Arbeit ist die Tatsache, dass in den
machtpolitischen
Kreuzugspredigt
Kämpfen
eine,
wie
der
Gegenwart
die
mittelalterliche
mir
scheint,
höchst
verhängnisvolle
allerdings
unter
systematischen
Auferstehung feiert.“16
Lamparters
Arbeit
Gesichtspunkten
ist
dann
gelliedert,
so
dass
eine
historisch-genetische
Nachzeichung der Wissens- und Meinungsbildung Luthers nicht
aufscheint.
Als „theologischen Ertrag“17 betont Lamparter dann den Charakter der
Kriegspredigt als „Bußpredigt“, wie überhaupt Luthers Einschätzung
des Krieges als „Strafgericht“. Lamparter hebt hervor, dass Luther zum
Gebet aufruft und so noch einmal die Grundwahrheiten des christlichen
Glaubens einschärft:
„Angesichts der akuten Bedrohung durch einen bösen schnellen Tod
wäre es unverantwortlich, in Kriegszeiten die Frage nach dem ewigen
Heil der Seelen zurückzustellen und die biblische Heilsbotschaft
zugunsten
einer
mit
Bibelsprüchen
verbrämten
politischen
Wochenschau zu verkürzen.“18
Im Übrigen bleibt es für Lamparter bei Luther dabei, die Kirche habe
allein „den klaren und unzweideutigen Befehl Christi ..., in der Hoffnung
auf den Beistand des Geistes allen Völkern das Evangelium zu
verkündigen.“19 Lamparter stellt dann allerdings fest, „dass der
Kreuzugsgedanke bei kirchlichen und politischen Stellen des Auslandes
15
16
17
18
19
Bienert, Kirchengeschichte, 149)
Lamparter, Türkenkrieg, 5.
Ebd., 135ff.
Ebd., 141.
Ebd., 144.
10
eine
verhängnisvolle
Auferstehung
feiert
...
.“20
In
einem
abschließenden Absatz wehrt Lamparter sich dagegen, den Antichrist
mit irgendwelchen geschichtlichen gegenwärtigen Mächten oder
Personen zu identifizieren, allerdings: „Wer will behaupten, dass im
Ablauf der endgeschichtlichen Ereignisse eine derartige politische
Machtergreifung (!) des Antichrist nicht etwa möglich wäre?“21
Lamparter empfiehlt der Kirche Jesu Christi statt dessen mit Luther das
Gebet. Mehr konnte er wohl in einer Dissertation unter den
Bedingungen nationalsozialistischer Zensur, noch dazu im Kriege, nicht
sagen.
1945 veröffentlichte George W. Forell einen Beitrag über „Luther and
the war against the Turks“ in der Zeitschrift „Church History“. Wie auch
hier die gegenwärtige Situation auf das Thema wirkte, wird daran
deutlich, dass Forell als Ergebnis seines Aufsatzes Luthers Ablehnung
jeglicher Glaubenskriege betonte. In der geschichtlichen Situation, in
der sich die westlichen Allierten mit dem Gedanken beschäftigten, ob
die UdSSR nicht militärisch bekämpft werden sollte, war diese Aussage
auch gegen die anzunehmende ideologische Instrumentalisierung der
freien – christlichen – Welt zu verstehen. Harvey Buchanan schrieb
1956 im „Archiv für Reformationsgeschichte“ einen Aufsatz über „Luther
and the Turks 1519-1529“ und Stephen-Fischer Galatis Arbeit über
„Ottoman Imperialsm and German Protestantism 1521-1555“ widmete
sich
1959
dann
ausführlich
den
im
Titel
bezeichneten
Zusammenhängen. Ehrenfried Herrmanns, ungedruckte Dissertation
über „Türke und Osmanenreich in der Vorstellung der Zeitgenossen
Luthers“ erschien 1961.
Peter Brunner stellte noch 1961 in seiner Schrift über „Luther und die
Welt des 20. Jahrhunderts“ ausdrücklich einen Zusammenhang her,
wenn er schrieb: „Die Situation einer Spaltung zwischen Ost und West
war Luther nicht ganz unbekannt. Seine Schriften zum Türkenkrieg sind
darum gerade für uns heute in vieler Hinsicht wichtig.“22
20
21
22
Ebd., 146.
Ebd., 150
Brunner, Luther, 25.
11
In seiner Schrift „Luther deutet Geschichte“ ging Heinz Zahrnt in einem
Abschnitt auch auf die Kreuzzugsproblematik bei Luther ein. Zahrnt
betont die Ablehnung eines religiös begründeten Krieges und die
gleichzeitige Überblendung dieser Gedanken durch eschatologische
Anschauungen des Reformators. Er resümiert:
„Enderwartung und politische Selbstbehauptung, Eschatologie und
Geschichtlichkeit schließen sich für Luther nicht aus, sondern tragen
sich gegenseitig.“23
Während die Literatur angesichts Luthers Verhältnis zu den Osmanen
noch relativ reichlich ist, beschränken sich die Untersuchungen
hinsichtlich anderer Reformatoren, abgesehen von einer Dissertation
über Melanchthons Verhältnis zum Islam24 und einem Beitrag zum
Türkenbild von Luthers Zeitgenossen,25 auf zusammenfassende
Aufsätze.26
Mit dem Erstarken des politischen Islam27, besonders nach der
Islamischen Revolution 1979, ist dann auch der Islam als eigenes
Machtphänomen wieder stärker in das Blickfeld des Westens getreten,
so dass auch die historische Forschung neu nach geschichtlichen
Zusammenhängen fragt. So widmete etwa Reinhard Schwarz 1986 in
seinem Luther-Buch der „Türkenfrage“ ein eigenes Kapitel, in dem nun
dezidiert herausgehoben wurde, dass die „Türkenfrage ... für das
allgemeine Bewusstsein des 16. Jahrhunderts zu den zentralen
politischen und religiösen Fragen“ gehört habe.28 Luthers Haltung wird
dann in diesen Zusammenhang eingeordnet. Jetzt also trat diese Frage
neu in den Blickpunkt der Lutherforschung, wobei eine kritische
Beschäftigung mit dem Reformator oft noch unterblieb. Wenn Martin
Brecht in einem Aufsatz zu Luthers Verhältnis zu den Osmanen die oft
maßlose Polemik des Reformators lediglich als „temperamentvolle
Anmerkungen“29
bezeichnete,
wird
dies
deutlich.
Rudolf
Maus
materialreicher und bedeutender Beitrag zeichnet sich ebenfalls
23
24
25
26
27
28
29
Zahrnt, Geschichte, 133.
Köhler, Melanchthon.
Herrmann, Türkenbild.
Göllner, „Türkenfrage“; Pfister, Reformation; Setton, Peril.
Vgl. dazu Roy, Islam.
Schwarz, Luther, 195.
Brecht, Türken, 20
12
dadurch aus, dass er eher auf deskriptiver Ebene eine Fülle von
wertvollen Informationen zum Thema gibt.
Durchaus
kritisch hat sich Ludwig Hagemann in seinem Buch
“Christentum contra Islam“ mit Luther auseinandergesetzt. Er betont,
Luther habe „das Bild eines seinerzeit entstellten und verzerrten
Katholizismus in der ihm eigenen Weise der Zuspitzung auf den Islam“
übertragen und damit letztlich eine Auseinandersetzung mit dem Islam
als Größe sui generis verfehlt. Eine ähnlich kritische Wertung nimmt
Herbert Blöchle in seiner Studie über Luthers Haltung zum Heidentum
vor.30
Das
langsam
ansteigende
Interesse
an
der
oben
skizzierten
Problematik dürfte jedoch neben externen Faktoren auch noch interne
forschungsgeschichtliche Gründe haben. Zunehmend sind in den
letzten Jahren Luthers Verwurzelung in der apokalyptisch gesättigten
Mentalität des Spätmittelalters und die Auswirkungen dieser Haltung
auf das Geschichtsbild des Luthertums erkannt worden. Als Beispiele
seien hier nur die schon erwähnte Luther-Biographie von Oberman
sowie
Robert
Barnes’
Studie
über
„Prophecy
and
Apocalypticism in the Wake of the Lutheran Reformation“
31
Gnosis.
genannt.
Jüngst hat Volker Leppin unter dem Titel „Antichrist und Jüngster Tag“32
das apokalyptische Profil lutherischer Flugschriftenpublizistik von 1548
bis 1618 untersucht. Die Darstellung „Die Reformation in Europa“ von
Ulinka
Rublack
Apokalyptik.
33
beginnt
mit
programmatisch
mit
dem
Thema
Schon 1977 hat Hans-Ulrich Hofmann eine m.E. leider zu
wenig beachtete Studie über „Luther und die Johannes-Apokalypse“
vorgelegt.34 Hinsichtlich des mit der apokalyptischen Grundhaltung
zusammenhängenden Geschichtsbewusstseins der Reformatoren hat
dann Arno Seifert auf die „Entdeckung des türkischen Antichrist“35
durch diese besonders hingewiesen.
30
31
32
33
34
35
Blöchle, Heidentum, 190-192.
Barnes, Prophecy.
Leppin, Antichrist.
Rublack, Reformation, 9ff.
Hofmann, Johannes-Apokalypse.
Seifert, Rückzug.
13
Seifert weist darauf hin, dass „Luthers Antichristianisierung des Islam
weder absolut neu noch genuin protestantisch war.“36 Darüber hinaus
betont Seifert zwei unterschiedliche Interpretationsansätze des Islam,
die sich beide auf Luther berufen konnten: Eine, die im Sinne des
translatio
imperii
das
römisch-deutsche
kaiserreich
als
noch
bestehende vierte Weltmonarchie ansah, und eine zweite, die an deren
Stelle Papsttum und Osmanenreich erblickte.37
Überhaupt ist das Wertvolle der Arbeit Seiferts darin zu sehen, dass sie
den „Rückzug der biblischen Prophetie von der neueren Geschichte“ –
so der Titel – anschaulich am Umgang mit dem Monarchien-Schema
des biblischen Buches Daniel – von dem hier noch oft die Rede sein
wird – nachzeichnet.
Die vorliegende Arbeit will nun das spezifische Profil der Wahrnehmung
der osmanischen Expansion durch Martin Luther herausarbeiten. Die
das römisch-deutsche Kaiserreich bedrohende osmanische Expansion
fiel mit der Ausbreitung der Reformation zusammen, so dass das
traditionelle „Corpus Christianum“, wie es sich im dem Dualismus von
Imperium und Sacerdotium im Mittelalter herausgebildet hatte, sowohl
äußerlich als auch innerlich unter Druck geriet und letztlich zerbrach.
Zunächst waren die osmanische Expansion und die Reformation
jedoch von einander unabhängige Größen. Bald zeigten sich aber
mannigfache Interdependenzen, die besonders in der umstrittenen
Frage eines reichseinheitlichen Vorgehens gegen die Osmanen wie
auch
in
der
Integration
der
osmanischen
Expansion
in
das
Geschichtsbild der Reformation zum Ausdruck kamen.
Zunächst wird hier die historische Entwicklung des Verhältnisses der
abendländischen Christenheit zum islamischen Kulturkreis beleuchtet.
Von „abendländischer“38 Christenheit wird deshalb gesprochen, weil sie
den
Gesamtbegriff
westeuropäischen
Christentums,
also
ohne
Hinzunahme der griechischen und russischen Orthodoxie, markieren
soll. Allgemein vom „Islam“ wird geredet, da das Osmanische Reich,
36
37
38
Ebd., 18.
Ebd., 20.
Es soll jedoch hier nicht um eine ideologiekritische Auseinandersetzung mit
dem Begriff des „Abendlandes“ gehen; vgl. dazu etwa Schildt, Abendland;
Köhler, Abendland.
14
der „Türke“39, wie Luther sagte, nur eine zeitlich begrenzte Größe
innerhalb des Komplexes islamischer Staaten darstellt, die hier in den
Blick kommen.
Dabei
lässt
sich
als
Ausgangspunkt
einer
diachronen
Betrachtungsweise zunächst festhalten: Die Expansion islamischer
Mächte stellt historisch gesehen die nachhaltigste Bedrohung des
europäischen Kulturkreises dar. Während der Begriff der Expansion
sonst fast ausschließlich europäische Mächte als agierend ansieht, ist
es in diesem Falle umgekehrt.40 Die islamischen Expansionsbestrebungen haben dabei Europa besonders in zwei Epochen bedroht.
Die Ausbreitung des Islam in seiner frühen Phase, die erst bei Tours
und Poitiers 732 n. Chr. gestoppt wurde, ist hier zuerst zu nennen.
Später folgten dann die Eroberungszüge der Osmanen - „das größte
und erregendste machtpolitische Phänomen der Zeit“41 - die zweimal,
1529 und 1683, bis vor Wien führten. Sie haben Europa bis ins Innerste
bedroht und das kulturelle Gedächtnis42 des Kontinents bis heute
geprägt.43
In der Nachzeichnung der historischen Entwicklung des islamischchristlichen Verhältnisses wird skizziert, wie die Deutung des
Phänomens „Islam“ durch das „christliche Abendland“ vorgenommen
wurde, welche Abhängigkeit zu den konkreten politischen Ereignissen
und den allgemeinen geistesgeschichtlichen Entwicklungen bestand,
und
41
42
43
wie
sich
unterschiedliche
Modelle
der
Islam-Rezeption
Zur Begrifflichkeit vgl. auch Dzambo, Zäsur I,1,1; Höfert, Türkengefahr, 186ff.
Der Begriff „Türke“, der keine Selbstbezeichnung der Osmanen im infrage
kommenden Zeitraum darstellt, wird heute in der Osmanistik nicht mehr
verwendet, zumal er konnotativ oft mit der Vorstellung der „Türkengefahr“
(Höfert) verbunden ist. Zur Herkunft des Begriffes, der sowohl mit den
Skythen, den Trojanern als auch mit einer Selbstbezeichnung eines
mongolischen Volkes (T’u-küe) in Verbindung gebracht wird, vgl. Höfert,
Türkengefahr, 188ff. ; Matuz, Osmanisches Reich,
9.
Vgl. Lüthy, Epochen, der dies herausstellt und damit allerdings intendiert, das
Osmanische Reich nicht zu europäischen Mächten zu zählen; vgl. zur
Problematik des Osmanischen Reiches als europäischer Macht Höfert,
Türkengefahr, 61ff.
Skalweit, Reich, 80.
Zum Begriff „kulturelles Gedächtnis“ vgl. Lay, Neuzeit, 66f.; Assmann,
Gedächtnis.
Höfert, Türkengefahr, 109 A. 64 spricht davon, es handle sich um
„historiographisch besonders besetztes Terrain“.
15
herausbildeten, die zum Teil in differenzierter Weise miteinander
verbunden wurden.
Dann sollen die Spezifika der lutherischen Haltung gegenüber den
„Türken“ im Vergleich mit anderen zeitgenössischen Stellungnahmen
und besonders im Kontext der reformatorischen Bewegung entwickelt
werden. Hier werden die unterschiedlichen Wahrnehmungsmodelle des
Übergangs vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit und die sie
bedingenden
divergierenden
Rezeptionsschemata
der
zeitgeschichtlichen Ereignisse eine Rolle spielen. Die Übergangszeit44
zwischen
Mittelalter
und
Neuzeit,
die
von
einem
erheblichen
Stabilitätsschwund der das Mittelalter prägenden Institutionen von
Kaiser-
und
Katastrophen“
Papsttum
45
und
überhaupt
von
einer
„Zeit
voller
geprägt war, ist der geistige Horiziont, vor dem sich
die osmanische Expansion und die Reformation vollziehen. Wirtschaftsund gesellschaftspolitisch ist die Zeit von ungeheuren Dynamisierungen
geprägt, genannt seien nur der seit 1470 spürbar einsetzende
Bevölkerungsaufschwung, der gleichzeitig mit einem Preisanstieg und
einem dementsprechenden Kaufkraftverlust weiter Bevölkerungsteile
korrespondierte.
Während
sich
Formen
des
Frühkapitalismus
entwickelten, verschlechterte sich weitgehend die Lage der abhängigen
Bauern,
während
sich
andererseits
Bauernpatriziertum
entwickelte,
Auseinandersetzung
mit
der
dass
auch
ein
dörfliches
selbstbewusst
Grundherrschaft
suchte.
die
Beide
46
Entwicklungen kumulierten im sog. Bauernkrieg 1524/25.
Staatspolitisch
ist
die
Zeit
geprägt
von
der
Entstehung
des
frühneuzeitlichen Staates mit seinen Institutionen. Den Nationalstaaten,
wie etwa Frankreich, steht mit dem Heiligen Römischen Reich ein
altüberkommenes und in seiner ideellen Grundlegung gänzlich anders
strukturiertes, stark föderatives Gebilde gegenüber, in dem die Aufgabe
einer umfassenden Reichsreform immer unabweisbarer geworden war.
45
46
Vgl. Lay, Neuzeit, 77ff. Es kann hier nicht die Problematik historischer
Epocheneinteilungen vertieft werden, doch dürfte unbestritten sein, dass die
Reformation Bestandteil einer Übergangszeit war, deren Dauer allerdings
nicht klar festzulegen ist.
Lay, Neuzeit, 78.
Vgl. Blickle, Reformation, 99ff.
16
Wer Obrigkeit sei - die Stände oder der Kaiser - sollte Luther
entschieden beschäftigen. Die überkommene Lehre von der translatio
imperii, die das Reich als Fortsetzung des Römischen Reiches ansah,
stand einstweilen noch sperrig gegen das entsehende frühneuzeitliche
Mächteeuropa, bevor diese Lehre obsolet wurde. Ohnehin hatte sie im
Sinne machtpolitischer Konsequenzen schon im Hohen Mittelalter nicht
den Realitäten entsprochen.47 Der Kaiser hatte zwar eine rangmäßige
auctoritas, deswegen aber keine erhöhte machtpolitische potestas.48
Luther blieb jedoch in seinem politischen Denken zeitlebens fixiert auf
Kaiser und Reich.
Diese kurzen Skizzenstriche sollen genügen. An dieser Stelle kann kein
zeitgeschichtliches Panorama entworfen werden. Unbestritten ist, dass
insgesamt von einer Krisenepoche gesprochen werden kann, wobei der
Charakter dieser „Krise“ im Einzelnen differenziert zu beschreiben
wäre. Mit dem Begriff der „Krise“ soll keineswegs nur der Aspekt des
Niedergangs, sondern eben auch der Herausbildung des Neuen betont
werden, so wie es Erich Meuthen in seinem Forschungsüberblick über
„Das 15. Jahrhundert“ betont hat.49 Für Luther und viele seiner
Zeitgenossen stand jedoch eher der Aspekt des Niederganges im
Vordergrund ihrer Wahrnehmung, der für sie eher den Gedanken an
ein allgemeines „Ende der Zeit“, denn einen Übergang oder einen
Neueinsatz weckte. Luthers Meinungsbild zu den „Türken“ sollte davon
erheblich entscheidend geprägt werden.
Charakteristisch für Übergangszeiten sind ein hohes Maß von
Ungleichzeitigkeiten, besonders eben auch in der mentalen Verfassung
der Menschen, die den Abschied des Alten und die Ankunft des Neuen
deutlich machen. Andrew Cunningham und Ole Peter Grell ist Recht zu
geben, wenn sie feststellen:
„More than any other period of European history the sixteenth and early
seventeenth centuries were characterised by apocalyptic expectations,
eschatological speculations and millenarian dreams.“50
47
48
49
50
Schilling, Neuzeit, 433.
Ebd., 434.
Vgl. bes. die Einführung, 1ff.
Cunningham/ Grell, Horsemen, 1.
17
Heinz Schilling formuliert, die Jahrzehnte um 1500 hätten „einen
glühenden, ja apokalyptischen Charakter“51 gehabt. Will-Erich Peuckert
gebührt das Verdienst, in seiner Studie „Die große Wende“ sehr
eindrücklich auf diesen Sachverhalt hingewiesen zu haben. Peuckert
sieht in seiner Studie, die die „große Wende“ von der bäuerlichmythischen zur bürgerlich-rationalen Gesellschaft darstellt, Luther –
m.E. sehr zu Recht – stark verwoben in die bäuerlich-mythische
Untergangsstimmung seiner Zeit.52
Bei Luther wie auch bei anderen Reformatoren steht seine Meinungsund Wissensbildung zur Türkenproblematik, stark unter dem Eindruck
der „Türkengefahr“. Diese Betrachtungsweise ist jedoch selbst schon
eine Interpretationsleistung. Sie meint unter Verwendung eines noch
relativ jungen Terminus53 „den Diskurs, in dem ab dem 15. Jahrhundert
eine Bedrohung für ganz Europa postuliert wurde.“54 Die historische
Wirklichkeit war insgesamt vielschichtiger. Jenseits aller religiös
fundamentierten Antagonismen zwischen Christen und Muslimen gab
es auch eine vielfältige Zusammenarbeit zwischen dem Osmanischen
Reich und einzelnen christlichen Herrschaften.55 Almuth Höfert fragt
deshalb, „wo im 16. Jahrhundert außer auf dem Balkan die angeblich
‚ganz Europa’ bedrohenden Osmanen zu finden sind. Wo ist die
Seemacht, die Spanien und England angreift und sich weiter nach
Skandinavien aufmacht, wo die osmanischen Landheere, die Paris,
Rom, Köln oder Prag bedrohen?“ Sie setzt damit allerdings die Fakten
absolut und sieht in der Türkengefahr m.E. zu stark eine rein
propagandistische Konstruktion. Die Osmanische Expansion war für
jene,
die
sie
-
auf
dem
Hintergrund
eschatologischer
bzw.
apokalyptischer Hoffnungen und Ängste - erlebten, eine potentielle
Gefahr, die nicht ausschließen lies, dass auch Köln (vgl. 1.3.4.), ja gar
sogar Schottland (vgl. 3.1.1.) gefährdet seien. Die Tatsache, dass es
dazu nicht kam, heißt nicht, das es dazu nicht hätte kommen können.
51
52
53
54
55
Schilling, Zeit, 487.
Peuckert, Wende II, bes. 544ff.
Der Begriff „Türkengefahr“ ist nachhaltig erst mit Wilfried Schulzes Arbeit
„Reich und Türkengefahr“ im späten 16. Jahrhundert in den akademischen
Diskurs eingeführt worden, vgl. Höfert, Türkengefahr, 49.
Höfert, Türkengefahr, 49.
Höfert, ,53.
18
Dies war der geistige Horizont, vor dem sich Luther mit den Osmanen
auseinandersetzte.
2.
Kapitel: Das Verhältnis von Christentum und Islam bis
zur Reformation
2.1.
Die Entwicklung der islamischen Machtsphäre
2.1.1.
Aufstieg und Expansion
Ein besonderes Merkmal der durch den Propheten Mohammed (570632) gestifteten Religion des Islam ist die Tatsache, dass diese sich
von Anbeginn an nicht nur als religiöse Lehre, sondern auch als
politische Kraft verstand. So war Mohammed selbst – etwa im
Unterschied zu Jesus von Nazareth - nicht nur Religionsgründer,
sondern auch Staatsmann.56 Der islamischen Gemeinschaft der
„Umma“, die sich im „Dar-al-Islam“ (Haus des Islam) repräsentiert, steht
„Dar-al-Harb“, das „Haus des Krieges“, die Gemeinschaft der
Nichtgläubigen gegenüber, wobei es für den frommen Muslim
Verpflichtung bedeutete und bedeutet, mittels des Djihad („Kampf“/
„Anstrengung“57) die Welt des Islam immer weiter auszudehnen.58
Als die historisch nachhaltigste Form dieses Djihad hat sich dabei die
kriegerische Auseinandersetzung erwiesen. Während es Mohammed
bis zu seinem Tod 632 n. Chr. bereits gelang, die arabische Halbinsel
unter seinen Einfluss zu bringen,59 weiteten seine Nachfolger den
Herrschaftskreis des Islam binnen weniger Jahrzehnte zu einem
Weltreich aus. 711 n. Chr. überschritt der arabische Feldherr Tarik die
Meerenge von Gibraltar („Felsen des Tarik“) und setzte nach Europa
über. Er zerstörte das spanische Westgotenreich mit der Hauptstadt
Toledo.
Nachdem das Westgotenreich untergegangen war, strebte man nach
Südfrankreich, wo der Herzog von Aquitanien besiegt wurde. Die
angerichteten Gemetzel blieben lange in Erinnerung.60 Die islamischen
Truppen stießen dann im Fränkischen Reich auf den Widerstand des
56
57
58
59
60
Vgl. dazu etwa Paret, Mohammed und Armstrong, Muhammad.
Hagemann, Islam, 19
Vgl. Dzambo, Zäsur, 19.
Paret, Mohammed, 110-150.
Gibbon, Islam, 467f.
19
Hausmeiers Karl Martell, der eine islamische Streitmacht 732 n. Chr.
bei Tours und Poitiers schlug.61 Die Schlacht selbst ist möglicherweise
in
der
Retrospektive,
wohl
bedingt
durch
zeitgenössische
Darstellungen,62 überbewertet, doch markiert sie den Anfang vom Ende
des islamischen Eroberungsdranges im europäischen Südwesten.63
Während es den Muslimen nicht gelang, das Fränkische Reich zu
erobern, konnten sie sich in Spanien („al-Andalus“) dauerhaft
festsetzten. Dabei nahm dieses Gebiet als Emirat von Cordoba rasch
eine Sonderentwicklung in der islamischen Welt.64 Im 10. Jahrhundert
erlebte es seine höchste Blüte. Im folgenden Dezennium kam es zu
Thronwirren, das (Teil-)Kalifat spaltete sich in kleinere Reiche auf, was
allerdings zunächst eine kulturelle Verbreiterung des Lebens auf neue
Zentren wie Sevilla, Granada und Valencia mit sich brachte. Im Zuge
der christlichen Rückeroberung („Reconquista“) Spaniens zerbrachen
diese Teilreiche. 1085 n. Chr. wurde Toledo erobert, 1236 Cordoba,
1248 Sevilla; als letztes ging das Emirat von Granada 1492 n. Chr. - nur
acht Jahre vor der Geburt des späteren Kaisers Karl V. - unter.
Historisch lässt sich jedoch mit Blick auf die islamische Herrschaft cum
grano salis festhalten: Spanien blieb für lange Zeit das einzige
europäische Land, in dem Christen und Moslems „normally good“65
zusammenlebten.66 Auch zu den fränkischen Herrschern entwickelten
sich zunächst gute islamisch-christliche Beziehungen. Nach dem
negativen Ausgang des „spanischen Abenteuers“ (Dieter Hägermann),
den im „Rolandslied“ künstlerisch verarbeiteten erfolglosen Feldzug
Karls gegen das Emirat von Cordoba 778 n. Chr., führte dieser gegen
61
62
63
65
66
Rotter, Abendland, 217ff.
Ebd., 222.
Becher, Karl, 35 ; Hägermann, Karl, 58. In farbenprächtiger Ausmalung der
bei einer Niederlage drohenden Konsequenzen, Gibbon, Islam, 468.
Nachdem die bisher herrschende Kalifendynastie der Omajiaden 750 n. Chr.
blutig durch die neue Herrscherfamilie der Abbassiden abgelöst und fast
ausgelöscht worden war, gelang es einem Mitglied der Omajiaden, AbdelRahman, sich nach Spanien zu retten und hier eine omajiadische Restmacht
zu etablieren. Als „Emir“ (Kommandant) erkannte Abel-Rahman die
Oberherrschaft der Abbasiden zwar nicht an, doch vermied er es, durch die
Ausrufung zum Gegenkalifen, eine abbasidische Intervention zu riskieren. Erst
nachdem in Ägypten im 9. Jahrhundert ein Gegenkalifat der Fatimiden
entstand, entschloss sich auch Abdel-Rahman III. 929 n. Chr. den Titel eines
Kalifen anzunehmen.
Armstrong, Muhammad, 22.
Vgl. Willi, Spanien, 9ff.
20
das islamische Spanien, bis auf einige kleinere Feldzüge, die die
Niederlage
von
778
wettmachen
sollten,
keine
militärischen
Expeditionen mehr durch,67 auch wenn karolingische Truppen weiterhin
hier militärische Vorteile zu erringen suchten.68
Grundsätzlich friedlich hingegen entwickelten sich die Beziehungen
zum Kalifat der Abbasiden, das damals von dem sagenumwobenen
Harun-al-Raschid beherrscht wurde. Zwei größere Gesandtschaften
nach Bagdad, von denen eine einen damals weit bestaunten Elefanten
als Geschenk des Kalifen mit nach Aachen zurück brachte, zeugten von
einem gegenseitigen Respekt der beiden Herrscher, der jedoch nicht zu
einem gleichsam multipolaren System Bagdad – Byzanz – Cordoba Aachen hochstilisiert werden sollte.69 Es blieb bei freundlichen
Kontakten,
die
insgesamt
wohl
kaum
als
Verhältnis
zweier
gleichrangiger Mächte interpretiert werden können. Eher scheint es so,
als habe Harun - gegen die abtrünnigen Omajjaden in Spanien - Karl
durch die Geschenke und die Art des Empfangs seiner Delegation als
eine Art „Emir“ für Westeuropa verstanden wissen wollen. Insgesamt
waren die Beziehungen, besonders auch der Handel,70 zu gering und
das
politische
Ungleichgewicht
zwischen
dem
aufstrebenden
fränkischen Herrscher und der saturierten islamischen Weltmacht wohl
auch zu groß, um von einem Bündnis sprechen zu können. Die
Beziehungen zwischen Harun und Karl zeigen allerdings, dass
zwischen Islam und Christentum auch politisch fruchtbare Kontakte
entwickelt werden konnten, mehr jedoch nicht.
2.1.2.
Die Kreuzzüge
Geradezu zum Inbegriff kriegerischer Konflikte zwischen Christentum
und Islam entwickelten sich dann die „Kreuzzüge“71 zwischen 1096 und
67
68
69
70
71
Hägermann, Karl, 155ff.
Ebd., 447.
So jüngst Bassam Tibi in seinem Buch „Kreuzzug und Djihad“, der in dem
Elefanten nicht nur das „Symbol eines islamisch-christlichen Dialoges“ (95)
sondern auch das Zeichen für die Ausbildung eines „multipolaren Systems:
Bagdad und Cordoba auf der islamischen Seite, Aachen und Byzanz auf der
christlichen Seite“ (95) erkennen will.
Hägermann, Karl, 446f.
Riley-Smith, Kreuzzüge, 1ff.
21
1270. Ausgelöst u.a. durch eine auf Augustin zurückgehende72
christliche Neubewertung des Krieges,73 rief Papst Urban II. 1095 zu
einem Kreuzzug auf, der die heiligen Stätten der Christenheit aus den
Händen der „Ungläubigen“ befreien sollte. 1099 wurde Jerusalem unter
enormen Verwüstungen und unter Anrichtung eines Blutbades unter der
Bevölkerung erobert. Eine Reihe von Kreuzfahrerstaaten entstand, die
aber keine lange politische Lebensdauer hatten. Die weiteren
Kreuzzüge waren militärisch nicht mehr erfolgreich. Der letzte (7.)
Kreuzzug des französischen Königs Ludwigs des Heiligen endete mit
dessen Tod 1270 in Tunis. 1291 wurde die letzte Kreuzfahrerstadt Akko
von den Muslimen zurückerobert.
Politisch zerrüttet wurde durch die Kreuzzüge nicht nur das Verhältnis
zum Kalifat der Abbasiden und dem der Fatimiden,74 zu deren
Herrschaftsbereich Jerusalem und Palästina gehörten, sondern auch zu
Konstantinopel, das 1204 durch Kreuzfahrer zerstört wurde und nach
seiner Restituierung sich politisch bis zur Eroberung durch die
Osmanen 1453 nicht mehr erholte. In das historische Bewusstsein der
Muslime gruben sich die Kreuzzüge, wenn auch erst in nachkolonialer
Zeit, tief ein.75 Auf der anderen Seite ermöglichten in fast paradoxer
Weise die Kreuzzüge eine vertiefte Begegnung von islamischer und
christlicher Kultur, von der noch zu berichten sein wird.
2.2.
Verstärkte geistige Auseinandersetzungen mit dem
Islam
2.2.1.
Die
Muslime
als
Häretiker
und
bzw.
oder
apokalyptische Gestalten: Johannes Damascenus,
Pseudo-Methodius, Alvar von Cordoba und Joachim
von Fiore
Der Prophet Mohammed selbst verstand seine Lehre als die endgültige
Offenbarung, die in den heiligen Schriften der Juden und Christen nur
teilweise und dabei von diesen gar noch nachträglich entstellt ergangen
72
73
74
75
Ebd., 6.
Hubschmid, Aufschwung, 26.
Dieses hatte sich vom Abbasiden-Kalifat faktisch selbständig gemacht,
Tworuschka, Allah, 43.
Tworuschka, Allah, 45f.; ähnlich Tibi, Djihad, 44f, 214ff.
22
sei.
Nachdem
Mohammed
mit
seinen
Auffassungen
auf
den
Widerspruch besonders der Juden gestoßen war, grenzte er sich
zunehmend vom Juden- und Christentum ab, ohne jedoch die
Verwandtschaft der abrahamitischen Religionen zu leugnen. Trotz
persönlich teilweise wohlmeinender Einstellung zu den Christen
kritisierte Mohammed heftig deren (dogmatische) Lehren, wozu
besonders der Kreuzes- und Heilstod Jesu, aber noch mehr die
Behauptung von dessen Gottessohnschaft gehörten. Letztere bildet für
den Islam die Hauptsünde, die „Beigesellung“ („shirk“) Gottes.
Mohammed rief deshalb auch zum Kampf gegen die Juden und
Christen auf, damit diese die Herrschaft des Islam und die für ihn wahre
Offenbarung des Koran anerkannten. Allerdings wurden Juden und
Christen differenziert von Polytheisten unterschieden,76 was eine
Duldung der christlichen und der jüdischen Religion im islamischen
Herrschaftsbereich möglich machte.
Im Zuge der geschilderten islamischen Eroberungen drangen die
Muslime in historische Kerngebiete des christlichen Glaubens, wie
Ägypten und Karthago, später dann Westgotien, vor. Sie stießen hier
auf eine besonders in der Frage des Verhältnisses von menschlicher
und göttlicher Natur Christi tief zerstrittene Christenheit, die dem Islam
keine Einigkeit entgegen zu setzten hatte77 und im Maghreb bald fast
vollständig verschwand, während sie sich in Ägypten in kleineren
Gruppen halten konnte. Die christliche Religion wurde in der Regel in
den eroberten Gebieten meist nicht verfolgt, sondern mit einer Art
repressiver Toleranz78 geduldet.79 In Spanien wurden die in Sprache
und Sitte den Arabern angepassten Christen, die „Mozzararber“, wie die
Christen
in
Nordafrika
auf
den
Status
von
Schutzbefohlenen
(„Dhimmis“) gebracht, die unter gewissen Einschränkungen und der
Zahlung einer Kopfsteuer ihren Glauben weiter praktizieren durften.
76
77
78
79
Paret, Mohammed, 140ff.
Hagemann, Islam, 12.
Vgl. dazu Southern, Islambild, 21; Dzambo, Zäsur II, 21ff.
Der englische Historiker Edward Gibbon sprach davon, man könne „Mäßigung
und Zucht der arabischen Eroberer unseren Beifall nicht versagen. Eduard
Gibbon, Der Sieg des Islam, 445
23
Erstmals setzte sich als christlicher Theologe der bist heute in der
Ostkirche auf das Höchste geschätzte80 Johannes Damascenus (650 –
ca. 750) mit dem Islam auseinander. Der später hochbetagt gestorbene
Johannes
kam
in
Damaskus,
der
Hauptstadt
des
damaligen
Omaijadenreiches zu Welt und war ein Spielgefährte des späteren
Kalifen Yazid. Johannes’ Vater war der Kämmerer des Kalifen.81 Mit
dem auf Yazid und zwei weitere Kalifen folgenden Abd al-Malik (685705) endete jedoch die Toleranz der Herrscher den Christen
gegenüber. Johannes, bis dahin angeblich Mitarbeiter seines Vaters,
trat, da er keine Aussichten auf eine weltliche Karriere mehr hatte, in
ein Kloster ein. Es lag nahe, dass er sich hier insbesondere auch mit
dem Islam beschäftigte.
Johannes hielt in seinem Buch „De Haeresibus“ die Lehre Mohammeds
für eine „christliche Häresie arianischer Prägung“82. Damit wurde eine
heftige Grundsatzkritik geübt, indem der Islam als Häresie bezeichnet
wurde. Gleichzeitig aber wurde dieser Religion zumindest der Charakter
einer - wenn auch falschen - Lehre zugebilligt. Das Potential von
religiösem Disput, Widerlegung und gar Bekehrung war hier zumindest
gegeben.
Johannes Damascenus markiert damit ein Grundmodell in der
christlichen Auseinandersetzung mit dem Islam, das ich als das
„dogmatische
Modell“
bezeichnen
möchte.83
Es
meint
die
Wahrnehmung der islamischen Religion unter dem Gesichtspunkt der
„wahren Lehre“. Johannes’ Spielart dieses Modells war dabei
konfrontativ angelegt, da er sich offensichtlich die Lösung des
Konfliktes nur in einer Annahme des Christentums durch den Islam
vorstellen konnte. Durch die Aufnahme von Schriften des Damascenus
in das Corpus Toletanum, eine Zusammenstellung von anti-islamischen
80
81
82
83
Dallis, Johannes von Damaskus, 289.
Uthemann, Johannes von Damaskos, 331.
Hagemann, Islam, 17. Zum Arianismus vgl. Hägglund, Theologie, 57ff.
Vgl. dazu auch Miyamoto, Influence, 125, die ebenfalls zwischen einem
„Christian understanding of Islamic doctrine“ und „Christian eschatological
interpretation of Islam“ im Blick auf Damascenus und Pseudo-Methodius als
ersten Exponenten unterscheidet.
24
Werken durch Petrus Venerabilis 1143, wirkte Damascenus’ IslamInterpretation auch im lateinischen Westen fort.84
Allerdings ist Damascenus selbst kein reiner Vertreter dieses Modells,
denn an anderer Stelle bezeichnet er die „Ismaeliten“85 als „Vorläufer
des Antichrists“86. Damit deutet sich bei ihm auch das zweite, das
apokalyptische Grundmodell der christlichen Interpretation des Islam im
Mittelalter an, wobei unter Apokalyptik hier allgemein die Deutung von
Geschehnissen unter der Annahme eines nahen Weltendes verstanden
werden soll, bzw. die Annahme, in einer „letzten Zeit“ zu leben.87
Zwischen beiden Positionen oder in differenzierten Mischformen sollte
sich die Auseinandersetzung mit der Religion der Muslime für fast ein
Jahrtausend vollziehen.
Das apokalyptische Modell ist besonders mit dem Namen des
(Pseudo)-Methodius von Patara verbunden: Pseudo-Methodius, ein in
Persien geborener Syrer, der für den in Jahre 311 den Märtyrertod
gestorbenen Bischof Methodius von Patara gehalten wurde,88 deutete
in seiner „Revelatio S. Methodii de temporibus novissimus“, die
wahrscheinlich im siebten Jahrhundert entstanden, unter Verwendung
älteren Traditionsgutes89 den Islam - die „Agareni“90 - als die in der
biblischen Apokalyptik vorausgesagte Erscheinung des Antichristen.91
Die Schrift des Pseudo-Methodius aktualisiert dabei das etwa aus der
Johannes-Apokalypse
bekannte
Genus
der
Offenbarungen,
um
stabilisierend und orientierend auf den bedrängten Leser zu wirken.
Für die Relevanz des Werkes spricht, dass es bald auch ins Abendland
gelangte. In der Merowingerzeit wurde offensichtlich schon eine
Übersetzung ins Lateinische abgefasst. Untergründig wirkte Methodius,
wie die Arbeit zeigt, fort. Zahlreiche Schriften beziehen sich auf ihn.
84
85
86
87
88
89
90
91
Miyamoto, Influence, 125.
Benannt nach dem Stammvater der Araber, dem Abraham-Sohn Ismael.
Zit. nach Bobzin, Luther, 284 A. 111: pródromos ... tou ántichrístou.
Vgl. zu den Diskussionen um das Verständnis der Apokalyptik auch Leppin,
Antichrist, 15f.
Manselli, Antichrist, 703; Barnes, Prophecy, 21.
Zur Diskussion vgl. Rauh, Antichrist, 145; Möhring, Weltkaiser, 54ff.
Von der biblischen Hagar, der Mutter Ismaels, des ersten Sohnes Abrahames,
der wiederum als der Stammvaters der Muslime galt. Vgl. auch WA 30 II, 83.
Vgl. Peuckert, Wende , 165.
25
Methodius
stellt
in
seiner
„Offenbarung“
in
14
Kapiteln
eine
Weltgeschichte von der Vertreibung Adams und Evas aus dem
Paradies bis zum Jüngsten Gericht dar, das auf die Herrschaft des
Antichrist folgt.92 Die Geschehnisse sind dabei in „eine Zahl von
wahrhaft
dichterischen,
erregenden
apokalyptischen
Fresken
eingespannt“.93
Zu den Schilderungen des Pseudo-Methodius gehört u.a. auch die
Vorstellung von Gog und Magog und damit biblisches Traditionsgut. In
Kapitel 38 und 39 des biblischen Buches Ezechiel (Hesekiel) ist vom
Fürsten Gog aus dem Lande Magog die Rede, der gegen Israel kämpft.
In der Offenbarung des Johannes (Apk 20,8) begegnen Gog und
Magog dann als zwei Völker aus dem Norden, die am Ende der Zeiten
zum Kampf gegen die Erwählten Gottes heranziehen. Mit diesen
Vorstellungen
verbindet
sich
nun
eine
bei
dem
jüdischen
Geschichtsschreiber Flavius Josephus überlieferte Sage, die davon
berichtet, Alexander der Große habe einst die beiden Völker hinter den
Kaukasus
zurück
verschlossen.
getrieben
Erst
am
und
Ende
hinter
der
einer
Zeiten
eisernen
würden
sie
Mauer
wieder
hervorbrechen. Zunächst werden die „Ismaeliten“ jedoch, nachdem sie
vollständig die Herrschaft in der damals bekannten Welt übernommen
haben und Christus zu verspotten beginnen, von einem für tot
gehaltenen König der Griechen vernichtend geschlagen. Nach einer
langen
Friedenszeit
Anschließend
brechen
dann
diese
ebenfalls
werden
Gog
und
vom
Magog
griechischen
hervor.
König
geschlagen. Nachdem dieser auf Golgatha seine Krone auf das Kreuz
Christi setzt und stirbt, bricht der Antichrist hervor, der mit der Ankunft
des „Jüngsten Tages“ von Gott in das ewige Verderben gestürzt wird.
Im
Abendland
wurden
diese
Gedanken
besonders
unter
der
muslimischen Oberherrschaft in Spanien weiter verbreitet. Zahlreiche
Christen, „die Märtyrer von Cordoba“, drängten hier nach dem
Opfertod. Inspiriert wurden sie dabei von dem Mönch Perfectus von
Cordoba, der um 850 Mohammed öffentlich u.a. als Antichrist
92
93
Zum Inhalt, Möhring, Weltkaiser, 58ff.
Peuckert, Wende, 166.
26
bezeichnet hatte, und dafür hingerichtet wurde.94 Perfectus fand
augenblicklich Nachahmer. Fünfzig Personen wurden wegen der
Verunglimpfung Mohammeds getötet. Diese zunächst nur lokalen
Ereignisse wurden schnell theologisch-propagandistisch aufgewertet.
Alvarus von Cordoba (ca. 800 – ca. 861) vertrat unter Einfluss des
Bischofs von Toledo, Eulogius, in seinem „Indiculus Luminosus“ die
Meinung, „das die Herrschaft des Islam eine Vorbereitung auf das
endgültige Auftreten des Antichrist sei.“95 Besonders das biblische Buch
Daniel beförderte diese Ansichten. Alvarus deutete die dreieinhalb
Zeiten aus Dan 12,7 dabei als Perioden von je siebzig Jahren, so dass
vom Aufkommen des Islam aus gerechnet, das Weltende zur Zeit des
Alvarus kurz bevor stand. Alvarus sollte damit prominent am Beginn
einer Interpretation des Buches Daniel stehen, die besonders in der
Reformationszeit wieder aufgegriffen wurde.
Zwei Grundfiguren der christlichen Interpretation des Islam, eine
dogmatische, die den Islam als Irrlehre begriff, und eine apokalyptische,
die die Muslime als endzeitliche Macht interpretierte, zeichnen sich in
diesem Zeitraum erstmals ab. Sie sollten, wie schon ausgeführt, die
Grundmuster
in
der
Auseinandersetzung
bleiben,
wobei
die
apokalyptische Deutung immer auch das Interpretament der Irrlehre
enthielt, nicht aber umgekehrt die dogmatische Deutung das der
Apokalyptik. Noch ein weiterer Unterschied ist bemerkenswert. Die
dogmatische Interpretation war besonders dann vorherrschend, wenn
von islamischen Mächten keine Gefahr drohte. So hegte etwa das zum
Kaisertum aufgerückte Frankenreich Karls des Großen gegenüber dem
Islam keine Befürchtungen. Es konnte Handel und Wandel mit
islamischen Mächten betreiben und sich seiner geschichtlichen
Erwählung als drittes Rom, wie es Karls Berater Alkuin sah, sicher
sein.96 Der Islam spielte als stabilisierendes oder zeitendeutendes
Feindbild keine Rolle. Hingegen nährte das Vordringen des Islam, bzw.
dessen siegreiches Zurückschlagen der christlichen Mächte in den
94
95
96
Armstrong, Muhammad, 21.
Southern, Islambild, 22; Armstrong, 24.
Brentjes, Mythos, 25.
27
Kreuzzügen ein Krisengefühl oder ließ es gar erst entstehen, das sich
schnell mit apokalyptischen Vorstellungen verband.
Die apokalyptische Interpretation des Islam sollte dann auch an der
Wende zum 13. Jahrhundert Joachim von Fiore verstärken. Für ihn
bedeuteten Mohammed und sein eigener Zeitgenosse Sultan Saladin
das vierte bzw. das sechste Haupt des apokalyptischen Drachens aus
der Offenbarung des Johannes (Apk 13).97 Diese Vorstellung verband
er dann wiederum mit den im Propheten Daniel genannten für
Weltreiche stehenden vier Tieren (Dan 7), die für ihn, „die Juden“, „die
„Heiden“, „die Arianer“ und schließlich „die Sarazenen“ darstellten.98 Die
Prophetie des Joachim, die sich besonders in der Vorstellung vom
„Dritten Reich“99, der Herrschaft des Heiligen Geistes in einem
monastischen Zeitalter, verdichtete, sollte im Mittelalter nachhaltig
wirken.100
2.2.2.
Die Suche nach Gemeinsamkeiten: Thomas von Aquin
und Raimundus Lullus
Die abendländische Christenheit war jedoch insgesamt über den Islam trotz der Vorgänge in Spanien - bis ungefähr zum Jahre 1100
weitgehend uninformiert.101 Erst mit den Kreuzzügen und der
Reconquista änderte sich dies nachhaltig. Es wurde das schon von
Johannes Damascenus gebrauchte Denkschema, bei Mohammed
handle es sich um einen christlichen Häretiker, übernommen und
volkstümlich ausgestaltet.102 Dabei überwucherten Fehldeutungen und
Falschinformationen die wenigen Kenntnisse, wenn es etwa im
„Rolandslied“ hieß, die Muslime glaubten an über dreißig Götter.103
Erst mit der Zeit setzten sich vertieftere Kenntnisse über den Islam und
Mohammed durch. Insbesondere kam es zur durch den Islam
vermittelten
97
98
99
100
101
102
103
104
Aristoteles-Rezeption.104
Die
im
Islam
bedrängte
Miayamoto, Influence, 126ff.
Ebd., 131.
Diese Vorstellung ist jedoch pseudo-joachimitisch, vgl. Miyamoto, Influence,
131.
Vgl. Reeves, Influence.
Ebd., 17.
Ebd., 26f.; Hagemann, Islam, 18f.
Ebd., Islambild, 27.
Vermittelt durch christliche Syrer hatte nach der Schließung der Athener
Philosophenschule 528 in Persien eine Aristoteles-Renaissance eingesetzt,
28
Philosophie erlebte nun im christlichen Westen durch neugewonnene
Kenntnis der bisher hier nur teilweise zugänglichen Werke des
Aristoteles, „so etwas wie die Aufklärung im Mittelalter“105.
Zugleich gab es die militärische Auseinandersetzung mit dem Islam.
Die Kreuzzüge wurden bald jedoch theologisch unterschiedlich
bewertet. Während die einen ein militärisches Vorgehen gegenüber
dem Islam guthießen und den Kreuzzugsgedanken propagierten, so
etwa Bernhard von Clairvaux,106 suchten andere den - wenn möglich
missionierenden - Dialog voranzutreiben. Bernhard jedoch ist als großer
Kreuzugsprediger in die Geschichte eingegangen.107 In einer Zeit, die
immer wieder auch auf apokalyptische Deutungsmuster zurückgriff, hat
er allerdings den kampf gegen die Araber nicht so gedeutet. Es ging
ihm vielmehr um den Schutz der ecclesia orientalis.108
Es war dann Bernhards Zeitgenosse Petrus Venerabilis, Abt von Cluny,
der auf Inspektionsreisen durch die ihm neu unterstellten Klöster in
Spanien den Plan fasste, die geistige Auseinandersetzung mit dem
Islam „nicht im Hass, sondern in Liebe“109 aufzunehmen. Um zunächst
dazu bessere Informationen über den Islam und den Koran zu
bekommen,
initiierte
er
in
Toledo,
einem
alten
Zentrum
der
mozzarabischen Kultur, eine Koranübersetzung ins Lateinische. Sie
wurde 1143 durch den Engländer Robert von Ketton angefertigt. Ihre
Bedeutung ist ambivalent: Einerseits kam es nun zu einer durchaus
vertieften Kenntnis des Koran und damit des Islam, andererseits wurde
der Wert durch Fehlübersetzungen und tendenzielle Übertreibungen,
etwa sexuell konnotierter Stellen, erheblich eingeschränkt.110 Diese
Übersetzung lag später Martin Luther vor.
105
106
107
108
109
110
die Muslime nach der Eroberung des Sassanidenreiches übernahmen und
weiterbildeten. Der Ärzte und Philosophen Ali ibn Sina (Avicenna) und Ibn
Rushd (Averroes) führten die islamische Philosophie zu hoher Blüte, mussten
sich aber des Vorwurfes der Ketzerei erwehren. Nach Averroes’ Tod 1198 in
Cordoba endete diese Hochphase.
Flasch, Denken, 319.
Hagemann, Islam, 24.
Winkler, Bernhard, 94ff.
Ebd.; Dinzelbacher, Bernhard, 293ff., bes. 298.
Zit. in Southern, Islambild, 32.
Vgl. dazu Hagemann, Islam, 32ff.
29
Einen ersten Höhepunkt geistiger Auseinandersetzung mit dem Islam
markiert Thomas von Aquin (1225-1274). In seiner Schrift „De
rationibus
fidei“
wollte
Thomas
in
der
Tradition
seines
Dominikanerordens eine intellektuelle Auseinandersetzung führen und
die Rationalität des christlichen Glaubens aufzeigen und von daher die
islamische Kritik widerlegen. Als gemeinsame Basis der Argumentation
sollte dabei die Vernunft dienen. „De rationibus fidei“ ist so eine
Verteidigung des Christentums. „Jede polemische Nuance ist ihr
fremd.“111 Allerdings bleibt die Wahrheit unteilbar für den Aquinaten in
der christlichen Religion. Wenn Thomas seine Auseinandersetzung mit
dem Islam also auch deutlich innerhalb des dogmatischen Modells
vollzieht, ist es doch eine Besonderheit, dass Thomas diese
Anschauungen in einer unpolemischen Sachlichkeit entfaltet, die einen
Seltenheitswert
in
der
Geschichte
der
christlich-islamischen
Beziehungen hat.
Thomas’
Vorgehensweise
war
dabei,
da
sie
eine
Art
Grundlagendiskussion zu führen versuchte, nachhaltig wirksamer, als
der Missionsversuch des Franz von Assisi bei Sultan al-Kamil während
des 5. Kreuzzuges 1218/1219. Nach drei Tagen wurde er vom Sultan
mit freundlichen Worten zurückgeschickt.112
Ein weiteres Beispiel „vernünftigen“ Religionsdialoges bietet der
mallorquinische Theologe Raimundus Lullus (1230/31-1315/16), der
aus seiner Heimat das Zusammenleben der drei abrahamitischen
Religionen aus eigener Anschauung gut kannte. Ungefähr zeitgleich mit
Raimundus’ Geburt war Mallorca von König Jakob I. von Aragon im
Zuge der Reconquista erobert worden.113 Auf Mallorca verwirklichte
sich in dieser Zeit wahrscheinlich das intensivste Zusammenleben der
drei
großen
monotheistischen
Religionen
unter
christlicher
Herrschaft.114 Raimundus’ Ansichten sind davon geprägt. „Ramons
111
112
113
114
Ebd., 52.
Armstrong, Muhamad, 31.
Hagemann, Islam, 63.
Euler, Unitas, 63.
30
Aussage geht darauf hinaus, daß alle Religionen gut sind, da sie ja gute
und weise Menschen hervorbringen.“115
In seinem „Buch vom Heiden und den drei Weisen“ wirbt er eindrücklich
für das Gespräch der Religionen.116 In dem Buch stellen je ein Jude, ein
„Sarrazene“ und ein Christ einem heidnischen Philosophen ihre
jeweilige Religion so beeindruckend vor, das dieser sich zum Glauben
bekehrt. Die Argumentation beruht dabei nicht auf der Verteidigung von
spezifischen Glaubenssätzen, also inhärenten Autoritätsargumenten,
sondern auf einem „vernünftigen“ Diskurs über Gottes Eigenschaften
(Güte, Größe, Weisheit etc.). Um nicht zu erfahren, zu welcher Religion
der Philosoph gefunden hat, verabschieden sich die drei Weisen dann,
bevor er dies ihnen mitteilen kann. Sie selbst vereinbaren fortgesetzte
Religionsgespräche, „bis wir alle drei uns zu einem einzigen Glauben
und zu einer einzigen Religion bekennen.“117 Wenn dies der Fall sei,
versprechen die Weisen sich, würden sie „durch die Welt ziehen ..., um
den Namen Gottes, unseres Herrn, zu preisen und zu loben.“118
Wenn auch Lullus im Rahmen des dogmatischen Modells eine hohe
Gesprächsbereitschaft entwickelte, die wie bei Thomas - und anders
etwa als bei Johannes Damascenus - nicht nur völlig unpolemisch,
sondern auch irenisch angelegt war, stand es jedoch auch für Lullus
außer Zweifel, dass die wahre Religion einzig die christliche sein könne.
In seinem „Libre de sancta Maria“ äußerte er dies:
„Da wir alle, wie viele wir auch sein mögen, nur einen Gott und Herren
haben ..., so sollten wir auch alle zusammen nur einen einzigen
Glauben und eine einzige Religion haben, nämlich den heiligen
christlichen Glauben.“119
Lullus war also in erster Linie, bei aller Bereitschaft zur religiösen
Diskussion, Missionar. Man wird deshalb bei Raimundus von einem
dogmatischen Interpretationsmodell mit missionarischer Zuspitzung
sprechen dürfen.
115
116
117
118
119
Lullus, Buch, 12.
Ebd., 71.
Ebd.,
Ebd., 71f.
Hagemann, Islam, 63.
31
Der vernunftgeleitete und emotional beherrschte Dialog hatte es aber
spätestens seit dem Fall der letzten Kreuzfahrerfestung Akko 1291 auf
christlicher Seite schwer. 1292 wandte sich Lullus mit einer Petition an
Papst
Nikolaus
IV.,
die
das
Ziel
hatte,
ihn
für
ein
Kreuzzugsunternehmen zu gewinnen. 1293 entkam er auf einer
Missionsreise nach Tunis nur mit knapper Not dem Tod.120 1315/1316
starb der Hochbetagte auf der Rückkehr von einer Missionsreise, die er
abermals nach Tunis unternommen hatte. Von den frühen Hoffnungen
und der irenischen Haltung, die, wenn sie nur als Taktik gemeint war,
sich nicht bewährt hatte, war nicht viel geblieben:
„Arabisch habe ich erlernt und mich mehrfach aufgemacht, den
Muslimen (das Evangelium) zu predigen; wegen meines Glaubens
wurde ich gefangengenommen, eingekerkert und verwundet. ...
Nun
bin ich alt, dazu noch arm; geblieben ist mein Anliegen ...“121.
2.2.3.
Geistige Zurüstung gegen den Islam: Ricoldus de Monte
Crucis
Durch
die
Verschlechterung
der
christlich-abendländischen
Machtposition nach dem Fall von Akko ist es nicht verwunderlich, dass
die Schrift des florentinischen Dominikaners Ricoldus de Monte Crucis
(1243-1320), die dieser im Jahre 1300 nach einem zwanzigjährigen
Aufenthalt im Mittleren Osten unter dem Titel „Contra legem
Sarazenorum“ verfasste, einen eher polemischen und nur scheinbar
argumentativ-bezwingenden Charakter trug. De Monte Crucis hatte in
Bagdad auch Zugang zu islamischen Hochschulen erhalten und konnte
dort den Koran studieren.122 Mit dieser „Frucht seiner Studien und
Erfahrungen“123 legte Ricoldus in „Contra legem Sarracenorum“ eine
Schrift
vor,
die
sich
besonders
dominikanischen Mitbrüder wandte.
120
121
122
123
Ebd., 66.
Zit. in ebd., 67.
Todt, Art: Ricoldus da Monte Croce, 191.
Hagemann, Islam, 60.
an
seine
missionierenden
32
Der Titel macht schon deutlich, dass es Ricoldus darum geht, den
christlichen Glauben - hier gefasst unter den Begriff des Gesetzes gegenüber dem islamischen Gesetz, damit ist faktisch der Koran
gemeint, als diesem überlegen zu erweisen. Die Gründe dafür sind
insbesondere die für Ricoldus offensichtliche Unvernünftigkeit des
Koran, die er an zahlreichen Stellen meint aufzeigen zu können. Eine
weitere Rolle spielt auch die heftige Kritik an dem Religionsstifter
Mohammed, dem insbesondere sein Verhältnis zu den Frauen zum
Vorwurf gemacht wird. Der Ursprung des Islam ist für Ricoldus
diabolisch,124 deshalb ist eine irgendwie geartete positive Anknüpfung
oder eine sachliche Auseinandersetzung für ihn nicht möglich. Hier
zeigt sich, wie sich seit den Tagen des Thomas von Aquin das
christlich-islamische Klima nach der christlichen Niederlage in den
Kreuzzügen verschlechtert hatte. Trotzdem ist man offensichtlich
jedoch noch weit davon entfernt, den Islam bzw. die islamischen
Mächte - die Osmanen sind zu diesem Zeitpunkt noch Regionalfürsten als fundamentale Bedrohung anzusehen.
Insgesamt bewegt sich Ricoldus ganz innerhalb des dogmatischen
Interpretationsmodells, wenn er auch an einer Stelle eine angebliche
Meinung der Muslime weitergibt
„primum Alcorani auctorem non hominem fuisse, sed diabolum, qui
propria inuidia dt diuina permissione, propter peccata populi, praeualuit
inchoare solemniter et efficaciter perfidiam antichristi.“125
Von einer irgendwie gearteten apokalyptischen Grundhaltung im Werk
des Ricoldus ist jedoch nichts zu verspüren. In der Übersetzung Luthers
rund 250 Jahre später sieht dies anders aus. Aus dem Wort „antichrist“
ist in Luthers Übersetzung der „Endchrist“ geworden.126
Mit seinem Werk hat Ricoldus „eine polemisch-apologetische Schrift
hinterlassen. Sie ist in ihrer Art wenig originell, hebt sich von anderen
Hinterlassenschaften ihres Genres kaum ab.“127 Dies bilanziert der
Religionswissenschaftler
124
125
126
127
WA 53, 277.
WA 53, 352.
WA 53, 252.
Hagemann, Islam, 62.
Ludwig
Hagemann.
Es
steht
nicht
im
33
Widerspruch mit der Aussage Hartmut Bobzins, der Ricoldus’ Schrift zu
den „herausragenden Werken mittelalterlicher Islampolemik“128 zählt.
Durch eine griechische Übersetzung erlangte Ricoldus’ Werk auch im
byzantinischen Raum Bedeutung. Als Rückübersetzung „Confutatio
Alcorani“ wirkte es auf Cusanus und Luther. Als „I Saraceni“ gibt es
eine zeitgenössische italienische Übersetzung von 1992.129
Ein zusammenfassender Überblick auf die Interpretation des Islams
durch das Christentum zeigt bis zum Vorabend der Reformation ein
klares Überwiegen des dogmatischen Interpretationsmodells, das
besonders während der Zeit der Kreuzzüge auch eine missionarische
Zielrichtung hatte. Die Einschätzung der Muslime als Gestalten der
Apokalypse, es wurden Pseudo-Methodius, Petrus Alvarus und
Joachim von Fiore genannt, bleibt eher die Ausnahme. Bezeichnend ist,
das beide erstgenannten Männer unter islamischer Herrschaft lebten.
Dies macht natürlich deutlich, das die Bereitschaft zur apokalyptischen
Interpretation in einer wie auch immer subjektiv wahrgenommenen
Bedrängnis höher war als andernorts. Grundsätzlich fühlten sich die
Christen, nicht zuletzt bestärkt durch die anfänglich erfolgreichen
Kreuzzüge und dann durch die Reconquista stark genug, nicht auf
apokalyptische Grundmuster zurückgreifen zu müssen. Das sollte sich
jedoch mit dem Aufkommen des Osmanischen Reiches ändern. Im
Spätmittelalter herrscht die apokalyptische Grundhaltung gegenüber
dem Islam vor.
2.3.
Christentum und Islam am Vorabend der Reformation
2.3.1.
Das Aufkommen des Osmanischen Reiches
Weniger bedingt durch die Kreuzzüge als durch die Mongolenstürme
erhielt das schon seit dem 10. Jahrhundert schwache und über viele
Gebiete nur noch nominell herrschende Abbasidenkalifat 1258 n. Chr.
den Todesstoß. Relativ schnell konnte sich jedoch eine neue islamische
Zentralmacht konstituieren, das Osmanische Reich.130
128
129
130
Bobzin, Luther, 279.
Todt, Art.: Ricoldus, 191ff.
Zur Geschichte der Osmanischen Expansion bes. Vaughan, Europe;
Babinger, Mehmed.
34
In Bithynien vermochte es der Stammesführer Osman (1258-1326) um
1300 n. Chr., ein selbstständiges Teilfürstentum errichten, aus dem sich
eine Dynastie entwickelte, die bis zum Jahre 1922 existierte. Osmans
Sohn Orhan setzte die Ausweitung seines Herrschaftsbereiches fort,
wobei er 1354 mit der Eroberung von Gallipoli seine Herrschaft nach
Europa ausdehnte. Unter Orhans Sohn Murat geriet das Byzantinische
Reich in Tributabhängigkeit. Es schmolz in der Folge auf das
Stadtgebiet von Konstantinopel zusammen. 1389 wurde das Serbische
Reich nach der Schlacht auf dem Amselfeld unter Tributpflicht gebracht,
ein halbes Jahrhundert später dem Osmanischen Reich einverleibt.
1393 wurde Thessalien erobert, 1395 das heutige Albanien. 1396
endete ein Kreuzzug Kaiser Sigismunds mit der Niederlage in der
Schlacht von Nikopolis. Der „Nimbus von der Unüberwindlichkeit der
Osmanen“131
war
geboren.
1397
fiel
Athen,
1453
die
Stadt
Konstantinopel, 1463 Bosnien in die Hände der Osmanen, 1482 die
Herzegowina. Das Osmanische Reich war damit in „Rumelien“ (Europa)
zur Zeit Luthers eine politische Macht geworden, die nur noch das
Königreich Ungarn vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation
trennte. In der Regierungszeit des Sultans Suleiman „des Prächtigen“,
die von 1520 bis 1566 währte, sollte dann auch diese „letzte Bastion“ in
Gefahr geraten.
Das Osmanische Reich wurde fortan für Jahrhunderte eine Konstante
im Europa der Mächte, dass allein von diesem Gesichtspunkt her keine
res publica christiana mehr sein konnte. Zusammen mit dem
Habsburgerreich und Frankreich enstand hier eine machtpolitische
Konstante, in der die „europäischen Mächte als Gegner wie als
Verbündete der Türken auftraten.“132 Luther, so viel kann schon jetzt
gesagt werden, hat diese politischen Entwicklungen niemals realisiert.
2.3.2.
Die militärischen Auseinandersetzungen zwischen
dem
Osmanischen
Mächten
131
132
Andermann, Geschichtsdeutung, 31.
Schilling, Neuzeit, 440.
Reich
und
den
christlichen
35
Das Vordringen der Osmanen blieb nicht ohne militärische Gegenwehr.
Auch theoretisch wurde das Problem reflektiert, und besonders die
Päpste versuchten in der Auseinandersetzung mit den Osmanen an die
alte Kreuzzugstradition anzuknüpfen. Dem Streben der Päpste, einen
Kreuzzug gegen die Türken zu formieren, setzte sich jedoch der
deutsche Kaiser Friedrich III. von Habsburg, der von 1440 bis 1493
regierte, entgegen, oder genauer gesagt: er tat nichts dafür, obwohl
sich gerade an seine Person bzw. seinen Namen zahlreiche, von ihm
selbst
allerdings
abgelehnte,
apokalyptische
Hoffnungen
bzw.
Befürchtungen banden.133 Nicht nur deshalb ist Friedrich III. als der
„faule Kaiser“134 in die Geschichte eingegangen. Friedrich gilt als „less
interested in affairs of the state than in collecting jewels and dabbling in
the occult“.135 Die längste deutsche Kaiserherrschaft bleibt umstritten.
Teilweise wird sie als „eine der schwunglosesten“136 angesehen,
andererseits wird die Politik für seine Dynastie als „zäh, geduldig,
wachsam und systematisch“137 charakterisiert. Tatsächlich wurde die an
Interessen des Hauses Habsburg orientierte Politik von Friedrich klar
bevorzugt, was allerdings an sich schwer genug war. Die Königtümer
Böhmen und Ungarn gingen für die Habsburger verloren, später gelang
es dann dem Ungarnkönig Matthias Corvinus den Kaiser gar aus Wien
zu vertreiben.138
Ein Verständnis von seiner übergreifenden Aufgabe als Kaiser des
Reiches hat Friedrich III. zugunsten seiner Orientierung an der „Casa
Austria“ nie entwickelt. Deshalb zögerte er wohl auch einen Feldzug
gegen die Türken immer wieder hinaus.139 Die Auseinandersetzungen
um die ungarischen Erbansprüche der Habsburger hemmten diese
Aktivitäten zusätzlich, so dass ein „Türkenzug“ letztlich aus seiner
habsburgischen Sicht als wenig ratsam erschien.140 Friedrich beteiligte
sich auch zu Beginn seiner Regierung nicht an dem Krieg unter der
133
134
135
136
137
138
139
140
Zu den Vorstellungen von einem Endzeitkaiser mit dem Namen „Friedrich“ vgl.
Möhring, Weltkaiser, 248ff.
Peuckert, Wende I, 25.
Galati, Imperialism, 3.
Vocke, Regierungszeit, 166.
Zeeden, Deutschland, 478.
Ebd., 166ff.
Zur Kreuzzugspolitik Friedrichs vgl. Koller, St. Georgs-Ritterorden.
Höfert, Türkengefahr, 104.
36
Führung des ungarischen Reichsverweser Janos Hunydai gegen die
Osmanen. Dieser endete allerdings auch 1444 mit der Niederlage von
Varna, bei der u.a. der polnische König Wladislaw III., päpstliche
Legaten und zehntausende Soldaten den Tod fanden.141 Später waren
es besonders die Auseinandersetzungen mit Hunydais Sohn, König
Matthias Corvinus, die Kaiser Friedrich hinderten, gegen die Osmanen
zu ziehen, so dass der ungarische König nicht nur über Jahrzehnte
(1458-1490) Widerpart Friedrichs III., sondern auch der eigentliche und
erfolgreiche Gegenspieler der Osmanen blieb.142
Die
unter
Friedrichs
Vorsitz
abgehaltenen
„Türkenreichstage“
1454/1455 in Frankfurt, Regensburg und Wiener Neustadt, auf denen
der päpstliche Gesandte Aeneas Silvius Piccolomini rhetorisch brillierte,
blieben folgenlos.143 Erst gegen Ende der 1460iger Jahre unternahm
Friedrich Anstrengungen zu einem „Türkenzug“, etwa mit der
Einberufung eines zur Vorbereitung dienenden Reichstages nach
Regensburg 1471 und der Gründung des St.-Georg-Ritterordens.144 Zu
einem Kreuzzug kam es jedoch trotz publizistischer Ermunterung145
nicht. Als Friedrich III. 1493 starb, mag es geradezu zeichenhaft gewirkt
haben, dass sein Sohn und Nachfolger Maximilian sich nicht am
Totenbett des Vaters befand und auch die Beisetzung verschoben
werden musste, weil jener wegen der osmanischen Bedrohung der
habsburgischen Erblande in Ungarn dort militärisch eingebunden
war.146
Maximilian setzte sogleich neue Akzente. Schon vor seinem Amtsantritt
hatte
er
auf
einem
Türkenzugskongress
in
Rom
1490
ein
großangelegtes gesamteuropäisches Konzept für eine militärische
Auseinandersetzung mit den Osmanen entwickelt.147 Als Kaiser erhob
Maximilian den Türkenkreuzzug sofort zum Programm. Noch im Jahre
seines Regierungsantritts erneuerte er den St.-Georgs-Orden.148 Das
141
142
143
144
145
146
147
148
Matschke, Art.: Türkenkriege, 1106.
Majoros/Rill, Reich, 61, 170.
Höfert, Türkengefahr, 104.
Matschke, Art.: Türkenkriege, 1107.
Möhring, Weltkaiser, 252.
Vocke, Regierungszeit 190.
Höfert, Türkengefahr, 67.
Andermann, Geschichtsdeutung, 33.
37
ganze Jahr 1494 war er in verschiedenster Weise mit dieser
Problematik beschäftigt, für 1495 wurde ein Reichstag nach Worms
einberufen, der den Krieg gegen die Osmanen vorbereiten sollte.149
Nach einem Sieg über die Osmanen gedachte Maximilian dann auch
die oströmische Kaiserwürde anzunehmen. Er wäre ein „Weltkaiser“
geworden. Ob allerdings Maximilian in irgendeiner Weise damit an
apokalyptische Motive vom „Weltkaiser der Endzeit“ 150 anknüpfte, muss
stark bezweifelt werden. Eher ist auf dem Hintergrund der übrigen
sprichwörtlich gewordenen habsburgischen (Heirats-)Politik davon
auszugehen, dass es sich eher um nicht eigentlich apokalyptische
Vorstellungen von einer Universalmonarchie handelte, die dann auch
sein
Enkel
Karl
verfolgte.
Dass
Selbstverständnis
und
Fremdwahrnehmung dabei ganz unterschiedliche Motive hatten, zeigt
ein Lobgedicht von Jörg Graff 1518, in dem dieser Maximilian unter
ausdrücklicher Berufung auf Pseudo-Methodius als Endkaiser feierte.151
Die gelegentlich ins Phantastische gehenden Pläne des Kaisers, eine
Zeitlang spielte er auch mit dem Gedanken, Papst zu werden,152
markieren den deutlichen Unterschied in der Persönlichkeit Maximilians
gegenüber seinem zögerlichen Vater. Ein Unterschied, der auch den
Zeitgenossen nicht verborgen blieb, so dass die Herrschaft Maximilians
mit viel Lob begrüßt wurde, bezeichnend dafür ist das Wortspiel mit
seinem Namen, in dem man ihn gar in Anlehnung an astrologische
Berechnungen als „Jahrtausendgröße“ - „Mille-Maximus“153 - verehrte.
Besonders
die
anonyme
Flugschrift
des
„Oberrheinischen
Revolutionärs“ sah in Maximilian zunächst eine eschatologische
Hoffnungsgröße, bevor sie in späteren Überarbeitungen – enttäuscht
von seiner Politik – als Wegbereiter des Antichrist ansah.154
Im Umfeld des „letzten Ritters“ wurde während dessen ganzer
Regierungszeit die „Türkengefahr“ in breiter Weise propagandistisch
149
150
151
152
153
154
Lutz, Einheit, 158.
Vgl. dazu die gleichnamige Studie von Möhring.
Möhring, Weltkaiser, 253.
Vocke, Regierungszeit, 191.
Zit. in Seibt, Utopica, 56.
Ed.
38
ausgestaltet.155
Tatsächlich sollte es jedoch zu keinem Kreuzzug
Maximilians
gegen
Propaganda
und
die
Osmanen
tatsächlicher
kommen.
politischer
Inwieweit
Wille
bei
höfische
Maximilian
deckungsgleich waren, ist deshalb zumindest als offene Frage zu
betrachten.156
Allerdings gab es für den ständig aufgeschobenen „Türkenzug“ auch
handfeste politische Gründe. Die Auseinandersetzungen mit König Karl
VIII. von Frankreich in Italien hinderten Maximilian zunächst an der
Umsetzung seiner Pläne. Die eigentlich für einen „Türkenzug“ auf den
Reichstagen eingeworbenen Geldmittel wurden stattdessen auf dem
italienischen Kampfplatz ausgegeben.157 Maximilian trat jetzt vielmehr
einem Friedensvertrag Ungarns mit den Osmanen bei und traf sich
1496 mit einer türkischen Gesandtschaft, durch die er Sultan Bajazid
vorschlagen ließ, gemeinsam den „griechischen alten Gott zu besuchen
und auf die Bahn zu bringen“158. Die Konfrontationsstrategie war
zumindest für eine Zeit durch einen Versuch zur Koexistenz abgelöst
worden, wobei der etwas nebulöse Vorschlag zur Verehrung des
„griechischen Gottes“ möglicherweise auf eine religiöse Verständigung
auf antiker Religionsbasis - humanistische Einflüsse werden eine Rolle
spielen - hindeutet. 1498 kam es zum ersten habsburgischosmanischen
Friedensschluss
der
Geschichte.
1510
begannen
habsburgisch-osmanische Geheimverhandlungen über ein Bündnis
gegen Venedig, die aber erfolglos blieben.159
Der Frieden währte jedoch nicht lange, und bald hegte Maximilian
wieder Kreuzzugspläne, die aber durch die französische Machtposition
unmöglich
waren,
wie
andererseits
Maximilian
diesbezügliche
Planungen der französischen Könige ebenfalls in ihrer Ausführung
verhinderte.160 Erst nach dem Frieden von Marignano 1515 schienen
155
156
157
158
159
160
Die
Nachwirkungen
dieser
Propaganda
bis
in
die
heutige
Geschichtswissenschaft beleuchtet kritisch Höfert, Türkengefahr, 51ff.
Ebd.
Höfert, Türkengefahr, 105f. Höfert folgert daraus, dass Maximilian gar kein
Interesse an einem „Türkenzug“ gehabt habe und stattdessen die
„Türkenfurcht“ nur als propagandistisches Mittel eingesetzt habe um an
Geldquellen zu kommen.
Göllner, Turcia III, 64.
Höfert, Türkengefahr, 107.
Ebd., 64ff.
39
drei europäische Herrscher, Franz I. von Frankreich, Karl I (V.) von
Spanien und Kaiser Maximilian bereit, gemeinsam einen Kreuzzug zu
organisieren – allerdings ohne den Papst.
Die habsburgische Türkenpolitik bietet also ein ambivalentes Bild.
Inwiefern überhaupt ein „Türkenzug“ eine ernstgemeinte Angelegenheit
war, muss offen bleiben. Sicher ist, dass die höfische Propaganda ihre
Wirkung, etwa unter den Humanisten, nicht verfehlte, dass aber
andererseits Außendarstellung und Selbstverständnis eben nicht
übereinstimmen müssen. Maximilian letztlich zynisches Kalkül im Blick
auf eine lediglich auf Gelderwerb ausgerichtete Propagierung der
„Türkenfurcht“ zu unterstellen,161 bleibt allerdings ebenfalls unbewiesen.
Der Ausbau der habsburgischen Großmachtstellung im Kampf mit
Frankreich hatte für Maximilian Vorrang vor den Türkenzügen. Dies ist
so unbestritten, wie ebenfalls die Tatsache nicht zu leugnen ist, dass
eben diese Auseinandersetzungen den Kaiser an einem solchen
„Türkenzug“ hinderten, wie von daher die Friedensschlüsse mit den
Osmanen auch als taktisch bedingt interpretiert werden können. In den
Osmanen apokalyptischen Gestalten zu sehen, fiel dem Kaiser nicht
ein. Mit solch transhistorischen Größen Verhandlungen zu führen und
Frieden zu schließen, wäre ausgeschlossen gewesen. Hier wird schon
deutlich, dass die apokalyptische Interpretation der „Türken“, wie sie
Luther vornehmen sollte, keineswegs die einzige zeitgenössische
Wahrnehmungsform der Osmanen war.
1.3.3.
Theologische Auseinandersetzungen und Kreuzzugsaufrufe: Aeneas Silvius Piccolomini (Pius II.) und
Nicolaus Cusanus
Spätestens mit dem Fall von Konstantinopel übertrug das Papsttum den
Kreuzzugsgedanken
auf
die
Auseinandersetzung
mit
dem
Osmanischen Reich.162 Noch im September 1453 erließ Papst Nikolaus
V. einen Kreuzzugsaufruf, der gleichzeitig den Teilnehmern Ablass ihrer
Sünden versprach.163 In dieser Bulle wurde Mohammed mit deutlichem
Bezug auf das apokalyptische Interpretationsmodell mit dem „roten
161
162
163
So letztlich die These von Höfert, Türkenfurcht, 106.
Mertens, Claramontani, 65ff.
Andermann, Geschichtsdeutung, 38.
40
Drachen“, dem „‚draco ille rufus magnus, habens capita septem et
cornua decem et in captibus suis septem diadema’ quem in apocalipsi
Johannes vidit“164, aus Apk 12,3ff. identifiziert. Damit übernahm nun
auch das Papsttum, wie sich allerdings zeigen wird, nur in
vordergründiger Polemik, das apokalyptische Interpretationsschema:
Die „heranstürmenden“ Armeen der Osmanen waren jetzt die Truppen
des Antichrist, keineswegs mehr nur einfach die (dogmatisch
interpretierten) Ungläubigen, gegen die sich einst Urban II. in seiner
Kreuzzugspredigt wandte, sondern eine Erscheinung der letzten Tage.
Die Deutung der „Türkengefahr“ bekommt damit eine religiöse
Fundierung.
Trotzdem scheint Nikolaus, der als erster Humanist auf dem Stuhle
Petri gilt, in der Manier der Renaissance-Päpste die Osmanen unter
politischen Aspekten betrachtet zu haben. Eine Unterstützung der
byzantinischen Herrscher hatte er zuvor von dem Abschluss einer
Kirchenunion zwischen Konstantinopel und Rom abhängig gemacht.165
Das Papsttum förderte in der Folgzeit die anti-osmanische Propaganda,
während sich der römisch-deutsche Kaiser Friedrich III. zurückhielt.
Calixt III. führte 1456 ein tägliches Läuten zur Erinnerung an die
osmanische Gefahr, die „Türkenglocke“, ein,166 nachdem er schon in
direktem Anschluß an seine Wahl verkündet hatte, er sei bereit, in
dieser Angelegenheit sein Blut zu vergiessen.167 Darüber hinaus erhob
Calixt zur Finanzierung eines Kreuzzuges einen „Türkenzehnt“.168
Dominieren sollte das apokalyptische Interpretationsschema auf Dauer
jedoch nicht.
Der Humanist Aeneas Silvius Piccolomini (1405-1464)169, der spätere
Papst Pius II., hat sich in besonders tiefgreifender Weise mit den
Osmanen
auseinandergesetzt,
wobei
die
Beschäftigung
der
Humanisten mit der „Türkenproblematik“ und die Befürwortung der
164
165
166
167
168
169
Zit. in ebd., 37, A 25.
Iserloh, Päpste, 41.
Andermann, Geschichtsdeutung, 42.
Romano/ Tenenti, Grundlegung, 225
Andermann, Geschichtsdeutung, 33.
Zu Pius II. vgl. Helmrath, Türken, 79ff.
41
Kreuzzüge für diese zunächst typisch waren.170 Noch vor Antritt seines
Pontifikates und im Vorfeld des Falles von Konstantinopel 1453 hatte
der damalige Bischof von Siena besonders das Medium der Rhetorik
gegen die Osmanen bzw. zur Förderung des Widerstandes gegen sie
eingesetzt, so dass er als der eigentliche Begründer der „Türkenrede“
als sprachlicher Gattung gilt.171 Auf den sog. „Türkenreichstagen“ der
Jahre 1454/55 trat Piccolomini als kaiserlicher Gesandter ebenfalls
massiv für einen Kreuzzug ein.172
Schon am ersten Tage seines Pontifikates 1458 machte Piccolomini,
nunmehr Pius II., deutlich, dass er die „Türkenfrage“ auch gerade als
Papst im Blick hatte, als er einen Kreuzzug gegen die Osmanen zu
seinem Programm erhob.173 Im selben Jahr lud er die europäischen
Fürsten zur Vorbereitung eines Kongresses nach Mantua ein, der dort
1459/60 stattfand. Trotz blendender rhetorischer Leistungen, die
besonders in der Rede „Cum bellum hodie“, die wahrscheinlich als die
am weitesten verbreitete humanistische Rede überhaupt gilt,174 deutlich
wurden, gelang es Pius letztlich entgegen zahlreicher Zusagen der
Fürsten nicht, einen Kreuzzug zu organisieren und als „neuer Urban II.“
in Erscheinung zu treten.175
Bei Pius II. tritt insgesamt das apokalyptische Interpretationsmodell
wieder zurück, vielmehr versucht er in bewusster Anknüpfung an die
Kreuzzugstradition an die (zunächst) „siegreiche“ Vergangenheit im
Kampf gegen die Muslime zu erinnern. Mit den Mitteln humanistischer
Rhetorik wird ein Türkenkrieg in seinen Reden darüber hinaus als
gerechtfertigt
und
leicht
zu
erringen
dargestellt.
Eventuelle
Friedenspläne lehnte Pius ab, nicht weil er es mit einer apokalyptischen
Macht im eigentlichen Sinne zu tun zu haben glaubt, sondern weil er
aus der Analyse der Persönlichkeit des Sultans Mehmet II. zu dem
170
171
172
173
174
175
Ebd., 81.
Ebd., 84, bes. A. 15.
Ebd., 92.
Ebd., 81.
Ebd., 95.
Zur zeitgenössischen Rezeption Urbans II. und seiner Kreuzzugsrede vgl.
Mertens, Claromontani, 65ff.
42
Schluss
gekommen
unmöglich.
war,
mit
diesem
sei
ein
Friedensschluss
176
Nach dem offensichtlichen Scheitern seiner Kreuzzugsbemühungen,
versuchte Pius einen ungewöhnlichen Weg einzuschlagen. Mit einem
Brief an Sultan Mehmed II., von dem man annahm, seine Mutter sei
Christin gewesen,177 versuchte Pius, diesen zum Christentum zu
bekehren. Indirekt ist dies ein weiterer Hinweis dafür, dass er sich
neben allen realpolitischen Erwägungen bei seinen Überlegungen im
Rahmen des dogmatischen Interpretationsmodells befand. Einer
Gestalt gegenüber, die er als Antichrist o.ä. angesehen hätte, wäre
solch ein Brief unmöglich gewesen. In dem Schreiben hieß es u.a.:
„Wenn Du Deine Herrschaft unter den Christen erweitern und Deinen
Namen mit Ruhm bedecken willst, so brauchst Du kein Geld, keine
Waffen, keine Heere, keine Flotten. Eine unbedeutende Kleinigkeit
kann Dich zum Größten, Mächtigsten und Berühmtesten aller jetzt
lebenden Sterblichen machen. ... Es ist nicht schwer zu finden, man
braucht nicht weit zu gehen, um es zu suchen; es ist überall zu haben:
ein ganz klein wenig Wasser, womit Du Dich taufen lässt. ... Wenn Du
das getan hast, wird es auf dem Erdkreis keinen Fürsten mehr geben,
der Dich an Ruhm überträfe oder Dir an Macht gleichkommen könnte.
Wir werden Dich Kaiser der Griechen und des Orients nennen.“178
Offen bleibt jedoch, ob dieser Brief je abgeschickt wurde, oder ob es
sich lediglich um eine literarische Musterproduktion handelt.179
Kurz zuvor war allerdings die irenisch gehaltene Schrift „De Pace Fidei“
des Brixener Bischofs Nicolaus Cusanus erschienen, so dass
möglicherweise tatsächlich von einem „deutlichen Taktikwechsel,
ein[em] Intermezzo unkonventionellen Nachdenkens“180 in kurialen
Kreisen gesprochen werden kann.
Bald jedoch sollte Pius die Kreuzzugspläne wieder aufnehmen. Im
Jahre 1463 erließ er eine Kreuzzugsbulle, in der er - nach dem SichVersagen
176
177
178
179
180
wichtiger
Fürsten
-
selbst
Vgl. zu Pius Helmrath, Pius.
Weber, Frieden, 133.
Zit. in Majoros/Rill, Osmanische Reich, 66f.
Helmrath, Türken, 124ff.
Ebd., 126.
an
die
Spitze
eines
43
Kreuzzugsheeres zu treten ankündigte.181 Die militärische Leitung
sollten Herzog Philipp der Gute von Burgund, die Republik Venedig, der
Ungarnkönig Matthias Corvinus und der Albanerführer Skanderberg
übernehmen.
Besonders wichtig war die Beteiligung Venedigs. Es war bis zum
Aufkommen der Osmanen die wichtigste Seemacht im Mittelmeer und
bemühte sich seither um ein politisch-wirtschaftliches Arrangement mit
den Osmanen, was allerdings propagandistische Angriffe gegen diese,
militärische Einzelaktionen und Sondierungen über die Frage einer
militärischen Allianz gegen die Osmanen mit dem Safawidenreich im
Iran nicht ausschloss.182 Erst 1573 sollte man nach mehreren Kriegen
mit den Osmanen zu einem länger währenden Ausgleich kommen.
Doch außer Venedig, das bisher als eher hinderliche Macht gegenüber
Kreuzzugsplänen aufgetreten war und als erster christlicher Staat nach
dem Fall Konstantinopels im Jahre 1454 einen Friedensvertrag mit der
„Hohen Pforte“ geschlossen hatte, nun aber verstärkt um seine
Handelsrouten
fürchtete,
sahen
sich
die
übrigen
eingeladenen
Bündnispartner wiederum nicht in der Lage, tätig zu werden. Das
Engagement Venedigs ließ im übrigen andere Städte, wie etwa das
Florenz der Medici, misstrauisch werden, vermutete man doch hinter
der
Kreuzzugsbegeisterung
der
Venezianer
(zurecht)
finanzielle
Interessen. Obwohl etwa in Deutschland der Kreuzzugsaufruf und der
traditionell mit ihm verbundene Ablass einen durchaus breiten
Wiederhall hatte,183 kam der Kreuzzug abermals nicht zustande. Wohl
in einem Akt bewusster Selbstinszenierung machte sich der alte und
hinfällig-kranke Papst auf den Weg nach Ancona, um doch noch einen
Kreuzzug anzuführen. Dort starb er erschöpft am 14. August 1464,
angeblich im Angesicht der herannahenden venezianischen Flotte. Mit
dem Tode Pius II. brach die Kreuzzugsbegeisterung in Rom zunächst
181
182
183
Ebd., 127ff.
Babinger, Vicende.
Helmrath, Türken,136.
44
ab.184 Venedig und das Osmanische Reich führten nun allerdings einen
langanhaltenden Krieg.185
Pius
Nachfolger
Paul
II.
(1464-1471)
förderte
zunächst
die
Kreuzzugspläne nicht direkt weiter, setzte sich jedoch durch seine
Gesandten auf dem Reichstag in Nürnberg 1466 für ein konzertiertes
Vorgehen gegen die Osmanen ein. Versprechungen der Fürsten und
Stände blieben allerdings ohne Auswirkungen.186 Durch den Fall
Negropontes wurden die Forderungen nach einem Kreuzzug wieder
drängender.187 Auf dem „Großen Christentag“ 1471 in Regensburg
konnte man sich außer vager Absichtserklärungen aber wiederum auf
kein konkretes Vorgehen einigen.188 Während die Päpste und die Kurie
sich also in den auf „Ancona“ folgenden Jahren dann doch bald wieder
um einen Kreuzzug bemühten, stießen sie besonders bei Kaiser
Friedrich III. auf das schon erwähnte hinhaltende Verhalten, das nur
selten durch Aktivitäten unterbrochen wurde.
Später schwenkte auch der Heilige Stuhl selbst auf diese Linie ein. Der
vielfach umstrittene Alexander VI. Borgia (1492-1503)189 ließ sich von
den Osmanen gar bestechen und bat diese um militärisches Stillhalten,
damit er nicht zum Kreuzzug aufrufen müsse.190 Eine Konferenz 1490
in Rom, die einen erneuten Kreuzzug zuwege bringen sollte, hintertrieb
er.191
Stattdessen
Thronprätendenten
„verwahrte“
Cem,
wofür
der
er
Papst
durch
den
die
osmanischen
Osmanen
eine
beträchtliche „Apanage” erhielt.192 Erst im Jahr 1500 erfolgte ein neuer
Kreuzzugsaufruf
durch
Alexander
VI.,
nachdem
die
Osmanen
venezianische Besitzungen im Mittelmeer angegriffen hatten.193 Wie
wenig apokalyptisch die Osmanen im Papsttum gedeutet wurden und
wie viel mehr die Apokalyptik als auch für das Papsttum als potentiell
184
185
186
187
188
189
190
191
192
193
Göllner, Turcia III, 51.
Majoros/Rill, Osmanische Reich, 66.
Göllner III, 52.
Helmrath, Türken, 129.
Göllner III, 53.
In sachlicher Darstellung Iserloh, Päpste, 45ff.
Ebd.,, 60f.
Strnad, Päpste, 45.
Vgl. Majoros/Rill, Osmanische Reich, 203f.
Göllner III, 65.
45
unberechnenbar angesehen wurde, zeigte das Fünfte Laterankonzil
1513. Hier wurde die Predigt der Apokalyptik ausdrücklich verboten.194
Jedoch erst Leo X. (1513-1521), der erste päpstliche Gegenspieler
Luthers, betrieb wieder massiv Kreuzzugspläne und suchte die
weltlichen Herrscher dafür zu gewinnen. Diese Pläne sollten fast auf
den Tag genau mit Luthers Thesenanschlag zusammenfallen.
Doch neben den militärischen Überlegungen versuchte die katholische
Kirche auch theologische Akzente zu setzten, die der veränderten Lage
Rechnung trugen. Mit dem Aufkommen des Osmanischen Reiches und
dem Fall von Konstantinopel 1453 war nur noch die abendländische
Christenheit nicht unter islamischer Vorherrschaft. Trotzdem überwog
das apokalyptische Interpretationsmodell des Islam nicht. Ein letztes
Mal vor der Reformation wurde jetzt die Frage des Gesprächs mit dem
Islam mit großer theologischer Energie und Konsequenz aufgegriffen.
Nicolaus Cusanus war der letzte große vorreformatorische Theoretiker
eines Gespräches mit dem Islam. In seiner Schrift „De Pace Fidei“195
entwarf
er
interreligiösen
nach
dem
Dialogs.196
Fall
Ziel
Konstantinopels
dieser
eine
Vision
Ausführungen,
die
des
als
Diskussionen in einem himmlischen Thronrat dargeboten werden, ist
die Einsicht, dass verschiedene Kulte und Gesetze, die Gott den so
unterschiedlichen Menschen gegeben habe, nicht mit Gott selbst
verwechselt werden dürfen. Mittels der Vernunft soll dies von allen
Menschen erkannt werden, wie diese auch durch ihre Erkenntniskraft
zur wahren Gottesverehrung hindurchdringen. Cusanischer Grundsatz
für den Religionsfrieden ist: „una religio in varietate rituum“.197 Mittels
eines auf Konsensus hin angelegten Prozesses erwartet Cusanus die
Zustimmung aller Menschen zu dieser wahren Religion bei der
Beibehaltung der unterschiedlichen Kulte der vorhandenen Religionen.
Dabei wird jedoch auch deutlich, dass es sich letztlich um ein christlich
inklusives Modell handelt, da alle im himmlischen Thronrat anwesenden
194
195
196
197
Cuningham/ Grell, Horsemen, 1; Barnes, Prophecy, 29f.
Ebd., 68.
Vgl. Flasch, Kues, 330ff.
Vgl. Weber, Frieden, 136.
46
Vertreter
die
auch
spezifisch
christlichen
Glaubenssätze
als
konsensfähig ansehen.
Wenn also Cusanus auf die Eroberung Konstantinopels literarisch nicht
mit heftiger Polemik und zunächst auch nicht mit Kreuzzugsaufrufen
reagierte, muss doch gesehen werden, dass es sich möglicherweise
um eine Art taktische Variante handelte und Cusanus es „im Guten“
versuchte, den Osmanen „beizukommen“. Jederzeit konnte er jedoch
auch das apokalyptische Interpretationsmodell aktivieren. Als Bischof in
Brixen predigte er so über Mohammed als Tier der Apokalypse,
welches das Kommen des Antichrists ankündige.198 Wenn Karl-Josef
Kuschel diese Predigten als „grobkörniges Brot“199 für die einfache
Bevölkerung bezeichnet, mag dies zutreffen. Diese Predigten zeigen
jedoch auch, in welcher Perspektive Cusanus letztlich dachte. Wenn es
einen Frieden der Religionen geben sollte, konnte Cusanus sich dies
einzig unter christlichem Vorzeichen vorstellen, was für ihn insofern
nicht schwer war, als die christliche Religion offensichtlich mit der
wahren Religion faktisch übereinstimmte. Wenn es jedoch keinen
friedlichen Ausgleich geben sollte, zögerte auch Cusanus nicht, auf das
apokalyptische Modell zurück zu greifen. Überhaupt zeigte Cusanus
Interesse
für
apokalyptische
Spekulationen.
1452
stellte
er
Berechnungen über das Weltende an. Er prognostizierte es für den
Zeitraum 1700 bis 1734/1750.200 Ulrich Andermann hat darauf
hingewiesen, dass mit dieser keineswegs akuten Apokalyptik allerdings
„rationalere Formen der Krisendeutung und -bewältigung ermöglicht“201
wurden. Das Ende der Zeiten war sozusagen gewiss, aber es stand
doch noch für Jahrhunderte aus. Einer fiebrigen Apokalyptik, die das
Ende nahe sah, entzog Cusanus so den Boden. Trotzdem verzichtete
Cusanus, wie gesehen, auf apokalyptische Bezugnahmen keineswegs.
Die
Grenze
zwischen
polemischem
Einsatz
apokalyptischer
Deutungsmuster und ihrer inhaltlichen Relevanz für das eigene Denken
lässt sich nur schwer bestimmen.
198
199
200
201
Vgl. Baum, Cusanus, 252.
Kuschel, Kues, 122.
Andermann, Geschichtsdeutung, 53 A. 104; Barnes, Prophecy, 126.
Andermann, Geschichtsschreibung, 53.
47
Literarisch wurde Cusanus’ Kritik am Islam jedoch bald heftiger. In
seiner im Winter 1460/1461 verfassten „Cribratio alcorani“ unternahm er
eine
kritische
„Siebung“
bzw.
„Sichtung“
des
Koran,
die
die
Überlegenheit des Christentums beweisen sollte. Es ging hier darum,
den Koran auf die Sätze hin zu untersuchen, die mit der christlichen
Lehre nicht im Widerspruch standen. Dass es sich hier um ein
inklusives
Verständnis
der
anderen
Religion
im
Rahmen
des
dogmatischen Modells handelte und nur anerkannt wurde, was der
eigenen Religion nicht widersprach, liegt auf der Hand. Der Gedanke
der „pia interpretatio“, damit war eine „wohlwollende, gutmütige und
weitherzige Auslegung des Korans“202 gemeint, ein Grundsatz den
Cusanus ausdrücklich als hermeneutisches Prinzip benannte,203 wurde
aber faktisch dadurch ad absurdum geführt, dass der Koran von
Cusanus als teuflischen Ursprungs bezeichnet wurde:
„... daß aber Gott, der Schöpfer des Alls, dieses Buch ... Muhammad
ins Herz gelegt habe, das kann nicht wahr sein, weil in dem Buch Dinge
enthalten sind, die wegen ihrer Schändlichkeit, Ungerechtigkeit,
notorischen Unwahrhaftigkeit und Widersprüchlichkeit Gott nur in
blasphemischer Weise zugeschrieben werden könnten. Ein anderer als
der wahre Gott wird daher sein Urheber sein; und das kann nur der Gott
dieser Welt sein.“204
Und schließlich richtete Cusanus heftige Attacken gegen Mohammed,
dem er vorwarf, die Mission, nachdem sie durch Überzeugung nicht
gelungen sei, durch die „Zuflucht zu den Waffen“205 ersetzt zu haben.
Ludwig Hagemann hat jüngst nochmals deutlich auf das polemische
Potential dieser Schrift hingewiesen und dies auf die Quellen, die
Cusanus zur Verfügung standen, zurück geführt.206 Dass ein anderer
Ton jedoch durchaus denkbar war, zeigt Thomas von Aquin. Allerdings
hatten sich seit der Eroberung Konstantinopels die politischen
Verhältnisse radikal verändert. Das „christliche Abendland“ befand sich
in der Defensive.
202
203
204
205
206
Cusanus, Cibratio I, X.
Ebd., II/ 3.
Ebd., I/33.
Ebd., III/ 3.
Hagemann, Islam, 71.
48
Luther sollte später dieses cusanische Werk zunächst als zu heftige
Polemik ablehnen. Cusanus starb im selben Jahr 1464 wie Papst Pius
II. Die Todesumstände waren ebenfalls ähnlich. Cusanus’ Leben
endete auf einer Propagandareise zur Aufstellung des von Pius
gewünschten Kreuzzugsheeres.
2.3.4.
Erfahrungsbericht und Apokalyptik: Georgius de
Hungaria
Als Verfasser des um 1480 anonym erschienen „Tractatus de moribus,
condicionibus et nequita turcorum“ gilt Georgius de Hungaria207, der
wahrscheinlich um 1422 in Siebenbürgern geboren wurde und 1438 in
osmanische Gefangenschaft geriet. Nach zwanzigjähriger Exilierung,
davon die ersten Jahre als Arbeitssklave, und nach mehreren
Fluchtversuchen gelangte Georgius zurück nach Europa. Er wurde
Dominikaner-Priester. 1502 starb der als Wundertäter Verehrte. Den
Bericht des Georgius über seine Zeit in osmanischer Gefangenschaft
wertet
Höfert
als
das
Dokument
eines
Mannes,
der
seine
Gefangennahme „als apokalyptisches Feuer erlebte.“208 Georgius lernte
die osmanische Gesellschaft kennen und machte die überraschende
sowie für ihn bestürzende Entdeckung, dass hier vieles an Sitte und
Ordnung verwirklicht wurde, was er sich unter Christen nur wünschen
konnte. Zahlreiche misslungene Fluchtversuche und die gewonnenen
Eindrücke ließen ihn an seinem christlichen Glauben zunächst irre
werden. Georgius vertiefte sich nun in die islamischen Riten und
scheint möglicherweise formal zum Islam übergetreten zu sein.
Innerlich, so behauptet Georgius jedoch, sei er bald im christlichen
Glauben durch Gottes Gnade gestärkt worden.
In seinem „Tractatus“ bietet Georgius dann eine Darstellung der
osmanischen Geschichte, die besonders als eine die Seelen der
Christen betreffende Verfolgung von ihm begriffen wird, bevor in einem
zweiten Teil dann die Gründe für diese Verführung - die guten Sitten
und die islamischen Glaubenslehren - näher dargestellt werden.
207
208
Vgl. Höfert, Türkenfurcht, 208ff.; auch zur Verfasserfrage.
Ebd., 209.
49
Ergebnis der Darstellung ist für Georgius allerdings unbestritten, dass
es sich beim Islam um eine teuflische Sekte handeln müsse.209 Die
Erscheinung des Islam versucht Georgius dann unter dem biblischen
Bild von Apokalypse 13 einzuordnen, wo von den beiden Tieren aus
dem Abgrund die Rede ist. Das erste Tier sollen die Verfolger der
Christen in der Vergangenheit, das zweite Tier die Osmanen darstellen.
Das zweite Tier ist noch weitaus gefährlicher, weil es die Christen nicht
nur äußerlich verfolgt, sondern auch – wie schon gehört – auf ihre
Seelen abzielt. Georgius bezieht sich in seinen Anschauungen
ausdrücklich auf Joachim von Fiore, besonders seine Auslegung der
Johannes-Apokalypse und die pseudo-joachimitische Schrift „Super
Hieremium“, ohne das alle Vorstellungen exakt übernommen werden.210
Georgius
apokalyptische
Vorstellungen
werden
dabei
mit
dem
Bußmotiv verbunden, das den Aufstieg der Osmanen als Strafe für die
Ungläubigkeit
der
Christen
begreift.
Ferner
findet
sich
eine
bezeichnende Nähe zum chiliastischen Gedanken der Herrschaft der
Geistberufenen, der stark an die Vorstellungen der FranziskanerSpiritualen, aus deren Kreisen „Super Hieremium“ stammen dürfte,
erinnert.
2.3.5.
Apokalyptische
Zeitdeutung:
Alte
Weissagungen,
Johannes Lichtenberger und andere Deuter
Das späte Mittelalter ist in besonderer Weise als ein Zeitalter der Angst
zu verstehen. Dafür gibt es mannigfache Gründe. Zu nennen sei hier
nur der Ausbruch der großen Pestepidemie 1348 und folgende kleinere
epdemische
verängstigten,
Krankheitswellen,
da
sie
das
die
die
Menschen
überkommene
besonders
Sozialgefüge
durch
massenhaftes Sterben, Hungersnöte etc. in Gefahr brachten.211 Andere
Gründe kamen hinzu. Die krisenhafte Zuspitzung des Verhältnisses von
Kaiser- und Papsttum, die Schismen, das Scheitern des Konzilarismus
u.a. verstärkten den Eindruck, in einer besonders gefährdeten Zeit,
209
210
211
Vgl. Miyamoto, Influence, 129ff.
Ebd., 130.
Vgl.
zur
Thematik
besonders
Geschichtsdeutung, 29ff.
Delumeau,
Angst;
Andermann,
50
möglicherweise gar an ihren Ende zu leben.
entscheidende
Zäsur
stellte
dann
1453
der
Eine weitere
Untergang
des
Byzantinischen Reiches, des alten Ostroms, und das damit verbundene
Vordringen des Osmanischen Reiches dar.212
Ulrich Andermann resümiert: „Das Vordringen der Osmanen wurde von
den Zeitgenossen, und zwar in allen Schichten, als endzeitliche Krise
wahrgenommen, hervorgerufen nicht nur durch die Gefahr von außen,
sondern auch durch die von innen, vor allem durch die Zwietracht in
Reich und Kirche. Die sich nähernde Gefahr vom Südostrand des
Reiches war eine Gegebenheit, die offenbar keinen Zweifel daran ließ,
daß das Ende der Zeiten gekommen war.“ 213
Um dieses Geschehen zu deuten, lagen als Schlüssel christliche
Endzeitvorstellungen bereit. In vielerlei Formen wurden diese nun
aufgenommen und besonders durch die junge Kunst des Buchdrucks in
bis dahin nicht vorstellbarer Weise verbreitet. Besonders drei Quellen
waren es, aus denen sich die apokalyptischen Vorstellungen speisten:
Die schon genannten Weissagungen des Pseudo-Methodius, die
sibyllinischen Prophezeiungen und das „Spiel vom Antichrist“. Alle drei
Quellen hatten dabei letztlich biblische Vorstellungen zur Grundlage,
wobei diese in eigentümlicher Weise zu weit über die biblischen
Anhaltspunkte hinausgehenden Bildern „ausgemalt“ wurden. Dabei
überschnitten sich einige Motive, die dann auch oft genug sich von den
konkreten Quellen ablösten und eine Art Eigenleben gewannen und die
Mentalität weiter Kreise im Spätmittelalter prägten.
Da diese Vorstellungen nicht nur die Zeitgenossen Luthers, sondern
auch diesen selbst in besonders intensiver Weise prägten, sollen sie
hier ausführlicher dargestellt werden, wobei hier auch auf die schon
genannten Ausführungen zu Pseudo-Methodius verwiesen wird. Schon
Methodius hatte ja den Islam mit den „Agareni“ identifiziert und damit
als endzeitliche bezeichnet. Von dort war es dann nach einigen
212
213
Allerdings ist damit nicht eine direkte Stärkung des heilsgeschichtlichen
Denkens in dem Sinne, dass mit dem Fall Ostroms nun nach Babylon,
Persien und Griechenland auch das vierte Tier (Dan 7) gefallen sei, vgl.
Höfert, Türkengefahr, 57. „Rom“ wurde im Sinne der translatio imperii eher auf
das Römisch-deutsche Kaiserreich bezogen. Dieses war durch den Fall
Konstantinopels stärker gefährdet.
Ebd., 50.
51
anderen Übertragungen (Hunnen, Bulgaren, Tataren etc.) im 15.
Jahrhundert kein weiter Weg zu der vermeintlichen Erkenntnis, es
müsse sich bei den Türken um diese „Agareni“ handeln. Eine
Feststellung, die sich etwa schon bei dem Lollarden Reinhard findet:
„Derhalben sagt Reinhard der Lolhart ynn seiner offenbarung also/ Ess
wird hernach komen des Turckischen Keisers Doglosij erbe/ der wird
sich rhümen/ er sey vom stamme Sarai geporn/ Aber es ist von der
Agar herkomen/ vnd seine nachkömlinge heissen Agareni ...“214
Die „Agareni“ waren nun also die Türken. Eine Vorstellung, die umso
einleuchtender war, als tatsächlich die transkaukasisch-turkmenische
Herkunft der Türken dies zu bestätigen schien.
Die Schrift des Pseudo-Methodius war überhaupt nie ganz vergessen,
wenn es auch Jahrhunderte um sie „ruhig“ geworden war. Mit dem
bedrohlichen Herannahen der osmanischen Truppen und dem Fall von
Konstantinopel fanden des Methodius Weissagungen dann erneute
Aufmerksamkeit. 1474 gaben Dominikaner einen „Tractatus de Turcis“
heraus, in dem die Prophezeiungen des Methodius nun ausdrücklich
auf die Türken bezogen wurden. Seit 1475 wurde die Schrift in
mehreren Auflagen, eine davon 1498 besorgt von Sebastian Brant, im
Reich gedruckt.215 Im selben Jahre kam in Memmingen auch eine
deutsche Übersetzung des Pseudo-Methodius heraus, so dass die
Verbreitung der Weissagungen noch stärker gefördert wurde.216
Ein Spezifikum innerhalb der Weissagung des Pseudo-Methodius sollte
nun Bedeutung gewinnen: Methodius verband mit seinen Vorhersagen
eine (möglicherweise ältere)217 Weissagung, das sog. ConstansVaticinium, nach dem am Ende der Zeiten ein christlicher Weltkaiser,
der zuvor die Muslime besiegt habe, alle Macht Gott übergeben werde.
Nach der Niederlage der „Agareni“ im Kampf gegen den „Weltkaiser“
werde dann der Antichrist erscheinen, gegen den Christus selbst
kämpfe.218 Zunächst einmal wurde diese Weissagung auf Friedrich III.
bezogen, schien sein „Schlaf“, sein vermeintliches Nichtstun, doch
214
215
216
217
218
Zit. in Peuckert, Wende I, 165.
Ebd., 166.
Miyamoto, Influence, 144.
Möhring,Weltkaiser, 39ff.
Ebd., bes. 64ff.
52
geradezu nach einem Erwachen zu schreien, so wie es in der
Weissagung des Pseudo-Methodius der König der Griechen und Römer
„in furore magna“ nach einem „somno vini“219 tat. Luther war diese
Weltkaiser-Prophezeiung durchaus bekannt und er konnte ihr scheinbar
auch Berechtigung abgewinnen. Eine zeitlang hielt er seinen eigenen
Landesherrn Friedrich den Weisen für den geweissagten Endkaiser.220
Wie sich die Motive dann aus mancherlei Quellen vermischten, zeigt
sich, wenn die von Methodius genannte Endschlacht nun in den
unterschiedlichen Prophezeiungen nach Westeuropa verlagert wurde
und schließlich in Köln stattfinden sollte, nachdem zunächst auch
Straßburg oder das Walserfeld bei Berchtesgaden, nahe dem
mythischen Untersberg, als mögliche Schlachtorte galten.221 Die
Vorstellungen wurden durch die sog. „Dicta Merlini“ besonders auf Köln
bezogen. Dies mag auch daran gelegen haben, dass die Stadt am
Rhein als Metropole Deutschlands ja noch darüber hinaus galt.222
Sebastian Brant deutet in seiner Herausgabe der Weissagung des
Pseudo-Methodius die Endschlacht bei Köln mitsamt dem Sieg über die
Türken dann als den endzeitlichen Sieg des Weltkaisers, dem die
apokalyptische Schlacht Christi mit dem Antichristen folge. Zunächst
also herrscht „gaudio et laetitia“ bevor sich „reserabuntur portae
aquilionis“223 und Gog und Magog als Gestalten der Endzeit (Apk 20)
hervorbrechen.
Wie sich endzeitliche und sozialreformerische Vorstellungen in dieser
Zeit verbinden, wird am „Buch der 100 Kapitel“, das um die Wende zum
16. Jahrhundert von einem anonymen „Oberrheinischen Revolutionär“
219
220
221
222
223
Zit. in Peuckert, Wende, 168.
WA 8, 475f. Eine Annahme, die durchaus nicht völlig abwegig war, da Kurfürst
Friedrich III. einer allerdings unsicheren Überlieferung zufolge nach dem Tode
Kaiser Maximilians am Vorabend der Kaiserwahl Karls V. im Zuge der Wahlauseinandersetzungen für einige Stunden selbst als gewählter Kaiser erschien; vgl. Oberman, Luther, 41.
Peuckert, Wende I, 157ff.
Der weitgereiste Aeneas Silvius Piccolomini, notierte 1453: „Nichts
Prachtvolleres und Schmuckreicheres findest du in ganz Europa als Köln. Es
ist ausgezeichnet durch seine Kirchen und Bauwerke, hervorragend durch
seine Bevölkerung, berühmt durch seinen Reichtum, mit Bleidächern
Versehen, durch Pfalzen geschmückt, mit Türmen befestigt.“ Zit. in Vocke,
Regierungszeit, 170.
Zit. in Peuckert, Wende, 169.
53
verfasst wurde, deutlich.224 Er äußert die Vermutung: „Wer kein wunder,
der alten prophezy wurdt erfult, das der Turk am Rin wurd
erschlagen.“225
Eine weitere Quelle endzeitlicher Weissagungen war die sog.
Tiburtinische oder Dreizehnte Sibylle.226 Zurückgehend auf die zwölf
Sibyllen, heidnische Seherinnen, die den zwölf alttestamentlichen
Propheten gegenüber gestellt wurden und als Offenbarungen Gottes
an die „Heiden“ galten - noch Theodor Bibliander sollte sich später
ausdrücklich auf sie beziehen227 - entstand wohl nach antiken und
byzantinischen
Vorläufern
die
mittelalterliche
Weissagung
der
Tiburtinischen Sibylle,228 die als Schwester der Kassandra wegen ihrer
seherischen Gabe nach Rom geholt worden sei, wo sie Kaiser Trajan
und den Senatoren den künftigen Lauf der Zeiten vorhergesagt habe. In
einer Darstellung der Weltgeschichte in neun Zeitaltern kommt es dabei
im letzten Saeculum nach der Herrschaft eines Endzeitkönigs ebenfalls
zur Herrschaft des Antichrist im Römischen Reich, der dann durch den
Erzengel Michael getötet wird. Danach vollzieht sich das Jüngste
Gericht.
In der Tiburtina ist dann auch von den „Agareni“, wenn auch an einer
nur wenig prominenten Stelle, die Rede. Sie sollen die italienischen
Küstenstädte Tarent und Bari erobern. Wahrscheinlich handelt es sich
hier um ein Vaticinium ex eventu, da 840 beide Städte tatsächlich von
Muslimen erobert wurden.229
Die Tiburtina hat während des Mittelalters eine hohe Aufmerksamkeit
erreicht. Gutenbergs erstes gedrucktes Werk war die Weissagung der
Sibylle. Das Werk erlebte mehrere Neudrucke und wurde 1516 in eine
Fassung als Volksbuch gebracht. Weniger aber die Rede von den
„Agareni“ dürfte dabei von Bedeutung sein, als die Gestalt des
Antichrist.
224
225
226
227
228
229
Vgl. neuerdings, Seibt, Utopica, 55ff.
Zit. in Andermann, Geschichtsdeutung, 49 A. 90. Vgl. auch Kurze, Astrologie.
Vgl. bes. auch zur komplizierten Überlieferungsgeschichte, Möhring,
Weltkaiser, 28ff., 350ff.; Peuckert, Wende, 172.
Holsten, Reformation, 26.
Die älteste bekannte lateinische Fassung stammt aus dem Jahre 1047, vgl.
Möhring, Weltkaiser, 28.
Ebd., 34.
54
Damit ist nun bereits mehrfach der Begriff „Antichrist“ verwandt worden.
Er soll hier näher dargestellt werden, ist doch von dieser Vorstellung die
nachhaltigste Wirkung auf die apokalyptischen Erwartungen, besonders
auch bei Luther ausgegangen. Dabei ist nicht vorauszusetzen, dass
Luther „die reichlich verworrene Thematik des Antichrist-Mythos in der
alten und mittelalterlichen Kirche in ihren Einzelheiten bekannt war.“230
Darauf kommt es auch nicht an. Der „Antichrist“, ja überhaupt alle
apokalyptischen Vorstellungen, sind jeweils ein Mythos, der sich einem
an streng rationalen Regeln orientierten Diskurs entzieht. Rationalität im
Sinne von „Begreiflichkeit, Begründbarkeit, Folgerichtigkeit, Klarheit und
allgemein
verbindlicher
Einsichtigkeit“231
entspricht
nicht
dem
mythologischen Denken. Dieses ist vielmehr vor- aber nicht irrational.232
Am zutreffendsten ist wahrscheinlich die Bezeichnung „transrational“,
denn die Mythen sind als Gegenstände der Tranzendenz offenbart und
somit der immanenten Rationalität entzogen, was jedoch nicht
bedeutet, dass sie nicht ihre eigene Sinnhaftigkeit hätten. Diese ist
jedoch im jenseitigen Entstehungspunkt des Mythos begründet. Die
„Welt“ selbst ist dann die Bühne, auf dem sich dieser Mythos auswirkt,
indem
jenseitige
Kräfte
hier
miteinander
ringen
usw.
Diese
Offenbarungen sind nun mit den innerweltlichen Vorgängen in
Beziehung zu setzten, es gilt die „Zeichen der Zeit“ zu deuten, was
durchaus nach dem Verfahren „trial and error“ vor sich geht.233 Die
verwirrenden Bezugnahmen, ständigen Motivwanderungen und neuen
Interdependenzen, die an sich betrachtet irrational wirken, gewinnen
von hier her ihre Einsichtigkeit. Es sind ständig neue Anläufe, den
göttlichen Weltplan zu entziffern. Dies gilt insbesondere für die
Vorstellung vom Antichrist.
Der Antichrist-Mythos war zunächst durch die Übernahme spätjüdischer
apokalyptischer Vorstellungen, die sich etwa in Dan 7,23 im Bild eines
Anti-Messias234 manifestierten, als Gegengestalt zu Jesus Christus
(Anti-Christ) entstanden und durch die Bedrängnisgeschichte der frühen
230
231
232
233
234
Hillerbrand, Polemik, 115.
Hübner, Mythos, 239.
Ebd., 288.
Ebd., 287.
Rauh, Antichrist, 33f.
55
Christenheit weiter inhaltlich und zunehmend auch legendenhaft
ausgeformt worden: Der Antichrist kam nun aus dem israelitischen
Stamme Dan, wurde in Chorazim oder Kapernaum geboren und werde
sich, so hieß es, dereinst im wieder aufgebauten Tempel von Jerusalem
anbeten lassen, usw.235
Maßgeblich
wurde
dann
in
diesem
Zusammenhang
die
vom
Kirchenvater Hieronymus geäußerte Vorstellung, nach dem Untergang
des als vierten Reich im Sinne des Danielbuches (s.u.) gedeuteten
Römischen Reiches werde die Herrschaft des Antichrist anbrechen.236
Die Identifikation des vierten danielischen Reiches mit dem Imperium
Romanum war dabei schon vor Hieronymus offenbar so geläufig und
unbestritten, dass er sie nur en passant zu erwähnen brauchte.237 Mit
dem Wandel des Christentums zur römischen Staatsreligion legte man
dann mehr Aufmerksamkeit auf die im Inneren der Kirche lauernde
antichristliche Gefahr.238
Die Antichrist-Vorstellung wurde im Mittelalter weiter differenziert und
wirkte neben dem theologischen auch auf das politische Denken.239
Daneben hielt und intensivierte sich besonders durch die Arbeiten
Joachim von Fiores die Vorstellung vom Antichristen im Inneren der
Kirche.240
Besonders
intensiv
wurde
Geschichtssymbolismus
die
Antichrist-Vorstellung
rezipiert,241
„einer
vom
hauptsächlich
sog.
in
Deutschland anzutreffenden eigenen Art, den historischen Stoff zu
gliedern und miteinander in Beziehung zu setzten.“242 Während sich
vorwiegend in Frankreich im 12. Jahrhundert die Scholastik stark
entfaltete, die dem Antichrist keine gesteigerte Aufmerksamkeit
widmete und sich eher mit der Frage beschäftigte, ob er als
menschliches Wesen auch einen Schutzengel habe,243 entwickelte sich
in Deutschland „eine historisch-symbolische Exegese, die das ‚geistige
235
236
237
238
239
240
241
242
243
Preuss, Antichrist, 41f.
Möhring, Weltkaiser, 17
Goez, Danielrezeption, 186.
Euseb, Kirchengeschichte 5,14, der hier die Montanisten nennt.
Manselli, Antichrist, 703ff.
Ebd.
Benrath, Antichrist III, 26.
Engels, Geschichte, 619.
Benrath, Art.: Antichrist III, 26.
56
Verständnis’ der Schrift vornehmlich in ihrem heilsgeschichtlichen Sinn
suchte.“244 Diese Form historischer Sinnfindung hatte in Otto von
Freising, Hildegard von Bingen, Anselm von Havelberg, Gerhoh von
Reichersberg und Rupert von Deutz, aber auch in Italien in dem schon
genannten Joachim von Fiore245, ihre herausragendsten Vertreter.
Diese Sichtweise schloss sich an das biblisch-augustinische246
Geschichtsverständnis an, das die Weltgeschichte unter dem Aspekt
einer
zielorientiert verlaufenden Heilsgeschichte Gottes mit den
Menschen
deutete
und
durch
Augustins
Auffassung
des
geschichtlichen Widerspiels von „Civitas Terrena“ und „Civitas Dei“
zuspitzte.247 Der maßgebliche Unterschied zum Kirchenvater Augustin
bestand jedoch darin, dass dieser sich in seinen Büchern vom
Gottesstaat weigerte, biblische Erzählungen, Gestalten und Symbole
vorschnell mit bestimmten Ereignissen zu verbinden. Eine Berechnung
des Auftretens des Antichrists lehnte er ebenso ab, wie die
Identifizierung von Gog und Magog mit konkreten geschichtlichen
Gestalten. Der Gleichsetzung der vier Tiere aus dem siebten Kapitel
des Danielbuches mit dem Reichen der Assyrer, Perser, Mazedonier
und Römer stimmte er jedoch zu.248
Das geschichtssymbolistische Denken war aber zur Zeit Luthers durch
die massive Kritik der Scholastik und auch durch ein gewisses
Desinteresse des Humanismus am Symbolismus schon infrage gestellt.
Der Humanismus zeigte zunächst kein großes Interesse an der
Weltchronistik. In der berühmten Schedel’schen Weltchronik von 1493
wirkt die Bezugnahme auf den Antichristen eher als „lästige
‚Pflichtübung’“.249
Die
Reformatoren
haben
dann
diese
Geschichtsdeutung nochmals geradezu kanonisiert,250 wobei aber auch
gravierende Änderungen vorgenommen wurden.251 Melanchthon, der
244
245
246
247
248
249
250
251
Grundmann, Geschichtsschreibung, 73.
Allerdings teilte Luther nicht den maßgeblich durch Joachims Vorstellung vom
„Dritten Reich“ vorangetriebenen Chiliasmus.
Ebd., 608.
Chadwick, Augustin, 102ff.
Augustin, Gottesstaat 18/31; 20/11; 20/23.
Andermann, Geschichtsdeutung, 40.
Benrath, Geschichte, 630.
So wurden chiliastische Auffassungen, wie sie etwa Joachim von Fiore mit
seiner Lehre vom „Dritten Reich“251 vertrat, nicht aufgenommen und die
57
als der Historiker der Reformation angesehen werden kann, ist dabei
natürlich
nicht
einfach
reproduktiv
in
den
Bahnen
des
Geschichtssymbolismus verblieben. Vielmehr ist er von einem starken
universalhistorischen und ethnographischen Interesse geprägt, dass ihn
die Fülle des vorhandenen geschichtlichen Stoffes noch einmal unter
theologisch-heilsgeschichtlichen
zusammen- fassen ließ,
252
Gesichtspunkten
systematisch
was allerdings bei ihm unter Aufnahme des
Geschichtssymbolismus geschah.
Der Geschichtssymbolismus versuchte also vorwiegend biblische
Sinnbilder als Hinweise zu deuten, „die trotz logischer Vieldeutigkeit
ihre objektive Wahrheit enthalten, obgleich diese eher der Intuition als
der
Reflexion
zugänglich“253
Geschichtssymbolismus
als
sind.
zentrale
Insofern
Form
war
der
mittelalterlicher
Geschichtsschreibung theologisch fundiert, aber oft politisch motiviert,
wenn die biblischen Typologien als Form für die historische Auffüllung
dienten.254 Mittels des Geschichtssymbolismus vermochte man, den
Islam unter Adaption des Antichrist-Begriffes oder der Lehre von den
vier Weltreichen aus dem biblischen Buch Daniel als apokalyptische
Macht zu interpretieren, wie dies etwa Pseudo-Methodius tat.
Die Suche nach dem vermeintlichen Antichrist bezog sich aber
keineswegs nur auf den Islam. Im hohen Mittelalter konnte sowohl das
römisch-deutsche Kaisertum wie aber auch das Papsttum mit dem
Antichristen identifiziert werden. Ein besonders markantes Beispiel
dafür ist der Hohenstaufer-Kaiser Friedrich II., der sowohl als Antichrist
wie auch als Endkaiser bezeichnet wurde.255 Nachdem man den Tod
Friedrichs 1250 in der Bevölkerung lange Zeit nicht glauben wollte,
verbreiteten sich aufgrund einer Vision eines sizilianischen Mönches,
der Friedrich mit einem langen Heerzug in den Ätna hatte einreiten
sehen, völlig unterschiedliche Vorstellungen. Während die Kirche, die
den Kaiser exkommuniziert hatte, diese Vision als Höllenfahrt
252
253
254
255
augustinische „Civitas“-Lehre entscHeidend uminterpretiert, so dass die
gemeinhin mit der „Civitas Dei“ identifizierte Kirche nun zum Hort des
Antichristen wurde.
Vgl. zu Melanchthon bes. die Studie von Klempt , Säkularisierung.
Rauh, Antichrist, 11
Goetz, Geschichtsschreibung, 233ff. bes. 236.
Brentjes, Mythos, 42ff.
58
interpretierte, sah man im Volk - in Deutschland sprang die Lokalisation
bald auf den Kyffhäuser und Friedrichs Großvater Barbarossa über –
den Kaiser in „Wartestellung“, bevor er am Ende der Zeiten
wiederkehren werde.256
Nachhaltiger wirkte aber die Assoziation des Antichristen mit dem
Papsttum. Der Begriff „Antichrist“ wurde vom Papsttum wie auch von
dessen Gegnern „politisch mobilisiert“.257 John Wycliff verstand in
seiner Schrift „De Christo et suo Adversario Antichristo“ bzw. im „Opus
Evangelicum“ das Papsttum als Manifestation des Antichristen. Dabei
löste er sich von der Vorstellung, einzelne Personen bzw. Päpste mit
dem Antichrist zu identifizieren.258 Nun konnte das Papsttum an sich als
antichristliche Macht verstanden werden. Luther teilte später diese
Auffassung.
Weite Verbreitung fand der Antichrist-Gedanke auch durch die Legende
„De ortu et tempore Antichristi“ des Adso von Montier-en-Der.259 Der
um 915 geborene Abt des Klosters Montier-en-Der sammelte „als
gewissenhafter Kompilator“260 im Auftrage der westfränkischen Königin
Gerberga alle „Nachrichten“ über den Antichrist und verfasste sein
Traktat 954.261 Adsos Schrift bezieht die bekannten Weissagungen
dabei ausdrücklich auf das Fränkische Reich, aus dessen Mitte der
Endkaiser hervorgehen soll, bevor dann nach ihm der Antichrist durch
den Hauch des Mundes Gottes oder den Erzengel Michael getötet
werde. Offensichtlich hat Adso mit seinen Bezugnahmen auf das
Frankenreich konkret das Westfränkische Reich vor Augen, das zur Zeit
der Gerberga in einer schweren politischen Krise steckte. Der Inhalt der
(Hoffnungs)-Botschaft des Adso für seine Königin löste sich jedoch bald
vom zeitgeschichtlichen Kontext ab und fand weitere Verbreitung. Die
Ablösung der Schrift von ihrem konkreten Entstehungsanlass und ihre
fortdauernde
Bedeutung
spricht
dafür,
dass
Orientierungs- und Stabilisierungspotential besaß.
256
257
258
259
260
261
Vgl. Horst, Staufer, 331ff.
Rauh, Antichrist, 8.
Leppin, Antichrist, 209f.
Möhring, Weltkaiser, 140ff., 360ff.
Ebd., 144.
Ebd., 147.
die
ein
hohes
59
Wie die innerhalb des späten Mittelalters virulente Antichrist-Fixierung
bald auch „popularisiert“ wurde, zeigt sich im „Ludus de Antichrist“,262
das zwischen 1147 und 1187 von einem Anonymus verfasst wurde. Der
Entstehungsort ist ebenfalls unbekannt. Das „Ludus“ hat außer dem
zentralen Thema des Antichristen nur eine geringe Ähnlichkeit mit
Adsos Text. Die Weltgeschichte ist hier in zwei Teile aufgeteilt, die
zeitgeschichtlichen Anspielungen können nicht eindeutig erhellt werden.
Die markantesten Unterschiede zur bisherigen Tradition sind die
Tatsachen, dass von einer Herkunft des Antichristen aus dem jüdischen
Volk keine Rede ist, dass darüber hinaus den Arabern keineswegs eine
apokalyptische Rolle zukommt - der imperator Romanorum schlägt den
rex Babylonis „lediglich“ in die Flucht - und dass der Tod des
Antichristen keineswegs schon das Ende der Zeiten bedeutet.
Durch dieses geistliche Volksspiel verbreitete sich der AntichristGedanke in breiten Schichten,263 auch wenn sich die Vorstellung
natürlich nicht fest an ein Konzept band – sei es das des Adso von
Montier-en-Der oder das des „Ludus“ - sondern in vielerlei Variationen
verbreitet wurde, zumal es auch mehrere inhaltlich differierende
Antichrist-Spiele gegeben haben könnte.264 Der Antichrist-Gedanke war
jedenfalls bis in breite Volksschichten hinein bekannt. Dafür sorgte auch
der
Buchdruck.
So
erschien
etwa
1521
Lukas
Cranachs
Holzschnittfolge „Passional Christi und Antichrist“.
Die
ganze
Entwicklung
des
Antichrist-Gedankens
macht
es
nachvollziehbar, wenn gesagt wird: Im Mittelalter „wuchs der Antichrist
... immer mehr zum Helden eines spannenden Romanes“265 heran, der
nun nicht nur von Klerikern „gelesen“ wurde, sondern Stoff für
Volksspiele bot, die gleichzeitig eine stärker werdende apokalyptische
Haltung des ausgehenden Mittelalters bezeugen. Der Antichrist wurde
nun zunehmend der „Endchrist“.266 Hatte auch das ganze Mittelalter mit
262
263
264
265
266
Ebd., 176ff.
Leppin, Antichrist, 209.
Möhring, Antichrist, 178 hinsichtlich einer Bemerkung des Gerhoch von
Reichersberg.
Preuss, Antichrist, 44.
So jedenfalls Preuss, Antichrist, 45. Der Begriff "Endchrist"/ "Endechrist" ist
zunächst jedoch aus einer Lautverschiebung im Mittelhochdeutschen
60
dem Ende der Welt und dem Kommen des Antichrist gerechnet, so
steigerte sich diese vorher lediglich latent vorhandene apokalyptische
Erwartung um die Wende zum 16. Jahrhundert in einem bis dahin nicht
gekannten Maße.267 Luther hat an diesen Strömungen, wie sich zeigen
wird, partizipiert und sie weiter gefördert.
Zahlreiche Verfasser haben die genannten Traditionen schon in
vorreformatorischer
Zeit
aufgenommen
und
verarbeitet.
Die
apokalyptischen Motive sollten ja aufgrund der als hermeneutischen
Schlüssel aufgenommenen Traditionen das osmanische Phänomen
einzuordnen helfen und über den Fortgang der Geschichte Aufschluss
geben. Nur einige wenige literarische Beispiele seien hier genannt: Der
Kölner Karthäusermönch Dionysius van Rijkel (1402/03-1471), bekannt
geworden als „Doctor ecstaticus“268, verfasste im Angesicht des
gefährdeten Konstantinopel 1452/53 die Schrift „Contra perfidam
Mahometi“ und nach dem Fall der Stadt seine Vision „Epistola ad
principes catholicos paranetica de iustuendo bello adversus Turcam“.
Savonarola,
der
„Compendium
Florentiner
relevationum“
Bußprediger,
ebenfalls
beschrieb
die
in
seinem
Osmanen.269
Joseph
Grünpeck, Kaiserlicher Rat unter Maximilian I., sah in seinen „Practica
der gegenwertigen großen Trübsaln“ das „end der welt ... nahe/ vnd
die wasser der trübsaln werden die ganze Christenhait übergeen.“270 In
seinem „Speculum naturalis, coelestis et propheticae visionis“ von 1508
erblickte er in den Osmanen ein „flagellum Dei“,271 eine Auffassung, die
keine zehn Jahre später Luther teilen wird.
Schließlich ist auch der Maler und Humanist Albrecht Dürer zu
erwähnen.
Mit
seinen
Arbeiten
nahm
der
die
apokalyptische
Grundhaltung der Menschen auf und beförderte sie weiter. 1498
erschien seine „Apocalisis cum figuris“, eine künstlerische Darstellung
der Johannes-Apokalypse. Der Dürer-Biograph Ernst Rebel fasst
zusammen:
267
268
269
270
271
entstanden, Rauh, Antichrist, 4, was aber wohl apokalyptische Vorstellungen
gefördert hat.
Delmeau, Angst, 313.
Andermann, Geschichtsdeutung, 49.
Reeves, Influence, 435ff.
Zit. in Peuckert, Wende, 104.
Zit. in Andermann, Geschichtsdeutung, 50 A 91.
61
„Wie nie zuvor in der deutschen Kunstgeschichte ergriff hier ein Maler
als Handwerker und Bilderfinder, als demütiger Christ wie als kritischer
Zeitgenosse, das Wort, nämlich das Bibelwort, um es zu einer genialen
Synthese von Weltsorge und Kunstfreude auszugestalten.“272
Neben den berühmten „Apokalyptischen Reitern“ ist hier besonders
auch der Holzschnitt von der „Hure Babylon“ zu beachten (Apk 17). Er
ist eine kritische Auseinandersetzung mit dem Renaissance-Papsttum
seiner Zeit. Dem makabren Auftritt der Hure, der von einer prächtigüberheblichen Gesellschaft begeleitet wird, steht der osmanische
Sultan als Zeremonienmeister vor.273
„Wohl in voller Absicht wird er [der Sultan Anm. d. Verf.] in die Nähe
des christlichen Oberhaupts gerückt, wobei er im Vergleich noch die
sichtlich ehrenvollere Figur abgibt. Der Obertürke mag schlimm sein,
noch schlimmer ist der christliche Oberhirte!“274
Erheblich zur Popularisierung endzeitlicher Vorstellungen trug dann
Johannes Lichtenberger275 bei, der einige Jahre Hofastronom Kaiser
Friedrichs III. gewesen war, und 1488 zunächst anonym seine
„Pronosticatio in latino, rara et prius non audit iudex sacri imperii“
herausgab. Lichtenberger ist in seinem Werk allerdings stark abhängig
von der „Prenostica ad viginti annos duratura“ des Paulus von
Middelburg, dass nur vier Jahre zuvor erschien.276 Middelburg selbst
war abhängig von einem arabischen Deuter namens Albumazar, der
seinerseits seine Vorhersagen von dem bedeutenden arabischen
Philosophen al-Kindi (800-866) übernommen hatte.277 Über diese
Traditionen hinaus kann man Lichtenbergers Werk als eine Art
„Sammelausgabe abendländischer Astrologen aus dem Ende des
fünfzehnten Jahrhunderts“ bezeichnen.278 Bei einem „Gang durch die
wirren Wege der Pronosticatio“ lässt sich „eine Fülle von Beziehungen
und
272
273
274
275
276
277
278
279
Abhängigkeiten
aufweisen“.279
Dieses
„Konglomerat
Rebel, Dürer, 116.
Ebd., Abb. 29.
Ebd., 118.
Zu Lichtenberger vgl. Kurze, Lichtenberger.
Vgl. Peuckert, Wende, 103; Andermann, Geschichtsdeutung, 46.
Barnes, Prophecy, 142.
Peuckert, Wende, 103.
Kurze, Lichtenberger, 33.
62
verschiedenster Weissagungspartikel“280 hat bis 1530 fast zwanzig
erlebt.281 Da Lichtenbergers Werk im deutschen
Nachdrucke
Sprachraum – Luther gab es später mit einem Vorwort versehen heraus
– nachhaltig wirkte, soll hier auf Lichtenberger besonders eingegangen
werden.
Die genannten Quellen Pseudo-Methodius, Tiburtinische Sibylle und
Antichrist-Tradition kommen bei Lichtenberger, dem Charakter eines
Sammelwerkes entsprechend, alle vor. Lichtenbergers Pronosticatio ist
dabei in Einzelkapitel aufgeteilt.282 Nachdem er zunächst als Quellen
der Vorhersagekunst die Lebenserfahrung, die Astrologie und die
Offenbarungen Gottes an Einzelne, wie etwa die alttestamentlichen
Propheten, die römische Sibylle und den Lollarden Reinhart genannt
hat, macht er deutlich, dass er selbst aus allen drei genannten
Möglichkeiten in seinem Werk schöpft. Der Schwerpunkt liegt allerdings
auf der Astrologie, die er vor dem Vorwurf zu verteidigen sucht, sie sei
nicht christlich.
Aktueller Ausgangspunkt seiner Pronosticatio ist für ihn eine ganz
bestimmte Gestirnskonstellation zwischen Saturn und Jupiter im
November 1484, eine sog. „schwere Konjunktion“ beider Planeten, der
von
jeher
besondere
Bedeutung
zugemessen
wurde.283
In
joachimitischer Tradition fördert Lichtenberger dabei chiliastische
Vorstellungen, wie in der Darstellung des Werkes deutlich wird.
Im ersten Hauptteil des Werkes von Lichtenberger wird das „Schifflein
Petri“, also die Kirche, besonders dargestellt. In joachimitischer
Tradition erfolgen Weherufe über die Kirche und besonders das
Papsttum. Ein wahrer Papst wird schließlich mit einer „Reformation“284
die verfallene Kirche ausrotten, doch wird das „Schifflein“ nicht
untergehen.
Im
zweiten
Hauptteil
sind
in
loser
Reihenfolge
Weissagungen zum Geschick des Reiches dargeboten. Hier taucht
dann besonders wieder Pseudo-Methodius mit seinen Weissagungen
auf.
280
281
282
283
284
Talkenberger, Sintflut, 60.
Ebd., 58.
Zur Inhaltsbeschreibung vgl. Kurze, Lichtenberger, 15ff.
Ebd., 18.
So auch zit. in Talkenberger, Sintflut, 67.
63
„Darumb sagt Methodius: Es wirt dye zeyt kommen/ das die Agareni
noch einmal in Teutschen landen versamlet/ auß wüsteney gehen
werden/ und werden der welt kreis einnemen/ im lande des Mondes
acht jar lang/ und yhr rayse wirt der Agarener reyse genandt werden.
Denn sy werden stedte und reich umbkeren/ und die prieste werden sie
in den gewexheten stedten erwürgen/ ... Aber bey dem guldenen apffel
zu Cöln werden sie umbkommen und vertilgt werden.“285
Für die Herrschaft des Kaisers Maximilian wird eine Friedenszeit
vorausgesagt, die Türken verschwinden aus Europa, Konstantinopel
wird zurück erobert „und wirt eyne newe Reformation sein/ die soll eyne
lange zeit stehe/ und des Türckischen keysers name wirt hinfort nicht
mehr unter den Christgleubige gehört werden.“
Sollten aber die Reichsstände nicht mit dem Kaiser einig bleiben, werde
der „Türke“ wiederkommen „und wirt verwüste Poln, Meissen, Döringe,
Hessen, Preussen, und wirt in die Pichardey reysen, in Braband und
Flandern.“286
Da Luther später ausdrücklich auf Lichtenberger und auch kurz auf die
Weltkaiser-Vorstellung zu sprechen kam, sei hier schon ein Vorgriff auf
den Reformator erlaubt: Die Pronosticatio Lichtenbergers gewann mit
der Reformation neue Aktualität. Die Gegner Luthers glaubten ihn in
Lichtenbergers Weissagungen vorausgesagt, wozu besonders Kapitel
31 und 32 der Pronosticatio Anlaß zu geben schienen. Der dort
zunächst als Antichrist verstandene Mönch mit der weißen Kutte, der
die Kirche verwirrt, scheint für die Gegner zweifelsohne Luther zu sein,
so etwa für Johannes Cochlaeus. Für ihn ist er „der unselig Münch, der
den teuffel auf der achseln trägt, in Lichtenbergers Practica.“287 Luther
erkennt in dem Mönch wiederum eher Thomas Müntzer, was
seinerseits Paracelsus scharf zurückweist, der wiederum Luther in ihm
zu erkennen glaubt.288
Zu einer weitgehend unveränderten Neuausgabe289 dieser Schrift 1527
schrieb dann Luther ein Vorwort.290 Aktueller Anlass war für ihn dabei
285
286
287
288
289
Lichtenberger, 26. Kap.
Ebd., 26. Kap.
Zit. in Kurze, Lichtenberger, 58.
Ebd., 59f.
Talkenberger, Sintflut, 373.
64
der Ausgang des Bauernkrieges, der in Kreisen der altgläubigen
Geistlichen als die von Lichtenberger geweissagte Verfolgung der
Kirche mitsamt der anschließenden Friedenszeit gedeutet wurde, wobei
auch gleich die lutherische Lehre mit als erledigt galt. Es ist also kein
Wunder, dass Luther in seiner Vorrede eine andere Interpretation
Lichtenbergers gab. Luther distanzierte sich jedoch auch hier im
Unterschied zu Melanchthon von der Astrologie, weil diese keine
Offenbarungen kenne, sondern "heidnische alte kunst"291 sei.292 Aber
er gestand doch auch zu, dass er selbst Lichtenbergers Voraussagen
nicht „an allen orten zuverachten“293 könne:
eben
troffen“294.
Luther
gibt
dann
„Hat auch etliche ding
einen
Einblick
in
seine
Geschichtsauffassung. Wenn auch Gott alles ohne die Menschen tun
kann, so bedient er sich ihrer doch als seine „Larven“295, sowohl im
geistlichen wie im leiblichen Regiment. Außergewöhnliche Ereignisse
am Sternenhimmel wiederum sind ein direktes Mahnzeichen Gottes an
die „Heiden“, während sich die Frommen, die Gottes Wort haben, um
solche Ereignisse nicht zu kümmern brauchen.
Zwar akzeptierte Luther Lichtenbergers Wahrsagung als legitimen
Versuch der Vorhersage, doch blieb er dabei, die Kunst sei
„ungewis“296. Dies rührt allerdings nach Luther weniger daher, dass es
an göttlichen Zeichen fehle - ganz im Gegenteil - aber eine kunstvolle
Berechnung sei trotzdem nicht möglich, deswegen habe Gott
Lichtenberger ja auch an einigen Stellen irren lassen. Trotzdem
empfahl er Lichtenbergers Buch, allerdings weniger den Christen, die ja
die Bibel hätten, sondern den „grossen hansen und lendern, das sie
wissen sollen, es gelte yhn“.297
Eine
Doppel-Strategie
weltlicher
und
geistlicher
Deutung
und
Argumentation, die später auch im Blick auf den Kampf gegen die
Osmanen deutlich wird, kündigt sich hier schon an: Der gläubige Christ
290
291
292
293
294
295
296
297
WA 23, 7-12: Haeusler, Weltchronistik, 162
WA 23,8. abgedr. in Warburg, Renewal, 663
Zum Verhältnis von Astrologie und Theologie in der Reformationszeit vgl.
Leppin, Antichrist, 182ff.
WA 23,8.
Ebd.
Ebd.,
Ebd.,11.
Ebd.
65
möge seine Erkenntnis aus der Bibel gewinnen, der „Weltmensch“
hingegen aus der als „wissenschaftlich“ angesehenen Astronomie.
Letztlich aber wird mit dem Schluß des Vorwortes nochmals Luthers
Absicht deutlich: Er will „auch geweissagt haben“298, dass die Gefahr
für die Kirche noch nicht vorüber sei, wie einige nach dem Bauernkrieg
meinen. Wenn es zu keiner grundlegenden Änderung in Lehre und
Lebenswandel komme, sei fürchterliche Strafe anzunehmen,
„uber eine kleine zeit, das solch yhr freunde zu schanden wird, will ich
gar freundlich bitten, sie wollten mein gedencken und bekennen, das
der Luther hab es besser troffen denn beide der Lichtenberger und yhre
selbs gedancken.“299
Diese ersten Hinweise machen schon Luthers tiefe Verankerung in der
apokalyptischen Mentalität seiner Zeit deutlich, sie zeigen jedoch auch,
dass er diese Ansichten nicht undifferenziert übernommen hat, sondern
sie sich in spezifischer Weise aneignete.
2.4.
Zwischenbilanz
Nach einer langen Phase der Unkenntnis bzw. des Halbwissens über
den Islam im Abendland war am Vorabend der Reformation das
Verhältnis zu dieser Religion und den von ihnen geprägten politischen
Mächten schon hochdifferenziert. Dies betraf sowohl die politischen,
allgemein-mentalen wie auch im engeren Sinne theologischen Aspekte.
Mit den Kreuzzügen begann dann eine Geschichte fortwährender
militärischen Auseinandersetzungen, die bald vom Aufstieg des
Osmanischen Reiches geprägt waren. Während im Südosten Europas
der
christlich
beeinflusste
Machtbereich
immer
mehr
zusammenschmolz und schließlich das historische Ostrom vernichtet
wurde, konnte im europäischen Westen der Islam als politische Macht
von der iberischen Halbinsel verdrängt werden.
Gleichzeitig entwickelte sich seit dem Hochmittelalter eine Kultur der
Beschäftigung mit dem Islam, die durch die kriegerischen Ereignisse
paradoxerweise gefördert wurde. Die noch im Rolandslied zutage
298
299
WA 23, 12.
Ebd., 12.
66
tretenden teilweise grotesken Fehlurteile über die Muslime wurden
durch zunehmendes Wissen korrigiert, ohne jedoch von teilweise
erheblichen Missverständnissen völlig frei zu werden. Mit dem
dogmatischen und dem apokalyptischen Interpretationsmodell bildeten
sich zwei Formen christlicher Islambeurteilung weiter heraus. Ihre
Abhängigkeit von den äußeren politischen Ereignissen wird in der
jeweiligen Dominanz der unterschiedlichen Modelle deutlich. In Zeiten
der Stärke der christlichen Mächte, „konnte man es sich leisten“, die
Religion des Islam relativ unvoreingenommen zu betrachten und eine
sachliche Auseinandersetzung mit ihm zu suchen. Mit der sich
steigernden Machtentfaltung des Osmanischen Reiches und den
zunehmenden inneren Auseinandersetzungen im Corpus Christianum
entwickelte sich jedoch im Spätmittelalter eine immer stärkere
Mentalität apokalyptisch aufgeladener Ängste, die in den Osmanen
einen scheinbar eindeutigen Anhalt fanden. Vereinzelte Versuche, doch
noch in einen friedlichen Dialog zu treten, hier sind die Bemühungen
des Cusanus zu nennen, wurden angesichts der osmanischen
Expansion immer perspektivärmer. Immer mehr wurden stattdessen die
„Türken“ vom politisch-militärischen Gegner und religiösen Widerpart zu
apokalyptischen Gestalten.
3. Kapitel:
Die Heraufkunft des „Türken-Themas“ in Luthers
Denken 1517-1525
3.1.
Luthers
Stellungnahme
gegen
einen
Osmanen-
Kreuzzug
3.1.1.
Die politischen Ereignisse
Mit dem Beginn des Pontifikates durch Papst Leo X. kam es, wie schon
erwähnt, zu neuen Bemühungen seitens des Kirchenstaates, einen
Kreuzzug gegen die „Türken“ zu organisieren. Sie verdichteten sich
67
insbesondere in den Jahren 1517/1518,300 fielen also mit dem Ausbruch
der Reformation in Deutschland zusammen.
Kam es auch nicht zur Organisation eines Heeres, lieferte der Papst
den besonders bedrängten Ungarn jedoch Geld und Waren, wie
Geschütze und Kanonenpulver, um diese gegen osmanische Angriffe
absichern zu helfen. Daneben gingen Unterstützungsaufrufe für einen
Kreuzzug an die christlichen Fürsten und Stände heraus.301 Von einer
Einigkeit der christlichen Mächte konnte jedoch keine Rede sein. Die
Republik Venedig lehnte einen Kreuzzug ab, während König Franz I.
von Frankreich ihn lediglich nach außen hin begrüßte. Venedig befand
sich
zu
dieser
Zeit
mit
dem
Osmanischen
Reich
in
einem
Friedensverhältnis, das es nicht gefährden wollte. Franz I. war eher an
den inneritalienischen Streitigkeiten mit den Habsburgern interessiert.
Grundsätzlich sah Frankreich im Osmanischen Reich eher einen
potentiellen Bundesgenossen gegen die Habsburger und einen
wichtigen Wirtschaftspartner.302 Als es hier zu einem kurzzeitigen
Ausgleich gekommen war, versuchte Franz I. auf dem Kongress zu
Cambrai 1517 Karl I. (V.) von Spanien und Kaiser Maximilian zu einem
Krieg gegen die Osmanen und der gemeinsamen Aufteilung deren
Reiches - dies alles jedoch ohne die Beteiligung des Papsttums - zu
gewinnen.
Um die Initiative wieder in die Hand zu bekommen, setzte Leo X. auf
dem V. Laterankonzil dann am 16. März 1517 die Verkündung eines
Kreuzzuges, verbunden mit einem Waffenstillstand aller christlichen
Fürsten untereinander, durch. Im Sommer des Jahres war er selbst
durch inneritalienische Streitigkeiten gebunden, so dass die Pläne erst
im Spätherbst wieder aufgenommen werden konnten. Am 4.11.1517,
also kaum eine halbe Woche nach dem damals in Rom noch
unbekannten Thesenanschlag in Wittenberg, wurde eine Kongregation
gebildet, die die vorbereitenden Maßnahmen für einen Kreuzzug klären
sollte. Am 12.11.1517 lag bereits eine Denkschrift für den geplanten
Kreuzzug vor, die u.a. einen Präventivkrieg gegen die Osmanen
300
301
302
Vgl. Pastor, Päpste IV/1, 146ff.
Ebd., 147.
Maron, Francois.
68
forderte, zu dem Zweck einen Waffenstillstand durch die christlichen
Fürsten untereinander vorsah und die Führung des Kreuzzuges durch
den Kaiser und den König von Frankreich empfahl. Die Fürsten sollten
sich zum Zwecke des Kreuzzuges in einer Bruderschaft, einer
„Fraternitas Sanctae Cruciate“ zusammenschließen. Darüber hinaus
sollten sowohl Fürsten und Geistliche durch Sonderabgaben, man
rechnete mit ca. 800000 Dukaten für den Kreuzzug, beitragen. 303
Leos Pläne stießen sowohl bei Franz I. als auch bei Maximilian auf
Zurückhaltung. Während der eine die volle Verfügungsgewalt über die
Geldmittel forderte, schlug der andere, verärgert über den zu teilenden
Oberbefehl, mehrere separate Kriegszüge gegen die Osmanen vor.
König Karl I. von Spanien, der spätere Kaiser, stellte lediglich
Schutztruppen für bedrohte italienische Gebiete in Aussicht.
3.1.2.
Luthers
Verbindung
von
„Türkenfrage“
und
Papstkritik
Martin Luthers Äußerungen zum Islam setzen - noch sehr unspezifisch
- in seiner frühen Psalmenvorlesung „Dictata super Psalterium“304
1513/1514 ein. In der Auslegung von Ps 73 werden die „bestiis“ aus V.
19 mit den „Türken“ identifiziert,305 in Blick auf Ps 79 kann Luther von
der Verwüstung der Kirche durch die Osmanen sprechen,306 doch ist
von einer unmittelbar bevorstehenden Bedrohung noch keine Rede.
Luther bewegt sich im Rahmen der üblichen kirchengeschichtlichen
Auslegung, wenn er die Apokalypse als Deutung der zeitlosallgemeinen Gefährdungen der Kirche ansieht.307 Kurt-Victor Selge
kann zugestimmt werden, wenn er feststellt:
Wenn „auch die Gegenwart unter das Licht der Zeichen des Antichrist
rückt, so bleibt sie doch eine räumlich und zeitlich gewichtig
gegenwärtige und ausgedehnte, und über das Kommen des konkreten
letzten Antichrist, mit dem das Ende der Welt beginnt, wird auch nichts
303
304
305
306
307
Pastor, Päpste IV/1, 153.
Vgl. dazu Rasmussen, Inimici; Oberman, Juden, 142 A. 17; Selge, Denken,
bes. 274.
WA 3, 491.
WA 3, 610.; vgl. Selge, Denken, 274f.
Hofmann, Johannes-Apokalypse, 94.
69
Näheres gesagt, als dass seine Wesensmerkmale schon erkennbar
sind.“308
Luther ist hier in seiner geschichtstheologischen Auffassung noch ganz
vom augustinisch-bernhardinischen Schema der Verfolgung der Kirche
(Heiden – Häretiker – „falsche Brüder“/ Antichrist) und seiner binnenekklesiologischen Zentrierung geprägt.309
Eine erste stärkere Kritik am Papsttum begegnet dann in diesem
Zusammenhang in der Vorlesung zum Römerbrief 1515/1516, wenn es
dort heißt, die eigentlichen Feinde der Kirche seien weniger Juden und
„Türken“, als vielmehr die Bischöfe, die das Kreuz Christi nicht
trügen.310
Vertieft setzt Luthers Auseinandersetzung mit der „Türkenproblematik“
im Zusammenhang seiner Kritik an Mißständen in der katholischen
Kirche ein. Dabei ist eines grundsätzlich festzuhalten: Mit dieser Kritik,
die die spätmittelalterliche Frömmigkeit später radikal infrage stellte,
erweist sich Luther zunächst nach eigenem Bewusstsein gerade nicht
als ihr Zerstörer, sondern als jemand, der mit dieser Art des Glaubens
radikal ernst zu machen versuchte. Die ungeheure Intensivierung
spämittelalterlicher Frömmigkeitspraxis, ihre Formen und Vorstellungen,
besonders die vom zornigen, richtenden Gott, hatte Luther tief in sich
aufgenommen.311 Es war nicht „der Weg des Erasmus ... in das
zeremonienfeindliche Christentum der Gebildeten“.312 Die Kritik und
schließliche Selbstaufhebung der spätmittelalterlichen Frömmigkeit
kommt also bei Luther aus der Mitte eben dieser Mentalität. Dabei fällt
auf, dass das Krisenbewusstsein Luthers sich bekanntermaßen auf
seine persönliche Heilsgewissheit bezieht und somit individueller Natur
ist.313 Trotzdem ist Luther nicht untypisch. Die Summe vielfacher
individueller
Heilsnöte
hat
dann
natürlich
die
Mentalität
tiefer
Verunsicherung, wie sie in der Religiosität des Spätmittelalters zum
Ausdruck kommt, geprägt.
308
309
310
311
312
313
Selge, Denken, 275.
Vgl. Rasmussen, Inimici, bes. 174ff.
WA 56, 301; vgl. Hofmann, Johannes-Apokalypse, 132.
Dinzelbacher, Art.: Religiosität, 132ff.
Heimpel, Mensch, 133.
Vgl. ebd., 142f.
70
Bei Luther ist zunächst von einem allgemeinen Krisenbewusstsein
hinsichtlich
der
Wahrnehmung
der
politischen
und
kulturellen
Verhältnisse keine Rede. Dabei waren Luther die wirtschaftlichen
Verwerfungen der Gesellschaft nicht unbekannt. Er betonte: „Ich bin
eines Bauern Sohn. ... Mein Vater ist ein armer Häuer gewesen.“314
Luthers Vater hatte sich in der Tat vom Bauernsohn zum Mitbesitzer
eines Bergwerkes hochgearbeitet. Luther kannte also die krisenhafte
Zuspitzung
der
expandierende
bäuerlichen
Hüttenwesen,
Existenz
das
„energiebedingte Grenzen“315 stieß.
wie
auch
allerdings
um
das
damals
1500
an
In dieser Familie, die einen
sozialen Aufstieg hinter sich gebracht hatte, der bekanntlich von ihm
selbst durch sein Studium der Rechtswissenschaften fortgesetzt
werden sollte, fehlte Luther letztlich doch das Gefühl existentiell
erfahrener wirtschaftlicher Verunsicherung. Später wird Luther immer
wieder die sozialen Verhältnisse kritisieren, aber er wird sich nie mit
einer Schicht bedingungslos solidarisieren.
Diese Sachverhalte haben auch im Blick auf sein Türkenbild
Bedeutung. War zunächst bei Luther von den Osmanen nur als einer
von zahlreichen Gestalten der Gefährdung der Kirche in der genannten
frühen Vorlesung „Dictata super Psalterium“ die Rede, wurde dieses
Türkenbild im Zusammenhang des Ablass-Streites immer pointierter.
Der
Ablass,
der
nach
damals
vorherrschender
theologischer
Auffassung den Erlass der vom Bußsakrament nicht erfassten
zeitlichen Sündenstrafen, wie sie etwa im „Fegefeuer“ zum Ausdruck
kamen,316 bedingte, konnte für Gebete, Wallfahrten oder einfach
käuflich erworben werden. Daraus entwickelte sich aus einem
ursprünglich seelsorglich konzipierten Instrument317 ein für die Kirche
finanziell einträgliches Geschäft. Neben den genannten Möglichkeiten
konnte der Ablass jedoch auch für die Teilnahme an Kreuzzügen
gewährt werden.318
314
315
316
317
318
Zit. in: Bernhard, Luther, 7.
Irsigler, Herkunft, 9.
Vgl. Schwarz, Luther, 54f.
Southern, Gesellschaft, 129.
Ebd., 55. Das bis heute älteste gedruckte Zeugnis ist ein Ablasszettel für
den Türkenkrieg von 1454, ebenso wie das älteste vollständig erhaltene Buch
71
In der 5. der „95 Thesen“319 gegen den Ablasshandel hielt Luther
dagegen fest, dass der Papst nur die Strafen erlassen könne, die er
selbst nach dem kanonischen Recht auferlegt habe. Dies hieß, dass
eine über das zeitliche Leben des Menschen hinausreichende
Jurisdiktionsmacht des Papsttums für ihn nicht bestand. Damit war der
Ablass grundsätzlich und auch als ein Mittel zur Finanzierung
eventueller Kreuzzüge infrage gestellt.
Luther wirkte damit auf eine öffentliche politische Debatte ein, die sich
kritisch mit den immer wieder geforderten Geldmitteln durch die Kurie
oder
den
Kaiserhof
auseinander
setzte.
Seit
der
Eroberung
Konstantinopels durch die Osmanen 1453 waren ja immer wieder
solche Kreuzzugspläne ventiliert und zu diesem Zweck Ablässe
gegeben und durchaus umstrittene Steuern320 erhoben worden.321 Ein
Kreuzzug kam aber nie zustande. Die Kritik an den Steuern, die
grundsätzlich auch darin begründet war, dass man zunächst die
Osmanengefahr als ein habsburgisches Territorialproblem ansah,322
kam hinzu. Schließlich sind hier auch die sog. Gravamina der
deutschen Nation zu nennen, die seit Mitte des 15. Jahrhunderts immer
wieder auf Reichstagen vorgebrachten Beschwerden über den
Reichtum der Papstkirche, die „Aussaugung“ der deutschen Kirche
durch die „Welschen“.
Die Beiträge Luthers bekamen also auch in dieser Hinsicht schnell
einen über den theologischen Bereich hinausstrahlenden Charakter.
Damit lieferte die Reformation von Anbeginn an auch einen Beitrag zur
„Türken-Debatte“, wobei die öffentliche Meinung durch die immer mehr
aufkommenden Flugschriften in einem bis dahin ungekannten Maße
mobilisiert wurde.323 Einige Beispiele seien hier genannt:
Im Jahre 1518 erschien ein Aufruf, „wie man den Türcken widerstand
thun mag und durch gantz christenhait baide von gaistliche un weltliche
319
320
321
322
323
„Eyn vermanung der cristenheit widder die durken“ aus demselben Jahr,
Andermann, Geschichtsdeutung, 33.
WA 1, 233ff.
Brecht, Luther, 11.
Vgl. Mau, Stellung, 645.
Wefers, Türkensteuer, 1108ff.
Simon, Flugschriften, 5. Vgl. besonders, Göllner, Turcia.
72
stant feleyche bürde getrage würde on beschwernis“324. 1522, in
diesem Jahr fielen Belgrad und Rhodos an die Osmanen, wurde der
erwähnte
Aufruf
erneut
herausgegeben.325
1523
erfolgte
eine
Aufforderung „ze eroberen die Türcky, um erlösung der Christenheit“326.
In der Flugschrift wurde ausdrücklich auf die Legende eines siegreichen
Zuges von Ordensleuten gegen die Osmanen Bezug genommen.
Deutlich wird, dass ein Kreuzzug mindestens ebenso sehr als eine
Angelegenheit der geistlichen wie der weltlichen Herren angesehen
wurde. Dies war bekanntlich kein neuer Gedanke. Schon Pius II. hatte
ja den Plan gefasst, an der Spitze eines Kreuzzugsheeres ins Heilige
Land aufzubrechen.327 1518 hatte sich der Dominikaner-Orden bereit
erklärt, aus den zu ihm gehörigen 40000 Klöstern je einen Mönch für
ein Kreuzzugsheer des Papstes zur Verfügung zu stellen.328
Dass
Luther
mit
seiner
Ablasskritik
die
Ablehnung
des
Kreuzzugsgedankens ganz ausdrücklich mit einschloss, machte er bald
unmissverständlich klar: In seiner Conclusio zur 5. der 95 Thesen in
den „Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute“ von 1518
wurde
Luther
wünschenswert
deutlich,
wenn
er
-
in
der
ethographischen Zuschreibung noch ungenau - „turcas et tartarus
aliosque infideles“ als „flagella et uirgam dei“329 bezeichnete. Diese
Zuchtrute Gottes mahne in erster Linie zur Buße, meinte er. So wie sich
einst nach biblischer Überlieferung die sündigen Niniviten bekehrt
hatten,330 sollten dies nun auch die Christen tun. Dies war eine eher
noch allgemein gehaltene Charakterisierung, die keinen spezifischen
geschichtstheologischen Interpretationsrahmen hatte. Allerdings sollte
die auch vorher schon geläufige Interpretation von den Osmanen als
Gottesgeißel von der Reformation nun verstärkt aufgenommen
werden.331
324
325
326
327
328
329
330
331
WA 30 II, 84.
Ebd.
Ebd.
Helmrath, Pius II., 79ff.
Fauth, Müntzer, 3.
WA 1, 535, 35-39.
Vgl. Buch Jona
Vgl. Bohnstedt, Scourge.
73
Die Auffassungen Luthers hatte auch direkt-politische Auswirkungen.
Auf eine Anfrage von Luthers Freund Georg Spalatin, einem politischen
Berater des sächsischen Kurfürsten Friedrich des Weisen,332 im
Dezember 1518, ob Luther einer „Expeditionem adversus Turca ex
sacris literis“333 das Wort reden könne, äußerte er sich völlig ablehnend.
Es könne mit dem Blick auf biblische Traditionen keinen Anhaltspunkt
für die Möglichkeit eines Kriegszuges geben, da die Christenheit zuvor
keine Buße getan habe.
In den „Resolutiones Lutherania super propositione XIII. de potestate
papae“ von 1519 legte Luther argumentativ nach und stellte fest, was
der Papst tatsächlich tun solle: „peccaret etiam hodie Rhomanus
pontifex, quod non pascit nec pastores mittit ad Turcas et alias
gentes.“334
Luther erntete mit seiner theologisch bedingten Ablehnung eines
Kreuzzuges, die ganz im Kontrast zur herrschenden katholischen
Theologie stand, im von der römischen Kurie beherrschten Teil des
Katholizismus
völlige
Ablehnung.
In
der
päpstlichen
Bannandrohungsbulle „Exsurge Domini“ von 1520 wurden Luthers
Aussagen aus den „Resolutiones“ dahingehend verstanden, als habe
Luther den Kampf gegen die Türken als einen Kampf gegen Gott,
„visitandi iniquitatis nostras“335, abgelehnt. Ein Vorwurf, der Luther
rasch und nachhaltig den Ruf militärischer „Feindbegünstigung“336
eintrug. So gab schon das „Türckenbüchlin“, eine Flugschrift von 1522,
die sich gegen Überlegungen, sich der osmanischen Streitmacht nicht
zu widersetzen, wandte, als einen Grund für die mangelnde
Kampfbereitschaft der Christen die vermeintlich lutherische Lehre an,
sich dem Feind entsprechend der Bergpredigt (Mt 5,39) nicht zu
erwehren.337
332
333
334
335
336
337
Stupperich, Reformation, 242.
WA Br 1,282.
Einen Vorwurf, den Luther insofern auch produktiv umsetzte, indem er dass
Projekt einer protestantischen Mission unter den unter osmanischer
Herrschaft lebenden Südslawen unterstützte, vgl. Gensichen, Missionsgeschichte, 7.
Zit. in WA 30 II, 93.
Blöchle, Heidentum, 177.
WA 30 II, 93.
74
Die päpstliche Bulle und die übrige Kritik nötigten Luther zunächst
einmal, seine Äußerungen zu präzisieren. In seiner Schrift „Grund und
Ursach aller Artikel D. Martin Luthers, so durch römische Bulle
unrechtlich verdammt sind“, ging er darauf ein und wehrte sich gegen
die Vorwürfe, die ihm gemacht wurden. Dadurch, dass die Schrift in
deutscher Sprache abgefasst wurde, wandte sie sich an die breite
Öffentlichkeit. Das galt von nun an für die weit überwiegende Zahl von
Luthers schriftlichen Äußerungen zu den „Türken“:
„Ach wie schendlich hatt unß Der Bapst, mit dem Turcken streytt, nu
lange zceytt umbfurret, umbs gellt bracht unnd so vile Christen vertilgett
unnd ungluck angericht. ... Nu hab ich dissen artickel nit also gesetzt
das widder den Turcken nit zcu streytten sey wie der heylige ketzer
mecher der bapst myr alhie ausslegt sondern wyr sollten zcuvor unß
bessernn unnd eynen gedigen gott machen. Nit einen plümppen: auffs
babsts ablasß vorlassen ... . Gott fragt nit nach kreutzen, ablaß,
streytten. Er will eyn gutt leben haben.“338
Damit war klar, dass Luther einen Krieg gegen die Osmanen nicht
grundsätzlich ablehnte, er ihn jedoch aber ohne vorherige Buße der
Christenheit für sinnlos hielt. Luthers Äußerungen sind hier rein
theologisch geprägt. Eine politische Analyse der türkischen Gefahr
findet sich nirgends. Allerdings kann dies nur bedingt als Vorwurf
gegenüber Luther gewertet werden, denn in der Unterschätzung des
Expansionsdranges war er sich mit der weit überwiegenden Zahl seiner
Zeitgenossen damals noch einig. Insofern gibt Luther in dieser Zeit der
„Türkenfurcht“ keinen argumentativen Raum. Auffällig ist darüber
hinaus, dass Luther zunächst auch weder das dogmatische noch das
apokalyptische
Interpretationsmodell
für
die
„Türkenproblematik“
heranzog. Es zeigt, wie wenig ausgebildet zu diesem frühen Zeitpunkt
noch
seine
Haltung
zu
den
Osmanen
war.
Lediglich
das
straftheologische „Zuchtruten-Motiv“, also die Osmanen als Strafe für
die Sünden der Christen, das auch schon bei Cusanus oder Grünpeck
als Bestandteil des apokalyptischen Modells begegnete, findet sich bei
Luther.
338
WA 7, 443.
75
Doch bald sollte der Reformator immer stärker apokalyptische Motive
aufnehmen. Drei Tage vor dem schon erwähnten Schreiben an Georg
Spalatin 1518 äußerte Luther in einem Brief an Wenzelslaus Linck
erstmals die Vermutung, der Papst sei womöglich der Antichrist und als
solcher schlimmer als die „Türken“.
„Mittam ad te nugas meas, ut videas, an recte divinem Antichristum
illum verum et intentatum a paulo in Roman curia regnare; peiorem
Turcis esse Romanum hodie puto me demonstrae posse.“339
Dies war im Rahmen der kirchenkritischen Äußerungen des späten
Mittelalters zwar, wie gezeigt, kein ungewöhnlicher Gedanke,340 aber
für Luther doch eine neue und bestürzende Erkenntnis. Walter Nigg hat
es anschaulich formuliert: „Ein metaphysisches Entsetzen durchzitterte
seine Seele.“341 Die seelische Erschütterung, die Luther erfasst haben
mag, zeigt aber auch etwas anderes: Luther partizipierte stark an den
Antichrist-Vorstellungen seiner Zeit. Sie waren für ihn nicht bloß
polemische Rede, sondern Ausdruck einer Wirklichkeit, die nun sogar
gegenwärtig erschien. Dies war für die Reformation von folgenschwerer
Wirkung. Mit Luthers Grundentscheidung, die Rede vom Antichrist in
sein
reformatorisches
Reformation
an
der
Konzept
aufzunehmen,
mythisch
geprägten
partizipierte
Geschichts-
die
und
Wirklichkeitsschau des Spätmittelalters. Das Luthertum sollte in der
Folgezeit der eigentliche Erbe der spätmittelalterlichen Apokalyptik
werden.342 „The discovery of the Antichrist was the dark completment to
Luther’s rediscovery of the Gospel“343.
Tatsächlich hat Luther sich dann in den Jahren 1518 bis 1520 intensiv
mit der Geschichte des Papsttums auseinandergesetzt und seine
Annahme bestätigt gefunden.344 Luther kam dabei zu dem Ergebnis,
dass das Papsttum seit der Entwicklung der hochmittelalterlichen
Papstkirche und ihrem etwa im „Dicatus papae“345 Gregors VII.
339
340
341
342
343
344
345
Vgl. Mau, Türken, 647.
Vgl. Seebaß, Antichrist, 28ff.
Nigg, Reich, 206.
Andermann, Geschichtsdeutung und besonders die Werke von Leppin,
Antichrist und Barnes, Prophecy.
Barnes, Prophecy, 44.
Vgl. Schwarz, Wahrheit, 159ff.
Zit. in Le Goff, Hochmittelalter, 89f.
76
geäußerten Anspruch auf Weltherrschaft, symbolisch verdeutlicht im
nun begonnenen Tragen der Tiara, der dreifachen Krone der
persischen Großkönige,346 und im Gebrauch kirchlicher Machtmittel zu
rein politischen Zwecken, tatsächlich den Antichrist darstelle.
Der Antichrist als nach biblischer Überlieferung aus dem Inneren der
Kirche entstehender Widersacher Christi347 schien unter diesen
Prämissen tatsächlich in der Institution des Papsttums erkennbar zu
sein. Ließ dieses doch genau wie der Antichrist nach Luthers
Auffassung das Wort Gottes - so wie er es nach seinem
Selbstverständnis neu erkannt hatte - nicht gelten und stellte seinen
Machtwillen über dasselbe.348 Dieser Anspruch konnte für Luther nicht
mit Gewaltmitteln beseitigt, sondern nur durch geistliche Deutung
entlarvt werden.349 In den großen Reformationsschriften von 1520 ist
der Gedanke vom Papsttum als Institution des Antichrist schon deutlich
ausgebildet. Man wird wohl recht darin gehen, wenn man noch einmal
mit Walter Nigg die subjektiv von Luther selbst empfundene Lage so
beschreibt:
„Luthers Kampf gegen die dämonische Gewalt des Papsttums darf nicht
nach modernen Gesichtspunkten beurteilt werden, die mit affektloser
Objektivität Größe und Verderbnis dieser Institution abzuwägen
imstande sind. Luther stand in einer Kampfessituation, die letzte
Wahrheiten bedroht sah, und hieraus erklärt sich auch seine
Unnachgiebigkeit. In diesem gewaltigen Ringen ging es ihm trotz
unflätigen Kampfbildern nicht um ein kleinliches Gekläff, wie es der
konfessionellen Polemik sonst eigen ist. Ein abgrundtiefer Hass loderte
in Luther, wie er elementarer nicht sein konnte, der ihn auch vor den
schwersten Beschuldigungen, über die seine heutigen Anhänger
betreten schweigen, nicht zurückschrecken ließ. Der Wittenberger
Reformator kannte kein verlegenes Vertuschen. Wer die Wahrheit des
346
347
348
349
Hubschmid, Aufschwung, 62.
1. Joh. 2,18f; 2. Thess 2.
Vgl. May, Geschichte, 213.
Ebd.
77
Evangeliums unterdrückt, verdient es, dass gegen ihn Himmel und
Hölle beschworen werden.“350
Luthers Einschätzung der Osmanen wurde nun von dieser Einsicht her
zunehmend aber doch nur langsam ansteigend dominiert. Den „Türken“
kam in diesem jetzt apokalyptischen „setting“ eine Funktion zu.
Allerdings blieben sie für die nächsten Jahre dem Reich noch fern. Die
Osmanen waren wohl auch deshalb doch noch außerhalb des
eigentlichen Blickfeldes Luthers, und es finden sich zunächst eher
sporadische und durchaus wohlwollende Äußerungen zu ihnen. Dies ist
der Fall, wenn etwa 1521 in der Schrift an den christlichen Adel, der ja
der Hoffnungsträger für Luthers Reformpläne ist, diesem die gute
Staatsführung der Osmanen vorgehalten wird.
„Man sagt, das kein feyner weltlich regiment yrgend sey, dan bey dem
Turcken, der doch wider geystlich noch weltlich recht hat, sondern allein
seinen Alkoran, so mussen wir bekennen, das nit schendlicher regiment
ist, dann bey unns, durch geystlich und weltlich recht, das kein stand
mehr gaht naturlicher vornunfft, schweyg der heyligen schrifft gemeß.“
351
Dem appellativen Charakter der Schrift entsprechend scheut sich
Luther also nicht, die heftigen Gegner des Christentums eben diesem
als Vorbild hinzustellen. Noch ist seine Ständekritik geprägt von
Optismus und der Hoffnung, dass es in Deutschland besser werde. In
Luthers Schrift über das eheliche Leben ist ganz selbstverständlich vom
Handel und Wandel, ja eben auch von der Ehe zwischen Christen und
Muslimen
die
Rede.352
Ein
voll
ausgebildetes
apokalyptisches
Interpretationsmodell sähe anders aus! An der „anthropologischen
Wende“353 partizipiert Luther hier in vollständiger Weise. Es werden erst
seine dezidiert theologischen Äußerungen sein, die diese Wende dann
doch wieder überdecken.
350
351
352
353
Nigg, Reich, 208, der im übrigen die apokalyptische Erwartung im Sinne eines
kosmischen Geschehens zugunsten einer Verbindung mit der Innerlichkeit
zurückstuft.
WA 6,459.
WA 10 II, 278.
Vgl. Bödeker, Humanität.
78
Insgesamt galt für Luther: Die Osmanen waren nicht militärisch,
sondern nur geistlich zu besiegen. Klar wird damit auch, dass Luther
nicht an einer politischen Analyse der Gegebenheiten gelegen war,
sondern dass diesbezügliche Stellungnahmen theologisch überformt
blieben. Die eigentliche Bedrohung stellten für Luther nicht die
Osmanen, sondern das Papsttum dar.
3.1.3.
Die Verknüpfung von „Türkenfrage“ und „Causa
Lutheri“ im politischen Bereich
Der seit
1522
Vorgänger
amtierende Papst Hadrian IV. versuchte wie sein
Leo
X.
erneut
die
christlichen
Fürsten
zu
einem
gemeinsamen Vorgehen gegen die Osmanen zu gewinnen, blieb aber
ebenso wie dieser erfolglos. Das besonders gefährdete Ungarn
unterstütze Leo jedoch mit Geldmitteln.354
Hilfe für das gefährdete
Königreich ging von den eigentlich besonders involvierten Habsburgern
nicht aus, da sie sich in der „Türkenfrage“ zurückhielten. Allem
Anschein nach hat Karl V., der seit 1519 als römisch-deutscher Kaiser
amtierte, mit seiner diesbezüglichen Rolle und dem Tatbestand der
osmanischen
Expansion
keine
apokalyptischen
Vorstellungen
verbunden, wie sie in Deutschland gehegt wurden.355 Offensichtlich
dachte Karl aus einer dezidiert spanischen Perspektive. Nach den
Erfolgen der Reconquista, Karl war acht Jahre nach der Eroberung
Granadas, des letzten islamischen Territoriums auf iberischem Boden,
geboren worden, gab es für ihn allerdings auch keinen Grund für ein
apokalyptisches Krisenbewusstsein. Zudem war für die spanische
Krone mit der ebenfalls 1492 erfolgten Entdeckung Amerikas eine
„Neue Welt“ erobert worden. Der junge Kaiser hing - maßgeblich
beeinflusst durch seinen Großkanzler Gattinara356 - eher an dem Plan
einer christlichen Universalmonarchie, die den Vorstellungen seines
Großvaters
354
355
356
Maximilian
ähnelte,
allerdings
mit
dem
Pastor, Päpste IV/2, 106ff.
Möhring, Weltkaiser, 304.
Rabe, Religionspolitik, 319; vgl. auch Rassow, Kaiser-Idee; Brandi,
Weltreichsgedanke.
für
die
79
Reformationsgeschichte so entscheidenden Unterschied, dass Karl
diese Pläne fest mit der Papstkirche verband.357 In den iberischen
Monarchien waren diese universalistischen Vorstellungen auf dem
Hintergrund der skizzierten zeitgeschichtlichen Ereignisse um 1500
virulent.
Verbunden
mit
der
Annahme
einer
geschichtlich
nachweisbaren Wanderung der Weltherrschaft von Ost nach West
glaubte man sich zur Führung der christlichen Welt berufen, ja dazu
befähigt, das Weltende im Sinne von 2. Thess 2,7 (kat’ echon)
aufzuhalten, eine Aufgabe, die traditionell dem Römischen Reich bzw.
seinen translationes zugesprochen wurde.358 Wie deutlich diese
universalistischen Pläne zutage traten, zeigt das Verhalten der
kastilischen Beamtenschaft. Diese feierte Karl nach seiner Wahl zum
römisch-deutschen Kaiser als Nachfolger Karls des Großen, der
westliche und östliche Christenheit unter seiner Herrschaft vereinigen
und das Heilige Land erobern werde.359 Auf Karl bezogen sich damit
Vorstellungen, die zunächst der französische König Karl VIII. aktiviert
hatte.360 Kaiser Karl als Herrscher eines Reiches, in dem, wie es bald
hieß, „die Sonne nie untergeht“, schien noch deutlicher als das
französische Königtum für solche Anschauungen prädestiniert. Karls
Großkanzler Gattinara rief ihm zu: Ihr seid „auf dem Wege zur
Weltmonarchie, zur Sammlung der Christenheit unter einem Hirten.“361
Einer der ersten Indiander-Missionare schrieb unter ausdrücklichem
Bezug
auf
das
Vier-Monarchien-Schema
des
Daniel-Buches,
besonders Dan 2,45, an Karl:
„Was ich nun von Eurer Majestät erbitte, ist, das fünfte Reich Jesu
Christi zu vollenden, welches der Stein, der ohne Hände aus dem Berg
herabgerissen wurde, symbolisiert. Dieses muss sich ausdehnen, um
die ganze Erde zu umspannen.“362
Der Bezug auf die danielische Weissagung bedeutete also im Umfeld
Karls nicht Untergang sondern Vollendung! Die unterschiedlichen
357
358
359
360
361
362
Rabe, Religionspolitik, 317.
Vgl. Delgado, Traum, 252ff.
Möhring, Weltkaiser, 305.
Delgado, Traum, 255.
Ebd., 256.
Zit. in Delgado, Traum, 259.
80
Mentalitäten werden deutlich: Während das Papsttum die Osmanen
zumindest in der polemischen Auseinandersetzung als Antichrist sah
und Luther wiederum im Papsttum selbst den Antichrist entdeckte,
schickte sich Karl an, eine Weltmonarchie zu errichten, das fünfte, von
Daniel vorhergesagte Endreich. In diesem Zusammenhang konnte
dann von einer apokalyptischen „Türkenfurcht“ keine Rede sein. Die
Osmanen waren in dieser Perspektive lediglich ein Keil, der sich
zwischen das europäische Reich Karls im Westen und das irrtümlich im
Osten angesiedelte und von Westen her entdeckte „Indien“ (Indianien)
schob, aber keine wirkliche endzeitliche Gefahr. Doch nicht nur Karls
Denken, auch seine Politik war von dieser spanischen Perspektive
geprägt. Die Auseinandersetzung mit den Osmanen suchte er primär in
Nachfolge dieser spanischen Tradition im Mittelmeer. Der Krieg mit
ihnen in Südost-Europa sollte die Angelegenheit seines Bruders
Erzherzog Ferdinand werden.363 Bald jedoch wurde dieses aus
iberischer Sicht angemessene aber aus mitteleuropäischer Perspektive
unzureichende Verhalten der Habsburger ihnen auch selbst deutlich.
Mit der Übersiedlung Marias von Habsburg als Frau König Ludwigs
nach Ungarn, begann man in der Familie Habsburg nach der
anfänglichen Zurückhaltung zögerlich klarer zu sehen: Maria schilderte
ihren Brüdern Ferdinand und Karl in zahlreichen Briefen die
Bedrohlichkeit der Osmanen für Ungarn und das Reich. Es gelang ihr
aber zunächst nur schwer, Gehör zu finden.364 Ihr Bruder Ferdinand
näherte
sich
jedoch
einer
realistischen
Bedrohung
der
„Türkenproblematik“ im wahrsten Sinne des Wortes immer mehr an.
Seit 1521 war Ferdinand Statthalter seines Bruders in Österreich,
Steiermark, Kärnten und Krain, seit 1522 auch in Tirol und Friaul.365 Im
Jahre 1521 kam Ferdinand selbst zum ersten Male nach Österreich.
Ihm musste die türkische Gefahr nun näher liegen als Karl, der stärker
in der Auseinandersetzung mit Franz I. gebunden war. Ein weiterer
Grund kam für Karl möglicherweise hinzu, sich in der „Türkenfrage“
zunächst
363
364
365
noch
Zurückhaltung
Seibt, Karl, 89.
Tamussino, Maria, 75.
Vajda, Austria, 228.
aufzuerlegen.
Die
osmanische
81
Bedrohung hinderte seinen Bruder, der ja auch eine zeitlang als
Prätendent für das Kaiseramt galt, gegen ihn militärisch vorzugehen.366
So
war
die
innerhabsburgische
Situation
hinsichtlich
einer
Unterstützung des am meisten bedrohten Ungarn bzw. allgemein einer
Auseinandersetzung mit den Osmanen nicht wirklich klar. Doch die
Zurückhaltung gegenüber einem „Türkenzug“ betraf eben nicht nur die
Habsburger und die Reichsstände, sondern auch die Bevölkerung. In
Deutschland vermutete man „an imperial and papal plot to divert
attention from critical German conditions and enrich the papacy at the
expense of the German people.“367 Luthers o.g. Argumentation konnte
sich also auf eine weit verbreitete Grundstimmung in der Bevölkerung
stützen, die er gleichzeitig weiter beförderte.
Sowohl der Reichstag von Augsburg 1518 als auch der Reichstag von
Worms 1522 waren stärker von den Auseinandersetzungen um Luther
denn von der „Türkenfrage“ geprägt: Auf dem Reichstag in Augsburg
1518 verhandelte der päpstliche Gesandte Cajetan neben der „Causa
Lutheri“ auch die Kreuzzugsfrage. Cajetans Darlegungen hinsichtlich
der Notwendigkeit der Erhebung von Steuern für einen Kreuzzug waren
ein vollständiger Misserfolg. Die Stände lehnten diese, nicht ohne
Verweis auf die bisher unnötig erhobenen Kreuzzugssteuern, rundweg
ab und erneuerten stattdessen ihre Gravamina. Wenn eine anonyme
Flugschrift in diesen Tagen behauptete, der wahre „Türke“ sitze
geldgierig in Rom,368 so kann daraus ein Eindruck von der Stimmung in
Deutschland gegenüber den Kreuzzugsplänen gewonnen werden.
In Worms 1521 sah es nicht anders aus, als ein ungarischer Gesandter
mit einem dramatischen Hilferuf, der faktisch ungehört verhallte (s.u.),
scheiterte. Selbst nach dem Fall von Belgrad 1522, war man von Seiten
der deutschen Stände auf dem Reichstag in Nürnberg 1522 nur bereit,
statt der geforderten 24000 Soldaten 4000 Soldaten den Ungarn zur
Verfügung zu stellen, doch auch Kaiser Karl selbst sah anders als sein
Bruder Ferdinand noch keinen dringenden Handlungsbedarf. 369
366
367
368
369
Ebd.,.
Fischer-Galati, Imperialism, 17.
Pastor, Päpste IV/1, 169.
Fischer-Galati, Imperialism, 21.
82
Erst auf dem nächsten Nürnberger Reichstag 1524 wurde deutlich,
dass sich nun auch der Kaiser entschlossen hatte, die osmanische
Frage offensiv anzugehen. Die Reichsstände ließen sich jetzt dazu
herbei, eine Hilfe von 12000 Fußsoldaten und 4000 Infanteristen in
Aussicht zu stellen, verbanden die Unterstützung allerdings mit einem
Entgegenkommen Karls in der Frage einer Einberufung eines
Nationalkonzils zur Klärung der offenen religionspolitischen Fragen,
was dieser wiederum zurückwies.370 Die Gründe dafür lagen auf der
Hand.
Eine
widersprach
nationalpolitische
Karls
Konzept
oder
einer
nationalkirchliche
durch
ihn
Lösung
repräsentierten
Universalmonarchie.
Interessant war in diesem Zusammenhang, dass die der lutherischen
Lehre zuneigenden Reichsstände hinsichtlich der „Türkenproblematik“
noch
keine
grundsätzlich
andere
Position
einnahmen
als
die
altgläubigen Stände. Der Kurfürst von Sachsen war sogar eher bereit,
die Habsburger in ihrem Kampf gegen die Osmanen zu unterstützen als
manche Katholiken.371 Nicht zuletzt, weil der kursächsische finanzielle
Beitrag dringend gebraucht wurde, wurde die „Luthersache“ einstweilen
weiter zurückhaltend behandelt.372
Luther selbst nahm im Zusammenhang des Reichstages von Nürnberg
eine sehr eindeutige Position ein, die die vorhergehende, die einen
Kriegszug gegen die Osmanen nicht völlig ausschloss, wieder zu
revidieren schien. Nachdem der Reichstag in einem Edikt sowohl die
lutherische Lehre als Ketzerei verworfen als auch zum Kampf gegen die
Osmanen und zur Zahlung einer diesbezüglichen Steuer aufgerufen
hatte, wandte sich Luther gegen dieses Unternehmen. In der Schrift
„Zwei kaiserliche uneinige und widerwärtige Gebote den Luther
betreffend“373 sprach er sich, bei seiner Auffassung von der
Notwendigkeit vorheriger Buße bleibend, nun sogar auch gegen „solch
370
371
372
373
Ebd., 21ff.
Ebd., 24.
Hauschild, Kirchen- und Dogmengeschichte II, 50.
Luther bezog sich dabei sowohl auf die Reichsacht von 1521 als auch auf das
Nürnberger Edikt von 1524.
83
elende verblente Fursten“374 aus, die die Menschen aufforderten gegen
die Osmanen zu ziehen.
Nachdem Suleiman im Sommer 1524 mit einem Kriegszug gegen
seinen abtrünnigen Statthalter in Ägypten militärisch gebunden war,
schien sich die Situation weiter zu entspannen. Von einem dauernden
Abebben der Gefahr konnte jedoch nicht gesprochen werden. Auf dem
nächsten Reichstag 1526 in Speyer drängte Ferdinand in seiner
Eröffnungsansprache auf eine rasche und deutliche Unterstützung der
Ungarn.375
Ein ungarischer Gesandter trug die schon zur Routine
gewordenen Bitten des ungarischen Königs um Unterstützung vor,
ohne etwas zu erreichen.376 Die Reichsstände bestanden darauf,
zunächst die religionspolitischen Fragen, wie etwa die Einberufung
eines
Nationalkonzils zu klären, bevor hinsichtlich der „Türkenhilfe“
entschieden werde.377 Mit Landgraf Philipp von Hessen und dem neuen
sächsischen Kurfürsten Johann waren in den Reichsständen nun zwei
Fürsten
vertreten,
die
sich
bewusst
auch
als
Anführer
der
Evangelischen verstanden. Nachdem sich schon einzelne altgläubige
Stände politisch enger zusammengeschlossen hatten, gründeten
Kursachsen und Hessen im Februar den „Torgauer Bund“ der ein
lutherisches Gegenstück gegen den katholischen „Regensburger Bund“
wurde. Damit waren die Reichsstände nicht nur religiös, sondern auch
politisch zunehmend gespalten.
Die Weisung des in Speyer nicht anwesenden Kaisers Karl, auf einer
strikten Durchführung des Wormser Ediktes im Reich zu bestehen,
erwies sich angesichts der konkreten politischen Umstände als nicht
durchführbar. Nachdem Karl Ende Juli von seiner Anweisung an seinen
Bruder abgerückt war, entschloss sich Ferdinand, der die militärische
Unterstützung gegen die Osmanen dringend benötigte, dazu, die
Forderung der Reichstände in der Konzilsfrage zu akzeptieren und die
Durchführung des Wormser Ediktes einstweilen den Ständen zu
überlassen, was dieses in den der lutherischen Lehre anhängenden
374
375
376
377
WA 15, 277.
Fischer-Galati, Imperialism, 25.
Tamussino, Maria, 101.
Fischer-Galati, Imperialism, 25.
84
Gebieten faktisch suspendierte. Dafür erklärten sich die Stände auf
dem Reichstagsabschied vom 27.8.1526 bereit, die schon lange
geforderten 24000 Soldaten zur Verfügung zu stellen.378 Doch kam
diese Hilfe zu spät. Zwei Tage später fand die Schlacht von Mohács
statt. Sie endete mit einem entscheidenden Sieg der Osmanen und
einer Katastrophe des ungarischen Heeres.
3.2.
Andere geistige Stimmen der Zeit
3.2.1.
Die Humanisten Ulrich von Hutten, Erasmus von
Rotterdam und Philipp Melanchthon
Nicht nur die Reformation, sondern auch der Humanismus - beide
Bewegungen sind ohnehin nicht immer fein säuberlich von einander zu
trennen - beschäftigte sich mit der „Türkenproblematik“. Durch die
Humanisten
wurde
insbesondere
die
Kreuzugshistoriographie
vorangetrieben und der Kreuzzugsgedanke, der sich nun weniger auf
die Eroberung des Heiligen Landes, denn auf die Bezwingung der
Osmanen richtete, aktualisiert.379 Dies lag nicht zuletzt daran, dass es
auch vor den Osmanen seit 1453 aus Konstantinopel geflohene
Gelehrte waren, die die neue Geisteshaltung mit beförderten.380
Die Stellung zu einer militärischen Auseinandersetzung mit den
Osmanen war unter den Humanisten jedoch keineswegs einhellig.
Zahlreiche Humanisten wie Sebastian Brant und Jakob Wimpheling
sprachen sich für einen Kreuzzug gegen die Türken aus.381 Nachhaltig
wirkte in diesem Sinne der Reichsritter Ulrich von Hutten (1488-1523).
Schon 1511 verfasste von Hutten eine „Exhortatio“382 an Kaiser
Maximilian, die deutlich papstkritische und national-humanistische383
Züge trug. Von rechtlicher Seite her sah von Hutten hier den Weltkreis
dem Kaiser und nicht dem Papst unterstellt. Deshalb sollte der Kaiser
378
379
380
381
382
383
Ebd., 26. Die konkrete Entscheidung zur Hilfe gegenüber Ungarn fiel schon
einige Tage früher, vgl. Ney, Speier, 36.
Andermann, Geschichtsdeutung, 32.
Flake, Hutten, 36.
Fischer-Galati, Imperialism, 10.
Ad Divum Maximilianum Caesarem Augustum Felicem Pium Bello in Venetos
Euntem Ulrichi Hutteni Euitis Exhortatio, Wien 1512.
Bautz, Art.: Hutten, 1222.
85
nach seiner Auffassung gegen ihm nicht botmäßige Länder wie das
Osmanische Reich in den Kampf ziehen.384 Dass Hutten ganz auf der
Linie des Monarchen mit solch einer Ermahnung lag, zeigt nicht nur
Maximilians zurückhaltendes Verhalten gegenüber den päpstlichen
Kreuzzugsbestrebungen, sondern auch seine Ehrung Huttens. Er
krönte ihn 1517 zum „Poeta Laureatus“ und ernannte ihn zum
kaiserlichen Orator.385
Noch entschiedener als zuvor wandte sich Hutten der Frage eines
Türkenkrieges zu, als diese Problematik auch auf den Reichstagen ab
1518 wieder akut wurde. In seiner Ermahnung „Ad principes Germanos
ut bellum Turcis inferant“ führte er 1518 den christlichen Fürsten die
Folgen einer osmanischen Herrschaft vor Augen:
„Wollt ihr lieber das türkische Joch tragen als die Welt beherrschen? ...
Lasst euch nicht länger mahnen, schlichtet eure Streitigkeiten und
macht euch vereint gegen die Türken auf!“386
Bemerkenswert ist eine Begründung, die Hutten für den Krieg gibt.
Durch die Missernten des Vorjahres, so führt er aus, sei in der
einfachen Bevölkerung ein gefährlicher Unmut entstanden, der am
besten in eine auswärtige Expedition abgelenkt werde.
Doch ähnlich wie bei Luther scheint noch mehr das Papsttum im
Mittelpunkt der hutten’schen Kritik zu stehen. Deutlich spricht Hutten die
Vorwürfe an, dass die Päpste immer wieder einen Türkenkrieg
ausgerufen hätten, um die damit verbundene Türkensteuer erheben zu
können. Das Amt des Papstes ist es für Hutten aber, Frieden zu
predigen. Der Papst und die Kurie sollen sich also in diesem
Unternehmen zurück halten, es reicht schon aus, wenn sie es nur nicht
stören. Wahrscheinlich, so polemisierte er, gönne das Papsttum den
Türken eher als den Deutschen einen Machtzuwachs.387
Aufgrund dieser heftigen Kritik konnte die Schrift zunächst nur in einer
entschärften Fassung veröffentlicht werden, erst ein Jahr später
384
385
386
387
Vgl. Flake, Hutten, 101.
Bautz, Art.: Hutten, 1222.
Zit. in Ebermann, Türkenfurcht, 20.
Vgl. WA 30 II, 90.
86
entschloss sich von Hutten dann doch dazu, die ganze Ermahnung zu
publizieren.388
Hutten, der Ritter und Humanist, verwendet in seinen Schriften weder
das dogmatische noch das apokalyptische Modell. Er ist rein politisch
interessiert und sieht in den Osmanen ganz im Unterschied zu Luther
deshalb primär auch den politischen Gegner. Mit seinen wiederholten
Aufforderungen zu einem „Türkenzug“ und seinen Schilderungen der
Auswirkungen einer osmanischen Herrschaft kann er anders als der
frühe Luther als ein Exponent der „Türkenfurcht“ angesehen werden.
Anders sieht dies bei Erasmus von Rotterdam aus. Er zählte zu den
prominentesten Kriegsskeptikern im humanistischen Lager. Erasmus
nutze die „Türkenfurcht“ zum Spott auf die bestehenden Verhältnisse.
Im „Lob der Torheit“ 1509 sprach er sich gegen einen Krieg gegen die
Osmanen aus, indem er ironischerweise die Torheit vorschlagen ließ,
doch einmal „die Scotisten, diese Schreihälse, und die Occamisten, die
Hartköpfe, und die Albertisten, diese Berserker, samt der ganzen
Professorenarmee gegen die Türken und Sarazenen marschieren zu
lassen. ... Das kühlste Herz muss ja Feuer fangen von ihren
Geistesblitzen, der größte Dummkopf Laufschritt machen vor solcher
Silbenstecherei, das schärfste Auge versagen vor ihrem dichten blauen
Dunst.“389
Nachdem der Friedensgipfel in Cambrai 1517 nicht wirklich erfolgreich
war, äußerte sich Erasmus tief enttäuscht über die Aussichten eines
künftigen Friedens in Europa. Literarisch verarbeitete er noch im selben
Jahr diese Enttäuschung in der „Querela Pacis“, die „Klage des
Friedens“ in der Gestalt der Friedensgöttin: Hier kam Erasmus auch
auf die Frage eines Kreuzzuges zu sprechen. Obwohl, wie die
Friedensgöttin ausführt, alles den Menschen als vernunftbegabtes
Wesen dazu einlädt, Frieden zu halten, lebt er doch in ständiger
Zwietracht. Im Volk, bei Philosophen, Theologen, Klerikern, ja selbst bei
Eheleuten, hat die Friedensgöttin keine Möglichkeit zu walten. Dies
alles ist so, obwohl doch Christus selbst als geweissagter Friedensfürst
388
389
Flake, Hutten, 191, 199.
Erasmus, Lob, 120.
87
gilt. Kriegführen ist deshalb im Namen Christi unmöglich: „Jeder, der
Christus verkündet, verkündet den Frieden. Jeder, der den Krieg
predigt, predigt den ärgsten Gegenspieler Christi.“390 Entschieden
schärft nun die Friedensgöttin dem Leser die einträchtige Liebe als
Zeichen der Christen ein: „Wenn du dich rühmst, ein Glied der Kirche
zu sein, was hast du dann mit dem Krieg zu schaffen?“391 Selbst die
Päpste, so klagt die Friedensgöttin, rufen zum Krieg auf, Prediger und
Mönche hetzten das Volk auf. So sind die Christen, die als Christen
gegen andere Christen kämpfen, als „Brudermörder“392 zu sehen, über
die sich „der Türke“ lustig macht, weil man ihm letztlich in die Hände
arbeitet.393 Anders sieht Erasmus die Dinge bei einem Kampf, in dem
Christen „mit ehrlichem und frommen Eifer den Ansturm einfallender
Barbaren abwehren“.394 Hier schließt er die Verteidigung nicht aus.
Erasmus’ Ausführungen fehlt aber die Stringenz. So gibt er zu
bedenken, wenn schon das Kriegführen zur Natur des Menschen dazu
gehöre, könne man diese destruktiven Energien doch in einem Krieg
gegen die „Heiden“ viel besser ableiten, so „wäre ein Türkenkrieg
fraglos ein kleineres Übel, als wenn Christen so gottlos im
Schlachtengetümmel aufeinanderprallten.“395
Erasmus wollte seine Ausführungen jedoch nicht als indirekte
Aufforderung zum Krieg verstanden wissen. Offensichtlich befürchtete
er, dass dieses geschehen könne, und so fügte er in die 1518 in Löwen
erschienene Ausgabe als Glosse an den Rand hinzu: „Ein Krieg gegen
die Türken darf nicht leichtfertig unternommen werden.“396
Diese Äußerungen zeigten Erasmus trotz taktischer Zugeständnisse
eher im Lager der Kriegsgegner und damit auf Seiten Luthers.
Allerdings ist Erasmus weit entfernt vom lutherischen Bußmotiv. Für ihn
ist der Krieg unvernünftig und wider eine christliche Gesinnung. Die
Äußerung, die überschüssigen aggressiven Energien, wenn schon, am
besten in einem Krieg gegen die Osmanen abzuleiten, verrät eine
390
391
392
393
394
395
396
Erasmus, Klage, 32.
Ebd., 41.
Ebd., 57.
Ebd., 58.
Ebd., 67.
Ebd., 68.
Ebd., 106.
88
reichlich
pragmatische
Haltung,
die
ihn
von
Luther
deutlich
unterscheidet.
Später kam Erasmus hinsichtlich eines Türkenkrieges zu einer anderen
Auffassung, mit der er sich offensichtlich auch von dem vermeintlichen
Kriegsgegner Luther distanzieren wollte. 1530 verfasste er eine eigene,
unter dem Eindruck der Belagerung Wiens 1529 geschriebene
Türkenschrift, „Utilissima consultatio de bello Turcis inferendo“.397 Ein
Krieg gegen die Osmanen galt ihm nun – gegen „Lutheri dogma, quo
censet, eos qui belligerantur cum Turcis, rebellare Deo“398 – als ultima
ratio, nachdem alles andere unternommen worden sei, um eine
friedliche Verständigung herbeizuführen. Die Trennung zwischen
Erasmus und Luther, die zwischenzeitlich eingetreten war, zeigte sich
auch in der Frage eines Krieges gegen die Osmanen. Erasmus machte
sich nun die Vorwürfe der altgläubig-klerikalen Luthergegner (s.u.) zu
eigen. Im übrigen spielte das Motiv der Missionierung399 der Osmanen
bei Erasmus eine starke Rolle. Erasmus war insofern ein Vertreter der
dogmatischen Interpretation des Islam, dies wird durch den Vorschlag
der Missionierung implizit deutlich, doch hat ihn insgesamt, etwa im
Unterschied zu Luther, die „Türkenproblematik“ keineswegs so bewegt,
dass er etwa an irgendeiner Stelle eine Verbindung von Apokalyptik
und osmanischer Bedrohung hergestellt hätte. Luthers sich bald
herausbildende apokalyptische Grundhaltung wird Erasmus nie teilen.
Er erwartet zuversichtlich ein „Goldenes Zeitalter“.400
Eine eigentümlich schwankende Rolle nimmt der junge Philipp
Melanchthon (1497-1560) ein, der später einer, wenn nicht der
wichtigste reformatorische Wegbegleiter Luthers werden sollte. In
seiner ersten Fassung der von ihm angefertigten Rhetorik „De rhetorica
libri tres“ von 1519, lehnte Melanchthon, offensichtlich in enger
Anlehnung an Erasmus und seinen Lehrer und Verwandten Johann
Reuchlin, den Türkenkrieg ab.401 Ob dies unbedingt die persönliche
Meinung des Verfassers oder eher Probe rhetorischen Könnens war,
397
398
399
400
401
Erasmus, Opera 5, 345ff.
Ebd., 5, 354.
Ebd., 5, 357.
Romano/ Tenenti, Grundlegung, 288.
Maurer, Melanchthon, 126.
89
bleibt jedoch offen,402 denn der Befund ist bei Melanchthon nicht
eindeutig. Wahrscheinlich ein Jahr zuvor noch hatte er in typisch
humanistischer Manier403 eine Deklamation „Exhortatio Maximiliani
Caesaris ad Bellum Turcis inferendum“404 verfasst, die dem Kaiser
Maximilian in den Mund gelegt wurde und in der eine Befreiung von der
osmanischen Gefahr durch Maximilian freudig begrüßt wurde.405
Melanchthon zog hier gar die Möglichkeit eines Präventivkrieges
angesichts günstiger Umstände in Erwägung.406 In den späteren
Ausgaben des „Chronicon Charionis“ wurde diese Rede Melanchthons
eingefügt, wobei sie wiederum im Rahmen einer sog. „Neuen Zeitung“
zu finden war. Aus dieser „Zeitung von des Türckischen Tyrannen
Selymi Sieg, geben ursach uff einen Zug wider die Türcken zu
gedencken“407 soll hier aus der besagten Rede zitiert werden:
Zunächst wird Maximilian als tapferer Kriegsheld beschrieben, was
durch die Aufzählung seiner Kriegsunternehmungen deutlich werden
soll. Danach wird herausgehoben, wie brennend für Maximilian ein
konzertiertes Vorgehen der europäischen Mächte gegen die Türken
nötig sei. Um auch den französischen König für dieses Unternehmen
zu gewinnen, habe er gar im Streit um Mailand, nachgegeben. „Nach
dem denn Europa zu gutem Friede gebracht“408, habe Maximilian den
Reichstag nach Augsburg 1518 einberufen. In der Rede heißt es dann
weiter: Wenn auch die Osmanen einen Krieg gegen das Reich bisher
nicht angefangen hätten, so
„erforderts doch die höchste notdurfft/ das Menschliche Geschlecht von
diesem grawsamen und Gottlosen Volck zu erretten/ und so viel Nation
und Völcker/ die von den Türcken unterdrücket sein/ aus der aller
jemmerlichsten dienstbarkeit los und frey zu machen.“409
Maximilian/Melanchthon erinnert dann daran, dass er von Anbeginn
seiner Regierung an einen Krieg gegen die Türken geplant habe, von
402
403
404
405
406
407
408
409
Ebd.
Vgl. Hartfelder, Praeceptor, 297ff.
CR 20, 453-472.
Maurer, Melanchthon, 126.
CR 20,461ff.
Chronicon 1573, 1125ff.
Ebd., 1130.
Ebd., 1133
90
Frankreich in den italienischen Angelegenheiten jedoch gebunden
worden sei. Nun sei es aber an der Zeit, nicht nur allgemein das Reich,
sondern eben auch die eigenen Familien vor den Osmanen zu retten,
denn das die „Türken“ irgendwann auch das Reich angreifen würden,
stehe außer Frage.
„Denn
jre
wahnsinnige
Religion/
welche
die
Türcken
einmal
angenommen haben/ lesset sie keines weges ruhen und feyern/
sondern dringet und zwinget sie/ jre Herrschaft und Reich jmmer je
lenger je weiter auszubreiten.“410
Es folgt nun eine Art „Abriss“ der osmanischen Geschichte, der die
stets kriegerische Absicht der Osmanen deutlich zu machen versucht.
Sie wird durch einen Hinweis auf die vermeintlich sittliche Liederlichkeit
ihres Regimentes – „denn man fur züchtigen Ohren auch nicht reden
und aussprechen darff, das jenige/ was sie ... für schande und unzucht
treiben“ – bekräftigt. Melanchthon/Maximilian hält nun es nun für „leider
allzu viel glaublich“411, dass es im römisch-deutschen Reich auch so
gehen werde:
„Nu halte ich es gentzlich dafur/ das kein Manlicher Blutstropff in einem
solchen sein könne/ der sich solche Exempeln nicht bewegen lassen
wollte“.412
Am Schluss seiner Rede schlägt Melanchthon/Maximilian eine neue
Türkensteuer vor und befiehlt sein bzw. das gemeinsame Anliegen
unter Bezug auf Psalm 20,8 Gott an: „Jene verlassen sich auf Wagen
und Roß/ wir aber dencken an den Namen unseres Gottes.“413
Der Befund dieses Textes bleibt jedoch trotz der gegenteiligen Aussage
wie in der „Rhetorik“ der gleiche. Die persönliche Meinung des
Verfassers wird nicht deutlich. Möglicherweise handelt es sich auch hier
um eine rhetorische Übung. Gerade mit dem „letzten Ritter“ Maximilian
verbanden
sich,
wie
gezeigt,
hinsichtlich
eines
„Türkenzuges“
offensichtlich humanistische Hoffnungen. Melanchthon war dies nicht
neu. Als Maximilian während des dortigen Studiums Melanchthons
410
411
412
413
Ebd., 1137.
Ebd., 1140.
Ebd., 1140.
Ebd., 1142.
91
Heidelberg besuchte, verehrte ihm der Rektor der Universität Pallas
Spangel eine Rede, in der er sowohl den künftigen Sieg Maximilians
über die Gegner Christi wie auch die von Maximilian heraufgeführte
Bekehrung der Türken pries.414
Ein weiteres Zeugnis aus den frühen Jahren Melanchthons ist die
Schrift „Thomae Rhadini Todischi Placentini in Lutherum Oratio“, eine
Verteidigungsrede für Luther, in der Melanchthon auch auf die dem
Reformator gemachten Vorwürfe eingeht, gegen den Türkenkrieg zu
sein. Der mittlerweile in Wittenberg ansässige Melanchthon zeigt sich
jetzt unter dem Einfluss Luthers. Hier ist nun ein „Türkenzug“ für ihn
keineswegs eine „fromme“ Angelegenheit. Statt dessen vertritt er die
Auffassung Luthers, vor einem Krieg gegen die Osmanen solle erst
einmal die Buße und Umkehr der Christen stehen und im übrigen sei
Missionsarbeit den Christen angemessener als der Kampf gegen die
Osmanen. Letztlich, so meint Melanchthon jetzt, sei der Aufruf zum
Krieg gegen die Türken nur ein Vorwand, um besonders von päpstlicher
Seite die eigenen Angelegenheiten und Ziele voranzutreiben.415 Er
kann nun diesen wie bei Luther zwar nicht prinzipiell abgelehnten Krieg
gegen die Osmanen lediglich als legitime Konsequenz einer geistlichsittlichen Erneuerung der Christenheit, nicht aber als vordergründig
politisches Handeln verstehen.
So ergeben die frühen Äußerungen Melanchthons zunächst ein
uneinheitliches Bild, das jedoch in der großen Entwicklung seine
Wendung
vom
humanistischen
Philologen
zum
nun
stärker
reformatorisch geprägten Mitstreiter Luthers erkennen lässt. Deutlich
wird, dass Melanchthon, wenn er von den Osmanen redet, zunächst in
seiner Rhetorik und der Maximilian zugeschriebenen Rede rein
politische Denkfiguren mit leichten Anklängen an die dogmatische
Interpretation verwendet. Später kommt unter dem Einfluss Luthers das
theologisch
geprägte
Bußmotiv
hinzu.
Eine
irgendwie
geartete
Anknüpfung an die apokalyptischen Vorstellungen seiner Zeit ist noch
nicht
414
415
zu
finden.
Für
den
Hartfelder, Melanchthon, 21.
Vgl. Köhler, Melanchthon, 154f.
Humanismus
als
nach
eigenem
92
Selbstverständnis große Erneuerungsbewegung der abendländischen
Welt musste die Annahme eines nahen Weltendes außerhalb seines
Geschichtskreises liegen. Die Osmanen waren keine Truppen des
Antichrist, sondern Heerscharen die zu besiegen und Menschen, die
von wahren Christen, die zuvor selbst Buße getan hatten, zu
missionieren waren.
3.2.2.
Die
„radikale
Reformation“:
Die
„Zwickauer
Propheten“ und Thomas Müntzer
Mit der Reformation, die ja nie eine einheitliche Bewegung war,
entstand auch ein radikaler Seitenzweig, der Luthers vermeintlich
steckengebliebene Arbeit weiterführen wollte. Hier sollte sich bald eine
von Luther und „seiner“ Reformation unterschiedene Deutung der
politischen Ereignisse und damit verbunden der Geschichte entwicklen.
Den Anfang damit machten die sog. „Zwickauer Propheten“: Nachdem
Luther im Gefolge des Wormser Reichstages 1521 unter kurfürstlichem
Schutze auf der Wartburg lebte, kam es in Wittenberg zu Unruhen.
Unter Führung von Luthers Universitätskollegen Andreas Bodenstein,
gen. Karlstadt, sollte hier die Reformation in radikaler Weise
durchgeführt werden. Es kam zu ersten „Bilderstürmen“ in Wittenberger
Kirchen und anderen quasi-revolutionären Ereignissen. Ende des
Jahres 1521 kamen dann zwei Tuchmacher und eine Student aus
Zwickau,
wo
reformatorischen
Müntzer
gelehrt
Ereignisse.
Sie
hatte,
in
berichteten
das
von
Zentrum
der
persönlichen
Offenbarungen. Dabei wurde von ihnen auch vorhergesagt, dass der
„Tuerck kuertzlich soll teutschland einemen“416. In fünf spätestens
sieben Jahren sollten alle „Gottlosen“ vernichtet werden und damit
offensichtlich eine Herrschaft der wahrhaft Frommen beginnen.
Nachdem Luther im März 1522 nach Wittenberg zurückkam, brachte er
schnell wieder Ruhe in das Gemeinwesen. Haften blieb bei ihm jedoch
eine tiefe Reserve gegenüber allen „Schwärmern“, wie Luther die
radikalen Reformatoren bezeichnete, und für lange Jahre eine an
416
Zit. in Hofmann, Johannes-Apokalypse, 242.
93
Ablehnung grenzende Haltung gegenüber der Johannes-Apokalypse,
die für „Propheten“ ein Grundmuster ihrer Anschauungen darstellte.417
Erster führender Repräsentant dieser wiederum in sich uneinheitlichen
„radikalen Reformation“418 wurde Thomas Müntzer (ca. 1490 -1525).
Müntzer, aus dem Harz gebürtig, hatte zunächst eine Pfründe in
Braunschweig inne, bevor er nach einer kurzen Zeit in Jüterborg als
radikaler Prediger in Zwickau Aufsehen erregte, wo ihn der Rat der
Stadt bald aus seinem Amt entließ.419
Müntzer selbst teilte Luthers Auffassung, die „Türken“ seien ein
hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt innerchristlicher Buße zu
sehendes Phänomen. So vertrat er ebenfalls die Ansicht, diese seien
nicht mit Waffen, sondern nur mit geistlichen Mitteln zu besiegen. Im
Übrigen drifteten beider Auffassungen aber besonders in der Frage der
Bekehrung der Osmanen weit auseinander. Während Luther auf der
biblischen Botschaft beharrte und stattdessen den Koran, besonders ab
1542 (s.u.), verdammte, suchte Müntzer nach einer gemeinsamen
Ausgangsbasis für ein interreligiöses Gespräch. Dies war aber anders
als bei den scholastischen Theologen für ihn nicht durch den Rekurs
auf
die
menschliche
Vernunft
möglich,
sondern
durch
eine
spiritualistische Deutung der Religion. Dieses Verständnis sollte es
nach seiner Auffassung möglich machen, dass auch „Heiden“ zum
christlichen Glauben kommen konnten. Ausgangspunkt war dabei für
ihn die Naturbetrachtung, die sog. „Göttliche Ordnung der Dinge“, die
sowohl die Einsicht in die Auferstehung Christi als auch die
Heilsnotwendigkeit seines Leidens zuließ. Beides leugneten ja die
Muslime, die Müntzer aufgrund seiner Lektüre der „Confutatio Alcorani“
als von dem frühchristlichen Häretiker Marcion abstammend ansah.
Zugunsten
einer
geistlich-naturhaften
Erfassung
des
wahren
christlichen Glaubens verwarf Müntzer hingen den Rekurs auf Bibel
oder den Koran ausdrücklich, da dies nur Glaubensstreitigkeiten mit
sich bringen würde.420 Müntzers Islam-Interpretation bewegt sich
417
418
419
420
Hofmann, Johannes-Apokalyse, 355.
Zur Begrifflichkeit vgl. Hauschildt, Kirchen- und Dogmengeschichte II, 75.
Ebd., 77f.
Vgl. Fauth, Müntzer, 1ff.
94
zunächst zwar im Rahmen des dogmatischen Modells, doch hat sie
von Anfang an die Besonderheit, dass sie - etwa im Unterschied zu den
Scholastikern - die Wahrheit zwar in der christlichen Religion, jedoch
nicht in der vorgefundenen Kirche gegeben sieht. So wendet sich
Müntzer sowohl gegen den Islam als auch gegen das reale kirchliche
Christentum.
Neben dieser stärker allgemein-theologischen Note wurde aber bald
das
apokalyptische
Modell
in
Müntzers
Meinungsbildung
vorherrschend. Im Sommer und Herbst 1521 hielt sich er nach seinem
Scheitern in Zwickau in Böhmen auf, einer „religiöse Landschaft“, die
durch das Auftreten des Jan Hus, die Hussitenkriege und die Taboriten
- eine von Hus herstammende Gruppe, die joachimitisch-chiliastische
Gedanken vertrat - für revolutionäre und apokalyptische Gedanken
einen reichen Nährboden darstellte. Mit Hilfe der Böhmen sollte nach
Müntzers Vorstellungen hier nun offensichtlich die Scheidung der
„wahren“ von der „falschen“ Kirche beginnen.421 Im „Prager Manifest“422
vom November 1521, mit dem Müntzer das Gehör der Öffentlichkeit in
Prag zu gewinnen versuchte,423 bricht nun die apokalyptische
Erwartung Müntzers durch. Er selbst sieht sich von Gott dazu berufen,
der Menschheit das nahende Unheil und das Gericht über eine
unbußfertige Kirche zu verkündigen. Dies alles geschieht unter
ausdrücklichem Bezug auf das Zeugnis des Heiligen Geistes, dem
gegenüber Müntzer die Bibel und besonders das reformatorische
Schriftprinzip, wenn auch zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit
ausdrücklichem Bezug auf denselben,424 verwirft.425 Nicht mehr „dye
pfaffen unde affen sollten dye cristliche kirche seyn, sundern es solln
dye auserweleten freunde Gots wort auch lernen prophetien“.426 Wenn
es zu dieser Reformation im Sinne der „Kirche der Auserwählten“ nicht
komme, so prophezeite Müntzer, würden die Osmanen den Sieg über
die Christen davon tragen: „Wirsthu das nicht tun, so wirt dich Gott
421
422
423
424
425
426
Maron, Gericht, 357.
Müntzer, Schriften und Briefe (MSB), 495.
Wolgast, Müntzer, 26ff.
Ebd., 28.
MSB, 492.
Ebd., 494.
95
lassen dorch den Turken ym czukunfftigem iar erslagen. Ich weysz
vorwar, was ich rede, das es also ist.“427
Die Türken sind also wie bei Luther die verdiente Strafe für den
Ungehorsam der Kirche, doch kommt nun bei Müntzer eine
apokalyptische Zuspitzung hinzu, die bei Luther hier noch fehlt. In der
erweiterten deutschen Fassung428 des „Prager Manifests“ werden
Müntzers Vorstellungen über die endzeitlichen Geschehnisse noch
etwas deutlicher. Sie lassen im Unterschied starke chiliastische Ideen
erkennen :
„Wer do solche vormanünge wyrt vorachten, der ist itzund schon
uberantwort in die hende des Türken. Nach wilch wutende brunst wyrth
der rechte personliche enthechrist regyren, das rechte kegenteyl
Christi, der yhm kortzen wyrt das reich dysser welt geben seinen
auserwelten in secula seculorum.“429
Deutlich geht Müntzer also hier davon aus, dass entsprechend der
biblischen Offenbarung die Auserwählten durch die Herrschaft des
Antichrists hindurch bewahrt werden, um danach mit ihm im
Tausendjährigen Reich zu herrschen.430 Dies ist wohl das markanteste
Merkmal Müntzers, dass er unter eindeutigem Bezug auf Joachim von
Fiore, den chiliastischen Gedanken in die radikale Reformation
eingebracht hat.431
In welchem Verhältnis die Osmanen nun zum Antichrist stehen, wird
jedoch nicht ganz deutlich. Offen bleibt, ob sie dessen Herrschaft
lediglich vorbereiten oder auch verkörpern. Klar ist jedoch, dass bei
Müntzer das apokalyptische Modell zunehmend dominierender wird.
Dies zeigen die nächsten Ereignisse. Von Ostern 1523 bis August 1524
amtierte
Müntzer
in
Allstedt
als
Pfarrer.
In
der
berühmten
„Fürstenpredigt“ unter dem Titel „Auslegung des andern Unterschieds
Danielis“432 vor Herzog Johann von Sachsen, dessen Sohn Johann
Friedrich und wichtigen kursächsischen Regierungsvertretern, wie dem
427
428
429
430
431
432
MSB, 494.
Ebd., 495ff. Zur Textproblematik Wolgast, Müntzer, 26f.
Ebd., 505.
Vgl. auch Fauth, Türkenbild, 10f.
Nigg, Reich, 239.
MSB 241ff.
96
Kanzler Gregor Brück, forderte Müntzer am 13.Juli 1524 die Herrscher
zum energischen Durchgreifen für seine Sache resp. die der von ihm
vertretenen „wahren Kirche“ auf. Zugrunde gelegt war der Predigt das
zweite Kapitel des Danielbuches, wo von den vier Weltreichen die Rede
war. Damit gewinnt erstmals, wenn auch noch gleichsam unentfaltet, im
reformatorischen Raum das biblische Buch Daniel seine später so
folgenreiche Bedeutung. Müntzer führte unter Bezug auf Dan 2,45, wo
von dem Stein die Rede ist, der die für die Weltreiche stehende Statue
zerstört, aus: „der Steyn ist gross worden; die armen laien und bauern
sehen ihn viel scheffer an dann ihr.“433 Die türkische Gefahr wird hier
allerdings nur einmal beiläufig erwähnt,434 so sehr geht der Focus der
Ausführungen auf die innerdeutschen Angelegenheiten, und es wird
deutlich, dass Müntzer sich selbst für einen neuen Daniel hält.435
Müntzer konnte sich bei den Fürsten nicht durchsetzen. Nach der
deutlichen Fürstenpredigt wurde seine Lage im ernestinischen Sachsen
unhaltbar. Anfang August 1524 floh er aus Allstedt. Müntzers
Türkenbild als das einer Geißel der unbußfertigen Christen bzw. der
untätigen Obrigkeit verfestigte sich nun. In einem Schreiben an die
Christen von Sangershausen,436 dass er wahrscheinlich im Juli 1525
verfasste, identifiziert Müntzer die weltliche Herrschaft der Fürsten nun
mit den Osmanen. Auslöser für diese Annahme war die Tatsache, dass
der altgläubige Herzog Georg von Sachsen, zu dessen Gebiet
Sangershausen gehörte, während Müntzers Allstedter Zeit seinen
Untertanen verboten hatte, dessen Predigten zu hören.437 Das
apokalyptische Gericht scheint Müntzer über solche Fürsten, die sich
der „wahren Kirche“ in den Weg stellen, nun unabwendbar.
„Dann ich sage euch vorware, es ist dye zeyt vorhanden, das ein
blutvorgyssen uber die vorstogkte welt sol ergehen umb yres
unglaubens willen. ... Es wyrt do bey den fursten wenig hoffnung seyn.
Wer de nu wyder die Turgken fechten wyl, der darf nyt fern zyhen, er
ist ym lande.“
433
434
435
436
437
MSB, 255f.
Ebd., 245.
Ebd., 257.
Ebd., 411ff.
Lau, Apokalyptik, 8.
97
Lassen die weltlichen Obrigkeiten weiter keine Prediger im Sinne
Müntzers zu, soll ihnen gesagt werden: „Wenn yr des wolt, so will ich
euch fur einen Turgken halten und nicht ein cristlichen fursten und
herrn.“438
Der Gedanke, die Rechtmäßigkeit der fürstlichen Herrschaft zu
bestreiten, wird dann zum Grundsignum der täuferischen und allgemein
der aufständischen Bewegungen der Reformationszeit. Hier wird ein
Gedanke
mittelalterlicher
Minderheitsgruppen
aufgenommen,
der
besagt, dass mit der Erscheinung Christi sowieso alle weltliche
Herrschaft
schon
entmachtet
und
das
vierte
Reich
der
Danielweissagungen schon vergangen sei. Die weltlichen Herrscher, so
wird nun hier behauptet, seien nur deshalb noch an der Macht, weil die
Auserwählten Gottes ihre Aufgabe noch nicht wahrgenommen hätten,
alle ungerechte Herrschaft zu beseitigen.439 Mit Müntzer findet dieser
Gedanke auch Eingang in die Reformation.
Offensichtlich hat dann die Enttäuschung über das Ausbleiben einer
Wirkung seiner Predigt bei Müntzer zu dem schon genannten
erweiterten
Entblössung“
„Erwählungsbegriff“
440
geführt.
In
der
„Ausgedrückten
vom Spätsommer 1524 wird das reformatorische
Schriftprinzip heftig angegriffen:
„Aber die geschrifft (wie sie sprechen) soll den glauben geben, ... . Eine
solch affenschmaltzische weyß hat auch der Jud, Turck und alle
völcker, iren glauben zu bestetigen.“441
So geht Müntzer in einem Schreiben an Friedrich den Weisen, dass
zeitlich mit der „Entblössung“ zusammenfällt, davon aus, dass seine
Botschaft von den Auserwählten auch jenseits des Christentums
verstanden wird, da dieser wahre Glaube „in allen herzen der
auserwelten auf erden gleichformig ist, ps. 67. Und wen gleich ein Türk
do wer, so hat er doch den anfang des selbigen glaubens, das ist die
bewegung des heiligen geists.“442
438
439
440
441
442
Ebd., 414.
Koch, Universalgeschichte, 22.
Ebd., 267ff.
Ebd., 279f.
Ebd., 430. Gemeint ist wohl tatsächlich Ps. 67. Anders Fauth, Türkenbild, 5,
der Ps. 66,7f. annimmt.
98
Mit Berufung auf die Bekehrung des heidnischen Hauptmanns
Kornelius, wie sie in der Apostelgesichte (Apg 10) berichtet wird, nimmt
Müntzer deshalb nun auch eine Geisterwählung von „Heiden“ an.
Grundlegend ist dabei für ihn die schon genannte „Göttliche Ordnung“,
die sich als Manifestation des Geistes u.a. in der Natur und der
Geschichte zeigt. Diese kann auch den „Türken“ überzeugen, ja sogar
zum Glauben an Christus führen.443
Damit ist aber bei Müntzer keine positive Einschätzung des Islam als
Religion intendiert. Hier erweist er sich als Anhänger des dogmatischen
Modells. In seiner „Protestation oder Erbietung“444 vom Jahresende
1523 geht Müntzer auch auf die Religion der Osmanen ein und stellt
zunächst fest: „Weitter die Türcken rhumen sich yres Machomets ya so
hoch wie wir unsers Christs.“445 Und etwas später heißt es, dann,
Mohammed wisse im Koran wohl von der Jungfrauengeburt Jesu,
dessen Kreuzigung aber bestreite er.446
Doch diese Kritik an den Muslimen wird eher nebenbei geäußert, denn
der eigentliche Gegner sitzt für Müntzer im Christentum selbst. Dieser
ist aber nun anders als bei Luther in erster Linie nicht das Papsttum,
sondern der Wittenberger Theologe selbst. Müntzer unterstellt Luther
einen Theologiebegriff, der das Leiden nicht als zentrale Kategorie
christlicher Existenz erfasse. Dessen vermeintliche Leidensunwilligkeit
ist für ihn das Kennzeichen falscher Religion, ob nun die
„heyden anbetten fraw Venus, Junonem etc., auff das sie feine kinder
mochten haben und yn der gepurt nicht wehe solle gescheen, ... [oder
die Christen] wie wir anruffen die mutter Gottes, ... darnach sanct
Margareten ... . Nein, lieber mensch, du must erdulden, ...“447
Luther aber, für Müntzer das „gaistloße, sanfftlebende fleysch zu
Wittenberg“448, der „Wittenbergisch pabst“449, leugnet nach Müntzers
Meinung eben diese Leidensexistenz. Die lutherische Reformation ist
443
444
445
446
447
448
449
Fauth, Türkenbild, 7.
Ebd., 225ff.
Ebd., 231.
Ebd., 232.
Ebd., 233.
So der Titel der „Hochverursachten Schutzrede“ gegen Luther, ebd., 321ff.,
hier 322.
Ebd., 333.
99
deshalb für ihn nichts anderes, als „das ein alt haus wurd gekelckt“.450
Ein Irrtum, der die noch nicht erleuchteten Christen und Theologen im
Sinne Müntzers mit den Osmanen gleichsetzt, so dass diese „mit dem
Turcken in ein loch blaßen.“451
Insgesamt lässt sich jedoch feststellen: Obwohl Müntzers Theologie
spätestens seit seiner Zeit in Böhmen durch und durch apokalyptisch
geprägt ist, bleibt in diesem Konzept die Rolle der Osmanen doch
blass. Zwar kann er sie als Strafe für die unbußfertigen Christen bzw.
die verstockte Kirche ansehen, doch wird ihre Rolle nicht wirklich
profiliert. Dass sie im Zusammenhang des Weltendes eine Funktion
wahrnehmen, ist ihm ebenfalls nicht zweifelhaft, aber Müntzer belässt
es bei einer lediglichen Erwähnung. Trotz häufiger Bezüge auf die
Kapitel 2 und 7 des Danielbuches452 spielen die Osmanen hier keine
wesentliche Rolle. Der Grund dafür dürfte besonders darin liegen, dass
die Osmanen zu Lebzeiten Müntzers doch noch nicht mit dieser
Dramatik in sein Blickfeld getreten sind, wie dies für Luther spätestens
seit der Schlacht vom Mohács 1526 und der Belagerung Wiens 1529
der Fall war. Zu diesem Zeitpunkt war Müntzer schon tot. Müntzers
Hauptaugenmerk war auf die Bauern gerichtet. Hier gewann seine
Botschaft ihre explosive Kraft. Erstmals hatten sich aber nun im Bereich
der Reformation spätmittelalterliche apokalyptische Vorstellungen mit
der „Türkenproblematik“ verbunden. Diese Entwicklung sollte sich über
Müntzers Hinrichtung nach der Schlacht von Frankenhausen 1525 hin
fortsetzten und intensivieren.
3.3.
Zwischenbilanz:
Luthers Stellung zu den Osmanen profilierte sich langsam und von
Anbeginn an im Zusammenhang seiner Auseinandersetzung mit dem
Papsttum. Waren ihm die „Türken“ anfangs nicht näher bestimmte
eschatologische Gegner der Kirche, trat deren noch wenig klares Profil
zunächst noch hinter die Auseinandersetzung mit dem zunehmend als
antichristlich
450
451
452
verstandenen
Ebd., 234.
Ebd., 234.
Vgl. Maron, Gericht, 365.
Papsttum
zurück.
Dessen
100
Kreuzzugsbestrebungen lehnte Luther entschieden ab, womit er auf
eine breite Zustimmung innerhalb der öffentlichen Meinung stieß.
Seine Grundhaltung lässt aber noch kein eigenes Profil erkennen. Die
Beurteilung der Osmanen als „Gottesgeißel“ ist konventionell, wie
ebenso die Ablehnung der Kreuzzüge, wie das Beispiel des Erasmus
zeigt, nicht ungewöhnlich in dieser Zeit ist. Eine apokalyptische
Grundhaltung ist bei Luther noch nicht wahrnehmbar, sie ist vielmehr
die Angelegenheit der radikalen Reformatoren, die in diesem
Zusammenhang
auch
Vorstellungswelt
zu
die
Osmanen
integrieren
in
ihre
diesbzügliche
beginnen.
Das
zunehmende
Näherrücken der Osmanen ab 1520, dass Luther zu diesem Zeitpunkt
noch nicht ernstlich beunruhigte, war für die „Schwärmer“ hingegen ein
weiteres Indiz, ihre Annahme einer baldigen radikale Umwälzung aller
weltlichen Verhältnisse bestätigt zu sehen. Erst in den folgenden
Jahren sollte auch Luther auf die „Türkengefahr“ aufmerksam werden.
4.
Die Wahrnehmung der türkischen Gefahr durch Luther
1526-1528/29
4.1.
Die Schlacht von Mohács
4.1.1.
Die politischen Ereignisse und die Schlacht von
Mohács
Mit der Niederlage des ungarischen Heeres in der Schlacht
von
Mohács, der in den Augen ungarischer Geschichtsschreibung „größten
Tragödie Ungarns“453, kam es zu einer fundamentalen Veränderung in
der
europäischen
„Sicherheitslage“:
Hatte
der
Niedergang
Konstantinopels 1453 bereits Europa erschüttert, so spielten sich die
Kämpfe doch noch immer in der Ferne ab. Noch gab es das Königreich
Ungarn als Pufferstaat zwischen dem Reich und den Osmanen, so
dass Ungarn den Ehrentitel einer „Vormauer des Christentums“454 trug.
König Wladislaw von Polen und Ungarn bezeichnete 1440 Ungarn als
453
454
Molnar, Geschichte, 132; Vgl. dazu aber auch Rhode, Ungarn, 1064, der die
Schlacht von Mohács als in der ungarischen Geschichtsschreibung
überbewertet ansieht.
Varga, Vormauer, 55ff.
101
„murus et clipeus fidelium“.455 Eine Vorstellung, die sich im Laufe der
Zeit europaweit durchsetzte, so dass man selbst im fernen Schottland
überzeugt war: „There are no other ramparts to protect Christianity from
the Turcs than the Ungarian frontiers ...“456.
Zur Regierungszeit des Königs Matthias Corvinus erfüllte Ungarn seine
„Aufgabe“ hervorragend. Man begann, sich daran zu gewöhnen. Die
stets hinhaltende Taktik der Stände auf den Reichstagen bezüglich der
„Türkenhilfe“ spricht hier eine beredte Sprache. Inzwischen war jedoch
in Ungarn längst das stehende Heer des Corvinus aufgelöst worden.
König Ludwig und seiner Frau Maria von Habsburg gelang es nicht, die
widerspenstigen
Stände
zu
einem
konzertierten
Vorgehen
zu
veranlassen.457
Ob sich allerdings der König selbst über den Ernst der Situation völlig
im Klaren war, muss nach zeitgenössischen Schilderungen offen
bleiben. Der päpstliche Legat in Buda riet Clemens VII. im Vorfeld der
Schlacht von Mohács, Ungarn aufzugeben: Der König gehe zur Jagd,
die Stände stritten sich und das Volk sei, wenn einmal der Sultan die
Macht übernommen habe, bereit, gegen den Adel einen „noch
grausameren Aufstand“458 als 1514 (s.u.) zu entfachen.
Die Aussichten standen also nicht gut, als sich am 23. April 1526 Sultan
Suleiman mit ca. 150000 Soldaten und rund noch einmal so vielen
Begleittruppen von Konstantinopel auf den Weg nach Ungarn machte.
Am 9. Juli war er in Belgrad.459 In Ungarn begann man sich zur
Schlacht zu rüsten. Die ungarische Streitmacht stand unter der Führung
des Erzbischofes Pal Tomori, der an die Stelle des bisherigen
Heerführeres Graf Salm getreten war, weil dieser sich für zu alt erklärte,
später wurde noch ein zweiter Oberbefehlshaber, ein Bruder des
Ludwig-Gegners Zápolya, zum Oberbefehlshaber ernannt.460 Das Heer
verfügte kaum über Fußtruppen, da man den ungarischen Bauern
455
456
457
458
459
460
Ebd., 58.
Ebd., 62.
Tamussino, Maria, 105.
Zit. in Pastor, Päpste IV/2, 441.
Tamussino, Maria, 102.
Ebd., 103, 107.
102
misstraute.461 Aufgrund der Falschmeldung, die ca. 70000 Mann
starken kampfbereiten osmanischen Truppen bestünden teilweise aus
verkleideten Frauen und zudem aus zahlreichen Christen, die
überlaufen würden, wurde der Kampf „leichtsinnig improvisiert“462
gewagt, bevor weitere Truppen zur Stelle waren. In der Schlacht fielen
24000
Ungarn,
darunter
viele
Würdenträger
und
die
beiden
Oberbefehlshaber. Ungarn schied als selbständiger politischer Faktor
für Jahrhunderte aus der Politik aus. Der König kam kurz nach der
Schlacht unter ungeklärten Umständen ums Leben.463
Am 10. September 1526 wurde die Hauptstadt Ofen/Buda Suleiman
übergeben. Diese verließ der Sultan jedoch nach ca. vier Wochen für
Außenstehende überraschend wieder, was zu einem Machtvakuum in
Ungarn führte.464
4.1.2.
Luther und Königin Maria von Ungarn
Der Weg der nunmehrigen Königinwitwe Maria ist fast von Geburt an in
besonderer Weise mit Ungarn verbunden gewesen.465 Doch Maria
sollte auch für die Reformation zunächst von scheinbar großer
Bedeutung werden. Sie und ihr Mann wurden so etwas wie frühe
„Helden“ der jungen Bewegung. Der tragische Tod des Ungarnkönigs
bei Mohács und das Schicksal der Maria wurden in zahlreichen Liedern
vertont. Das Lied „Mag ich im unglück nicht widderstan“, das der
Königin selbst zugeschrieben wird, fand Eingang in viele evangelische
Gesangbücher.466 Deshalb sei an dieser Stelle zunächst noch einmal
hinter die Ereignisse von Mohács zurückgegangen, um sie auch aus
der Perspektive Marias und der reformatorischen Bewegung zu
beleuchten.
Die im September 1505 in Brüssel als Tochter Philipps des Schönen
und Johanna der Wahnsinnigen geborene Maria war schon im Alter von
461
462
463
464
465
466
Vajda, Austria, 239.
Brandi, Karl, 204.
Ebd., 226. Wahrscheinlich ertrank er auf der Flucht in einem Bach, nachdem
sein Pferd gestürzt war und er sich mit seiner Rüstung nicht aus dem Wasser
retten konnte; vgl. Tamussino, 108.
Vajda, Austria, 242.
Zu Maria vgl. die bisher einzige Biographie von Tamussino.
Tamussino, 133.
103
einem halben Jahr im Vertrag von Wiener Neustadt 1506 zwischen
Maximilian von Österreich und Wladislaw von Ungarn als zukünftige
Braut eines Sohnes von Wladislaw vorgesehen worden, obwohl diesem
zu dieser Zeit noch kein Sohn geboren worden war.467 In diesem
Vertrag war auch die Hochzeit zwischen Wladislaws Tochter Anna und
Maximilians Enkel Ferdinand vereinbart worden, so dass mit den Mitteln
der Habsburger Heiratsdiplomatie das 1437 zum Haus Habsburg
gekommene und 1457 mit der Wahl des Matthias Corvinus zum König
von Ungarn wieder verlorene Land zurückgewonnen werden konnte.
1506 wurde Wladislaw mit Ludwig der erwartete Thronfolger geboren.
Gegen den erbitterten Widerstand des ungarischen Adels unter
Führung des siebenbürgischen Woiwoden Janos Zápolya wurden die
Beschlüsse von Wiener Neustadt in Wien 1515 erneuert.468 Nachdem
König Wladislaw 1516 starb, fiel die Regierung dem noch nicht
volljährigen Ludwig zu, der sich nur schwer gegen Janos Zápolya und
die übrigen Magnaten behaupten konnte. Fischer-Galati resümiert: „The
king was weak, the nobility restless, the peasantry rebellious.“469 1521
kam Maria nach Ungarn, um den inzwischen großjährigen König zu
heiraten. Mitten in die Anreise der künftigen Königin fiel ein
osmanischer Feldzug, in dessen Verlauf die ungarischen Stützpunkte
Szabacs, Smelin und dann auch Belgrad fielen. Trotz der Bedrohung
Ungarns gelang es Ludwig in der Folgzeit nicht, die erforderlichen Mittel
von den ungarischen und später auch böhmischen Ständen zu
mobilisieren, die eine organisierte Verteidigungsanstrengung erlaubt
hätten. Er blieb ärmer als seine ungarischen Magnaten.470 Unterdessen
versuchte Maria, ihre Brüder Karl und Ferdinand für die Unterstützung
der ungarischen Sache zu gewinnen.471 In einer etwas entspannteren
Atmosphäre
konnte im Januar 1522 die Hochzeit in Buda gefeiert
werden, da Suleiman seinen Feldzug nach der Eroberung Belgrads
nicht fortgesetzt hatte. Neben dem Widerstand der Magnaten unter
Führung Zápolyas gegenüber Ludwig und seiner habsburgischen Frau,
467
468
469
470
471
Ebd., 16.
Ebd., 34.
Fischer-Galati, Imperialism, 14.
Tamussino, 77.
Ebd., 75.
104
bewogen zusätzlich noch „frische“ Erfahrungen die Stände, von einem
„Türkenzug“ abzusehen: Nach dem Kreuzzugsaufruf von Papst Leo X.
1514 hatten sich auf Betreiben des Erzbischofs Bakocz 40000 Bauern
zu einem Kreuzzug versammelt. Von den Adligen wurde diese
Machtansammlung nur ungern gesehen. Als schließlich der erschreckte
Bakocz das Bauernheer aufzulösen versuchte, kam es zu einem
blutigen Bauernaufstand, der von Janos Zápolya mit brutaler Gewalt
niedergeschlagen wurde. Der Bauernführer Dosza wurde mit einer zur
Weißglut
erhitzen
Krone
getötet,
anschließend
mussten
seine
Anhänger ihn verspeisen.472
Nicht nur die äußere auch die innere Sicherheitslage in Ungarn war
also labil. Unter Ludwigs Führung schien Ungarn dann auch vom
katholischen Glauben abzufallen. Auf einem Landtag in Prag führte
Ludwig
in
seiner
Eigenschaft
als
König
von
Böhmen
einen
bemerkenswerten Austausch der königlichen Ämter herbei. Sie wurden
nun fast ausschließlich von Utraquisten besetzt, die in der Nachfolge
des Vorreformators Jan Hus standen. Weniger aber als religiöse
Erwägungen
dürften
innenpolitische
Absichten,
die
alte
Herrschaftsschicht auszuwechseln, Ludwig in seinen Maßnahmen
bestimmt haben.473 Andererseits blieb dieser Austausch auch indirekt
ein Signal für religiöse Toleranz. So verstärkte sich der Eindruck, am
ungarischen Königshofe sympathisiere man mit Luther. Erheblich zu
dieser Meinung trug der Cousin, Berater und Erzieher des Königs,
Markgraf Georg „der Fromme“ von Brandenburg bei, der offen mit
Luthers Lehren sympathisierte und mit diesem auch in persönlichem
Kontakt stand.474
Aber auch die junge Königin schien sich der
lutherischen Lehre zu öffnen, so dass der Onkel des Königs, König
Sigismund von Polen, wie auch Erzherzog Ferdinand das Königspaar
schriftlich ermahnten, den katholischen Glauben beizubehalten.
Die Königin, intellektuell regsamer als ihr Mann,475 öffnete sich jedoch
noch weiter den Reformansätzen in der Kirche und versammelte einen
472
473
474
475
Molnar, Geschichte, 128.
Tamussino, 85f.
Mast, Hohenzollern, 43.
Rhode, Ungarn, 1083.
105
Humanistenzirkel um sich, zu dem u.a. der Graecist Simon Grynaeus
und der Poet Caspar Ursinus Velius gehörten. Man wird also weniger
von einer direkten Anhängerschaft an die lutherische Lehre bei Maria
sprechen können, als von einer allgemeinen Offenheit gegenüber allen
Reformbestrebungen, die damals auch noch nicht in dem Maße wie
später in Reformation und Humanismus differenziert werden konnten,
wenn man auch schon um Unterschiede zwischen Erasmus und Luther
wusste.476 Jedenfalls fanden die Lutheraner am Königshof eine so
positives Klima vor, dass der sächsische Diplomat Hans von der Planitz
an den Beschützer Luthers, Kurfürst Friedrich den Weisen, schreiben
konnte,
„das die konnigin zu Ungernn sehr gut evangelisch worden sei und mit
dem konig deshalben sovill gehandelt, das man die Lutherischen weiter
nicht vorfolget und nunalls das evangelium frei in Ungernn gepredigt
werde.“477
1523 wurde Johannes Hess zu Marias Hofprediger ernannt, der aber im
selben Jahr eine Stelle als Pfarrer in Breslau annahm und zum
Reformator Schlesiens wurde.478 Der neue humanistisch geprägte
Hofprediger Conrad Cordatus konnte sich mit seiner offenen Kritik des
Papsttums nur kurz halten und musste auf Druck der Stände entlassen
werden. Mit Johannes Henckel wurde ein gemäßigter Erasmianer
Cordatus‘ Nachfolger.
Das Klima für die Protestanten scheint trotz heftiger ständischer
Gegenwehr günstig geblieben zu sein. Scharfe Ketzergesetze des
Adels, die auf den Reichstagen 1523 und 1525 beschlossen wurden,
wurden nur halbherzig umgesetzt.479
Ab März 1526 machte sich Martin Luther daran, für Maria eine
Auslegung von vier Psalmen zu erarbeiten. Offensichtlich auf Anregung
des der Reformation freundlich gesonnenen Königs Christian von
Dänemark, dessen Frau wiederum eine Schwester der Habsburger
Karl, Ferdinand und Maria war und der sich im April 1526 in Wittenberg
476
477
478
479
Tamussino, 92.
Zit. in ebd.
Ebd.; Hauschild, Kirchen- und Dogmengeshichte II, 263.
Hauschild, Kirchen- und Dogmengeschichte II, 265.
106
aufhielt, hatte sich Luther zu dieser persönlichen Kontaktaufnahme
entschlossen.480 Doch als die Psalmenauslegung fertig war, war Ludwig
bereits tot. Luther ging darauf natürlich ein. Im Vorwort für Königin
Maria legte er dar, ursprünglich habe diese Auslegung die Absicht
gehabt, Maria darin zu ermutigen, „frisch und frolich“ weiter die
Reformation in Ungarn zu fördern. Nun sei unter dem Eindruck des
bedauernswerten Todes ihres Mannes eine Trostauslegung daraus
geworden, um sich im Glauben an Gott zu stärken. Luther konnte der
Niederlage auch noch eine positive Seite abgewinnen: Hätten die
ungarischen Stände nicht das (reformatorische) Evangelium behindert,
wäre es noch vor der Schlacht von Mohács zum Durchbruch
gekommen. Dann aber wäre den Evangelischen die Schuld für den
militärischen Mißerfolg in die Schuhe geschoben worden. „Wilch eyn
lestern solt da worden seyn?“481 Nun aber müsse man wohl die Schuld
wo anders suchen.
Nur ganz kurz geht Luther im Übrigen in seiner Psalmenauslegung auf
die aktuelle Situation ein und wenn er es tut, dann allerdings mit
Deutlichkeit. Er kritisiert die Zurückhaltung der deutschen Stände bei
der Unterstützung der Ungarn gegen die Osmanen. Luther äußert dabei
eine scharfe Kritik an den sozialen Zusänden:
„... unsere zornige Fürsten und Bisschowe und gelerte heuchler lassen
den Türcken und yhrs gleichen wol mit friden, wie grosse Ketzer und
verfürer sie auch ymer sind bey yhn geachtet ... . Aber wo etwa ein
armer bürger odder Pfarrher und prediger ist, der kaum das brod hat
und alle not leidet, An dem selbigen machen sich die grossen, zornigen
Fürsten und Bischowe; der mus leiden, ... . Hier hat der Lawe eine
maus gefangen und lest sich dünken, er habe den lindwurm
überwunden. Solches Adels und junckern ist Deudsch land ytzt vol, die
ynn den bierhäusern Pestilentzen und veytstanten und nur das messer
strotzen konnen wider arme, elende, wehrlose leute; als denn sind sie
von Adel! Pfu, wilch böse leute, ja sew und wilde thiere sind doch wir
Deudschen ... .482
480
481
482
WA 19, 542.
WA 19, 552.
WA 19, 605.
107
Die Psalmenwidmung ist offensichtlich von Maria nicht beantwortet
worden. Die Tatsache allein, dass Luther ihr eine Psalmenauslegung
zusandte, sorgte allerdings für erhebliches Aufsehen und verärgerte
Nachfragen ihres Bruders Ferdinand. Maria räumte ein, sie habe
zahlreiche Schriften Luthers gelesen, wolle aber für die Zukunft davon
Abstand nehmen. Ein negatives Urteil über Luther lies sie sich aber
nicht entlocken.
Doch auch andere Reformkräfte hatten von Marias Gesinnung gehört.
1530 widmete ihr Erasmus von Rotterdam die Schrift „De Vidua
Christiana“, die von ihr eigenhändig mit einem Dankschreiben und
einem Pokal beantwortet wurde. Im selben Jahre kam es auf dem
Augsburger Reichstag, an dem auch Maria teilnahm, zu einer Initiative
Marias gegenüber Luther. Brieflich ließ sie ihn über ihren Prediger
Henckel und Melanchthon fünf Fragen stellen, die darauf hinaus liefen,
privatim sich der evangelischen Lehre anzuschließen aber öffentlich
altgläubig bleiben zu dürfen. Ein Ansinnen, das Luther zurückwies.
Trotz dieser Abfuhr hat Maria, nicht zuletzt auch auf dem Augsburger
Reichstag, versucht, im Verborgenen vermittelnd zu wirken.483
Maria blieb als spätere Statthalterin der Niederlande auch in der
Folgzeit für Karl eine wichtige Stütze seiner Herrschaft und eine
persönlich einflussreiche Beraterin,484 ohne dass ein weiterer Einfluss
auf die kaiserliche Religionspolitik jedoch klar konstatiert werden
könnte. Es bleib aber zu vermuten, dass die Reformation in Maria
weiterhin eine Fürsprecherin hatte. Noch 1546 sah sich Kaiser Karl
veranlasst, sich bei seiner Schwester wegen seines militärischen
Vorgehens in Deutschland zu rechtfertigen. Er betonte, er habe „das
Unmögliche versucht“ und sei „bis zum äußersten gegangen sei, um
Gewaltanwendung zu vermeiden.“485
483
484
485
Tamussino, 62ff.
Majoros, Karl, 155ff.
Braudel, Karl, 41.
108
4.1.3.
Kritik an Luthers bisheriger irenischer Haltung:
Johannes Cochlaeus
Schon 1523 hatte es in der „Anzeigung ze eroberen die Türcky“
geheißen: „Die Christenheit ist gar zertrännt, Evangelisch sich ein jeder
nent“.486 Die Fürsten wurden dann in dieser Flugschrift ausdrücklich
aufgefordert, der lutherischen Bewegung zu wehren, da sonst aufgrund
der inneren Uneinigkeit in Religionsfragen das Ende des Reiches
gekommen sei. Luther hing, wie oben gezeigt, seit seinen skeptischen
Äußerungen zum Türkenkrieg das Image eines militärischen Defätisten
an, ein Vorurteil, das besonders die altgläubige Seite weiter zu fördern
versuchte. Am nachhaltigsten für die „kommenden Jahrhunderte“487
sollte in dieser Frage der „größte“ Eiferer gegen Luther überhaupt,
Johannes Cochlaeus (1479-1552), wirken.
Cochlaeus hatte zunächst als Schulmeister zum Nürnberger stark antirömischen Humanistenkreis um Dürer und Pirckheimer gehört,488 dann
1517 in Bologna in der Theologie promoviert und sich zum Priester
weihen lassen.489 1518 wurde er Dechant am Liebfrauenstift in
Frankfurt/Main. 1521 nahm er am Wormser Reichstag teil und
versuchte aus eigener Initiative Luther in einem persönlichen Gespräch
zum Widerruf zu bewegen. Nachdem dies misslang, wurde er zum
heftigsten Luthergegner der Reformationszeit, der sich in der Folgezeit
mit zahlreichen Schriften bzw. Pamphleten gegen den Reformator
wandte.490 Er ist für den katholischen Reformationshistoriker Joseph
Lortz zudem „der erste bedeutende Humanist, der sich zur Kirche
zurückwendet“.491 Auf zahlreichen Reichstagen war Cochlaeus in der
Folgezeit als Agitator gegen Luther und seine Anhänger zu finden. An
der Confutatio gegen die „Confessio Augustana“ auf dem Augsburger
Reichstag 1530 arbeitete er ebenfalls mit.
486
487
488
489
490
491
WA 30 II, 91.
Lortz, Reformation, 262.
Ebd., 263.
Zu den biographischen Angaben vgl. Bautz, Artikel: Cochläus, Johannes,
1072ff. und Gess, Cochläus. Bei abweichenden Angaben wird dem neueren
Artikel gefolgt.
Dargestellt bei Gess, Cochlaeus, 12ff.
Lortz, Reformation, 262.
109
Nachdem Cochlaeus aufgrund der Feindschaft der Bevölkerung gegen
das katholische Liebfrauenstift Frankfurt verlassen hatte und in Köln
Kanoniker geworden war, trat er 1528 als Rat in die Dienste Georgs
von Sachsen. In diese Zeit fällt auch die unten weiter darzustellende
„Ermahnung zum Krieg gegen die Türken“. Wie hoch offensichtlich
Cochlaeus‘ Beitrag in dieser Sache geschätzt wurde, geht aus einer
Mitteilung an einen Freund hervor. Diesem berichtet er, nach dem
vermeintlichen „Sieg“ Karls V. über die Osmanen 1532 habe der
Herzog ihn mitten in der Nacht rufen lassen, um ihm die freudige Kunde
mitzuteilen.492
Nachdem in den 1530iger Jahren Melanchthon in mancher Hinsicht
zum eigentlichen Führer des lutherischen Protestantismus, jedenfalls
was seine konfessionspolitische Seite betraf, geworden war, agitierte
Cochlaeus heftig gegen diesen, den er Jahre zuvor ebenfalls noch auf
seine bzw. die altgläubige Seite zu ziehen versucht hatte.493
Nach Luthers Tod gab Cochlaeus eine Lebensbeschreibung des
Reformators heraus,494 die das katholische Lutherbild für Jahrhunderte
prägen sollte. Ob diese Biographie nun ein „Testament der Eitelkeit“495
ist, oder die Feststellung zutrifft, ihr fehle die „Leidenschaftslosigkeit des
echten Historikers und die Zuverlässigkeit der Berichterstattung“496,
man wird sicher konstatieren können, dass dieses Buch den
Ansprüchen historischer Kritik in keiner Weise genügt. Es sollte als das
verstanden werden, was es war und ist: Eine Kampfschrift aus jener
Zeit. Da Cochlaeus in seiner Schrift den ganzen Lebensweg Luthers
abschließend Revue passieren lässt, gibt dieses Buch einen guten
Eindruck von der Haltung der Luthergegner, zumal Cochlaeus auch
seine eigenen Schriften in dieser „Biographie“ heranzieht. Cochlaeus
Lebensbeschreibung Luthers soll deshalb hier näher dargestellt
werden.
492
493
494
495
496
Gess, Cochlaeus, 36.
Ebd., 43.
Cochlaeus, Luther. Hier in der deutschen Übersetzung von Hueber 1582
zitiert.
Gess, Cochlaeus, 60.
Bautz, Art.: Cochlaeus, 1073.
110
Cochlaeus sieht hier Luthers „defätistische“ Haltung den Osmanen
gegenüber von Anfang an gegeben, etwa in dessen Schrift gegen die
päpstliche Bulle von 1521, die Cochlaeus als Beispiel heranzieht.497
Den gegenüber den Lutheranhängern nachgiebigen Reichstag von
Speyer 1526 sieht Cochlaeus als den eigentlichen Grund der
Niederlage von Mohács, weil
„die Fürsten und Ständte den Abschied doch suspensiue/ ... In dem nun
die Gemüter auff diese weis in suspenso gelassen/ und niemand sich
gewiss Frieds und Sicherheit zuuersehen hette: begab sich ferner/ daß
niemand auß der Teutschen Fürsten König Ludwigen zu Hungern/ in
dessen landt der Türckisch Keyser mit einem grossen Mening
eingefallen/ zu Hülff kommen köndte. Denn daheims war vor den
auffrhürischen Gemütern der Underthanen nichts sicher/ so hette
Luther den Kriegsmann wider den Türcken zuziehen vor länsgt unwillig
gemacht. Da er geschreiben: Daß wider die Türcken Kriegen Gott
widerstreben wär/ der unsere missethat durch sie heimsuchet.“498
Luthers Schrift „Vom Kriege wider den Türken“ wird dann von
Cochlaeus bewußt mißverstanden, indem er nur auf Luthers Papstkritik
rekurriert, ohne die differenzierte Position Luthers in Fragen politischer
Ethik zu beleuchten. Luthers Skepsis gegenüber einem Krieg ohne
vorherige Buße übergeht Cochlaeus. Er sieht lediglich dessen
Zurückhaltung, „daß er mehrers die Leuth von solchme Krieg abweist/
als sie darzu bewegt.“499
Cochlaeus gibt in seiner „Biographie“ dann auch selbst eine kurze
Zusammenfassung seines „Dialogus de bello contra Turcas in Antilogas
Lutheri“, in dem Luther „zweiköpfig“ dargestellt wird. „Lutherus“ steht für
den frühen, dem Türkenkrieg gegenüber zurückhaltenden Luther,
„Palinodus“ ist hingegen der Luther der ersten Türkenschrift. Ein Orator
tritt hinzu:
„Dein Luther gibt für/ wir haben bisher nichts glücklichs wider den
Türcken gehabt. Damit er ohne zweiffel unsere Gmütter abwenden
unnd abschrecken will/ dem Türcken widerstand zuthun. ... Was ist aber
497
498
499
Cochlaeus, Luther, 111.
Ebd., 328f.
Ebd., 431.
111
das anders/ dann das Vaterland dem Türcken verrathen/ unnd uns
bereden wöllen/ wann er auff uns zuzeucht/ jhme Thür und Thor
auffzuthun/ unnd uns freywillig zuergeben? Palinodus: Darzu hat jhne/
wie er mir angezeigt/ fürnemblich verursacht/ daß und der Christlichem
Namen der Krieg wider den Türcken fürgestellt wird/ als sollte unser
Volck ein Heer wider die Türcken/ als die Feind Christi genennt werden/
welches stracks wider die Lehr Christi unnd seinen Namen ist. ...
Orator. ... So hat auch Christus ninderst verbotten/ der Türcken
grausame Tyranney zuuertreiben. Daß aber die Türcken Christi feind
seyen/ das hastu hie oben auß ihrem Alcoran selbs bestanden. Unnd
ist solches in der that selbs offenbar, daß ein lautere Unsinnigkeit wär/
dasselbe zuuerlaugnen.“500
Dass Cochlaeus nicht daran gelegen war, Luthers Position sachlich
darzustellen, sondern er in ihm nur den eigentlichen Feind erblicken
konnte, der zudem Helfershelfer der Osmanen war, ist deutlich.
Letztlich erschien Luther selbst als „Osmane“. In seiner polemischen
Schrift „Sieben Köpffe Martini Luthers“ von 1529 war einer dieser Köpfe
ein Gesicht mit Türkenhut.501
Natürlich war Cochlaeus nicht der einzige altgläubige Luthergegner,
wohl aber der wirksamste. Es seien noch einige andere Beispiele
genannt: Paul Anderbach schrieb in seinem „Sendbrieff, darin
angezeigt wirt vermeintliche ursach warumb der Türck widder die
Hungern triumphirt und oblegen hat“ von 1527 Luther die Schuld an der
Niederlage
von
Mohács
zu.
Zwar
seien
die
Osmanen
eine
„Gottesgeißel“, aber nur deshalb seinen sie losgelassen worden, weil
die Christen die Einigkeit der Kirche zerbrochen hätten. Die Parallelen
zwischen den Osmanen und Luther sind für Anderbach deutlich: Wie
die Osmanen einen jeden glauben ließen, was sie wollten, so komme
es auch bei Luther allein auf den Glauben an. Wie die Osmanen auf
geistlichen Gebäuden Pferdeställe machen, so rissen auch die
Lutheraner das Kirchengut an sich, wie die Osmanen die christliche
Predigt verböten, so verwerfe Luther die Messe - ein Argument, das
500
501
Ebd., 428ff.
Abgebildet in: Bott, Luther, 30.
112
sich in Cochlaeus Dialogus ebenfalls breit ausgeführt findet -502, wie die
Osmanen angeblich sexuell zu freizügig mit Frauen umgingen, so locke
Luther die Nonnen aus den Klöstern, wie die Türken die Vielehe kennen
würden, erlaube Luther geschlechtlichen Verkehr mit jemand anderem,
wenn der Ehegatte dazu nicht fähig sei.503 Das hohe polemische
Potential, das die Identifizierung mit den Osmanen bot, wird hier wie bei
Müntzer, Cochlaeus und in manchen anderen Flugschriften deutlich.
Der Vergleich Luthers mit den Osmanen hielt sich durch. Noch 1543
betrachteten die Orientalisten Postel und Widmannstetter ihre Schriften
gegen die Osmanen auch als einen Beitrag zur Bekämpfung des
Luthertums.504
Andererseits fällt doch trotz dieser heftigen Polemik auf, dass die
Adaption des mythischen Geschichtsbildes und eine Annahme eines
baldigen Weltendes von Cochlaeus und anderen Altgläubigen nicht
vorgenommen wurde. Luther war nicht der Antichrist, ein „sicheres“
Ende der Zeiten war nicht zu erwarten. Mit wenigen Ausnahmen hat der
altgläubige Katholizismus Luther die Antichrist-Prädikation insgesamt
„verwehrt“, als Ausnahmen sind Thomas Murner und Heinrich von
Kettenbach zu nennen.505 Auch Johannes Eck konnte Luther einmal als
„Antichristi membrum et praecursor“506 bezeichnen. Allgemein scheint
es aber so gewesen sein, dass der Katholizismus den „Ketzer“ Luther
durch die Antichrist-Prädikation nicht noch mythisch aufwerten wollte.
Zudem rechnete man im Umkreis der Papstkirche nicht mit einem
baldigen Ende der Zeiten. So gab Eck 1532, als Luther das Weltende
nahe wähnte, eine Predigtreihe „Sperandam esse in Brevi victoriam
adversus Turcam“ heraus, die „Carlo et Ferdinando Turcae Imperium
dissolvendum“507 sah. Die Identifizierung der „Türken“ mit dem
Antichrist war deshalb auf altgläubiger Seite verhältnismäßig selten.508
Die Apokalyptik wurde mehr und mehr eine Sache der Lutheraner.
502
503
504
505
506
507
508
Lutherum Turcas simillismu esse , Dialogus, 58. Vgl. auch 58ff.
Vgl. Ebermann, Türkenfurcht, 45f.
Bobzin, Luther, 287.
Vgl. Hillerbrand, Polemik, 122 A. 31.
Zit. in Herrmann, Osmanenreich, 84.
Zit. in ebd., 273 A. 24.
Seifert, Rückzug, 17.
113
Diese waren den Altgläubigen damit heilsgeschichtlich voraus.509
Wähhrend man dort noch auf die endzeitliche Erscheinung des
Antichrist wartete, die das Papsttum nicht sein konnte, Luther nicht sein
sollte und die Osmanen nicht zu sein schienen, begann im Luthertum
das apokalyptische Drama schon seinen Lauf zu nehmen.
4.2.
Luthers Eintreten für den militärischen Widerstand
gegen die Osmanen
4.2.1.
Die Ausbildung einer politischen Ethik
Luthers Reformation konnte unmöglich aus den politischen Ereignissen
herausgehalten werden, ja sie war selbst ein politisches Ereignis ersten
Ranges,
und
Luther
musste
sich
zusehends
mit
der
Frage
beschäftigen, wie die Reformation im Bereich weltlichen Handelns
Gestalt gewinnen sollte. Seine Anhänger erwarteten eine Wegweisung
in diesen Fragen. Luther hat diese Antwort in der sog. „Zwei-ReicheLehre“ gegeben. Bei der „Zwei-Reiche-Lehre“ ist es jedoch wichtig, in
der retrospektiven Betrachtung keine abstrakten Systematisierungen zu
entwerfen,510 die den historischen Sachverhalt nicht genügend
erfassen. Deshalb kann eigentlich weniger von einer Lehre, denn von
Anschauungen Luthers, die lehrhaften Charakter haben, gesprochen
werden.
In seiner Schrift "Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr gehorsam
schuldig sei" von 1523 hat Luther die im Titel genannte Problematik,
ausgehend von dem Tatbestand, dass im Herzogtum Sachsen seine
Übersetzung des Neuen Testamentes zu lesen verboten war und die
Exemplare an die Obrigkeit ausgeliefert werden mussten, aufgegriffen.
Er wehrt sich hier dagegen, dass der Staat in geistliche Belange
eingreift. Ebenso lehnt er es ab, dass die Kirche weltliche Herrschaft
ausübt. Beide Bereiche werden geschieden. Natürlich sind diese
Gedanken nicht ohne Vorläufer. Besonders wirksam war Augustins
Auffassung von der Civitas Dei und der Civitas Terrena sowie ähnlichen
509
510
Ebd., 8.
Bornkamm, Reiche, 6ff.
114
Konnotationen.511 „Das Mittelalter, sich ganz stark immer wieder auf
Augustin beziehend, kennt neben den duae civitates duo imperia, duo
gladii, duo lumina, duae familia.“512 Im Verlaufe des Mittelalters war
allerdings die Civitas Dei mit der Papstkirche identifiziert worden.513
Hier führt Luther wieder zu Augustin zurück und setzt gleichzeitig einen
neuen Akzent. Die zunächst äußerlich gezogene Grenze zwischen den
beiden Reichen muss der einzelne Christ, der es auf irgendeine Weise
ja mit beiden Bereichen zu tun hat, in sich selbst in verantworteter
Entscheidung ziehen. Die beiden Reiche bedeuten also nicht nur wie in
der
augustinischen
Civitates-Auffassung
die
beiden
Reiche
in
heilsgeschichtlicher Perspektive oder wie in der mittelalterlichen „ZweiSchwerter-Theorie“ die Zuordnungsverhältnisse von sacerdotium und
imperium,
sondern
bei
Luther
noch
stärker
„die
beiden
Beziehungszusammenhänge, in denen der Christ lebt“.514 Hier zeigen
sich dann die Konsequenzen: Als Christ mag der Mensch z.B. wohl
verzeihen, aber als Bürger muss er dem Unrecht wehren. Nach Luther
soll er
„also geschickt seyn, das er alles ubel und unrecht leyde, nicht sich
selbs reche, aber auch nicht für gericht sich schütze, Sondern das er
aller ding nicht bedürffe der welltlichen gewalt und rechts fur sich selbs.
Aber für andere mag und sol er rache, recht, schutz und hülffe suchen
und datzu tun, womit er mag.“ 515
Deshalb kommt Luther zu dem Ergebnis, dass es gleichzeitig die zwei
Regimente sind, mit denen Gott regiert. Das geistliche, „welchs frum
leutt macht durch den heyligen geyst unter Christo, unnd das welltliche,
wilchs den unchristen und bösen weret, daß sie eußerlich müssen frid
halten“.516
Ohne dass Luther die beiden „Reiche“ und die beiden „Regimente“
begriflich klar von einander trennt, kann doch gesagt werden, dass die
Reiche eher den Herrschaftsbereich, in dem sich die christliche
511
512
513
514
515
516
Vgl. Mayer, Civitas Dei, 2115.
Lau, Lehre, 371.
Mayer, Civitas Dei, 2116
Bornkamm, Reiche, 9
WA 11, 259.
Ebd., 251.
115
Existenz abspielt, bezeichnen, während die Regimente stärker die
Herrschaftsweisen Gottes in der Welt, an der der Christ partizipiert,
meinen.517 Die von der Überordnung der geistlichen Herrschaft sich
distanzierende emanzipatorische Tendenz Luthers in seiner Auffassung
von den beiden Bereichen christlicher Existenz hat allerdings in ihrer
Trennung zwischen persona publica und persona privata518 eine
gewisse
Tendenz
zur
gespaltenen
Weltwahrnehmung,
da
die
menschliche Existenz sich de facto natürlich nicht in zwei säuberlich
geschiedene Lebensbereiche trennen lässt.
Die in Luthers Schrift vorgenommenen grundlegenden Entscheidungen
sollten jedoch auch in der Frage eines Türkenkrieges, ja überhaupt des
Widerstandes gegen die Osmanen, wie sich im Folgenden zeigen wird,
von maßgeblicher Bedeutung sein.
4.2.2.
Melanchthons und Luthers Visitationsschrift
Dies zeigte sich deutlich im „Unterricht der Visitatoren“ von 1527, der im
Rahmen des Aufbaus der evangelischen Landeskirche und im engen
Zusammenhang einer Visitation Melanchthons in Thüringen von diesem
und Luther519 verfasst wurde. Auch hier wurde deutlich zwischen dem
persönlichen Erdulden des Leidens als Christ und der gewaltsamen
Gegenwehr als Untertan und Mitglied der Gemeinschaft unterschieden.
In einem eigenen „Türken-Kapitel“ wurde dies deutlich. Gerade um des
bonum commune im Lande willen, sei es nötig, gegen die Türken zu
kämpfen, betonten Luther und Melanchthon. Damit wird indirekt auch
sichtbar, wie stark die pazifistische Propaganda täuferischer und
anderer Kreise im Blick auf die Osmanen unter der Bevölkerung ganz
offensichtlich ihre Wirkung nicht verfehlte.520 So stellte ein Zeitgenosse
fest: „... allein, dass der Türck uns damit zum meisten schaden wirt,
dass er jedermann lasst glauben was er will, wenn er nur ein Tribut
gibt.“521
517
518
519
520
521
Bornkamm, Reiche, 15.
WA 2, 150.
Schwarz, Luther, 191.
Vocelka, Art.: Religiosität, 143.
Zit. in Herrmann, Osmanenreich, 102.
116
Mit deutlichen Worten schärften deshalb Luther und Melanchthon die
Verteidigungspflicht gegen die scheinbar toleranten Osmanen ein:
„Darümb man schüldig ist, den Türcken zu weren, die nicht allein die
Lender begern zuuerderben, weib vund kinder schenden und ermorden,
Sondern auch Landrecht, Gottes dienst und alle gute Ordnung
wegnemen, ...“522.
Die Mahnung zum unbedingten Widerstand wurde mit Hinweisen auf
Greuel der Türken in Ungarn, wofür es „gute zeugen“523 gebe,
eingeschärft. Melanchthons und Luthers Äußerungen liefen auf die
Feststellung heraus: „Denn vile leidlicher were es einem frommen man,
sehen seiner kinder tod, denn das sie Türkische sitten müsten an
nehmen.“524
Deutlich wird hier die Präzisierung der Anschauungen Luthers und
Melanchthons. Mit der Unterscheidung der beiden Reiche war ein Weg
gefunden, um auf aus dem Glauben gebotenen Verhalten, das etwa der
Bergpredigt gemäß war, zu beharren, und andererseits „realpolitisch“
relevant sprechen zu können.
4.2.3.
Die Schrift „Vom Kriege wider die Türken“ und das
„Christianus-Karolus-Modell“
War im „Unterricht der Visitatoren“ der „Türkenproblematik“ schon ein
Kapitel gewidmet, sollte Luther bald auch mit einer eigenen Schrift
hervortreten, die diese Frage aufnahm. Sie war offensichtlich notwendig
geworden. In die Aufrufe zum Kampf gegen die Türken mischte sich
verstärkt Resignation. Einige Flugschriften vermittelten gar den
Eindruck, als sei eine erträgliche Herrschaft zu erwarten, wenn man
sich der osmanischen Streitmacht nur nicht widersetze.525 Die
indirekten Bezugnahmen darauf sind ja schon in der Visitationsschrift
deutlich geworden. Teilweise zeitigten solche Flugschriften Folgen:
Manche als Soldaten rekrutierte Bauern desertierten etwa während der
522
523
524
525
Melanchthon Studienausgabe (StA), 256f.
Ebd., 257.
Ebd., 257.
Vgl. WA 30 II, 86.; Vgl. Kissling, Türkenhoffnung.
117
Schlacht von Mohács zu den Osmanen.526 Darüber hinaus wanderten
die Menschen in dieser Zeit auch bewusst unter die osmanische
Oberherrschaft ab, da die dortigen Lebendbedingungen erträglicher
erschienen.527 Ob diese Meinung allerdings historisch zutreffend ist,
kann kaum noch wirklich beurteilt werden. Allerdings gibt es, ohne eben
verallgemeinern zu können, deutliche Hinweise dafür, dass alles in
allem die Abgabenlast in den osmanischen Gebieten für die Bauern
tatsächlich geringer war, als im „christlichen Abendland“.528
So hatten viele im zeitlichen Umfeld der Schlacht von Mohács
erschienene Schriften nun verstärkt den Grundtenor, vor der Schickung
in ein vermeintlich unabwendbares oder gar herbeizusehnendes
Schicksal zu warnen und die fürchterlichen Folgen einer osmanischen
Oberherrschaft anschaulich zu beschreiben.529 Es handelt sich - mit
Winfried
Schulze
zu
sprechen
–
um
eine
propagandistische
Kommunikation. In diese Tendenz fügten sich ab 1528 dann auch
Luther und die übrigen lutherischen Reformatoren ein.530
Während eine Delegation Erzherzogs Ferdinands zur Hohen Pforte zu
Verhandlungen
wegen
der
Auseinandersetzungen
um
Ungarn
unterwegs war, verfasste Luther seine Schrift „Vom kriege widder die
Türcken“531, die im Oktober 1528 fertiggestellt wurde, im April 1529 im
Druck erschien und noch im selben Jahr siebenmal aufgelegt wurde. Es
war die erste von Luthers sogenannten „Türkenschriften“.
Hier
flossen
die
Ergebnisse
der
zwischenzeitlich
gewonnenen
Einsichten in die Frage einer politischen Ethik ein. Anders als noch in
seinen frühen Äußerungen, die politische Fragen rein theologisch zu
beantworten
suchten,
wurde
von
Luther
hier
der
Versuch
unternommen, theologische Erkenntnisse im Raum des Politischen
praktikabel zu machen.
In der Schrift, die er dem Landgrafen Philipp von Hessen, der
zwischenzeitlich zu einem politischen Anführer des reformatorischen
526
527
528
529
530
531
Göllner, Turcia III, 316f.
Vgl. Dulmeau, Angst, 399.
Majoros/ Rill, Reich, 49f; Jansky, Südosteuropa, 1171.
Vgl. WA 30 II, 89ff.
Schulze, Türkengefahr, 21ff.
Ebd., 107ff.
118
Lagers geworden war, widmete, erwähnte Luther zunächst, er sei
schon fünf Jahre zuvor, also 1523, von Freunden um eine solche Schrift
gebeten worden, nun würden ihn diese Freunde „zwingen ...
zuvolenden“532. Die Schrift hat einen deutlich rechtfertigend Charakter,
mit dem sich Luther von seiner bisherigen Position, die durchaus als
„pazifistisch“ gelten konnte, absetzt. Luher bietet nun für den
enstandenen Raum des politischen Protestantismus eine theologische
Begründung eines Krieges gegen die Osmanen.
Luther wehrte sich zunächst gegen die, die „dem pobel einbilden, man
solle und musse nicht widder die Türcken kriegen“,533 und dabei sogar
behaupteten, sich auf ihn berufen zu können. Unter ausdrücklichem
Verweis auf seine 1523 erschienene Schrift „Von weltlicher Obrigkeit
wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“,534 legte er seine Auffassung
dar. Luther machte deutlich, dass seine Ablehnung eines Kreuzzuges in
erster Linie weniger der konkreten kriegspolitischen Frage, als dem
theologischen Missbrauch des Politischen durch das Papsttum galt:
„Also war dazumal der Babst und die geistlichen alles ynn allen, uber
allen und durch alle wie ein Gott ynn der welt, und lag die weltliche
oberkeit ym finstern, verdruckt und unbekand.“535
Gerade gegen diese Anmaßung der Kirche in weltlichen Dingen, die
ganz offensichtlich mit einer Vernachlässigung ihrer geistlichen
Aufgaben einherging, hatte Luther sich nach eigenen Worten gewandt
und damit die Eigenständigkeit weltlicher Regierung betonen wollen.536
In seiner sogenannten Obrigkeitsschrift hatte Luther dann wie gezeigt
seine
Grundanschauungen
zur
Frage
des
Verhältnisses
von
theologischer Erkenntnis und politischem Handeln, die im Wesentlichen
auf eine dialektische Zuordnung von geistlicher und weltlicher
Herrschaftsausübung hinauslief, entfaltet.
Damit hob der Reformator hinsichtlich des „Türkenkrieges“ seine
frühere Auffassung über die Notwendigkeit einer sittlichen Besserung
der Christenheit und seine Kritik am päpstlichen Ablass nicht auf, doch
532
533
534
535
536
WA 30 II, 107.
Ebd.
WA 11, 245ff.
WA, 30 II, 109.
Lohse, Theologie, 170.
119
entfaltete er nun mit Hilfe der hier gewonnenen Grundanschauung
seine Einschätzung über die Möglichkeit eines Krieges. Dabei benutzte
Luther in der Schrift gegen die Osmanen von 1528 eine den „zwei
Regimentern“ oder „zwei Reichen“ ähnliche Denkfigur. Er differenzierte
zwischen dem „Herrn Christianus“, damit ist die Christenheit gemeint,
und dem „Keyser Karolus“, also der weltlichen Macht.537 Beide hätten
nun ihre je spezifischen Aufgaben des Streites, meinte Luther: Karolus
kämpfe militärisch und der „Herr Christianus“ führe den geistlichen
Kampf gegen die Osmanen, der nach wie vor in Buße und Gebet
bestehe. Offensichtlich war sich Luther aber des Erfolges seiner
Aufforderung hier nicht ganz sicher, denn er schob einige Information
über die osmanische „Schreckens-Herrschaft“ nach und bestritt deren
angebliche religiöse Toleranz,538 die in Flugschriften (s.o.) gelegentlich
behauptet worden war:
„Denn der Türcke (wie gesagt) ist ein diener des Teuffels, der nicht
allein land und leute verderbet mit dem schwerd (Welchs wir hernach
hören werden) sondern auch den Christlichen glauben und unsern
lieben Herrn Jhesus Christ verwüstet. Denn wie wol ettlich sein
regiment darynn loben, das er yderman lest gleuben was man will,
allein das er weltlich herr sein will, So ist doch solch lob nicht war. Denn
er lest warlich die Christen öffentlich nicht zu samen komen.“539
Wie prekär die Lage nach dem Bauernkrieg war, wie trügerisch die
Ruhe in der bevölkerung, machen solche und andere Äußerungen
deutlich. Die Fürsten und auch Luther waren sich der Untertanen nicht
sicher.
Luther offenbarte in diesem Zusammenhang durchaus eine gewisse
Kenntnis des Islam, hatte er doch nach eigenen Angaben aus dem
Koran „etlich stück“ gelesen. Wenn er Zeit habe, fügte er hinzu, wolle er
den Koran ebenso wie die Bibel verdeutschen, damit „yderman sehe
welch ein faul schendlich buch es ist“.540 Luther bot dann im
Wesentlichen
537
538
539
540
die
bekannten
Unterscheidungspunkte
Vgl. WA 30 II,116, vgl. Bornkamm, Mitte, 521ff.
Ebd., 120ff.
Ebd., 120.
Ebd., 122.
zwischen
120
christlichem und muslimischem Glauben, wobei er im Islam mit der
apologetischen Tradition des späten Cusanus, des Georgius de
Hungaria u.v.a. nur teuflischen Lügengeist konstatieren konnte, der –
und hier parallelisierte Luther die Osmanen mit den aufständischen
Bauern um Thomas Müntzer - mit Krieg und Mord einhergehe.541
Wenn Luther in o.g. Zitat die Osmanen als Teufelsdiener bezeichnete,
so mag dies im übrigen den vorherigen Ausführungen, wo sie als
Gottes Zuchtrute dienten, widersprechen. Es weist aber auf eine
grundsätzliche Schwierigkeit hin. Luther ist kein systematischer Denker,
der exakte Definitionen entwickelt und sie dann auch durchhält! Diese
wenig systematische Argumentation Luthers hat ihren Grund auch
darin,
dass
die
meisten
Schriften
des
Reformators,
die
„Türkenschriften“ zumal, Gelegenheitsschriften sind, mit denen Luther
auf eine ganz bestimmte Situation reagierte. Nur aus diesem jeweiligen
Zusammenhang heraus sind dann seine Äußerungen zu verstehen. So
kann Luther, um bei dem genannten Beispiel zu bleiben, an anderer
Stelle die Osmanen in dieser Schrift auch gleichzeitig als Gottesrute
und Teufelsdiener, später einfach als
„leibhafftigen Teuffel“542
bezeichnen.
Doch wird man in diesen scheinbar widersprechenden Äußerungen
nicht nur eine mangelnde Systematik in Luthers Anschauungen
erblicken dürfen. Die scheinbar paradoxe Definition der Osmanen hatte
auch einen sachlichen Grund: Die Osmanen mussten gleichsam zu
Teufelsdienern werden, denn gegen eine Zuchtrute Gottes konnte man
nur schwer kämpfen. Die auf der rein rationalen Ebene oft nur als
Widersprüche zu begreifenden Aussagen mythischen Denkens werden
hier
deutlich.
Von
der
transrationalen
Logik
der
gläubigen
Wirklichkeitsdeutung konnten die Osmanen allerdings beides, göttliche
Zuchtrute und Teufelsdiener zugleich sein.
In binnentheologischer Perspektive können andere Widersprüche bei
Luther gedeutet werden. An einer Stelle behauptet er, dass durch die
Osmanen nicht nur die christliche Religion zerstört werde, sondern
541
542
Ebd., 125f.
Ebd., 116.
121
auch „das gantz weltlich Regiment.“543 Luther bezieht sich hier auf
Augustins Äußerung über die verbrecherischen Staaten, die nichts
anderes als „große Räuberbanden“ seien. Durch die Kriegsführung der
Osmanen sieht Luther Augustins Einschätzung auf die Osmanen als
zutreffend an.544 Kurz darauf leugnet Luther nicht,
„dass die Turcken untereinander trew und freundlich sind und die
wahrheit zu sagen sich vleyssigen, .... Es ist kein Mensch so arg, Er hat
etwas gutts an sich.“
Dies passt nun wiederum kaum zu der Aussage, „welch ein öffentliche
herrliche Sodoma die Türckey sey“.545 Später heißt es dann:
„... wirstu sehehn bey den Türcken nach dem eusserlichen wandel ein
dapfer strenge und ehrbarlich wesen: Sie trincken nicht wein, sauffen
und fressen nicht so, wie wir thun, kleiden sich nicht so leichtfertiglich
und frölich, bawen nicht so prechtig, brangen auch nicht so, schweren
und fluchen nicht so ...“546.
Der scheinbare Widerspruch in diesen Aussagen findet seine Auflösung
innerhalb der Lehre Luthers von „Gesetz und Evangelium“, die an
anderer Stelle entfaltet (s.u.) wird: Da die bürgerliche und durchaus
beachtliche „Gerechtigkeit“ der Osmanen nicht dem wahren Glauben
entspringt, ist sie trotz allen Glanzes letztlich von Übel und
zerstörerisch.
Die wichtigste Grundentscheidung in dieser Schrift Luthers ist dann
jedoch die Zuordnung von weltlicher und geistiger Ebene des Kampfes
gegen die Osmanen. Den kriegerischen Angriffen der Osmanen zu
wehren, ist für Luther keine geistliche, sondern eine weltliche Aufgabe
des „Keyser Karol (oder wer der Keyser ist)“547. Die Untertanen des
Kaisers haben deshalb für Luther die Pflicht, den Kampf des Kaisers
gegen die Osmanen zu unterstützen. Es ist gerade seine ihm von Gott
gegebene Aufgabe, „seines Ampts, seine unterthanen zu schuetzen“.548
Damit aber übt der Kaiser eine streng politische und keine religiöse
543
544
545
546
547
548
Ebd., 125.
Ebd., 123.
Ebd., 142.
Ebd., 188.
Ebd., 129.
Ebd., 130
122
Aufgabe aus, denn er ist „nicht das heubt der Christenheit noch
beschirmer des Euangelion oder des glaubens.“549
Während ein Kampf der Christenheit unter „Pfaffen- odder creutz
pannier, wenns gleich ein crucifix selbs were“550 für Luther völlig
ausgeschlossen blieb, wurde dem Kaiser damit selbstverständlich das
Recht der Kriegsführung zugebilligt. Dabei verstand Luther den
Gehorsam der Christen, in Ausziehung der Argumentationslinie der
Schrift „Von weltlicher Obrigkeit“.
Offen bleibt, warum Luther sich relativ spät zu den politischen
Implikationen der „Türkengefahr“ aus reformatorischer Sicht äußerte.
Die schon erwähnte Bezugnahme auf einen älteren Plan in der
Widmung für Landgraf Philipp und die sofortige Abweisung des
Vorwurfes, als sei es reformatorische Lehre, nicht gegen die Osmanen
zu kämpfen, die Rechtfertigung für die frühen Äußerungen in dieser
Frage sowie der Hinweis auf die Obrigkeitsschrift, die doch diese
Problematik faktisch schon beantwortet habe, scheinen jedenfalls auf
den schon genannten Rechtfertigungsdruck hinzudeuten. Dieser ist
wohl auf dem Hintergrund der zunehmenden Gefahr für das Reich und
den Vorwürfen eines lutherischen „Pazifismus“ zu sehen.
Zwischenzeitlich hatten sich die protestantischen Reichsstände als eine
politische
Kraft
formiert,
die
den
vermeintlichen
lutherischen
„Pazifismus“ ebenfalls nicht teilte. Für sie wird deshalb eine dezidierte
Stellungnahme des Reformators ebenfalls von erhöhter Wichtigkeit
gewesen sein. Hinzu kamen die inneren Entwicklungen in den
lutherischen Territorien. In Kursachsen und Hessen wurde seit dem
Reichstagsabschied von Speyer 1526 eine evangelische Landeskirche
aufgebaut, so dass Luther nun auch von daher gezwungen war, zu
Fragen der Weltgestalt evangelischen Glaubens Stellung zu nehmen.
Wichtiger aber noch dürfte hinsichtlich der osmanischen Bedrohung die
Frage des Verhaltens der lutherischen Stände gegenüber dem Kaiser
gewesen sein.
549
550
Ebd., 130.
Ebd., 115.
123
Mit
dem
„Unterricht
der
Visitatoren“
und
mit
Luthers
erster
„Türkenschrift“ wurde hinsichtlich der Frage eines gemeinsamen
Vorgehens der evangelischen und katholischen Reichsstände eine
positive Antwort impliziert. Schon seit dem 15. Jahrhundert war die
Abwehr der Osmanen als gemeinsame ständische wie kaiserliche
Aufgabe aufgefasst worden,551 auch jetzt wurden die Reichsstände
wieder zur Unterstützung des Reiches aufgefordert, wobei diese Hilfe
mit König Ferdinand von Österreich und Kaiser Karl V. entschiedene
Gegner der Reformation betraf. Sollten die Lutheraner ihre Gegner
unterstützen? Es liegt nahe, dass nun hier ein klärendes Wort Luthers
erforderlich war, das seine Schrift ebenfalls geben konnte und gab. Die
Antwort
war
eindeutig
positiv.
Die
konfessionellen
Differenzen
hinsichtlich der „Türkenfrage“ in das politische Kalkül zu ziehen, kam
Luther nicht in den Sinn. Als Landgraf Philipp an Luther 1529 schrieb,
er möge sich gegen die Unterstützung der Türkenpolitik Karls und
Ferdinands durch die Protestanten aussprechen, solange jene noch
keine politischen Zugeständnisse gegenüber diesen gemacht hätten,
wand sich Luther um eine Stellungnahme.552 Er blieb in einem für die
lutherische Tradition später so folgenreichen Sinne „unpolitisch“. Zur
Politik des späteren „Schmalkaldischen Bundes“, der z.B. auch die
Verständigung mit dem osmanischen de-facto-Vasallen Janos Zápolya
und zu König Franz I. von Frankreich suchte,553 oder zu dem Bündnis
Franz’ mit Suleiman fehlte Luther jeder innerer Zugang. Gewisse
freundliche Avancen, die der Sultan, der die Protestanten in seinem
Machtbereich keineswegs brutal unterdrückte,554 Luther gegenüber
machte, wies dieser weit von sich.555 Luther fasste die Expansion des
Osmanischen Reiches zu keiner Minute als „Chance“ auf, selber den
lutherischen Kräften im Reich Vorteile verschaffen zu können, weil der
Kaiser auf sie angewiesen war. Dass die Reformation auf einer
politischen Betrachtungsebene ihre Entfaltung in gewissem Sinne auch
den Osmanen verdankte, die die Kräfte Kaiser Karls und anderer
551
552
553
554
555
Lutz, Einheit, 246.
WA Br. 5,197ff; 203.
Lutz, Einheit, 259.
Pfister, Reformation, 374; Göllner, Turcia III, 221ff.
Göllner, Turcia III, 175.
124
Reformationsgegner banden, hat Luther ebenfalls nicht so gesehen.
Selbst eine theologische Interpretation dergestalt, dass sich Gott der
Osmanen bediene, um die Reformation indirekt zu schützen, findet sich
nicht. Der Grund dürfte darin liegen, dass Luther bald mit Vehemenz
das apokalyptische Deutungsschema übernehmen sollte. Die radikalen
Reformatoren gingen ihm darin voraus
4.3.
Andere Stimmen
4.3.1.
Apokalyptische Naherwartung bei den Täufern: Hans
Hut, Balthasar Hubmaier und Michael Sattler
Mit Müntzers Tod war der „radikale Flügel“ der Reformation keineswegs
verschwunden. Nun trat dezidiert die (Wieder)-Täuferbewegung an die
Stelle der aufrührerischen Bauern. Nach Müntzers Tod 1525 und dem
gleichzeitigen Scheitern des Bauernkrieges und spätestens seit der
Schlacht von Mohács 1526 musste sich in den Reihen der radikalen
Reformatoren erneut die Frage nach der Funktion der Osmanen im
Zuge der apokalyptischen Erwartungen stellen. Dass die Osmanen nun
auch in den apokalyptischen Vorstellungen ein deutlicheres Profil
bekamen, lässt sich an der Verkündigung des Täufers Hans Hut (14901527) deutlich aufzeigen.
Hut wird als „Müntzers Erbe“556 bezeichnet. Der in Hain/Franken
geborene Hut war zunächst in Bibra bei Meiningen Küster der dortigen
Ritter zu Bibra.557 Gleichzeitig betätigte er sich als wandernder Händler
von Flugschriften. In diesem Zusammenhang kam Hut auch nach
Wittenberg, wo er Gottesdienste und Vorlesungen der Reformatoren
besuchte. 1524 schloss er sich Gegnern der Kindertaufe an, nachdem
ihm die Wittenberger eine schlüssige Begründung der Kindertaufe nach
seiner Meinung schuldig geblieben waren. Seine Stellung bei den
Herren von Bibra musste er mit seiner Familie verlassen. 1525 geriet er
in die Auseinandersetzungen des Bauernkrieges, in denen er Müntzer
kennenlernte. Schon während der entscheidenden Schlacht von
556
557
Vgl. auch den gleichnamigen Titel der maßgeblichen Biographie über Hut von
Seebaß.
Zur Biographie vgl. Bautz, Art.: Hut, Hans, 1213ff. und Seebass, Erbe, 161ff.
125
Mühlhausen verließ Hut den Bauernhaufen, verkündete aber in der
Folgezeit Müntzers apokalyptische Ideen weiter. Obwohl er also der
Täuferbewegung zuzurechnen ist,558 ist er in der Bewahrung der
apokalyptisch-chiliastischen
Verkündigung
Müntzers
dessen
eigentlicher „Erbe“. Hut wirkte in der Folgezeit als Täuferprediger in
Süddeutschland und Österreich, wobei er sich wie Müntzer als
endzeitlicher Prophet, als eine Art neuer Daniel, verstand.559 Dabei
gelang es ihm, nun auch anders als bei Müntzer, die Osmanen in sein
apokalyptisches Konzept profiliert zu integrieren.
Wie Luther, Müntzer und andere sah Hut in den Osmanen eine Strafe
Gottes für die unbußfertige Christenheit. Allerdings nahm Hut markante
Veränderungen in seiner Interpretation der Osmanen und ihrer Funktion
im Hinblick auf das Christentum vor. Nicht um den Schutz der
Reformation
oder
das
Recht
der
Bauern,
sondern
um
die
apokalyptische Bewahrung der Wiedergetauften ging es für ihn. In
Kürze, so weissagte er nach der Schlacht von Mohács, würden die
Osmanen von Ungarn her nach Deutschland einbrechen und alle nicht
Wiedergetauften vernichten, die Wiedergetauften hingegen würden
gerettet.560 Die Aufgabe der Täufer in diesem apokalyptischen Szenario
variiert dann aber in Huts Aussagen. Einmal sollten diese nach Ungarn
oder in bestimmte Reichsstädte fliehen, um dort noch Übriggebliebene
Nicht-Wiedergetaufte zu töten, ein andermal sich in Mühlhausen, dem
Ort der Entscheidungsschlacht im Bauernkrieg, versammeln, um eine
neue Gesellschaftsordnung im chiliastischen Sinne aufzurichten.561
Unklar bleibt auch, ob die Täufer zusammen mit den Osmanen
kämpfen sollten, um das Gericht an den „ungläubigen“ Christen zu
vollziehen, oder ob sie erst danach nun ihrerseits die Türken besiegen
sollten.562 Das Ende der Zeit und der Anbruch des Tausendjährigen
Reiches wurde jedenfalls von Hut für das Jahr 1528 erwartet.563
558
559
560
561
562
563
Vgl. Goertz, Täufer, 86ff.
Seebass, Erbe, 261.
Ebd., 210, 223, 256f. u.ö.
Ebd., 210, 217,370.
Ebd., 218.
Vgl. Bautz, Hut, 1214; Zschoch, Rhegius, 274; Seebass, Erbe, 386ff.
126
Keinesfalls war Hut wegen der apokalyptischen Funktion der Osmanen
bereit, gegen diese im Sinne der Landesverteidigung zu kämpfen. Dies
brachte ihn jedoch in Konflikt mit anderen Täuferführern, besonders
Balthasar Hubmaier (1480/85-1528), der im tschechischen Nikolsburg
unter dem Schutz der Obrigkeit eine Täufergemeinde etabliert hatte.
Hubmaier sah es auch für die Wiedertäufer als Pflicht an, gegen die
Osmanen
mit
der
Obrigkeit
zu
kämpfen.564
Im
Zuge
eines
Religionsgespräches im Nikolsburger Schloß „unterlag“ Hut. Er wurde
festgenommen, konnte aber fliehen. Hut verkündigte weiter seine
Auffassung von der endzeitlichen Funktion der Osmanen, denen man
deshalb nicht wehren dürfe.
Hut hat das Jahr 1528 nicht mehr erlebt. Im August 1527 wurde er
anlässlich
einer
festgenommen,
Versammlung
in
der
von
Täuferführern
Gefangenschaft
durch
in
den
Augsburg
Augsburger
Stadtschreiber und bekannten Humanisten Conrad Peutinger verhört
und auch auf seinen Befehl hin gefoltert. Im Zusammenhang eines von
Hut selbst gelegten oder zumindest veranlassten Gefängnisbrandes
gelang der Ausbruch nicht, statt dessen erstickte Hut. Posthum wurde
ihm der Prozess gemacht, er wurde erhängt und anschließend
verbrannt.565
Der Tod Huts erhöhte unter seinen Anhängern das chiliastische
Fieber.566 Zu dem für den Jahreswechsel 1527/1528 geplanten
Aufstand der Täufer kam es jedoch nicht. Ein Grund dafür war, dass der
von Hut geweissagte Einfall der Osmanen ausblieb.567
Theologisch
liegen
Huts
Auffassungen
nahe
bei
Müntzers
Konzentration auf die „Erwählten“. Hut hat dabei wie Luther auch einen
triadischen Völkerbegriff nutzen können, allerdings verwandte er ihn in
besonderer Bedeutung: Hut kann von „Juden, Türken, haiden“
sprechen. Ihnen billigt er potentiell zu, zur Gemeinde der Auserwählten
gehören zu können. In seinem Gemeinschaftsverständnis wurde die
„Bruderschaft“ der Auserwählten zur zentralen Bezugsgröße. Nach der
564
565
566
567
Seebass, Erbe, 263.
Bautz, 1215.
Zschoch, Rhegius, 275.
Seebass, Erbe, 381.
127
Endschlacht des Jahres 1528 sollte diese Bruderschaft zusammen mit
Christus im Tausendjährigen Reich herrschen.
Ausgehend von der
Bibelstelle Epheser 3,18, wo von der „Breite und Länge und Tiefe und
Höhe“ des Leibes Christi die Rede ist, bezog Hut die „Tiefe“ und „Höhe“
des Leibes Christi auf dessen Menschwerdung und Erhöhung, die
„Länge“ stand für die Leidensgeschichte der auserwählten Gemeinde.
Die „Breite Christi“ bedeutete jedoch für Hut eine in der ganzen
Menschengemeinschaft vorhandene latente Kirche:
„Die brait Christi ist als brait, als die ganze welt ist an allen orten, wo
menschen seind, die nach dem willen Gottes leben one ansehen der
personen im gehorsam wie Christus, es seind Juden, Türken,
haiden.“568
Hut zeigt sich sowohl in seiner apokalyptischen wie dogmatischen
Interpretation der Osmanen als Müntzers Erbe. Mit seiner positiven
Einschätzung der Osmanen, die als Einzelne in einer wohl anonym zu
verstehenden Weise zum „wahren“ Christentum berufen und damit
erwählt sein können, nähert er sich auch den Spiritualisten an.
Gleichzeitig steht diese Strömung in der altkirchlichen Tradition der
Auffassung vom „logos spermatikos“,569 die davon ausgeht, dass der
göttliche Geist auch schon vor Christus in besonderen „Heiden“, etwa
Platon, gewirkt habe. Offensichtlich wird die damals aber eher zeitlich
vorgängige Anschauung nun synchronisiert.
Aufgrund seiner Weigerung gegen die Osmanen zu kämpfen, ist Hut
teilweise fälschlich unter die pazifistisch gesonnenen Täufer gerechnet
worden. Tatsächlich galt der Verzicht auf den Waffengebrauch jedoch
nur aus den genannten Gründen für den Türkenkrieg.570
Andere Täufer lehnten aus prinzipiellen Gründen jeglichen Kriegsdienst
ab. Dies tat etwa der schweizerisch-süddeutsche Täuferführer Michael
Sattler (1490/1500-1527) mit dem Verweis auf das Fünfte Gebot.
Sattler, wahrscheinlich zunächst Prior im Kloster St. Peter im
Schwarzwald,
fand
in
Zürich
zum
Täufertum.
Nachdem
die
Bauernaufstände endgültig gescheitert waren, trug Sattler auf einer
568
569
570
Zit. in ebd., 471.
Hägglund, Geschichte, 22.
Seebass, Erbe, 263.
128
Täufersynode
in
Schleitheim
bei
Schaffhausen
wesentlich
zur
Konsolidierung der Täuferbewegung bei. Revolutionäre Umtriebe lehnte
er völlig ab, ebenso jede Verbindung mit staatlichen Organen. Die
Schleitheimer Artikel, „die Gründungsurkunde des protestantischen
Freikirchentums schlechthin“571, waren wesentlich von Sattler inspiriert,
wenn nicht gar von ihm verfasst.
Darin hieß es u.a.: „das Schwert ist eine Gottesordnung außerhalb der
Vollkommenheit Christi. ... Christus sollte zum König gemacht werden,
ist aber geflohen und hat die Ordnung seines Vaters nicht
berücksichtigt. So sollen wir es auch tun und ihm nachlaufen. .... Die
Weltlichen werden gewappnet mit Stachel und Eisen, die Christen aber
sind gewappnet mit dem Harnisch Gottes, mit Wahrheit, Gerechtigkeit,
Friede, Glaube, Heil und mit dem Wort Gottes.“572
Ein Kampf mit oder gegen die Osmanen war von dieser Grundlage aus
nicht möglich. Kurz nach der Schleitheimer Synode wurde Sattler
verhaftet und ihm der Prozess gemacht. Sattler verteidigte in seiner
Gerichtsverhandlung seine Auffassungen und bekräftigte die ihm
zugeschriebene Äußerung, dass er, gesetzt den Fall, Krieg zu führen
sei erlaubt, lieber gegen die falschen Christen, gemeint waren die
Nicht-Wiedergetauften, als gegen die Osmanen Krieg führen wolle.
Seine Richter bezeichnete er als geistige „Türken“.573 Auf selbst für die
damalige Zeit ungewöhnlich grausame Weise wurde Sattler im Mai
1527 in Rottenburg hingerichtet.574
Zusammenfassend
lässt
sich
zur
Haltung
der
Täufer
in
der
„Türkenfrage“ sagen: Zwar war durch die Rezeption des AntichristMythos durch Luther die apokalyptische Grundstimmung schon
innerhalb der Reformation verankert worden, doch blieb sie zunächst
eher
eine
potentielle
Reformatoren
nicht
Haltung,
aktualisiert
die
durch
wurde.
Luther
Dies
und
betraf
andere
auch
die
Einschätzung der Osmanen in diesem Zusammenhang. Virulent wurde
die apokalyptische Grundstimmung zunächst innerhalb der radikalen
571
572
573
574
Heinz, Art.: Sattler, 1403ff.
Steubing, Bekenntnisse, 265f.
Hege, Art.: Sattler, 33ff.
Heinz, Art.: Sattler, 1406.
129
Reformation. Die hier nicht weiter darzustellenden Zusammenhänge
zwischen sozialer Marginalisierung und der Bereitschaft zur Aufnahme
apokalyptischer Anschauungen werden jedoch deutlich. Von einer
einheitlichen
Haltung
gegenüber
den
Osmanen
innerhalb
der
Reformation und von einer allgegenwärtigen „Türkenfurcht“ kann keine
Rede sein. Mit den Osmanen verbanden sich für die sozial
Benachteiligten auch deutliche Hoffnungen. Das den einfachen
Untertanen gegenüber wiederholte Einschärfen zur Kampfbereitschaft
gegen die Osmanen macht dies deutlich. Die „Türkenfurcht“ war in den
sozial unterprivilegierten Schichten, zu denen auch die Wiedertäufer
meist gehörten, keineswegs die einzige Form der Wahrnehmung der
Türken. Die Täufer konnten mit den Osmanen durchaus Hoffnungen
verbinden. Sie waren weniger Boten des Antichrist, denn Vollstrecker
des Gerichts an den ungläubigen Christen. In der radikalen Reformation
wurden diese Anschauungen auf ein Geschichtsbild hin transzendiert,
dass den politisch ohnmächtigen Wiedertäufern die herrschende
Teilhabe an einem „Tausendjährigen Reich“ ermöglichen sollte. In
diesem Zusammenhang hatten die Osmanen ihre „Rolle“ zu spielen.
Weniger
die
„Türkenfurcht“,
denn
letztlich
eine
differenzierte
„Türkenhoffnung“ bewegte die Täufer.
4.4.
Zwischenbilanz:
Die Schlacht von Mohács und der Kontakt zu Königin Maria von
Ungarn, aber wohl mehr noch die Notwenigkeit zur Ausbildung einer
eigenen politischen Ethik, veranlassten Luther, sich intensiver mit der
„Türkenproblematik“ zu beschäftigen. Hatte Luther sich in den
voraufgehenden Jahren noch eher auf eine kritisierende oppositionelle
Rolle von Papst und Kaiser beschränkt, sah er sich nun dazu
verpflichtet, eigene Vorstellungen im Rahmen einer politischen Ethik zu
entwickeln, da die Reformation in einigen Landeskirchen eine eigene
Sozialgestalt gewann und der Protestantismus zunehmend eine
eigenständige politische Größe wurde. Von der sog. Zwei-Reiche-Lehre
her konnte Luther dann auch einem „Türkenkrieg“ seine eigenständige
Legitimation als weltlicher Angelegenheit zubilligen. Damit trat er auch
130
einer verbreiteten Kritik von vornehmlich altgläubiger Seite an Luthers
vermeintlich „defätistischer“ Haltung in diesen Dingen entgegen. Im
Zentrum seiner Überlegungen, wenn es um die Feinde der Reformation
- und damit für ihn der christlichen Wahrheit - ging, stand aber weiter
das Papsttum. Wenn auch nun die Osmanen mehr und mehr in Luthers
Blickfeld rückten, ist von einem apokalyptischen Bedrohungsszenario
bei ihm nach wie vor keine Rede. Diese Grundhaltung bleibt bis zur
Belagerung Wiens durch die Osmanen 1529 weiter eine Angelegenheit
der
radikal-reformatorischen
Gruppen,
die
ihre
chiliastischen
Auffassungen durch unterschiedliche „Rollenzuweisungen“ an die
Osmanen in diesem endzeitlichen Drama deutlich machten.
5. Kapitel:
Endzeitstimmung 1529-1532
5.1.
Luthers Aufnahme apokalyptischer Vorstellungen
5.1.1.
Die politischen Ereignisse
Mit der Niederlage der Ungarn in der Schlacht von Mohács 1526 war
die „Vormauer des Christentums“ durchbrochen. Ungarn blieb jedoch
zunächst als Pufferstaat gegen das Heilige Römische Reich erhalten.
Es sollte Suleiman einstweilen genügen, die ungarische Puszta als
Aufmarschgebiet gegen Wien politisch botmäßig zu haben.575 Er zog
sich hinter die alte Grenzlinie hinter Belgrad zurück. Trotzdem kam
Ungarn nicht zu einer Ruhepause, da es sofort zu Streitigkeiten um die
Nachfolge des gefallenen Ungarnkönigs Ludwig kam. Im November
1526 wurde der Magnat Janos Zápolya, der ein alter Gegner der
Habsburger war und vergebens um die Hand Marias angehalten
hatte,576 in Stuhlweißenburg mit der Stephanskrone gekrönt, worauf
sich Ferdinand, der Ehemann der Schwester König Ludwigs,
inzwischen auch schon zum böhmischen König gewählt,577 von einer
Minderheit der Stände im Dezember in Preßburg zum Gegenkönig
ausrufen ließ. Das Osmanische Reich erkannte Zápolya als legitimen
575
576
577
Matuz, Osmanische Reich, 119.
Vajda, Austria, 243.
Brandi, Karl, 205.
131
König der Ungarn an,578 so dass eine militärische Auseinandersetzung
zwischen Ferdinand und Zápolya unausweichlich erschien.
Ferdinand suchte dazu abermals die Unterstützung der Reichsstände.
Auf dem Reichstag in Regensburg 1527 wiesen sie dessen
Hilfsanforderungen jedoch zurück. Fischer-Galati stellt fest: „Most
delegates chose to believe the message delivered by Zápolya’s envoys
to the effect that the Hungarian was a competent Christian ruler, able
and willing to defend Hungary against the Turks.“579 Hinzu kam, dass
Ungarn nicht zum Reichsverband gehörte und die Reichsstände also
auch nicht zur Waffenhilfe verpflichtet waren. So konnten die
Auseinandersetzungen um Ungarn formal durchaus als habsburgischosmanischer
Konflikt
Propagierung
einer
wahrgenommen
die
werden.
Christenheit
Mit
allgemein
Hilfe
der
betreffenden
„Türkengefahr“ versuchte Ferdinand die nötige Unterstützung dennoch
zu gewinnen.580
Besonders den lutherischen Reichsfürsten, wie dem hessischen
Landgrafen und dem sächsischen Kurfürsten erschien es jedoch
inopportun, Ferdinand zu unterstützen, so lange sich im Schutze des
Reichstagsabschiedes
von
Speyer
1526
das
Luthertum
relativ
ungehindert verbreiten und stabilisieren ließ.581
Ein baldiger Feldzug Ferdinands gegen Janos I. (Zápolya) war jedoch
erfolgreich,
so
dass
der
von
Ferdinand
nach
Siebenbürgen
abgedrängte Zápolya, der sich bisher gegenüber den Osmanen recht
unabhängig verhalten hatte, um Unterstützung an Suleiman wandte. Es
gelang Ferdinand im November 1527 sogar die Krönung mit der
Stephans-Krone in Stuhlweißenburg zu erhalten.582 Auf Dauer sollte er
jedoch nur die Herrschaft über Westungarn, die heutige Slowakei,
erlangen.583Im Februar 1528 schlossen Suleiman und Zápolya in
Istanbul feierlich einen Bündnisvertrag. 584 Zápolya geriet damit zwar in
Abhängigkeit
578
579
580
581
582
583
584
von
Suleiman,
trotzdem
Fischer-Galati, Imperialsim, 31.
Ebd., 30.
Höfert, Türkengefahr, 107ff.
Fischer-Galati, Imperialsim, 30.
Rhode, Ungarn, 1086.
Dzambo, Zäsur, 35.
Majoros/ Rill, Osmanische Reich, 227.
konnte
er
für
seinen
132
Herrschaftsbereich Siebenbürgen eine weitgehende innere Autonomie
erhalten.585 Ein militärischer Unterstützungsfeldzug Suleimans für
Zápolya war nun zu erwarten.
Zuvor gelangen Zápolya durch die
gewonnene finanzielle Unterstützung Suleimans die ersten Erfolge.586
Erneut sollten unter diesen Vorzeichen die Fragen der Türkenhilfe auf
einem Reichstag beraten werden, der im Februar 1529 in Speyer
eröffnet wurde. Inzwischen hatte sich durch die sog. „Pack’schen
Händel“,
angebliche
Geheimdokumente
über
einen
geplanten
Angriffskrieg Ferdinands mitsamt den katholischen Reichsständen
gegen Hessen und Kursachsen,587 das „innenpolitische“ Klima im Reich
so verschlechtert, dass man 1528 kurz vor einem innerdeutschen Krieg
stand.588 Philipp von Hessen hatte dabei schon Janos Zápolya als
Feind Habsburgs zu seinem Bundesgenossen gewonnen.589 Einen
Präventivkrieg der lutherischen Stände, den Philipp plante, lehnte
Luther allerdings scharf ab.590
Der Reichstag von Speyer 1529 war dann wiederum von der
Verbindung von Türkenhilfe und religiöser Frage geprägt, wobei die
altgläubigen Stände, die nun eine harte kaiserliche Politik und die
endlich konsequente Durchführung des Wormser Edikts von 1521
wollten, die Lage weiter verschärften.591
Der Reichstag verabschiedete dann mit der Mehrheit der altgläubigen
Stände das Reformationsverbot von Worms 1521, wogegen die
lutherischen Reichsstände feierlich „Protestation“ einlegten. In diesem
Zusammenhang erklärten sie, es sei ihnen unmöglich, Ferdinand
militärisch zu unterstützen, wenn ihre eigene Sache in Gefahr sei. Hatte
sich die versprochene Hilfe für Ferdinand gegen Zápolya und Suleiman
schon bisher kaum hinreichend ausgenommen, war sie nun ohne den
Anteil der „Protestanten“, wie die lutherischen Stände jetzt genannt
wurden, völlig unzulänglich. Diese versuchten nun, wesentlich auf
Betreiben des hessischen Landgrafen, auch als einheitliche politische
585
586
587
588
589
590
591
Molnar, Geschichte, 137.
Rhode, Ungarn, 1087.
Hauschild, Kirchen- und Dogmengeschichte II, 113.
Ebd.
Brandi, Karl, 247.
Wolgast, Theologie, 114ff.
Fischer-Galati, Imperialism, 33; vgl. auch Kühn, Reichstag.
133
Kraft aufzutreten, was jedoch angesichts der innerevangelischen
Lehrdifferenzen schwierig war. Philipps Bündnispläne hatten zunächst
keinen Erfolg. U.a. Kursachsen und die Reichsstadt Nürnberg
bekundeten ihre Kaisertreue und lehnten ein politisch-militärisches
Oppositionsbündnis ab.592 Von einem einheitlichen protestantischen
politischen Vorgehen war also zu keiner Stunde zu sprechen. Dazu trug
nicht zuletzt Luther bei, der den politischen Bündnisplänen skeptisch
gegenüber stand und in den Kaiser immer noch Hoffnungen setzte.
Inzwischen hatte Ferdinand auch versucht, die Unterstützung von Papst
Clemens VII. für sich zu erlangen. Diese war prinzipiell zu erwarten,
weil der Papst sich auch bisher wie seine Vorgänger für einen
gemeinsamen Kreuzzug der christlichen Fürsten gegen die Osmanen
eingesetzt hatte,593 er Ungarn besonders nahe stand und das
habsburgische Verhältnis zu ihm nach dem „Sacco di Roma“, der
Plünderung Roms durch habsburgische Truppen 1527, dringend
verbessert werden musste: Schon als Kardinal war Clemens Prokurator
Ungarns gewesen,594 so dass ihm die ungarische Sache besonders
nahe lag. Seine Bemühungen um Unterstützung für das bedrängte
Königreich im Vorfeld der Schlacht von Mohács waren allerdings
erfolglos gewesen. Nach dem „Sacco di Roma“ waren gemeinsame
Kreuzzugspläne zusammen mit den Habsburgern zunächst obsolet
geworden. Clemens hatte statt dessen Kontakt zu Zápolya hergestellt.
Nach Zápolyas Bündnis mit Suleiman wollte er Ferdinand seine
Unterstützung nicht versagen. Da im Frieden von Barcelona 1529
zwischen Karl V. und Clemens letzterer dem Kaiser auch umfangreiche
Finanzmittel zur Verfügung gestellt hatte, waren die Aussichten
zunächst
günstig.
Clemens
exkommunizierte
dem
Willen
der
Habsburger entsprechend Zápolya wegen seines Bündnisses mit
Suleiman.595 Im Sommer desselben Jahres trat sogar der französische
König Franz I. den Kreuzzugsplänen im Frieden von Cambrai bei.596
Doch sollte die Einigung nicht von langer Dauer sein, da Karl sich trotz
592
593
594
595
596
Hauschild, Kirchen- und Dogmengeschichte II, 114.
Pastor Päpste IV/2, 437ff.
Ebd., 437.
Ebd., 446.
Buchanan, Luther, 152; Köhler, Karl, 198f.
134
des Widerspruches von Ferdinand im Streit um die italienische Stadt
Ferrara wieder gegen den Papst stellte.597 Zudem gab es auch eine
habsburgfeindliche Partei im Vatikan, die eine indirekte Unterstützung
der Weltmonarchiepläne Karls durch die „Türkenhilfe“ des Papstes für
inopportun hielt.598 Clemens riet Ferdinand jetzt, Zápolya doch Ungarn
zu überlassen. Sei dieser sich erst einmal seines Besitzes sicher,
werde er auch wieder bereit sein, mit den christlichen Fürsten gegen
die Osmanen zu ziehen.599
Inzwischen
war
Suleiman,
nachdem
Zápolya
mit
ihm
das
Schutzbündnis abgeschlossen hatte, erneut nach Buda herangerückt.
Er eroberte die Stadt von Söldnerheeren Ferdinands am 8. September
1529 zurück. 14 Tage später stand Suleiman vor Wien. Damit war die
osmanische Streitmacht unmittelbar vor dem Zentrum der Hauptmacht
der westlichen Christenheit angelangt. Eine Bedrohung, die in ihrer
Symbolkraft nur der Konstantinopels von 1453 vergleichbar war, und
die die abendländische Christenheit, auch Martin Luther, auf das Tiefste
erschütterte, so dass hier von weit mehr als „einem großen Thema“600
für
die
zeitgenössische
Publizistik
gesprochen
werden
kann.
Offensichtlich schienen sich die apokalyptischen Ängste, die sich seit
Jahrzehnten in zahlreichen Weissagungen und anderen Texten
manifestiert hatten, nun in tatsächliche Ereignisse zu verwandeln.
Doch kam es anders als 1453 nicht zur Eroberung der Stadt. Mehrere
Eroberungsversuche scheiterten, am 16. Oktober 1529 brach Suleiman
die Belagerung ab und zog sich nach Istanbul zurück.
Die „Türkengefahr“ blieb jedoch akut. Wieder sollte ein Reichstag nun
weitreichende Maßnahmen beschließen. Auf dem für 1530 nach
Augsburg einberufenen Reichstag erreichten die protestantischen
Stände den Erfolg, dass zunächst nicht wie geplant über die
„Türkenhilfe“, sondern über die Glaubensfrage verhandelt wurde.601
Karl,
der
auf
die
militärische
Unterstützung
der
Protestanten
angewiesen war, musste diesem Ansinnen nachgeben. Doch blieben
597
598
599
600
601
Pastor, Päste IV/2, 441.
Ebd., 451.
Ebd., 453.
Höfert, Türkenfurcht, 108.
Hauschildt, Kirchen- und Dogmengeschichte II, 117.
135
diese
Verhandlungen,
in
deren
Mittelpunkt
die
dann
zur
protestantischen Bekenntnisschrift gewordenen „Confessio Augustana“
stand, erfolglos, ebenso die Frage der „Türkenhilfe“.602 Das Wormser
Edikt wurde im Reichstagsabschied vom 19.11.1530 wiederum gegen
die protestantischen Stände bekräftigt.
Im Sommer 1532 drohte dann eine neue Offensive der Osmanen.603
Die
protestantischen
Reichsstände,
hatten
sich
mit
einigen
beträchtlichen Ausnahmen zwischenzeitlich im „Schmalkaldischen
Bund“ zu einem eigenen Verteidigungsbündnis gegen den Kaiser bzw.
die altgläubigen Stände zusammengeschlossen. Sie konnten Karl V.
nun auch mit gesammelter militärischer Potenz gegenüber treten. Die
neuerliche
„Türkengefahr“
sollte
zum
zentralen
Regensburger Reichstages von 1532 werden.
604
Thema
des
Während seiner
Sitzungsperiode kam es in Schweinfurt zu Sonderverhandlungen. Hier
berieten die Mitglieder des Schmalkaldischen Bundes mit den
Kurfürsten von Mainz und der Pfalz erneut eine Lösung der religiösen
Frage, die mittlerweile durch die Entstehung eines politischen
Protestantismus auch eine politische Dimension angenommen hatte.
Doch blieben diese Verhandlungen erfolglos. Die protestantischen
Stände verbanden eine Hilfe für einen geplanten Kriegszug Karls gegen
die Osmanen weiterhin mit der Forderung nach einer dauernden
Friedenszusage in religiösen Dingen. Allerdings bestand hier keine
Einigkeit. Die Gesandten des brandenburgischen Markgrafen Georg
zeigten die Bereitschaft ihres Herrn an, seinen Beitrag zur „Türkenhilfe“
zu leisten, ebenso erwies sich die Reichsstadt Nürnberg den
kaiserlichen Wünschen entgegenkommend.605 Der Schmalkaldische
Bund blieb jedoch hart, so dass sich Karl zu Sonderverhandlungen mit
diesem genötigt sah, was aber andererseits den Widerstand der
katholischen Stände weckte.606
Um die Zusicherung der Schmalkaldener zur Unterstützung gegen die
Osmanen zu bekommen, erklärte sich der Kaiser bereit, die in
602
603
604
605
606
Ebd., 119.
Westermann, Türkenhilfe, 71.
Vgl. besonders Westermann, Türkenhilfe.
Ebd., 89.
Ebd., 138ff.
136
Schweinfurt
ergebnislosen
aufzunehmen
und
die
Verhandlungen
erneut
Durchführung
des
in
Nürnberg
Augsburger
Reichstagsabschieds von 1530 auszusetzen. Karl vereinbarte im sog.
„Nürnberger Anstand“ eine Art Stillhalteabkommen in religiösen Fragen
und einen weiteren Schutz des Landfriedens,607 so dass im Sommer
des Jahres 1532 protestantische und katholische Truppen gemeinsam
gegen die Osmanen nach Ungarn zogen.608
Luther, dem „politischen Protestantismus“ eines Landgrafen Philipp
abhold, begrüßte dieses gemeinsame Vorgehen. Dem Kurprinzen
Joachim von Brandenburg, Sohn des streng altgläubigen Kurfürsten
Joachim I. und der vor ihrem Mann zu Luther geflohenen Kurfürstin
Elisabeth,609 der als Hauptmann des sächsischen Wehrkreises selbst
gegen die Osmanen kämpfen wollte, schrieb Luther einen Brief, der
noch einmal seine Reichs- und Kaisertreue deutlich machte. Er hatte
dem jungen Kurprinzen einstmals bei dessen Aufenthalt in Wittenberg
persönlich eine Art „Konfirmandenunterricht“ erteilt.610 Luther bedauerte
zunächst, dass er nicht selber mitkämpfen könne, bekannte aber,
„dass wir doch geistlich mit unserm ernsten Gebet bei dem lieben
Kaiser Karol und den seinen ins Feld ziehen und unter seinem Fähnlein
helfen kämpfen wider den Satan und seine Gelieder.“611
Luther hoffte, dass sich nun der im Buch Daniel (Kapitel 7) verheißene
Engelfürst Michael zur Endschlacht aufmache. Im übrigen forderte er
von den Kämpfern Gottvertrauen statt Zuversicht auf eigene Kraft oder
gar Ruhmsucht.
Karls Feldzug blieb allerdings ergebnislos, da sich Suleiman der
offenen Feldschlacht verweigerte.612 Wohl eher war es Suleiman
überhaupt mit diesem Feldzug nur um eine Machtdemonstration und
eine „Rekognostizierung“613 gegangen. Eine eigentliche strategische
Absicht scheint er nicht verfolgt zu haben.
607
608
609
610
611
612
613
Hauschildt, Kirchen- und Dogmengeschichte II, 123.
Lutz, Einheit, 259f.
Mast, Hohenzollern, 34f.
Ebd., 35.
WA Br 6, 344.
Jansky, Südosteuropa, 1180.
Majoros/Rill, Osmanische Reich, 229.
137
5.1.2.
Die „Heerpredigt wider die Türken“
Luther, der sich bereits mit seiner Schrift „Vom Kriege wider den
Türken“ eindeutig für eine militärische Verteidigung gegen die Osmanen
ausgesprochen hatte, sollte unter dem Eindruck der Belagerung von
Wien 1529 noch stärker in die Debatte eintreten. Als er auf der
Rückreise vom „Marburger Religionsgespräch“ mit den oberdeutschen
und schweizerischen Reformatoren von der Belagerung Wiens erfuhr,
schrieb er zusammen mit Melanchthon an Friedrich Myconius, den
Reformator
Thüringens,614
um
nähere
Informationen
zu
den
Prophezeiungen des Franziskanermönchs Johannes Hilten615 zu
erbitten. Myconius hatte beide in Marburg auf Hilten aufmerksam
gemacht. Hilten war im Jahre 1500 nach fünfundzwanzigjähriger
Kerkerhaft in Eisenach gestorben. Er hatte sich als vehementer Kritiker
des Papsttums betätigt und gleichzeitig von der endzeitlichen Rolle der
Osmanen geweissagt. Daneben prophezeite er auch für das Jahr 1516
einen Mann, der die Kirche erneuern werrde. Es war naheliegend, wenn
Luther diese Voraussage auf sich selbst bezog. Nun schien auch
Hiltens Prophezeiung bezüglich der Osmanen wahr zu werden.
Offensichtlich übersandte Myconius Luther und Melanchthon auch
einen
heute
verschollenen
Daniel-Kommentar
des
Franziskanermönches.616 In ihm hatte er die endgültige Zerstörung des
Papsttums und den Angriff der Osmanen auf das römisch-deutsche
Reich vorausgesagt.617 Melanchthon und Justus Jonas gingen
daraufhin daran, einen Kommentar zu Kapitel 7 des Danielbuches zu
verfassen (s.u.). Luther berechnete in dieser Zeit das Jahr 1540 als
wahrscheinliches
Weltende.618
Die
schon
aufgenommenen
spätmittelalterlichen Geschichtsbilder, besonders die Identifikation des
Papsttums mit dem Antichrist wurden nun dramatisch aktualisiert.
Luther war, wie gerade gesehen, offensichtlich zu der Erkenntnis
gelangt, die Endzeit sei jetzt unmittelbar angebrochen. Hatte er noch in
614
615
616
617
618
Stupperich, Reformation, 238.
Wolff, Hilten, 78ff.
Pfister, Reformation, 362.
Cunningham/ Grell, Horsemen, 45.
Ebd., 171; WA 53, bes. 170.
138
seiner frühen Psalmenvorlesung im Blick auf das Kommen des
Antichrists bzw. überhaupt des Weltendes mit Augustin619 daran
festgehalten, den genauen Zeitpunkt zu wissen, sei den Menschen
nicht gegeben, sah dies nun ganz anders aus. In seiner Studierstube
stand der Spruch an der Wand: „Millesimo Sexcentesimo veniet Turcus
Totam Germaniam devasturus.“620
Es wäre jedoch ein Missverständnis, als sei Luther nun von
Endzeitpanik oder Untergangsfatalismus erfasst worden oder habe er
konsequent an einem bestimmten Datum, etwa dem Jahre 1540,
festgehalten. Trotz der Auffassung vom nahen Ende der Zeiten lebte
und handelte Luther weiter in seinem Sinne zielgerichtet, d.h. in der
Verbreitung der reformatorischen Interpretation des Wortes Gottes.
Das Luther zugeschriebene Wort vom Apfelbäumchen, das er pflanzen
wolle, wenn er wüsste, dass am nächsten Tage die Welt unterginge,621
illustriert diese Haltung aus Endzeiterwartung und konzentriertnüchternem Handeln sehr anschaulich. Die positive Deutung der
apokalyptischen Bilder und Gedanken seiner Zeit hebt dann die damit
verbundenen Ängste faktisch auf, wenn Luther vom „lieben jüngsten
Tag“622 spricht.
Wie Luthers Anschauungen in ihrer unbestreitbaren Nähe zu den
spätmittelalterlichen
apokalyptischen
Vorstellungen
im
Einzelnen
kategorisiert werden können, bleibt dabei eine definitorisch schwer zu
fassende Frage. Möglicherweise kann die Unterscheidung zwischen
einer unterschiedlichen Frömmigkeitsstruktur in den ehemals zum
Römischen
Reich
und
den
davon
nicht
erfassten
Gebieten
Deutschlands weiterhelfen, wobei dann die „North German piety“623
eher offen für apokalyptische Gedankengänge war, als eine mehr
historisch-evolutionär
verfasste
Weltanschauung
im
deutschen
Südwesten. Wohl kaum kann man jedoch die ebenfalls vorgenommene
Unterscheidung von Eliten- und Volkskultur treffen, die die Angst vor
619
620
621
622
623
Selge, Denken, 274f.
Zit. in Vogler, Geschichtsauffassung, 119.
Tatsächlich ist dieses Wort bei Luther nirgends eindeutig belegt, vgl.
Büchmann, Worte, 346.
Dazu, Korsch, Luther, 144; 143ff.
So Barnes, Prophecy, 35f. im Referat der Thesen von Rothkrug, Practices.
139
Hungersnöten und Gespenstern dem „Volk“ zuschreibt, hingegen die
Angst vor dem Teufel, den Ketzern, den „Türken“ usw. einer
theologischen „Elite“.624 Eher ist in Anlehnung an Will-Erich Peuckert
von einer Trennung in eine bäuerlich-mythische und eine eher
bürgerlich-rational städtische Kultur zu sprechen, wobei dann die
apokalyptischen Ängste und Vorstellungen der bäuerlichen Kultur
zuzurechnen sind.625 Während die Bauern „Träger und dankbare Hörer
einer
uralten
„sachlichen,
apokalyptischen
ständischen,
Reichsreformbestrebungen“626
Kaiserhoffnung“
dem
Kaiser
Angelegenheit
sind,
sind
die
entgegenbauenden
eines
städtischen
Bürgertums. Martin Luther als Einwohner der Ackerbürgerstadt
Wittenberg war solchen bäuerlichen Traditionen sicher näher als
Zwingli, Erasmus und Calvin als Einwohner damaliger „Metropolen“ wie
Zürich, Basel oder Genf.
Noch zutreffender bzw. vertiefender und weiterführender als diese Sicht
der Dinge
erscheint m.E. jedoch die auch sonst anzutreffende
Tatsache, dass die apokalyptischen Vorstellungen bei den sozial
Unterprivilegierten eher einen Wurzelboden fanden, als bei den
führenden Schichten. Diese These trifft sich dann mit Peuckerts
Auffassung hinsichtlich des Bauerntums. Die sozial gerade in dieser
Zeit erheblich bedrängten Bauern hatten eher Grund, dass Ende der
Welt zu erwarten als Kaiser Karl V. oder auch nur Erasmus von
Rotterdam. Für sie musste Luther als der große Wundermann
erscheinen, der nun „die grosse Wende“ (Peuckert) brachte. Doch
bleibt festzualten, dass Luther sich selbst nicht so sah. Er hat seine
diesbezüglichen Vorstellungen nicht durch die Vermittlung der Bauern
oder gar der Wiedertäufer entwickelt. Luther kommt deshalb in den
Entwicklungen, die zu den Bauernkriegen führten, selbstverständlich,
wie Peuckert dies eindrucksvoll herausgearbeitet hat, eine zenrale
Stellung zu, doch ist Luther keineswegs selbst ein Produkt dieser
wirtschaftlichen und politischen Konfliktlinien. Seine Haltung erwächst
hinter Klostermauern! Luthers zutiefst ambivalentes Verhältnis zu den
624
625
626
So Vocelka, Ängste, 296, in Anlehnung an Muchembled, Kultur.
In kritischer Auseinandersetzung dazu Heimpel, Mensch, 111ff.
Heimpel, Mensch, 112.
140
Bauern braucht hier nicht näher besprochen werden. Die Übernahme
apokalyptischer Hoffnungen und apokalyptischer Bilder durch Luther
muss also in einer differenzierteren Weise als in der lediglichen
Einwurzlung in einer bäuerlich-mythischen Apokalyptik vor sich
gegangen sein. Dies macht auch das Folgende deutlich:
Entscheidender Schlüssel der Geschichtsdeutung wurde für Luther das
siebte Kapitel des Buches Daniel, in dem der biblische Prophet eine
Traumvision von vier aus dem Meer steigenden phantastischen Tieren
beschreibt, die zugleich als für vier Königreiche stehend qualifiziert
werden. Das vierte Tier markiert mit seinem Ende den Einbruch der
Endzeit. Luthers in der Folgezeit starker Rekurs auf Dan 7 macht
deutlich,
welchen
Wandel
er
in
seinem
Geschichtsverständnis
zwischenzeitlich durchgemacht hatte. Außer das Luther 1521 einmal
die vier Monarchien des Danielbuches, von denen dann eine das
Osmanenreich sein sollte, gegen das päpstliche „antichristliche“ Reich
gestellt hatte, nahm er auf den Propheten Daniel kaum Bezug.627 Noch
1527 hatte er sich ausdrücklich gegen die „newen deutelmeister“628
gewandt, die sich für ihr Geschichtsverständnis auf Daniel beriefen.
Damit war wohl neben den „Schwärmern“ wie Müntzer oder Hoffmann
auch Melanchthon gemeint (s.u.)! Nun schloss sich Luther selbst diesen
„Deutelmeistern“ an. Da das Buch Daniel für die Geschichtsdeutung der
Reformatoren von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist, soll es hier
in seinem historischen Kontext in einem Exkurs dargestellt werden.
Exkurs: Die Bedeutung des biblischen Buches Daniel für die
Geschichtsauffassung der Reformation
Schon seit jeher hat besonders das siebte und das zweite Kapitel des
im 2. vorchristlichen Jahrhundert entstandenen Danielbuches629 zu
großangelegten Geschichtsspekulationen veranlasst. Der Schluss des
Buches scheint geradezu dazu aufzufordern:
627
628
629
WA 7, 729; vgl. Hofmann, Johannes-Apokalypse, 377; vgl. Barnes, Prophecy,
39, der aber auf Luthers frühe und grundsätzliche Zustimmung wert legt.
WA 23, 485.
Lebram, Daniel, 325ff.
141
„Und du, Daniel, verbirg diese Worte und versiegle dies Buch bis auf
die letzte Zeit. Viele werden es dann durchforschen und große
Erkenntnis finden.“ (Dan 12,4)
Die Bedeutung des Buches Daniel für die Geschichtsschreibung vor der
Aufklärung kann schwerlich unterschätzt werden.630 War doch das Ziel
besonders der (christlichen) Weltchronistik, „in dem Getriebe der Welt
den Finger Gottes erfahrbar zu machen.“631 Dies schien besonders das
rechte Verständnis dieser Schrift leisten zu können. Das Buch Daniel
war das erste vollständig kommentierte Buch der Christenheit.632 Durch
den Kirchenvater Hieronymus wurde dann ein Kommentar geschaffen,
der epochal wirken sollte. Hieronymus wehrte sich dabei gegen die
Angriffe des Porphyrius, der das Buch Daniel lediglich als eine
Sammlung von vaticiniae ex eventu ansah. Der HieronymusKommentar wurde Bestandteil der mittelalterlichen glossa ordinaria. Der
Daniel-Kommentar des Nikolaus von Lyra wurde schließlich als Teil
seiner Postilla literalis 1471/1472 als erster biblischer Kommentar
gedruckt.633
Die Grundaussagen des Buches Daniel, seine lange fortwährenden
Bilder - teilweise wurden sie wie der „Koloss auf tönernen Füßen“
sprichwörtlich - sind mythischer Natur:
„Das
Buch
bietet
keine
systematisch
geschlossene
Geschichtsphilosophie, weist keinen in sich kohärenten göttlichen
Geschichtsplan auf. Warum die Geschichte in ihren einzelnen Stationen
so oder nicht anders verläuft, bleibt göttliches Geheimnis ..., das nur an
hervorragenden Brennpunkten durch Offenbarung transparent gemacht
wird für den menschlichen Geist“634.
Konkret lässt sich jedoch feststellen, dass das Buch Daniel zu den
besonders
stark
apokalyptisch
geprägten
Texten
des
Alten
Testamentes zählt. Es bezieht sich in seinen Endzeitvisionen auf das
Reich
Alexanders
des
Grossen
und
die
nachfolgenden
Diadochenstaaten. Die Rahmenerzählung bildet eine Szene am Hofe
630
631
632
633
634
Koch, Universalgeschichte, 11ff.
Goez, Danielrezeption, 193.
Ebd., 184.
Ebd., 185.
Koch, Universalgeschichte, 34.
142
des neubabylonischen Königs Nebukadnezar II. (604-562 v. Chr.),
dessen Traum von der für vier Weltreiche stehenden großen Statue
(Dan 2), sowie der Traum des am Hofe Nebukadnezars gefangenen
jüdischen Sehers Daniel von den vier Tieren (Dan 7), die ebenfalls vier
Weltreiche bedeuten, traditionelle Motive aufnimmt. Der Gedanke von
der Abfolge von Weltreichen findet sich bereits in einer nur
bruchstückhaft überlieferten Weltchronik des griechischen Arztes
Ktesias, der am Hofes des persischen Königs Artaxerxes II. wirkte. Auf
diese Chronik sollte sich später ausdrücklich Melanchthon beziehen.635
Ktesias bildete eine Reihe aus den Weltreichen Assyrien - Medien Persien, die dann zu einer feststehenden Konstruktion in der römischen
Tradition wurde. Wahrscheinlich repräsentiert dieses „NachfolgeSchema“ in diesem wie in anderen Fällen den Versuch, historische
Legitimität für die eigene Herrschaft zu konstruieren.636 Der WeltreichGedanke wurde offensichtlich aber auch zur Zeit der Diadochenreiche
„in den Kreisen der orientalischen Untertanenbevölkerung im Zuge
eines
wachsenden
Widerstandes
gegen
die
makedonische
Fremdherrschaft“637 aufgenommen und im jüdischen Kontext in die
historisch unzutreffende Reihe Neubabylonier - Meder - Perser Makedonier umgewandelt. Insgesamt lässt sich feststellen, dass die
dem Danielbuch zugrunde liegende Tradition schon bearbeitet ist.638
Die Deutung von den vier Weltreichen läuft bei Daniel auf die von 175 167 v. Chr. währende Herrschaft des Seulekiden Antiochus IV. hinaus,
der durch seine Verfolgung der jerusalmer jüdischen Gemeinde für eine
besondere - als endzeitlich empfundene - Bedrängnis gesorgt hatte.639
Man wird die geschichtliche Wirkung des Danielbuches im späten
Mittelalter bzw. der frühen Neuzeit wie gesagt nicht hoch genug
einschätzen können. Dies ist nicht zuletzt deshalb so, weil Jesus von
Nazareth sich selbst allein den Titel „Menschensohn“, der im
Danielbuch eine prominente Rolle spielt (Dan 7,13), zugesprochen hat.
Unter dem Eindruck der biblischen Weissagungen aber stand die
635
636
637
638
639
Häusler, Weltchronnstik, 163
Koch, Universalgeschichte, 22f.
Noth, Geschichtsverständnis, 41.
Vgl. zum Sachkomplex Noth, Geschichtsverständnis.
Vgl. ebd.
143
mittelalterliche Geschichtsschreibung in besonderer Weise. Herbert
Grundmann hat darauf hingewiesen, dass es immer wieder in der
historischen Analyse der Besinnung darauf bedürfe, dass
„alle geschichtlichen Leistungen und Gebilde jener Zeit unter den
gleichen geistigen Voraussetzungen gestanden haben ... . Wenn alle
zeitgenössischen Betrachter und Chronisten und nicht nur die zünftigen
Theologen die Geschichte unter den Gesichtspunkten einer bestimmten
göttlich verbürgten Ordnung der Zeiten betrachten und beurteilen, so
können nicht gleichzeitig die Menschen, die Geschichte machten, ganz
unbekümmert um dieses offenbarte und überlieferte Wissen um die
Zeitenordnung gehandelt haben“640.
Grundmann spricht geradezu vom „beherrschenden Einfluss dieser
Endzeiterwartung auf die Geschichtsbetrachtung und auf das ganze
Kulturbewusstsein dieser Zeiten.“641 Dass die Welt auf eine Ende
hinaus lief, wie es die Bibel vorhergesagt hatte, war überall unstrittig,
die Frage war nur, wann dieses Ende kam! Dass dem Buch Daniel mit
seinem
weltgeschichtlichen
Ablaufschema
deshalb
besondere
Aufmerksamkeit geschenkt wurde, liegt nahe.
Schon Tertullian und später Hieronymus hatten das vierte Weltreich auf
das Römische Reich bezogen.642 Im Mittelalter war die Danielsvision
von den vier Weltreichen dann dahingehend abgewandelt worden, dass
nun
das
Römische
Reich,
dass
nach
dem
Untergang
des
Weströmischen Reiches im Zuge der „translatio imperii“643 auf das
Heilige Römische Reich Deutscher Nation bezogen wurde, das vierte
und letzte Weltreich sei. Ihm schien nach 2 Thess 2,7 - einen Vers aus
einem Abschnitt, in dem der Apostel Paulus über die endzeitliche
Erscheinung des Antichrist spricht - die Aufgabe zuzufallen, das
Kommen
desselben
aufzuhalten
(Kat´echon).
Das
Ende
des
Römischen Reiches würde gleichzeitig das Ende der Welt bedeuten.
Luther und Melanchthon waren in ihren diesbezüglichen Anschauungen
schwankend. Melanchthon blieb der These insgesamt gegenüber
640
641
642
643
Grundmann, Grundzüge, 419.
Ebd., 423.
Ebd., 424; Goez, Danielrezeption, 190.
Vgl. Goez, Translatio.
144
zurückhaltend und konnte sowohl die Auffassung vom historischen
Ende des Römischen Reiches wie die vom Weiterbestehen dieser
vierten Monarchie bis zum Ende der Zeiten vertreten.644 Ähnliches gilt
für Luther. In seiner Adelsschrift bestritt der die translatio imperii
radikal.645 Die Gründe dafür waren aber vorwiegend anti-päpstlicher
Natur, konnte doch für Luther eine „antichristliche“ Institution solch
einen
Rechtsakt
nicht
geleistet
haben.646
Trotz
gelegentlich
abweichender Äußerungen scheint Luther im Großen und Ganzen an
der Fortdauer der „Vierten Monarchie“ festgehalten zu haben.647
Trotzdem muss allerdings gesehen werden, dass es nicht eine
sozusagen kanonische Geschichtsanschauung gab, sondern mehrere
Vorstellungen miteinander konkurrierten (etwa die augustinische
Auffassung von den sechs Weltzeitaltern oder die Joachim von Fiore
zugeschriebene Vision vom „Dritten Reich“) bzw. sich in differenzierter
Weise beide miteinander verbanden. Dies wird im Folgenden deutlich
werden. Es ist ferner auch darauf hinzuweisen, dass die Wirkkraft
mittelalterlicher Geschichtssauffassungen im 16. Jahrhundert im
Schwinden begriffen war. Schon die Scholastik hatte, vollends nach
Aufnahme der aristotelischen Gedanken über die unbegrenzte Dauer
der Welt, eine Abkehr von geschichtsphilosophischen Spekulationen
vollzogen. Thomas von Aquin lehnte jegliche an biblischen Mustern
orientierte Geschichtsphilosophie ab.648 Die Humanisten nahmen
hingegen zum Teil die Weltalterlehre differenziert wieder auf, legten
aber das Ende der Welt in ferne Zeiten. Bei Pierre Bodin hingegen
finden sich dergleichen Berechnungen überhaupt nicht mehr. Emanuele
Tremellio und Francois de Jon sollten die Danielweissagungen dann
wieder allein auf die Zeit des Antiochus Epiphanes IV. beziehen.649
Doch gerade die Reformatoren haben, anders als die zeitgenössischen
644
645
646
647
648
649
Vgl. Seifert, Rückzug, bes. 28ff.
WA 6, 463.
So Neddemeyer, Mittelalter, 66, vgl. auch Seifert, Rückzug, 39, der die
Bewertung der rechtlichen Seite der translatio durch Luther für diesen als
weniger bedeutsam ansieht.
Darin einig Neddermeyer, Mittelalter, 65ff; Seifert, Rückzug, 39.
Grundmann, Grundzüge, 425.
Miegge, Regnum, 242.
145
katholischen Theologen,650 mit ihrer Anknüpfung an den besonders in
Deutschland starken Geschichtssymbolismus die Repristination der an
Daniel orientierten Geschichtsbetrachtung noch einmal nachhaltig
gefördert und zugleich aktualisiert. Als Beispiel dafür sind das
„Chronicon Carionis“ 1532/1558ff. von Philipp Melanchthon (s.u.) und
die „brief but highly regarded world chronicle“651 „De quatuor summis
imperiis“ von Johannes Sleidanus 1556 zu nennen.
Es sei an dieser Stelle auch noch kurz darauf hingewiesen, dass die
Rezeption der danielischen Weissagungen selbst in den Islam Eingang
fand. In der islamischen Tradition war ebenfalls der Traum des
Nebukadnezar von den vier Weltreichen bekannt. Der die Statue
zerstörende Stein wurde hier auf den Propheten Mohammed bezogen,
der alle Weltreiche zerstört habe.652
Als Luther seine „Heerpredigt wider den Türken“653 fertiggestellt hatte,
waren die Türken bereits vor Wien abgezogen. Luther hielt jedoch an
dem Plan einer Veröffentlichung fest, da er der festen Überzeugung
war, trotz dieses Aufschubs, würden durch den Kampf gegen die
Osmanen die Endzeitereignisse ihren Lauf nehmen. Die Heerpredigt
kam zwar nicht mehr für eine Schlacht um Wien „zum Einsatz“, sie
konnte nun aber jederzeit aktualisiert werden. Der Druck der ersten
Ausgabe steht nicht fest, doch wohl schon wenig später,654 am 3.
Januar 1530, kam die zweite Auflage der Schrift heraus.
Dass
Luther
nun
ganz
im
Bann
der
apokalyptischen
Wirklichkeitsdeutung stand, wird sofort deutlich:
„Daniel sagt, das noch dem Türcken flugs das gericht und die helle
folgen sol, Und man sihets auch zwar wol an der that, wie grewlich er
die leut, kind, weiber, jung und allt erwürget, spiesset, zu hacket, die
650
651
652
653
654
Leppin, Antichrist, 45f. mit eindrucksvollen Zahlen aus der diesbezüglichen
Flugschriftenliteratur.
Barnes, Prophecy, 108.
Bobzin, Danielrezeption, 169.
WA 30 II,160ff.
Ebd., 151.
146
yhm doch nichts gethan, und so handelt, als sey er der zornige teuffel
selbs leibhafftig.“655
Luther
entwarf
dann
eine
ausführliche
geschichtssymbolistische
Auslegung des 7. Kapitels des Danielbuches,656 die auf die bekannte
Auffassung hinauslief, dass es sich bei dem geweissagten vierten
Reich (Dan 7,7ff.) um das römische Kaisertum handle, welches im
Heiligen Römischen Reich seine Fortsetzung finde. Auf dieses sollte –
in deutlicher Ablehnung chiliastischer Gedanken657 – das Reich Gottes
folgen.
Damit
stabilisierte
Luther
indirekt
auch
erheblich
den
Reichsgedanken, ganz anders als Zwingli, der das Reich als „DrecksImperium“ titulierte (s.u.), und die radikalen Reformatoren, die den
Niedergang des Reiches herbeisehnten bzw. mit herbeiführen wollten.
Für alle Hörer Luthers war mit dieser Heerpredigt auch klar: Die
lutherische
Reformation
war
„reichstreu“
und
keineswegs
der
Totengräber des Sacrum Imperium:
„Das erst das keiserthum zu Assyrien und Babilonien, Das ander das
keiserthum der Persen und Meden, Das dritte das keiserthum des
großen Alexanders und der Kriechen, das vierde das Römische
keiserthum, welchs das grössest, gewaltigst und grausamest, dazu
auch das letzte ist auf erden, wie hie Daniel klerlich zeigt, das nach
dem Vierden thier oder keiserthum das gereicht folget und kein ander
keyserthum mehr, sondern das reich der heiligen das ewig ist.“658
Deshalb könne es, so folgerte Luther, an dieser Stelle kein
osmanisches Imperium geben, dass das Römische Kaisertum ablösen
werde, „odder Daniel würde zum lügener, das ist nicht müglich.“659
Vielmehr seien nun die Osmanen „der letzte und ergeste zorn des
teuffels widder Christum“.660 Danach handelte es sich bei ihnen um das
in Dan 7,8 geweissagte „kleine Horn“.
„So wir nun das selbige kleine Horn den Mahometen und sein reich hie
gewislich haben. So können wir nun leichtlich und klerlich aus Daniel
655
656
657
658
659
660
Ebd., 162.
Ebd., 164ff.
Vgl. dazu Hofmann, Johannes-Apokalypse, 451, 491ff.
WA 30 II, 166.
Ebd., 166.
Ebd., 162.
147
lernen, Wofür der Türcke und das Mahometisch reich zu halten sey,
Und auch, was er für Gotte gelte.“661
Die Augen dieses Hornes waren für Luther der „Alkoran“, eine Schrift,
die für ihn nicht göttlich sein konnte, weil in ihr nur stehe, „was
menschliche witze und vernunfft wol leiden kann“662, das Maul des
Hornes waren für Luther die vermeintlichen Lästerreden Mohammeds,
der sich über Christus stelle.
Den Kriegern gegen die Osmanen musste also klar sein: Sie befanden
sich nicht in irgendeiner Schlacht, sondern im weltgeschichtlichen
Endkampf. Denn – so Luther – „können wir sicherlich weissagen, dass
der jüngst tag müsse für der thür sein.“663 Auch wenn, wovon Luther
hier ausging, dieser Kampf verloren gehe, so sei doch Hoffnung, denn
das Ende der Zeiten und damit Christi Wiederkunft nahe.
Luther greift dann auch auf das 20. Kapitel der Johannes-Apokaypse
zurück, wo von Gog und Magog die Rede ist, und bezieht diese
Gestalten ebenfalls auf die Osmanen. An deren endzeitlicher Rolle
besteht also kein Zweifel.
„Der Türke“ „wird also ein ende nehmen, wenn er am aller mechtigsten
und auffs aller best gerüst ist, ... . Eben wenn das selb stündlin kommen
wird, das er so vile noch thun will und trotzig und gyrig sein wird, da
wird Christus mit schwefel und feur uber yhn komen ...“664.
Zunächst aber muss, damit das Ende der Zeiten anbrechen kann, das
Osmanische Reich seine „Rolle“ spielen.
„Denn hie hörestu das dem Mahomet odder Türcken der sieg widder
die Christen und heiligen verkündigt ist, wie denn bisher geschen ist
...“665.
Luthers Schrift versucht hier – unter ausdrücklichem Verweis auf seine
erste Türkenschrift666 - vergeblich eine paradoxe Spannung zwischen
geistlicher und weltlicher
Betrachtungsweise auszuhalten.
Unter
christlichem Vorzeichen bleibt es verboten zu kämpfen – „Christus will
661
662
663
664
665
666
Ebd., 168.
Ebd., 168
Ebd., 171.
Ebd., 172.
Ebd., 173.
Ebd., 173.
148
schwach sein und leiden auff erden mit den seinen“667 – aber trotzdem
wird der Christ in seiner Eigenschaft als Kriegsmann zum Kampf
ermuntert: Im Bett stirbt er schließlich allein mit seinen Sünden an „drus
(Beulenpest) oder pestilenz“, gibt Luther zu bedenken, hier „sterben viel
heiligen mit dir, und hast Göttliche, heilige, liebliche gesellschaften, die
mit dir farn“.668 Dass dieser weltliche Krieg nun doch wieder stark
geistlich legitimiert wird, lässt sich nur schwer bestreiten, zumal betont
wird, der christliche Kriegsmann könne beim Töten eines osmanischen
Soldaten keine „unschuldig blut“669 vergießen, weil die Osmanen „von
Gott als seine Feinde zum tode und zur hellen verurteilet sind“,670 so
dass der Soldat sich in der Gewissheit wiegen könne, nur das göttliche
Gericht zu
streiten?“
671
vollstrecken.
„Wie köntestu
ehrlicher
und
löblicher
So sollen denn die Soldaten „mit freunden die faust regen
und gestrost drein schlahen, morden, rauben und schaden thun, so vile
sie ymer mügen.“672
Trotz dieser geistlichen Legitimation des Krieges gegen die Osmanen
handelt es sich bei Luther hier keineswegs um Kreuzzugspropaganda.
Weder sollen christliche Besitztümer zurückerobert noch die Kirche
geschützt
werden.
Eher
muß
von
einem
umfassenderen
„Glaubenskrieg“673 in dem Sinne gesprochen werden, dass es sich hier
für Luther in radikaler Weise um eine Auseinandersetzung innerhalb
einer geradezu apokalyptischen Dimension handelte. Deshalb hielt
Luther auch hier an seiner Aussage fest, es gehe nicht an, in dem
üblichen Sinne des Kreuzzuges in christlichem Namen gegen die
Osmanen zu streiten, vielmehr solle sich ein Christ „zuvor sich bekeren
und sein leben bessern und also mit furcht und ernstlichem gebet zu
solchem trost und trotz kommen“674, um dann für die apokalyptische
Schlacht gerüstet zu sein.
667
668
669
670
671
672
673
674
Ebd., 173.
Ebd., 176.
Ebd., 174.
Ebd.
Ebd.
Ebd., 179.
Engel, Mächte-Europa, 274ff.
WA 30 II, 180.
149
Ausdrücklich bekennt sich Luther nun zum Buch Daniel und der
deutenden Auslegung, die er noch 1527 ablehnte:
„Wird Daniels schrifft veracht, so ligt nichts dran, ob unser schrifft auch
verlacht werde, Wir haben den text, der uns nicht leugt noch treugt“.675
In einem zweiten Teil seiner „Heerpredigt“ ging es Luther nach einer
eher geschichtstheologischen Sicht der Dinge dann ausdrücklich
darum,
„die faust zu vermanen“676. Ausdrücklich bestätigte er der
Obrigkeit das Recht, Steuern zu erheben und in den Kriegsdienst zu
berufen. Es sei, so meinte er, nun endlich an der Zeit, tatkräftig Buße zu
tun. Ausdrücklich nannte er Junker, Handwerker und Bauern in diesem
Zusammenhang.
Wieder
wird
seine
mit
der
Türkenfrage
zusammenhängende Sozialkritik deutlich:
„... unser Jungkern vom Adel haben bisher gnug gebrasset,
geschlemmet, gerennet, gestolzirt, gebranget mit alzu überflüssiger
kost und kleidung ... . Desselbigen gleichen auch die bürger und
kauffleut mit ubermessigem schmuck und unzelichem wucher und geitz
lange gnug yhre lust verbüsset ... . Also auch der handwercks und
baurs man, haben so lange her mit ubersetzten, schinden, stelen,
rauben, neben anderen grossen mutwillen und ungehorsam eine
redliche busse wol verdienet.“677
Gerade letztere seien durch das Evangelium (in der Auslegung Luthers)
„frey und reich“678 aber offensichtlich nicht frömmer geworden. Deutlich
wird hier der von den radikalen reformatoren unterschiedene Ansatz in
der
Sozialkritik.
Luther
steht
nicht
auf
der
Seite
der
sozial
Marginalisierten. Alle Stände haben nach seiner Meinung versagt. Das
apokalyptische Motiv trit in diesem Zusammenhang dann auch wieder
etwas zurück, wenn mehr von der bedeutung der Buße die Rede ist. So
hat er sich auch nie eindeutig auf einen ganz bestimmten Termin
festgelegt, wie etwa Hans Hut dies tat. Deshalb kann Luther auch
Fragen
nachgehen,
die
im
Rahmen
einer
apokalyptischen
Naherwartung fast unnötig erscheinen: Luther gibt den Christen
675
676
677
678
Ebd., 178.
Ebd., 181.
Ebd.
Ebd.
150
Ratschläge, wie sie sich, wenn sie in osmanische Gefangenschaft
geraten, verhalten sollen. Luthers eigentümliche Mischung aus
geradezu brennender Endzeitstimmung und sachlichem Tun – es sei
nochmals an sein Wort vom Apfelbäumchen erinnert – unterscheidet
ihn trotz nun sachlicher Nähe in der Geschichtsdeutung immer noch
weit vom radikalen Flügel der Reformation.
Eventuell gefangengenommenen Christen schärfte Luther ein, am
christlichen Glauben - er hatte wohl Nachrichten von Konversionen
erhalten - festzuhalten. Trotz aller auch von Luther hier konzedierten
Frömmigkeit und den zivilen Leistungen der Muslime betonte er, dass
die Osmanen die Göttlichkeit Jesu Christi bestritten und deshalb ihr
Glaube für ihn teuflischen Ursprunges sei. Sollte ein Christ in seinem
Glauben unsicher werden, empfahl er, so drücke er „mit dem daumen
auff einen finger und dencke an Jhesum Christum, den sie nicht haben
noch achten“679.
Die wiederholten Mahnungen sprechen dafür, dass Konversionen zum
Islam durchaus vorkamen, was um so schwerer wog, als auch Luther
an keiner Stelle davon spricht, dass die Osmanen aktiv Mission
betrieben, sondern auch er ihnen religiöse Toleranz durchaus
konzedierte.680 Historisch lassen sich diese Konversionen in der Tat
belegen.
Abgesehen
von
zahlreichen
Einzelkonversionen
sind
besonders Serben und Kroaten zum Islam übergetreten, die heutigen
Bosnier, sowie ungefähr die Hälfte der Albaner.681
Auch das offensichtlich Luther als vorbildlich bekannte soziale Leben
der Osmanen, solle den gefangenen Christen nicht als Grund zum
Glaubensabfall dienen, fügte er hinzu. Tatsächlich war nicht nur die
Macht und Pracht im Zeitalter Suleimans beeindruckend, sondern auch
die Politik in den besetzten Gebieten. Wo vorhandene Strukturen keine
Gefahr für die Osmanen darstellten, konnten sie bleiben wie sie vor der
Eroberung waren. Die Osmanenherrscher verzichteten weitgehend auf
die islamische Mission,682 insofern waren sie eher am Ruhm - um in
679
680
681
682
Ebd., 187.
Ebd., 195.
Majoros/Rill, Osmanische Reich, 51.
Jansky, Südosteuropa, 1171.
151
europäischen Begriffen zu sprechen - des „Hauses Osman“ interessiert,
als am Djihad. Schon dem Begründer der Dynastie war dabei
vorhergesagt
worden,
aufsteigen.683
Doch
geschichtstheologische
seine
Familie
verzichteten
Deutung
die
ihrer
werde
zur
Sultane
Weltherrschaft
nicht
Herrschaft,684
auf
eine
zumal
seit
Suleimans Vater Selim I. die sunnitische Orthodoxie verstärkt die
osmanische Herrschaft prägte.685 Seit 1517 waren die Osmanen nach
der Niederlage der ägyptischen Mamelucken-Dynastie auch die
Schutzherren von Mekka und trugen den Kalifen-Titel, wodurch sie die
höchsten geistige Würde der Sunniten erlangten.686 Man nahm dann
sogar auch Anleihe bei der Vorstellung vom Weltkaiser der Endzeit und
bezog diese nun wiederum auf sich selbst!687 So konnte dann doch
gegenüber den „Ungläubigen“ vom „Heiligen Krieg“ gesprochen werden
und so war das Bewusstsein, gegen die „ungläubigen Hunde“688 - die
Christen - einen Glaubenskampf zu kämpfen auch bei den einfachen
Soldaten durchaus vorhanden689 Da aber die Osmanen im Falle der
politischen Herrschaft für Luther als legitime Obrigkeit anzusehen
waren, wurde ihnen - außer in religiösen Dingen oder für den Fall des
Kampfes gegen Christen - Gehorsam befohlen.690 Darin war die
lutherische Obrigkeitslehre dann auch der osmanischen Herrschaft
kompatibel.
„Du must dencken, das du deine freyheit verloren hast und eigen
worden bsit, daraus du dich selbs on willen und wissen deines Herrn
nicht on sunde und gehorsam wircken kanst, Denn du raubest und
stilest damit deinem herrn deinen leib, welchen er gekaufft hat oder
sonst zu sich bracht, ...“691
683
684
685
686
687
688
689
690
691
Ebd., 1172.
Vgl. ebd., 1172.
Engel, Mächte-Europa, 276.
Schilling, Mächte, 48.
Fleischer, Lawgiver, 169.
Majoros/ Rill, Osmanisches Reich, 47f.
Zit. in. Gragger, Kulturdenkmäler, 3.
WA 30, 192ff.
Ebd.
152
Durch treues und korrektes Verhalten könne es, so gab Luther zu
bedenken, sogar durch das Vorbild der Christen dazu kommen, dass
sich Osmanen zum christlichen Glauben bekehren würden.692
Gegen Ende seiner Ausführungen kam dann auch wieder der
eigentliche Gegner in den Blick: das Papsttum. Dieser wurde abermals
als „viel erger“693 als die Osmanen bezeichnet, da er auch über die
Seelen herrschen wolle:
„Summa, Wo wir hin komen, da ist der rechte wirt, der teuffel, da heym,
Komen wir zum Türcken, so faren wir zum teuffel, Bleiben wir unter
dem Bapst, so fallen wir ynn die helle, Eitel teuffel auff beiden seiten
und allenthalben.“694
In diesem endzeitlichen Kampf sollte sich der Christ, durch Luther
geistlich zugerüstet, bewähren. War Luther nun auch deutlich zu einer
apokalyptischen Interpretation der Osmanen gelangt und damit der
wahrscheinlich
bisher
wirkmächtigste
Vertreter
dieses
Modells
geworden, trennt ihn doch von manchen radikalen Reformatoren,
besonders Müntzer, ein maßgeblicher Unterschied: Chiliastische
Erwartungen, den Glauben an eine tausendjährige Herrschaft Christi
mit seinen Auserwählten, teilte er nicht.695 Die Reformation war für
Luther vielmehr ein letzter Akt in der Geschichte vor dem Ende der Zeit,
dass nun
allerdings schneller, als er es selbst einst angenommen
hatte, gekommen war. Dieses Ende jedoch heraufzuführen, lag für
Luther, anders als für die radikalen Reformatoren, allein in Gottes
Hand.
5.1.3.
Weitere
apokalyptisch
geprägte
literarische
Äußerungen Luthers
Luthers apokalyptische Grundhaltung blieb in der Folgezeit zunächst
noch bestehen, bevor sie sich im Laufe der nächsten Jahre
692
693
694
695
Ebd., 195.
Ebd., 195.
Ebd., 195f.
Nigg, Reich, 215ff.
153
abschwächte, ohne jedoch ganz verloren zu gehen.696 Auf der Veste
Coburg, von der aus Luther den Ausgang des für die Reformation so
bedeutenden Augsburger Reichstages von 1530697 „totis animi
affectibus in Turcam et Mahometum“698 abwartete, entschloss er sich,
bei der Übersetzung des Alten Testamentes ins Deutsche von seinem
bisherigen Plan abzugehen, da das Ende der Welt möglicherweise
schneller komme, als die Bibelübersetzung fertig sei. Er ließ die Arbeit
am Jeremiabuch liegen und übersetzte nun aus dem Propheten
Ezechiel Kapitel 38 und 39, jene Abschnitte, die vom Fürsten Gog aus
Magog berichten, den Luther ebenfalls auf die Osmanen bezog699 und
das als „Das XXXVIII. und XXXIX. Capitel Hesechiel vom Gog“ separat
im Druck erschien. Der Inhalt soll hier kurz skizziert werden:
Nach einer etwas gewundenen Interpretation der Namen Gog und
Magog, sie stehen Luther für die Kollektivgestalt des „Türken“, wird
noch auf die Herkunft der Osmanen eingegangen. Sie sind für Luther
wie ihre „Vettern“, die Tataren, die „roten Juden“, die aus dem Lande
kommen, „da der grosse Cam [Dshingis-Khan] könig ist.“700 Wie nun
Luther die Osmanen mit Gog parallelisiert, so versteht er unter Israel
die Christenheit, die Berge Israels, wo die Endschlacht stattfinden soll,
sind ihm nun „die Christlichen Kirchen hin und wider“701.
Luthers Verständnis des Evangeliums, von ihm als Wiederentdeckung
des rechten Wortes Gottes verstanden, ist für ihn deutlich ein Ereignis
der Endzeit, doch gibt es - dass ist wichtig festzuhalten – keinen
unabwendbaren gleichsam tragödienartigen Ablauf der Ereignisse.
Wenn die Christen ihrer Sünden gedenken, das Evangelium ehren Luther meint damit selbstverständlich, dass dies in der Anerkennung
seiner reformatorischen Lehre geschehen soll - dann besteht auch die
Möglichkeit, den Türken zu besiegen: „Denn unser Vermessenheit wird
696
697
698
699
700
701
Vgl. dazu etwa im Gebrauch des „Gog-Magog“-Motivs Hofmann, JohannesApokalypse, 573ff.
Vgl. Lutz, Einheit, 233ff.
Vgl. WA Br. 5, 285.
Vgl. Mau, Stellung, 656f.
WA 30 II, 224.
Ebd., 224.
154
den Gog nicht schlahen, Gottes Zorn sey denn zuvor weg durch unser
buße und gebet.“702
1530 kam dann auch eine Übersetzung des Danielbuches heraus, in
der ebenso wie in der „Heerpredigt“ das kleine Horn aus Dan 7 mit
Mohammed bzw. den Osmanen identifiziert wurde.703 Als Luther 1545
eine Neuausgabe besorgte, blieb diese Stelle unverändert.704 Im
Widmungsbrief zur Daniel-Übersetzung, der an Kurfürst Johann
Friedrich von Sachsen gerichtet war, wurde Luther hinsichtlich seiner
apokalyptischen Anschauungen abermals deutlich:
„Die welt leufft und eilet so trefflich seer zu yhrem ende, das mir offt
starcke gedancken einfallen, als sollte der Jungste tag, ehe daher
brechen, denn wir die heiligen schrifft gar aus verdeudschen kundten,
Denn das ist gewis, das wir ynn der heiligen schrifft nichts mehr
zeitlichs dings zu gewarten haben, Es ist alles aus und erfullet, das
Romisch reich ist am ende, der Türck auffs hohest komen, die pracht
des Bapsttumbs fellet dahin und knacket die welt an allen enden fast,
als wolt sie schier brechen und fallen“705.
Ebenfalls kam Luther 1530 in seiner erneuerten Vorrede auf die
Übersetzung der Offenbarung des Johannes auf die Osmanen zu
sprechen. Hatte er in seinem ersten Vorwort von 1522 noch lapidar die
Visionen des Buches als mehr oder weniger unapostolisch in Frage
gestellt und die rhetorische Frage geäußert, ob man die Schrift der
Johannes-Apokalyse nicht besser in die Elbe werfen solle,706 wurde
diese Form der Prophetie nun ausdrücklich anerkannt. War also 1522
die Verbindung von biblischer Apokalyptik und Osmanen noch die
Angelegenheit der schwärmerischen „Zwickauer Propheten“, die
Wittenberg während Luthers Abwesenheit auf der Wartburg in Atem
gehalten hatten, sollte Luther jetzt - allerdings ohne Bezugnahme auf
den Chiliasmus – diese Konnotation nun selbst vornehmen. In der um
ein Vielfaches angewachsenen Vorrede deutete Luther nun die
702
703
704
705
706
Ebd., 226.
WA DB 11 II, 12.
Ebd., 13.
WA DB 11 II, 381.
WA DB 7, 404.
155
apokalyptische Vision und kam bei Gog und Magog (Kap. 20) wiederum
auf die Osmanen zu sprechen:
„In des nu solchs alles gehet, kompt jm XX. Capitel auch her zu der
letzte tranck, Gog und Magog, der Turcke, die roten Juden, welche der
satan, so vor tausent iaren gefangen gewest ist, und nach tausent iaren
widder los worden, bringet, Aber sie sollen mit jm auch bald jnn den
feurigen pful. ... Auff die Türcken folget nu flugs das jüngste gericht, am
ende dieses Capitels, wie Daniel VII auch zeiget.“707
In die Druck-Ausgabe ließ Luther nun ein Bild einfügen, das die
Belagerung Wiens durch die Osmanen darstellt und hier durch die
Schriftzüge „Gog“ und „Magog“ ganz offensichtlich den apokalyptischen
Hintergrund der Ereignisse betonte.708
Ingesamt nahm aber mit der zurückgehenden militärisch-politischen
Gefahr Luthers direkte literarische Arbeit zur „Türkenfrage“ ab. Dass
hieß aber nicht, dass Luther seine Endzeitbefürchtungen gänzlich
aufgab: Aus den Tischreden ist ein interesanter Bericht aus dem
November 1532 überliefert, der zudem zeigt, dass die „translationes“Vorstellung bei Luther nicht unverrückbar auf das Römisch-Deutsche
Kaiserreich bezogen war. Statt dessen wurde nun, das vierte Reich
eher mit dem sacerdotium, denn dem imperium verbunden:
„... So steht denn das Ende der Welt vor der Tür; ... Herrgott, ists nun
dahin kommen, daß wir unter dem Türken sein sollen? ... Am Tage
darauf sprach er abermals viel vom Ende der Welt, weil er viel
schreckliche Träume vom Jüngsten Tag in diesem halben Jahr gehabt
hätte: Denn es ist unmöglich, daß er nicht weit sei, denn die Schrift ist
da. ... Daniel hat das Alter der welt bestimmt, durch die vier reiche der
babylonier. Perser, Griechen, Römer. Sie sind zu Ende. Der Papst hat
das römische reich aufrecht erhalten, ... der fällt nun auch dahin. ... Es
kann noch ein paar Jahre dauern, aber unsere Nachkommen, und auch
wir selbst werden erleben, dass die Schrift erfüllt wird.“709
707
708
709
WA DB 7, 416.
Siehe Titelbild; vgl. Hofmann, Johannes-Apokalypse, 449.
WA TR II, 2756 ; hier zitiert nach Buchwald, Tischreden, 142.
156
1538 bezog Luther sich ausdrücklich auf das apokryphe IV. Buch Esra,
um festzustellen: „Es geht auff die neige.“710 1540 geht Luther dann
davon aus, dass in diesem Jahr der letzte Wein gereift sei, es ist der
„valete trunck“711. Man wird diese Äußerungen, die ja recht lose in einer
Fülle der überlieferten Zeugnisse Luthers stehen, nicht überbewerten
dürfen,
doch
bleibt
auch
deutlich,
dass
Luther
von
seinen
apokalyptischen Anschauungen nicht mehr grundsätzlich Abstand
genommen hat. Bestärken sollte ihn darin sein enger Freund Philipp
Melanchthon.
5.2.
Endzeitstimmung
und
Historiographie:
Philipp
Melanchthon
5.2.1.
Das „Siebend Capitel Danielis“ von Justus Jonas und
Philipp Melanchthon
Melanchthons
wechselnde
Stellungnahmen
zur
Frage
eines
Türkenkrieges sind in dieser Arbeit schon dargestellt worden: seine
Kaiser Maximilian in den Mund gelegte Rede von 1518, fast aus der
gleichen Zeit stammend der erste Entwurf seiner Rhetorik, das
Eintreten für Luther 1523 und schließlich das „Türkenkapitel“ aus dem
Unterricht der Visitatoren.712
Spätestens ab 1527 ist jedoch Melanchthons Haltung in der Frage
eines Türkenkrieges eindeutig. Er fordert ihn. Heftig beklagt er die
Uneinigkeit der deutschen Fürsten sowie ihre mangelnde Kampfkraft,
die es nicht zu einem gezielten Vorgehen gegen die Türken kommen
lasse. In einer Widmungsvorrede an Kardinal Albrecht von Mainz zur
1527 wieder aufgelegten Schrift „De bello Rhodio libri tres“ von Jakob
Fontanus bezog Melanchthon nun auch ausdrücklich die Vision aus
Daniel 7 auf die Türken.713 Der Hermeneut der danielischen
710
711
712
713
Peuckert, Wende II, 546.
Ebd., 547.
Zum Thema „Melanchthon und der Islam“ gibt es bisher erst eine
Monographie, eine stärker unter systematischen Gesichtspunkten angelegte
Dissertation von Manfred Köhler mit dem genannten Titel von 1938. Köhler
beurteilt Melanchthon zu einseitig von den Maßstäben einer
religionsgeschichtlichen Anschauung her, so dass Gerhard Ritters negatives
Urteil, Köhler treffe die „banale Feststellung“, Melanchthons Blickwinkel sei zu
verengt gewesen (Ritter, Köhler, 186) in der Tat zutrifft.
Volz, Beiträge, 97.
157
Weissagungen für Luther ist also mit großer Wahrscheinlichkeit Philipp
Melanchthon gewesen. Der Prophet Daniel sollte für diesen zu einem
wichtigen exegetischen und theologischen Thema werden.
1529 verfasste Melanchthon einen Daniel-Kommentar, den er mit einer
Vorrede an Erzherzog Ferdinand versah und in dem dieser - durch
Melanchthon gleichsam über den apokalyptischen Hintergrund des
durch den Propheten Daniel vorausgesagten Türkengeschehens
aufgeklärt - zu tatkräftigen Maßnahmen aufgefordert wurde. Die
Vorrede erschien während des Reichstages von Speyer 1529, während
Melanchthons Daniel-Kommentar erst 1543 gedruckt wurde. Eine
Tatsache, die Johannes Cochlaeus zu der spöttischen Bemerkung
veranlasste, hier handle es sich um eine „praefatio sine libro“.714 Warum
der Kommentar 1529 nicht in den Druck kam, ist nicht deutlich.
Möglicherweise war er ohne anti-päpstliche Polemik gehalten, sonst
konnte Melanchthon ja kaum auf Aufmerksamkeit bei Ferdinand hoffen.
Diese Auslegung unterschied ihn dann allerdings von Luthers
„antichristlicher“
Papstkritik,
so
dass
Melanchthon
von
einer
Veröffentlichung vielleicht deshalb Abstand nahm.715 Offensichtlich
vertrat Melanchthon damals im Unterschied zu Luther statt dessen die
Auffassung, bei dem „kleinen Horn“ in Dan 7,8 handle es sich um die
Osmanen und nicht wie Luther damals noch annahm, das Papsttum.716
Melanchthons Vorrede ist ein weiteres Zeichen seiner unpolitischen
Haltung, da er ja mit diesem Vorwort Ferdinand gegen die zögernden
lutherischen
Reichsfürsten
faktisch
in
die
Hände
arbeitete.
Möglicherweise „gab sich Melanchthon in seiner Weltfremdheit der
trügerischen Hoffnung hin, auf diesen Herrscher irgendwie einwirken
und ihn gegenüber den Evangelischen günstiger stimmen zu
können.“717 Dem Vorwort schloss sich ein Gedicht „Germania ad regem
Ferdinandum“
714
715
716
717
an,
das
Ebd., 102.
Vgl. Seifert, Rückzug, 13.
Ebd., 13.
Volz, Beiträge, 95f.
anonym
von
Melanchthons
späterem
158
Schwiegersohn Georg Sabinus718 verfasst war und von den „Türken“
ausdrücklich als „de gente fera“719 der Danielsweissagung sprach.
Massiv sollte Melanchthon jedoch erst im Zusammenhang der
Belagerung Wiens und der Kenntnisnahme des Werkes von Johannes
Hilten zusammen mit Luther an der apokalyptischen Endzeitstimmung
partizipieren. Besonders das im Folgende darzustellende Werk gibt
davon beredtes Zeugnis, „Das sibend Capitel Danielis von des Türcken
Gottes lesterung und schrecklicher mörderey mit unterricht Justi Jonae“
gezählt.720 Wie der Titel angibt, ist das Werk unter dem Namen des
Wittenberger Reformators Justus Jonas (1493-1555) erschienen, doch
wird die Gemeinschaftsarbeit Jonas’ mit Melanchthon aus einem Brief
Luthers deutlich bezeugt721 und auch Jonas‘ Vorwort selbst
macht
deutlich, dass er keineswegs für sich selbst in Anspruch nehmen will,
hier eine Eigenarbeit vorgelegt zu haben. Melanchthons Zurückhaltung
in der Nennung seiner Herausgeberschaft wird noch an anderen Stellen
begegnen.
Die Schrift ist Landgraf Philipp von Hessen gewidmet, der mittlerweile ja
zum politischen Führer des Protestantismus geworden war. Philipp
möge sich, so wird er von den Verfassern aufgefordert, „die Prophecey
Danielis fleyssig zuhertzen füren“722, so werde Gott ihn als Obrigkeit
erhalten, bis dieser selbst im Endgericht seine Feinde besiegen werde.
Deutlich wird in dieser Schrift das Bestreben, nun sozusagen gesicherte
Erkenntnis über die Herkunft der Osmanen als den apokalyptischen
Feinden zu bieten und gleichzeitig von der Bibel aus die Zukunft deuten
zu können, d.h., auch um den eigenen Standort in Geschehen der
Geschichte zu wissen.
Im ersten Teil deuten Jonas/Melanchthon das Osmanische Reich in der
üblichen Weise als Frucht des Zornes Gottes über die unbußfertigen
Menschen, der deshalb „dem Sathan nach gibet den Türcken
718
719
720
721
722
Ebd., 98.
CR I ,1058.
So schon Hartfelder, Melanchthon, 589, ausführlich dazu Köhler,
Melanchthon, 20f.
Vgl. CR 1, CLX
Jonas, Capitel, AI.
159
zuerwecken“723. Deshalb handelt es sich hier auch nicht um ein
beliebiges Königreich, wie es so etwas schon immer in der Geschichte
gegeben hat, sondern, um eine schlechthin apokalyptische Größe, wie
„auch nie auff erden kain grösser zurrüttung aller ehre und zucht kain
schrecklicher wüst yhe unter der Sonnen gehört oder gesehen/ denn
das gantz Türckische wesen und leben ist daheym und in kriegen.“724
Dass mit der Reformation nach deren Selbstverständnis noch einmal
das unverfälschte Wort Gottes erschienen ist, bleibt die letzte
Gelegenheit, „das sich etliche doch besserten“725. So ist der Türke auch
für Jonas und Melanchthon die „vater ruthe“.726 Deutlich wird deshalb,
dass es sich bei den Osmanen, anders als bei den bisherigen
weltgeschichtlich bedeutsamen Mächten, nicht um eine von Gott positiv
verordnete Herrschaft handelt, die in sich, selbst wenn sie heidnisch ist,
doch einen positiven Wert – eben den der Einsetzung durch Gott - hat.
Aus der Bibel, besonders eben dem siebten Kapitel des Danielbuches,
geht für Jonas und Melanchthon hervor, um was es sich in dem
Osmanischen Reich wirklich handelt: Es ist das geweissagte „kleine
Horn“, eine apokalyptische Macht, die Gott weniger angeordnet, denn
zu- bzw. losgelassen hat.
Nach dieser Einleitung wird der Text des siebten Kapitels des DanielBuches geboten und im Anschluss ausgelegt. Die Verfasser lassen
dabei deutlich die Absicht erkennen, historisch zu argumentieren, wobei
natürlich die Symbolistik des Danielbuches als endzeitliche Prophetie
ebenfalls zur Sprache kommt. Das von Daniel geweissagte „vierte
Reich“ ist für Jonas/Melanchthon das historische weströmische Reich.
Der Gedanke der translatio imperii wird in diesem Zusammenhang
ausdrücklich nicht aufgenommen:
„Wie wol noch der titel bey den Teutschen vorhanden/ so ist doch die
selbige Römische Monarchey vorlang gefallen/ wie wir dann sehen/ das
723
724
725
726
Ebd., AII
Ebd., AIII.
Ebd., A IV.
Ebd., B I.
160
ein Roemischer Keyser kain gewalt in Africa/ oder in Asia/ oder in
Engelandt/ Franckreich/ Hungern/ oder Hispanien hat ...“.727
Bemerkenswert
ist
in
diesem
Zusammenhang,
dass
in
den
Ausführungen das Heilige Römische Reich Deutscher Nation und
besonders Kaiser Karl V., der ja eben auch König von Spanien war,
keine Rolle spielen. Stattdessen ist nun das „Teutsche“ Reich eines von
den zehn Nachfolgereichen, die angeblich aus dem Römischen Reich
entstanden sind, da ja in Dan 7,7 von zehn Hörnern, die Rede ist, die
aus dem Tier erwachsen. Das später entstehende „kleine Horn“, das
andere Hörner vernichtet, steht Melanchthon und Jonas für das
„Mahometisch reich“,728 das mit den Sarazenen seinen Anfang
genommen habe und nun in den Osmanen seine Fortsetzung finde.
Dieses ist aber aus dem oben Gesagten heraus verständlicherweise
keine innergeschichtliche „fünfte“ Monarchie mehr, sondern eben eine
endzeitliche Macht. Es folgt nun eine kurzer Abriss der Geschichte des
„Mahometischen Reiches“. Dabei wird die Entstehung des als
Sarazenischen Reiches verstandenen Islam zur Zeit des oströmischen
Kaisers Herakleios I. - des Begründers des sog. Mittelbyzantinischen
Reiches - und dessen Auseinandersetzung mit dem persischen
Sassanidenreich korrekt wiedergegeben. Ebenfalls trifft der Hinweis zu,
dass zu dieser Zeit die Christenheit durch religiös-dogmatische
Streitigkeiten innerlich zerrissen war, wenn auch der Verweis auf den
zeitlich
vorher
liegenden
„arianischen
Streit“
so
nicht
zutrifft.
Mohammed, so wird nun gesagt, habe angesichts dessen „guten raum
bei dem pofel“729 gefunden, indem er eine Lehre entwickelt habe, die
„menschlicher vernunfft beheglich“730 gewesen sei. Anstelle der
christlichen Glaubensartikel habe er eine mehr auf Äußerlichkeiten
angelegte Religion geschaffen. Alles das sei eine Folge des
„Erzketzers“ Arius, der mit seiner Leugnung der gleichen göttlichen
Wesenhaftigkeit Christi „das spil angefange[n]“731 habe. Mohammed
habe zunächst Erfolg bei den Arabern gehabt, die sich „Agarener“ nach
727
728
729
730
731
Ebd., B IV.
Ebd., C
Ebd., C I.
Ebd., C II.
Ebd., CII.
161
Hagar, der Magd Abrahams und der Mutter seines Sohnes Ismael,
nannten. Mohammed habe aber dann dafür gesorgt, dass man sich als
„Sarrazenen“ bezeichne, eben nach Sarah, der Frau Abrahams, um
nicht von einer Magd abzustammen.
Auch die Herkunft der Türken aus den zentralasiatischen Turkvölkern
wird richtig wiedergegeben. Die turkmenischen Wanderungswellen
werden so verstanden, dass „auß Türcken und Sarrazcenen in Asia ein
volck und ein leyb ward und doch die herrschaft auff die Türcken
kam“732, obwohl diese letztlich „eyngesetzte pfropffreyser“733 seien.
Tatsächlich sind die Turkmenen sowohl im safawidischen Iran wie auch
in
der
osmanischen
Türkei
ein
Volk
gewesen,
das
erst
im
Zusammenhang seiner Eroberungsbewegung den islamischen Glauben
angenommen hat. Dass mit dem Bild des Pfropfreises ein Vergleich,
den der Apostel Paulus im Blick auf das Verhältnis zwischen Juden und
Christen gebraucht (Röm 11,17), aufgenommen wird, macht deutlich,
dass es sich bei den Osmanen um die anti-christliche Variante dieses
Pfropfreiser-Vergleiches handelt.
Die Herkunft der zu den turkmenischen Stämmen gehörenden Türken
aus Zentralasien wird dann zugleich mit den biblischen Weissagungen
von Gog aus Magog, der aus dem Norden kommen werde,
parallelisiert, wobei im Text nun auch die von Pseudo-Methodius734 her
bekannte Bezeichnung „rote Juden“ aufkommt, die wiederum eine
Abstammung vom biblischen Esau, dem Stammvater der Edomiter
(Gen 36), - wobei hebräisch „edom“ „rot“ bedeutet – belegen soll.
In einem weiteren Kapitel wird dann der Vergleich zwischen dem
Osmanischen Reich und anderen Mächten gezogen. Deutlich ist aus
den vorherigen Ausführungen dabei für die Verfasser, dass es sich
beim Osmanischen Reich, wie schon ausgeführt, keineswegs um eine
göttliche Anordnung im Sinne des hier in den Zusammenhängen
politischer Ethik maßgeblichen 13. Kapitel des Römerbriefes handelt,
wo in den Versen 1-7 alle weltliche Obrigkeit als von Gott eingesetzt
732
733
734
Ebd., C III.
Ebd., C III.
Vgl. Ebermann, Türkenfurcht, 9.
162
beschrieben wird. Die Herkunft der Osmanen ist für Melanchthon und
Jonas vielmehr diabolischer Natur.
Aus der Bibel geht aber nun hervor, wie es mit den Osmanen
weitergeht,
eine
Einsicht,
die
„billich
alle
Christglaubigen
erschrecken“735 soll: Die „Türken“ werden die Heiligen, also die
gläubigen Christen, besiegen und „verstören“736. Diese Herrschaft wird
aber eben besonders qualifiziert sein. Offensichtlich war auch
Melanchthon und Jonas bewußt, dass in der Bevölkerung manche
Menschen annahmen, das Osmanische Reich werde eine Herrschaft
wie jede andere sein und man könne auch als Christ unter osmanischer
Oberherrschaft
erträglich
leben.
Dass
es
tatsächlich
auch
zu
Konversionen zum Islam kam, stand den Verfassern ebenfalls vor
Augen. Nun wird ein Schreckensgemälde gezeichnet, dass ganz
offensichtlich die Absicht hat, diesen „defätistischen“ Tendenzen
entgegen zu wirken. Aus dem siebten Kapitel des Danielbuches geht ja
für die beiden hervor, dass es sich im Osmanischen Reich um eine
endzeitliche Katastrophe handelt.
Trotz dieser apokalyptischen Grundeinstellung, die hier als immerhin
schon fast tausend Jahre währendes Geschehen begriffen wird, sind
sich Melanchthon und Jonas auch über die konkreten Hintergründe des
Daniel-Buches im Klaren, wenn ausgeführt wird, „Daniel sagt hie unten
von Antiocho Epiphane“737. Aber die historischen Vorgänge um den
Seulekidenherrscher Antiochos IV. Epiphanes sind gleichsam nur eine
antizipatorische Vorwegnahme der endzeitlichen Ereignisse. Daniel „will
doch durch Antichu anzeyge auch die ihenige herrschaft die sich vor
dem jüngsten tag zu den letzten zeyten wird wider das Euangelium
setzten“.738
Schwer tun sich Melanchthon und Jonas bei der Einordnung der
osmanischen Herrschaftspraxis. Ausdrücklich wird darauf hingewiesen,
„man habe in etlichen büchlin/ so die ihenigen geschribe/ welche in der
735
736
737
738
Jonas, Capitel, D III.
Ebd., D III.
Ebd., D IV.
Ebd., D IV.
163
Türckey gewonet groß und vil lobes gelesen“739, aber diese bürgerliche
Ordnung wird nun ebenfalls wieder wie ähnlich bei Luther als „eytel
kinder werck“740 herabgewürdigt. Wenn auch bei den „Heiden“
gelegentlich ungerechte Könige vorgekommen seinen, so sei dies doch
keine Infragestellung der Tatsache gewesen, dass es sich um eine von
Gott gesetzte Ordnung handle, denn “des reichs ordnung ist an ihr
selbs recht.“741 Dies aber gilt nun gerade nicht für die Osmanen. Der
Grund dafür sind ihre Kriege, die als Angriffskriege gleichzeitig
ungerechte Kriege für Melanchthon und Jonas sind. Deshalb kann auch
die nicht zu bestreitende innere Ordnung der Osmanen keine gute
Ordnung sein:
„Dann es muß yhe auch unter mördern und strassen raubern ein fride
seyn/ sie wurden es sonst nicht lang treyben.“742
Die Folgen osmanischer Überfälle werden nun mit offensichtlich als
abschreckend verstandener Wirkung anschaulich beschrieben, wo bei
auch das Klischee vom Menschen zerhackenden „Türken“ gebraucht
wird.743 Weiter wird dann der Vorwurf aufgenommen, die Osmanen
hätten keinen richtigen Ehestand, sondern betrieben Vielweiberei.744
Ein Hinweis, der immer wieder in der anti-türkischen Polemik verwandt
wird, um die vermeintlich gute bürgerliche Ordnung als letztliche
Unordnung zu entlarven.
So kommt es nun in einem letzten Kapitel zur „Vermanung“745: Die
Osmanen sind „das letzte toben und grimmiger Zorn des teuffels vor
dem jüngsten tag“746. Deshalb ist das Osmanische Reich auch nicht
einfach mit militärischen Machtmitteln zu überwinden, sondern letztlich
nur durch das Gebet. Dazu wird nun jedermann aufgerufen.747 Dieses
Gebet soll dabei ein Gebet für die heimische Obrigkeit sein.
739
740
741
742
743
744
745
746
747
Ebd., D IV.
Ebd., D IV.
Ebd., D IV.
Ebd., D IV.
Ebd., E I.
Ebd., E II.
Ebd., E IIIff.
Ebd., E III.
Ebd., E IVf.
164
„Dann wie wol die Türcken unchristen seyn/ so were doch das selbig
nicht ursach gnug sie zubekriegen/ so sie friden hielten/ und nicht
offentlich gewalt un frevel ubten“748.
Dieser als apokalyptisch verstandene Verteidigungskampf ist nicht
aussichtslos, denn „der Türck muß endlich zu trymern gehen“749.
Deutlich scheint aus der Lektüre des Danielbuches zu sein, dass nicht
alle Reiche vom „Türken“ erobert werden. Und so halten es
Melanchthon und Jonas „für gewiß/ daß er nicht Herr in Teutschlandt
werde.“750 Hier besteht ein Unterschied zu Luther, der durchaus mit
einer osmanischen Herrschaft im Reich rechnen konnte. Stattdessen
nehmen Melanchthon und Jonas nun doch wieder die translatio-Theorie
auf, wenn es nun heißt, nach dem oströmischen Thron könne nicht
auch noch der weströmische erobert werden, „so doch die schryfft
anzeygt/ es werde ein stueck des Roemischen reichs/ biß an jüngsten
tag bleyben.“751 Letztlich sei der Kaiser doch bisher in allen
Auseinandersetzungen
„endlich
oblegen/
wird
auch
fürter
wol
bleyben.“752 Dies musste Philipp von Hessen auch als indirekte
Warnung verstehen, sich als Führer des politischen Protestantismus
gegen den Kaiser zu stellen. Nochmals machen die lutherischen
Reformatoren deutlich, dass sie reichstreu sein wollen.
Alles, was in der Gegenwart geschieht, sind apokalyptische Ereignisse.
Dies wird ebenfalls aus dem Danielbuch deutlich, und so sind die
Verfasser sicher, dass der Jüngste Tag „vor der thür ist.“753 Ebenso wie
der Papst sind die Osmanen auch hier Zeichen der Endzeit, ferner
auch die „mancherley rotten und teuffelhaftige geyster“754, womit
offensichtlich die Wiedertäufer gemeint sind, und schließlich die
„Epicureer“755, die als Vertreter des Atheismus angesehen werden.
Jonas
und
Melanchthon,
die
durchaus
das
dogmatische
Interpretationsmodell für die Osmanen verwenden können, wenn sie
748
749
750
751
752
753
754
755
Ebd., F If.
Ebd., F II.
Ebd., F III.
Ebd., F IV.
Ebd., F IV.
Ebd., F IV.
Ebd., F IV.
Ebd., F IV.
165
den Islam vom Arianismus her ableiten, argumentieren jedoch letztlich
eindeutig im Rahmen des apokalyptischen Modells.
5.2.2.
Das „Chronicon Carionis“ von Johannes Carion und
Philipp Melanchthon
Herausragend und nachhaltig wirkte Melanchthon dann durch die
Herausgabe der Weltchronik des Johannes Carion im Jahre 1532. Hier
wird wie wohl in kaum einer anderen Schrift deutlich, dass Melanchthon
zumindest ebenso sehr wie Theologe auch Historiker ist. Dies hat bei
ihm seine tiefen Wurzeln. Melanchthon hat die historische Wissenschaft
immer außerordentlich hoch geschätzt. Schon als Student in Tübingen
half er bei der Herausgabe der Weltchronik des Johannes Nauclerus
mit. Als Wissenschaftstheoretiker ergänzte er die traditionellen sieben
artes liberales um Poesie und Geschichte.756 Die traditionelle
humanistische Hochschätzung der Geschichte als „magistra vita“ hat
durch ihn auch Eingang in die Reformation gefunden.
Wahrscheinlich eine Art „studentische Hilfskraft“ des jungen Magisters
Melanchthon in Tübingen war dann Johannes Carion aus Bietigheim,
der später – auch in der Liebe zur Astrologie Melanchthon verbunden –
Hofastronom, Berater und Gesellschafter des Kurfürsten Joachim I. von
Brandenburg und Erzieher des Kurprinzen wurde.757
Nachdem Carion Melanchthon immer wieder einmal Horoskope
geschickt
hatte,
sandte
er
ihm
1531
den
Entwurf
einer
Geschichtschronik zu, die Melanchthon noch einmal überarbeiten sollte.
Dabei wird man festhalten müssen, dass Melanchthons Anteil an dieser
Arbeit weit über eine redaktionelle Tätigkeit hinaus geht. Faktisch ist er,
dem Carion offensichtlich nur eine lose Zettelsammlung geschickt hatte,
die zudem, wie es Melanchthons Mitarbeiter Joachim Camerarius
süffisant formulierte, voll „suevica simplicitas“758 gewesen sei, als der
756
757
758
Scheible, Melanchthon, 251.
Ebd., 252ff.
Zit. in: Stupperich, Praeceptor, 73; vgl. auch zum Gesamtzusammenhang.
166
eigentliche Schöpfer der Weltchronik anzusehen.759 Melanchthons
Schwiegersohn Caspar Peucer betonte die geistige Urheberschaft
Melanchthons ebenfalls.760
Von der deutschen Fassung der Weltchronik von 1532 erschien 1537
eine lateinische Übersetzung durch Hermann Bonnus, die Melanchthon
jedoch nicht gefiel, so dass er eine eigene Fassung (bis zu Karl dem
Großen reichend) 1558/1560 anfertigte,761 die dann Caspar Peucer
(s.u.) fortführte.
Eine
entscheidende
Zuspitzung
erfuhren
die
chronistischen
Bemerkungen Carions dadurch, dass Melanchthon ihnen dass sog.
Vaticinium Eliae voranstellte, dass seinerseits als Grundmodell dem
Talmud entnommen war. Melanchthon kannte als Verwandter des
Hebraisten und Talmudübersetzers Johannes Reuchlin diese Stelle.
Dort hieß es:
„Sex millia annorum mundi, et postea Destructio. Duo millia Inane, Duo
millia Lex, Duo millia Christus. Et si quid es his deerit, deerit propter
peccata nostra, quae magna et innunmera sunt. Das ist: Sechs tausent
Jahr der welt bestimpt, darnach der untergang. 2000 Jahr wüst oder vor
dem Gesatz, 2000 Jahr unter dem Gesetz, 2000 Jahr unter Christo.
Und so an diesen Jahren etwas zeit fehlen wirdt, wird sie umb unser
grossen und unzehlichen Sünden willen fehlen.“762
Dieser
Verknüpfungsschritt
war
keinesfalls
unmotiviert,
sondern
geschah wohl deshalb, weil Carion aufgrund seiner Berechnungen zu
Ergebnissen gekommen waren, die mit diesem Vaticinium relativ
übereinstimmten. So fiel für Carion das Geburtsjahr Christi in das Jahr
3963 nach Erschaffung der Welt, eine Zahl die dem Jahr 4000 sehr
nahe kam. Insofern bedeuteten wohl gerade Carions Berechnungen
„gleichsam eine externe chronometrische Bestätigung der ansonsten in
ihrer Autorität durch nichtbiblisch-frühjüdische Herkunft zweifelhaften
Eliaweissagung.“763
759
760
761
762
763
Eine eingehende Analyse der Melanchthon und Carion zuzuschreibenden
Anteile hat Gottfried Münch vorgenommen.
Chronicon 1573, Vorrede C IIII
Stupperich, unbekannte, 76.
Zit. ebd., 63.
Ebd., 133.
167
Carion/Melanchthon bieten nun hinsichtlich der Osmanen in der
Chronik die damals bekannten vermeintlichen und teilweise auch
wirklich zutreffenden Tatsachen aus
der islamisch-osmanischen
Geschichte: Von einer Emanzipation der arabischen Söldner von den
Oströmern, weil diese ihnen den Sold verweigerten, ist die Rede, von
der „Usurpation“ des Namens „Sarazenen“ durch den „Agarener“
Mohammed, der Herkunft der Türken aus Zentralasien, Bezugnahmen
auf Pseudo-Methodius, die Herleitung des Wortes „rote Juden“
entweder vom biblischen Volk „Edom“ oder von der Charakterisierung
der Osmanen als „Bluthunde“764 usw. Deutlich wird der stark
apokalyptische
Hintergrund
des
Werkes,
wenn
es
über
das
Osmanische Reich heißt:
„Und dieses Reich ist furnehmlich der Antichrist/ Und hat uns Gott
durch die Propheten ernstlich davor gewarnet/ Daniel malets also.“765
Markant ist jedoch, dass sich das Werk jeglicher anti-päpstlicher
Polemik streng enthält. Hier unterscheidet es sich damit auch stark von
Luther, der bezüglich der Verbindung von Antichrist-Prädikation und
Osmanenreich wesentlich zurückhaltender war und statt dessen ja hier
das Papsttum „bevorzugte“. Melanchthons unpolemische Stellung zum
Papsttum dürfte darin begründet sein, dass die Arbeit dem Arbeitgeber
Carions,
dem
streng
katholischen
Kurfürsten
Joachim
I.
von
Brandenburg, gewidmet war, der zwar um den apokalyptischgottgewollten Charakter des Kampfes gegen die Osmanen wissen
sollte, aber nicht in seiner Papst- und Kaisertreue verletzt werden
konnte. Zugleich wird in diesem Werk ganz anders als im „Siebend
Capitel Danielis“ auch massiv auf die Habsburger Ferdinand und Karl
gesetzt. So heißt es mit dem Blick auf die Entstehung des
Osmanischen Reiches um 1300:
„Und ist zu mercken/ das das jetzig Tückisch geschlecht hat
angefangen zu regirn/ zur zeit des ersten Osterreichischen Keisars/ zu
hoffen/ ein Osterreichischer Keisar werde sie widder demütigen.“766
764
765
766
Melanchthon, Chronik 1532, 108ff.
Ebd., 109.
Ebd., 110.
168
Mit dem Blick auf den gerade aktuellen Regensburger Reichstag sei zu
hoffen,
„das auch die Christenheit widder die teuffelische Gotteslesterer und
tyranney der Türcken geschützt werde/ als ich nicht Zweiffel/ Gott
werde der Türcken hohmut straffen jnn kurtzer zeit/ durch den aller
loeblichsten Keisar Carolum/ und sein bruder koenig Ferdinandum.“767
Diese Ausgabe des „Chronicon“ sollte nicht Melanchthons letztes Wort
in diesen Dingen sein. Als er 1555 begann, Vorlesungen über die
Weltgeschichte zu halten, legte er das „Chronicon“ wieder zugrunde.
1558/1560 erschienen die ersten Bänden einer lateinische Ausgabe,
die Melanchthon noch selbst begonnen hatte. Diese sind stärker durch
theologischen Deutungen geprägt.768 Das Chronicon wurde nun ganz
beträchtlich erweitert, so dass Heinz Scheible davon spricht, es handle
sich um „ein völlig neues Buch“.769 Diese Charakterisierung ist
allerdings nur bedingt zutreffend, genauer müsste es wohl heißen:
„Stark überarbeitet und erheblich erweitert“. Nach Melanchthons Tod
führte sein Schwiegersohn und Nachfolger auf dem Wittenberger
Lehrstuhl für Universalhistorie, Caspar Peucer, diese Arbeit mit nur
wenigen anderen Akzentsetzungen fort.770 Da dieses Werk als
„standard reference in Lutheran Germany“771 noch weit nachhaltiger
gewirkt hat als die Fassung von 1532, soll es hier, was die Darbeitung
der „historischen“ Daten betrifft, eingehender dargestellt werden:
Im dritten Buch (Abschnitt) spricht Melanchthon „Von der vierden und
Letzten Monarchi, nemlich dem Römischen Reich“772, wobei er diese
Phasen-Einteilung mit der Weltalterlehre überblendet. Das vierte Reich
fällt in das dritte Weltalter. Das vierte Buch setzt dann mit einer
historisch
weitausholenden
Beschreibung
der
Entstehung
des
historischen „Deutschlands“ ein, indem es von Plinius und Tacitus her
den historischen Wurzeln nachzuspüren versucht, um mit Karl dem
767
768
769
770
771
772
Ebd., 169.
Vgl. Münchs Auffassung bei Stupperich, Praeceptor, 76.
Scheible, Melanchthon, 256.
Klempt, Säkularisierung, 35ff.
Barnes, Prophecy, 106.
Chronicon 1573, 273ff.
169
Großen die deutsche Geschichte im engeren Sinne beginnen zu
lassen.773
In der Vorrede zu diesem vierten Buch macht Melanchthon die Absicht
des Werkes deutlich. Auffällig dabei ist, dass nun nicht mehr der neue
Kaiser Ferdinand direkt - auf seine Beeinflussung konnte Melanchthon
nicht mehr ernsthaft hoffen – angesprochen wird, sondern von den
Kurfürsten die Rede ist. Das Ziel, das es zu verteidigen gilt, ist
allerdings nun auch nicht mehr allein das Reich, sondern „Europa“,
wobei die Abgrenzung zwischen „Europa“ und dem römisch-deutschen
Reich nicht ganz klar wird, eher scheint sogar das reich pars pro toto für
Europa zu stehen:774
„Dis grosse werck sollte furnemlich und am hoechsten angelegen sein
denen Herrschaften/ die des Reiches Churfürsten und der hoehest und
schoenest Rhat sind/ so itzt im menschlichen Geschlecht noch ubrig ist/
damit Europa ein gewis Heupt und Macht hette wider die Türcken und
andere Tyrannen/ die fur und fur unrechte und ganz Europa schedliche
und verderbliche Krieg erregen.“775
In dieses vierte Buch fällt dann auch das Kapitel „Von der Turcken
Ankunfft“776. Melanchthon lokalisiert die Heimat der Osmanen, wie
gemeinhin üblich, im Kaukasus. Nach dem diese mit den Sarazenen,
die zuvor Persien erobert hatten, einen Friedensvertrag abgeschlossen
hatten, nahmen sie den Islam als Religion an. Als dann das
Sarazenenreich innerlich schwach geworden war, gründeten die
Osmanen 1051 ein eigenes Reich.
777
Das vierte Buch endet mit Kaiser
Otto IV. und der Entstehung der Bettelorden, die als ein Zeichen des
Verfalls der Kirche und der christlichen Lehre gedeutet werden, zumal
die Bettelorden als Förderer der Rezeption der „heidnischen“
Philosophie (Aristoteles) angesehen gelten.778
773
774
775
776
777
778
Ebd., 409ff.
Vgl. auch Klempt, Säkularisierung, 29,
Chronicon 1573, 273ff.
Ebd., 528ff.
Ebd., 533.
Ebd., 757.
170
Im daran anschließenden fünften Buch wird dann ein großes Kapitel
„Von den Türckischen Geschichten“779 eingeschoben. Der rasche
Aufstieg
der
als
„Ottomanen“
bezeichneten
Osmanen
zur
Führungsmacht innerhalb der Türken wird von Melanchthon mit Gog
und Magog parallelisiert.780 Der innere Grund für diesen Aufstieg ist für
Melanchthon, „das bey Hohen und Nidrigen Stenden in der gantzen
Christenheit/ Uneinigkeit/ oeffentliche Schande/ untrew/ tregheit/ geitz/
leichtfertigkeit/ mißtrawen allenthalben auffs hoechste kommen war.“781
In der Sozialkritik an allen Schichten ist Melanchthon sich mit Luther
einig.
Melanchthon geht dann der Frage nach, wie denn, wenn alle Obrigkeit
von Gott sei (Röm 13), die Macht und Prachtentfaltung der „Türken“ zu
deuten sei? Er bestreitet nun den gottgegebenen Charakter der
Ordnung im Blick auf die Türken energisch. Da bei ihnen das Wort
Gottes nicht gilt, können sie auch keine gute Ordnung repräsentieren.
Er sieht in ihnen auch keine „Monarchie“, sondern ein von Gott
zugelassenes Machtphänomen der Endzeit. Der Nutzen des Studiums
der osmanischen Geschichte besteht deshalb für Melanchthon, dies
wird hier nochmals betont, auch darin, dass sich die Fürsten durch
diese historischen Kenntnisse belehrt, dazu entschließen, mit „ernst
und eintrechtigkeit das arme Vaterland wider die Türcken zu
beschützen.“782
Danach wird nochmals eine kurze Frühgeschichte des Osmanischen
Reiches geboten. In der Entfaltung der dann folgenden Geschichte
werden die Ungarneinfälle der Osmanen dargestellt und auf die
Schlacht von Varna eingegangen, deren schlussendliche Niederlage
Melanchthon der unvorsichtigen Kriegsführung der Bischöfe zuschreibt,
„denen es mehr geziemet/ in Kirchen und Schulen/ als in der
Schlachtordnung sich sehen zu lassen“783. Dann folgt wieder ein
eigenes „Türkenkapitel“, das diesmal bei Sultan Bajazet und bei dem
Mongolenherrscher Tamerlan (Timur-Leng) einsetzt und im Stil einer
779
780
781
782
783
Ebd., 913.
Ebd., 915.
Ebd., 915.
Ebd., 917.
Ebd., 1020.
171
Königschronik die einzelnen osmanischen Sultane, die „Türckischen
Keiser“, darstellt, aber auch auf andere Personen, wie etwa die
osmanenfeindlichen Safawiden-Schahs eingeht.784
Melanchthon stellt dann die Frage, „Was in der Türcken Historien zu
bedencken“ ist. Das Ergebnis lauttet: „Lender/ in denen die Lere vom
Son Gottes im schwang gehet/ für denselben Gottlosen Voelckern ein
wenig ruhe und friede haben moegen. Und zwar bedurffte die liebe
Kirche/ so in Deutschland dozumal wider angerichtet werden sollte/ gar
wol solches Friedens/ nachdem durch den Herrn Lutherum die
reinigung der Goettlichen Lere/ die auff so macnherley weise unter dem
Bapshumb verfelscht war/ sampt den rechten Gottesdiensten/ nach
Gottes Wort wurde vorgenommen. Denn so zur selben zeit frembde
und auslendische Kriege eingefallen/ hetten/ die armen/ zarten und
bloeden Kirchen Deudschlands schwerlich recht bestellet werden
koennen. Das aber folgender zeit in Ungern die Türckischen Kriege sich
widerumb so scheußlich erzeiget/ daruon ist kein zweiffel/ Gott der
HERR habe Deudschland und andern Lendern Europe ein Exempel der
straff furstellen wollen, wider die verachtung und verfolgung seiner
Lere.“785
Den Aufstieg der Osmanen interpretiert Melanchthon als letztlich
barmherzigen Akt Gottes, der die Menschen zum wahren Glauben
zurück führen will. Die Erkenntnis Jesu Christi, wie sie die Reformation
neu hervorgebracht hat, ist nach Melanchthon allein als Rettung
geeignet. Mit dem Zitat „Der Sohn Gottes ist erschienen, das er die
werck des Teuffels zerstoere“ (1 Joh 3,8) neigt sich das letzte
ausführliche Türkenkapitel des Chronicon dem Ende zu. Waren bisher
die Fürsten mit dieser Schrift aufgefordert worden, sich endlich der
osmanischen Problematik anzunehmen, wird Melanchthon nun noch
deutlicher: Das Werk versteht sich auch als Kriegsaufruf:
Der Abschnitt „sol dahin dienen, Das hohe Fürsten und Potentaten in
der Christenheit und andere gutherzige Leut, so zum Kriegsstande
beruffen sind, in betrachtung der so grewlichen Tyranney und
784
785
Ebd., 1051ff.
Ebd., 1063.
172
grawsamkeit der Türcken, so vile desto getroster und Manlicher wider
diese Erbfeinde Christliches namens in Gottes furcht, in notwendigen
und unvormeidlichen Kriegen streiten.“786
Über diese praktischen Konsequenzen hinaus hatte der Text in dieser
Phase der Stabilisierung der lutherischen Reformation nach dem
Augsburger Religionsfrieden aber auch eine Binnenfunktion innerhalb
der zunehmenden Konfessionalisierung Deutschlands. Die Historie
„erweist“ für Melanchthon die gleichsam heilsgeschichtliche Bedeutung
der Reformation! Von einem direkt bevorstehenden Weltuntergang ist
nun auch bei Melanchthon keine Rede mehr. Trotzdem bleibt die
Reformation
ein
endzeitliches
und
damit
heilsgeschichtlich
aufgeladenes Phänomen.
5.2.3.
Weitere Schriften und Aktivitäten Melanchthons
Melanchthons Befürwortung einer gewaltsamen Auseinandersetzung
mit den Osmanen spiegelt sich auch in seinen weiteren Arbeiten als
Rhetoriker wieder. Anders als in der Ausgabe von 1519 wird nun auch
die Sprachkunst in den Dienst des Kampfes gegen die Osmanen
gestellt. In den „Elementa rhetorices“ von 1531 illustrierte Melanchthon
am Beispiel des Türkenkrieges die Redekunst, die jedoch faktisch zur
Polemik wurde.787 Doch blieb es nicht bei einer reinen Betrachtung
rhetorischer Methoden. Melanchthon wollte ganz offensichtlich, dass
die Rhetorik auch das angestrebte Ziel erreichte:
„Wenn man z.B. die Fürsten dazu auffordert, Krieg gegen die Türken zu
führen, muss man sie zuerst darüber unterrichten, daß dies ehrenvoll
ist, indem man Sentenzen aus der Heiligen Schrift anführt, die die
weltliche Obrigkeit damit beauftragen, ihre Untertanen zu beschützen
und Räubereien abzuwehren. Außerdem muß man die ängstliche
Überzeugung einiger Leute widerlegen, die glauben, ein Christ dürfe
nicht kämpfen oder Krieg führen.“788
786
787
788
Chronicon, 1064.
Melanchthon, Elementa, 37, 59, 141, bes. 249.
Elementa, 125.
173
In zahlreichen Zusammenhängen ist Melanchthon in den folgenden
Jahren immer wieder auf die Türkengefahr eingegangen, etwa wenn er
die Ereignisse in Ungarn 1542 mit der Völkerwanderung verglich,789
oder wenn er in Briefe unvermittelt ein Gebet gegen die Türkengefahr
einfügte.790 Solche Gebete um Bewahrung gegen die „Türken“ finden
sich überhaupt nun sehr zahlreich bei Melanchthon.791
Mehrfach
war
Melanchthon
auch
bereit,
ein
Vorwort
zu
„Türkenschriften“ zu schreiben. Als Beispiel sei hier u.a. die
Koranausgabe des Theodor Bibliander von 1543, auf die unten noch
näher eingegangen wird, zu nennen. Im Jahr 1544 erschien das
„Hodoeporicon itineris Constantipolitani“ von Paolo Rubigallo, einem
geborenen Slowaken, der sieben Jahre in Wittenberg gelebt hatte.
Melanchthon
schrieb
Geschichtswerk
des
hier
ebenso
Italieners
eine
Paulus
Vorrede
Iovius
wie
zu
„Turciarum
dem
rerum
commentarius“.792
Ein besonderes Thema sind hier noch Melanchthons persönliche
Beziehungen
nach
Südosteuropa,
besonders
Ungarn
und
Siebenbürgen, bzw. seine Kenntnisse der dortigen Vorgänge. Beides
entwickelte
sich
hauptsächlich
über
ungarische
Studenten
in
Wittenberg, denen Melanchthon offensichtlich besondere Sympathie
entgegenbrachte.793
Weitere Informationen erhielt er von den
Gebrüdern Laski, einer Familie aus dem polnischen Hochadel, die sich
in politischen Händeln um einflussreiche kirchliche Pfründen in Ungarn
verstrickt hatte. Doch auch aus den Zentren des Südost-Handels,
Nürnberg und Breslau, in letzterer Stadt wirkte sein Freund Johannes
Hess, erhielt Melanchthon jeweils Informationen.794 Köhlers Eindruck,
Melanchthons
Haus
hinterlasse
„förmlich
den
Eindruck
einer
Nachrichtenzentrale“795, erscheint kaum übertrieben.
Dass diese Informationen aber kaum sachliche Berichte, sondern oft
die Wiedergabe von Gräuel-Propaganda waren, wird jedoch ebenfalls
789
790
791
792
793
794
795
CR 11, 566ff.
Ebd., 642
Vgl. Jung, Frömmigkeit, der zahlreiche Belege liefert.
Köhler, Melanchthon, 23.
Kovacs, Ungarn, 263.
Scheible, Donau-Karpaten-Raum, 280.
Köhler, Melanchthon, 26.
174
deutlich. So weiß Melanchthon etwa in einem Schreiben vom 1.12.1541
zu berichten, Sultan Suleiman habe in Buda 50 Jungen verbrennen
lassen, um deren Asche in der Moschee zu verstreuen.796 Auch
Informationen aus erster Hand, wie die des Bartholomäus Georgejevic
und des ehemaligen byzantinischen Diakons Demetrius Rascianus,797
haben ganz offensichtlich nicht zu einer differenzierten Beurteilung
beigetragen.
Ungarn war für
Melanchthon der Vorposten der Verteidigung des
christlichen Abendlandes gegen die osmanische Gefahr. Melanchthons
Auffassungen in der Interpretation der Türken hatten deshalb durch
seine dortigen Schüler und Briefpartner einen erheblichen Einfluss auf
die ungarische Reformation, wie zahlreiche Beispiele belegen.798 So
dürfte von einer wechselseitigen Beeinflussung zu sprechen sein, bei
der Melanchthon die Fakten erhielt und dieser sie interpretierte, was
wiederum seine Briefpartner in Südosteuropa beeinflusste. Zu nennen
ist etwa das Werk des Förderers der ungarischen Nationalkultur,
Johann
Sylvester,
eines
Schüler
Melanchthons,
dessen
1544
erschienene Schrift „De bello Turcis inferendo“ inhaltlich deutlich von
Melanchthon abhängig war.799
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Melanchthon einer der
bedeutendsten Vertreter der apokalyptischen Interpretation des Islam
innerhalb der Reformation war und der Einfluß auf seinen Freund und
Kollegen Martin Luther deutlich ist. Melanchthon hat das „VierMonarchien-Schema“ des Daniel-Buches für die reformatorische
Geschichtsschreibung „reaktiviert“. Der „Historiker“ Melanchthon gab
Luther die notwendige Kenntnis, die auch ihn nach anfänglicher
Ablehnung diese Auffassungen als richtig und sachgemäß erkennen
ließ.
796
797
798
799
Scheible, Donau-Karparten-Raum, 281.
Vgl. Köhler, Melanchthon, 26.
Kovacs, Ungarn, 267.
Ebd.,
175
5.3.
Andere
Reformatoren
und
ihre
Stellung
zur
„Türkenfrage“
5.3.1.
Der „Türkenprediger“ Johannes Brenz
In besonderer Weise hat sich auch der Reformator Württembergs,
Johannes Brenz (1499-1570), der Türken-Problematik angenommen.
Von 1522 bis 1548 als Prediger an der Michaelskirche in Schwäbisch
Hall und seit 1553 Propst an der Stuttgarter Stiftskirche, ist er zu einer
herausragenden
Gestalt
der
evangelischen
Kirche
im
südwestdeutschen Raum geworden.800 An der Haller Michaelskirche
hielt er
angesichts der osmanischen Bedrohung 1529 zahlreiche
„Türkenpredigten“, die später im Druck erschienen. Brenz unterstellte
darin den Osmanen nicht nur die Absicht, das Römisch-Deutsche
Reich, sondern die ganze christliche Religion zerstören zu wollen. Die
Aufgabe der Verteidigung wies er wie Luther eindeutig den staatlichen
Behörden zu, die allerdings die tatkräftige Unterstützung ihrer
christlichen Untertanen, die damit „ein gut werck“ übten, erwarten
durften.801 Der Person des Kaisers und seiner Politik stand Brenz
allerdings skeptischer gegenüber als Luther. Brenz war sich unsicher,
ob die Rüstungen Karls wirklich den Osmanen und nicht vielmehr den
deutschen Protestanten gelten würden.802
1531 erschien seine Schrift „Wie sich Prediger und Leyen halten sollen/
so der Turck das deutsche land uberfallen würde. Christliche
und
notturfftige unterricht“.
Brenz entfaltet seine Auffassungen, die sowohl die Prediger wie die
Laien über Herkunft und Zukunft des „Türkenproblems“ informieren
sollen, ebenfalls vom Buch Daniel und besonders wieder dem 7. Kapitel
her. Mit der Analyse des Vierten Reiches, das im Sinne der translatio
als das römisch-deutsche Kaiserreich verstanden wird, stellt sich ihm
auch die unter den Protestanten umstrittene Frage nach der
Gehorsamspflicht gegenüber dem altgläubigen Kaiser Karl. Diese
Problematik war für Brenz und die Württemberger insofern von
besonderer Bedeutung, als das Herzogtum nach der Vertreibung des
800
801
802
Vgl. Brecht, Brenz, 103ff.
Herrmann, Osmanenreich, 21.
Ebd., 22.
176
verhassten Herzogs Ulrich 1519 von Karl V. annektiert worden war. Erst
1534 gelang dem zwischenzeitlich zum Protestantismus übergetretenen
Ulrich mithilfe Philipps von Hessen die Rückkehr.803 Brenz, einer der
nachhaltigsten Gegner politisch-protestantischen Widerstandes gegen
den Kaiser, liefert hier ein Beispiel seiner Auffassung, die für den
Reformationshistoriker Martin Brecht „politischer Patriarchalismus“
ist:804
„Nach dem selbigen ist das vierde/ der Roemer eingetreten/ welches
keiserthum das letzte sein sol/ und der Jüngste tag ergreifen wirdt. Aus
diesem allen wirdt kundbar/ das der gewalt des Roemischen Keisers
aus Gott ist/ und ein Goettliche ordenung/ der bestehen sol bis an das
ende der welt. Derhalben wen schon schon die person des Roemischen
Keisers ein lauter Heide were/ so sind doch alle so ins reich gehoren
schuldig/ solchen Keyser unterthenig zu sein/ in denen stücken/ die ein
Keiser als ein Keiser zugebiethen hat/ und nicht wider Gott sind.“805
Brenz stellt aber nun die Frage, die, obgleich sie wohl eher rhetorische
Qualität
hat,
einen
Einblick
in
die
geistige
Verfassung
und
Verunsicherung angesichts der osmanischen Gefahr gibt:
„Wie sollen die Prediger reagieren? Sollen sie predigen/ das man sich
mit gewerter hand widder den Turcken sol stellen/ Odder ihn gleich thür
und thor auff sperren“?806
Bevor Brenz darauf eine Antwort gibt, zeigt er zunächst einmal die
Wurzeln der Gefahr. Sie liegen auch für ihn darin, dass Deutschland
„voller bossheit“807 sei. Doch nun ist das rettende reformatorische
Evangelium als prophetischer Mahnruf erschallt. Wenn ihm nicht Folge
geleistet wird, wird die göttliche Strafe auf dem Fuße folgen.
Nach diesen Ausführungen, die ganz auf der reformatorischen Linie
sind, erst einmal Buße zu tun, bevor man sich dem „Türkenproblem“
zuwendet, kommt Brenz zur politischen Dimension der osmanischen
Gefahr und den diesbezüglichen Aufgaben der Prediger. Seine
803
804
805
806
807
Hauschild, Kirchen- und Dogmengeschichte II, 128ff.
Brecht, Brenz, 107.
Brenz, Prediger, A I.
Ebd., A II.
Ebd., A II.
177
Ausführungen liegen hier ebenfalls klar auf der reformatorischen
„Generallinie“. Die Prediger sind schuldig,
„die Fürsten ernstlich zu vermanen/ ihr ampt auszurichten dem turcken
mit dem schwert widderstand zu thun .... und sind die unterthan
schuldig mit leib und gut/ ihren herrn zu helffen/ und ihr selbs weib und
kinder zu retten/ Und dieser gehorsam ist ein gut heilig werck/ das ob
schon einer darinn umb kommet/ sol er nicht zweifeln/ er sterbe jnn
Gottes gehorsam“.808
Um eventuelle Zweifel an der Berechtigung des Krieges auszuräumen
legt Brenz dann dar, die Osmanen führten einen ungerechten Krieg,
„denn ihr Mahomet hat ihn geboten/ das sie sollen fur und fur angreiffen
land und leut zu erobern“809.
Wie offensichtlich schwach der Wille zur Selbstverteidigung unter den
Bedrohten ausgebildet war, wird deutlich, wenn auch Brenz, wie Luther
und Melanchthon zuvor, davor warnt, unter türkische Herrschaft zu
geraten. Er beruft sich wieder auf den Propheten Daniel. Dieser habe
verkündet, dass
„der Türck Gottesfeind sey/ So sind alle Christen schuldig/ sich zu
hüten/ so viel ihnen müglich ist/ das sie nicht unters des Turcken
regiment komen“810
Danach folgen Ausführungen, die Brenz dann doch zumindest in einer
Differenz zu Luther zeigen. Offensichtlich rechnet Brenz nicht
unmittelbar mit dem Ende der Zeiten, wenn er die Christen ausdrücklich
ermuntert:
„Denn obschon gott dieses schrecklich reich zur letzten und ergsten
straff in die welt hat komen lassen/ so will Gott dennnoch/ die Christen
nicht lassen gar untergehen/ und wird der Mahomet nicht jnn aller welt
allein regirn/ Denn die weil Christus hirschet/ mus folgen/ das er allezeit
leute hab/ da sein heilig Euangelium werde geprediget“.811
Brenz erinnert jetzt daran, das die christlichen Mächte schließlich auch
schon Erfolge gegen den Islam errungen hätten. Er erwähnt die
808
809
810
811
Ebd., A III.
Ebd., A IV.
Ebd., B.
Ebd., B I.
178
Kreuzzugspredigten Bernhards von Clairvaux, die ungarischen Könige
Johann Hunyadi und Matthias (Hunyadi) Corvinus sowie den
Reconquistadoren Alfonso von Kalabrien.812
Unter ausdrücklichem Bezug auf Dan 7,7f. folgert Brenz dann, dass der
osmanische Sieg niemals vollständig sei, schließlich habe ja das „kleine
Horn“ aus Dan 7,8 - die Osmanen - nur drei, nicht jedoch alle zehn
anderen Hörner aus dem vierten Tier ausgerissen;
„So er nu nicht das gantz Romisch reich erobern sol/ folget auch/ das
leute sein werden/ die ihm widderstand thuen werden/ und sig widder
ihn haben.“813
Er folgert weiter: „Es sind viel trefflicher anzeigung/ das der Türck nicht
hoeher steigen/ sondern bald fallen werde.“814
Wenn also auch die Endzeit für Brenz nicht so bedrohlich vor der Tür zu
stehen scheint, wie für Luther und Melanchthon in dieser Zeit, bleibt
aber die eigene Epoche heilsgeschichtlich aufgeladen. Es handelt sich
um eine Endzeit, aber gerade die Hinwendung der Menschen zur
Botschaft der Reformation kann für Brenz das Ende noch aufhalten.
Weniger das römisch-deutsche Reich an sich, denn seine Verbindung
mit der Reformation, die das Evangelium für Brenz allein recht
verkündet, sind die Bedingungen für das Aufhalten der Endzeit, ja den
schließlichen Sieg über die Osmanen. Das apokalyptische Modell, wie
es Luther und Melanchthon in dieser Zeit favorisieren, findet sich also in
dieser starken Ausprägung bei Brenz nicht. Scheint also schon die
südwestdeutsche Reformation von der apokalyptischen Hitze der
mitteldeutschen Glaubensbrüder weniger erfasst worden zu sein, wird
diese Distanz in der schweizerischen Reformation noch deutlicher.
5.3.2.
„Türkenfrage“ und politische Ratio: Huldrych Zwingli
Mit Huldrych Zwingli (1484-1531) soll der neben Luther in der Frühzeit
der Reformation wirkmächtigste Reformator dargestellt werden. Zwingli
gilt als der eigentliche Schöpfer der schweizerischen Reformation, die
in der Folgezeit in der Reformierten Kirche, beeinflusst durch weitere
812
813
814
Ebd., B II.
Ebd., B III.
Ebd., B III.
179
Theologen, eine vom Luthertum in Theologie und Sozialgestalt
abweichende Entwicklung nehmen sollte. Die mentalen Unterschiede
zu Luther werden auch in der „Türkenproblematik“ deutlich.
Der humanistisch geprägte Zwingli war nach Tätigkeiten als Priester in
Glarus und Einsiedeln seit 1519 Leutpriester am Zürcher Großmünster.
Nachdem die Stadt nicht zuletzt unter seinem Einfluß 1523-1525 zur
Reformation überging, wurde Zwingli bald die zentrale Gestalt der
jungen Bewegung, nicht nur in Zürich, sondern auch in der ganzen
Schweiz.
In seiner Schrift „Suggestio deliberandi super propositione Hadriani
Nerobergae facta“815, die Zwingli aus Anlaß des Reichtages von 1522 in
Nürnberg anonym erscheinen ließ,816 nahm er auch zur „Türkenfrage“
Stellung. Der Gesandte des neuen Papstes Hadrian IV., Chieregati,
hatte in Vorbereitung des Reichstages in einem Gespräch mit
Erzherzog Ferdinand von Österreich die Hilfe der Reichsstände gegen
Luther und die Türken gefordert. Zwingli blieb zurückhaltend gegenüber
diesem päpstlichen Ansinnen und forderte zur Selbstkritik auf:
„Verum confestim videbimus an dictus pontifex cupiat ad regulam
euangelicam episcoporum et cardinalium mores corrigere. Nam si eis
Thurcorum muros et lapidea corda septies uno die, hoc est indesinenter
precipiat ambire ac turbam instar euangelium ebuccinare: iam certi
erimus eum ad magistri sui exemplar omnia comparaturum, qui ut
messem videbat adpetere, misit suos, ut meterent sine sacculo et pera,
indubieque sperabimus eum Thurcorum animas lucrifacturum.“817
Im Oktober 1526 griff Zwingli die „Türkengefahr“ in seinem „ander
Sendbrief an die Christen zu Eßlingen“818 wieder auf. Zwischenzeitlich
hatte sich die Schlacht von Mohács mit der verheerenden Niederlage
der Ungarn ereignet. In dem Sendschreiben, das sich hauptsächlich mit
der
zwischen
Zwingli
und
Luther
mittlerweile
auch
öffentlich
umstrittenen Abendmahlslehre beschäftigt – ein Gesichtspunkt, der die
schweizerische Reformation ab 1529 dauerhaft von der mitteldeutschen
815
816
817
818
Z I, 434ff.
Vgl. Einführung, Z I 429.
Ebd., 439f.
Z V, 419ff.
180
Reformbewegung Luthers trennen sollte – sprach Zwingli im Blick auf
die Türkengefahr von „der gegenwürtigen türckischen anfechtung, die
er [Gott M.K.] allenn Christen zu gutem laßt hereinfallen“819.
Die bekannte Interpretationsfigur, in den Osmanen eine Strafe Gottes
zu sehen, verwendet Zwingli hier ebenfalls. Für ihn handelt es sich bei
den Türken um eine „ruten synes zorns“820, wie es ehedem etwa auch
das Assyrische Reich für den Staat Juda gewesen sei.821 Gott verfolgt
offensichtlich für Zwingli mit dem Erscheinen der Türken eine
besonders eigentümliche „pädagogische“ Absicht, denn nach Zwinglis
Meinung fordert Gott mit dieser Zuchtrute ausdrücklich die weltliche
Herrschaft auf, sich endlich vom Papsttum zu emanzipieren. Ein
entscheidender Schritt ist dabei für ihn die Übernahme der Kirchengüter
in die kommunale Verwaltung. Mit den ehemals kirchlichen Mitteln soll
dann besonders die Armenfürsorge bestritten werden. Ein Verfahren,
dass Zwingli in Zürich durch entsprechende Gutachten schon
abgeschlossen
hatte.822
Man
wird
hier
angesichts
der
doch
eingermaßen überraschend wirkenden Deutung der osmanischen
Bedrohung zeigen können, dass die Haltung Zwinglis zu den „Türken“
klar rationaler angelegt ist, als die Martin Luthers. Eine Annahme des
nahen Weltendes angesichts der osmanischen Erfolge lehnte Zwingli
deshalb auch ab, eine osmanische Oberherrschaft über das Reich
schloss er jedoch nicht aus: „dann so der Türck so fer (weit) herein ist,
wirt es nit in einem jar auß sin; ob es aber schon auß wär, soll doch
sölch gut zu gemeinem nutz der armen landleüten ... verbrucht
werden.“823
Die Osmanen waren für Zwingli ebenso stark ein politischer wie ein
religiöser Faktor. Einige Jahre später konnte Zwingli sich die Osmanen
sogar als nützliche Helfer der reformatorischen Sache vorstellen. Dabei
rechnete er anders als Luther mit durchaus kühnen politischen
Koalitionen. Offensichtlich hatte der Reformator schon während des
Marburger Religionsgespräches von 1529 den hessischen Landgrafen
819
820
821
822
823
Z V, 423.
Ebd.
Zum historischen Hintergrund Gunneweg, Geschichte, 116ff.
Vgl. Gäbler, Zwingli, 85ff.; Strohm/Klein, Europa, 100ff.
Z V, 425.
181
Philipp für ein Bündnis der reformatorischen Stände mit dem
französischen König zu gewinnen versucht.824 Er setzte dabei die
Sache der Evangelischen gegenüber dem Kaiser mit der Befreiung des
Volkes Israel aus Ägypten gleich, wie aus einem Brief an Philipp
hervorgeht. In diesem streng vertraulichen Schreiben vom 12.3.1530
entfaltete Zwingli seinen Plan eines umfassenden Bündnisses u.a. mit
Frankreich,
„so wurde dem [kyser] so vil ze schaffen, das er nit möchte wüsen, wo
er werren sölte, denn ouch der [Turck] und [Wyda: gemeint ist der
Woiwode Janos Zápolya M.K.] haryn brechen, wäre ich ungezwyfelter
hoffnung, wir wöltind den Pharao imm mer der roten kappen [blutiger
Kopf M.K.] baden, ob ioch nit gar ertrencken.“825
Während also Luther und Melanchthon in dieser Zeit – 1530 – den
Jüngsten Tag „vor der Tür“ sahen, schmiedete der eidgenössische
Reformator Bündnispläne. Wie rational Zwingli mit dem politischen
Faktor der Osmanen rechnete, macht auch seine „Instruktion für die
Sendung Meister Jäcklins nach Walenstadt“826 vom November 1530
deutlich. Obwohl Zwingli durch manche an ihn gerichteten Briefe,
besonders auch während des Augsburger Reichstages, über die
politischen Ereignisse, was die Osmanen betraf, gut informiert war827,
waren Nachrichten über osmanische Massaker nach einem Aufstand in
Siebenbürgen 1529 erst jetzt nach Süddeutschland vorgedrungen.828
Zwingli verwertete - allerdings erfolglos829 - diese Informationen für
seine Zwecke und scheute dabei auch vor einem gewissen gezielt
eingesetzten Defätismus nicht zurück, wie die Instruktion bezüglich der
Gemeinde Walenstadt zeigt:
In der seit 1462 unter eidgenössischer Herrschaft stehenden früheren
österreichischen Gemeinde blieb die Einführung der Reformation
umstritten, so dass Zwingli den Landvogt Hans Jäcklin dorthin schickte,
824
825
826
827
828
829
Z X, 513 A. 5
Ebd. Die Einfügung der Subjekte in den Eckklammern stammt von Landgraf
Philipp. Zwingli wollte offensichtlich in den Schriftstück keine Namen nennen,
konnte sich aber des richtigen Verständnisses des Landgrafen offensichtlich
sicher sein („ir verstond mich wol“, 514).
Z VI/3, 357ff.
Vgl. Z X, 632; Z XI, 4 A. 9; Z XI, 18; Z XI 33; Z XI, 143.
Z VI/3, 359 A. 5
Z VI/3, 354.
182
um
die
Kirchengemeindeversammlung
für
die
Reformation
zu
gewinnen. Neben Erläuterungen zum für Zwingli unbiblischen Charakter
der Messe sollte Jäcklin politisch argumentieren und den Walenstädtern
deutlich zu machen versuchen, dass die kaiserlich-altgläubige Sache
verloren sei. Als ein Grund wurde der Siegeszug der Osmanen
genannt:
„... des keisers sachen stond einen andern weg; dazu der Türgg in
Sibenbürg ob fiertzig tusend menschen hingefürt oder erschlagen, rüst
sich uff Sicilien und Tütschland mit großem züg.“830
Interessant
ist
die
Frage,
warum
Zwingli
die
Osmanen
geschichtstheologisch nicht als apokalyptische Boten ansah. Ein Blick
auf
dessen
bibeltheologische
Arbeiten
kann
hier
weiterhelfen.
Exegetisch boten sich für Zwingli in der Bibel hinsichtlich einer
geschichtstheologischen Einordnung der „Türkenfrage“ im Unterschied
zu Luther und Melanchthon bestenfalls einige Anhaltspunkte. Dies wird
besonders deutlich an Zwinglis Auslegung der für die beiden
sächsischen
Reformatoren
in
dieser
Hinsicht
so
bedeutsamen
prophetischen Bücher Daniel und Ezechiel. Zwingli hat im Rahmen der
so genannten Prophezey, der ab 1525 eingerichteten Bibelschule,831
auch diese Bücher ausgelegt. Doch zeigen sich hier deutliche
Unterschiede zu Luther: So hat Zwingli die biblischen Gestalten Gog
und Magog anders als Luther nicht auf die Osmanen bezogen.832 Die
vier Tiere, die im siebten Kapitel des Danielbuches erwähnt werden, hat
er ebenfalls nicht in aktualisierender Weise geschichtstheologisch
gedeutet. Vielmehr geht er davon aus, dass mit Christi Geburt noch
dreieinhalbtausend Jahre Weltzeit verbleiben, zur Zeit Zwinglis also
noch zweitausend Jahre.
Allerdings gibt das zweite Kapitel des Danielbuches auch Zwingli
Anlass zur Bezugnahme auf die Osmanen, doch ist der Ton der
Auslegung ganz anders gestimmt als bei Luther. Hinsichtlich der vier
Weltreiche, die hier erwähnt werden, geht Zwingli davon aus, dass das
Babylonische Reich das erste dieser Reiche sei, das Perserreich das
830
831
832
Ebd., 359f.
Vgl. Gäbler, Zwingli, 92f.
Z XIV, 749ff.; 734f.
183
zweite und „Macedonium sive Grecum“ das dritte Weltreich. Danach sei
das Römische Weltreich entstanden. Doch – entsprechend der
historischen Entwicklung – sieht Zwingli dieses Reich später als
aufgeteilt an. Dabei setzt er diese Teilung nach der Herrschaft des
Königs Theodosius, der ab 394/395 Alleinherrscher des Römischen
Reiches war, an. Tatsächlich endete mit der Aufteilung des Reiches
unter dessen Söhne die Reichseinheit. Die Nachfolgestaaten sind nun
allerdings für Zwingli nicht Ost- und Westrom, sondern das römischdeutsche Kaiserreich und das Osmanische Reich!
„... partim de Romano, partim de Turcaio (Turcio). In regno Turcorum
sunt viri iusti in Romano femine et nebulones. Ist als kaat (Kot M.K.)
und dräck, das kätzin (kätin) imperium. Turcus habet ferreum imperium,
Romani luteum. Libidinatur. Sy süwen, wülend, hurend etc. Nam post
Theodosii tempora divisum est regnum in Roma et Thurcia, hoc luteum
ex ferreo nascitur. Possunt ergo quinque esse regna.“833
Deutlich wird ein überraschender Befund: Das Osmanische Reich wird
hier positiver bewertet als das römisch-deutsche Kaiserreich. Die
Osmanen sind für Zwingli, ähnlich wie bei Luther, wenn er sich über die
osmanische Staatsführung aussprach, „viri iusti“. Wie aber ist die
abfällige Qualifizierung des römisch-deutschen Kaiserreiches als
„Drecksimperium“
zu
deuten?
Zwar
war
Zwinglis
Stellung
zu
Deutschland sehr positiv, doch lehnte er die Idee des Heiligen
Römischen Reich im Sinne der translatio imperii, besonders unter dem
Aspekt der damit eingegangenen Verbindung mit dem Papsttum,
entschieden ab.834 Zwinglis Verwurzelung in der Eidgenossenschaft mit
ihrer traditionell anti-habsburgischen Gesinnung wird deutlich. Kaiser
Maximilian hatte ja mit dem Frieden von Basel 1499 die Schweiz
faktisch aus dem Reichsverband entlassen müssen. Diese Tatbestände
zeitigten auch eine geistesgeschichtliche Auswirkung: Anders als
Luther und Melanchthon betrieb Zwingli keine „Reichstheologie“! Eine
zumindest implizite Wirkung der Auslegungen Luthers und anderer
Reformatoren, in dem vierten Reich des Danielbuches das römisch-
833
834
Z XIV, 745.
Meyer, Eschatologie, 259.
184
deutsche Kaiserreich zu sehen, war ja auch die, dass damit Karl V. und
überhaupt das Reich zu den herausgehobenen Akteuren in einem
apokalyptischen Drama wurden, während die sich zu Nationalstaaten
entwickelnden Königreiche wie England, Frankreich usw. oder die
Stadtstaaten,
z.B.
Zwinglis
Zürich,
in
geschichtstheologischer
Perspektive eine Schattenexistenz fristeten. Eine Sichtweise, die von
Zwingli ganz eindeutig nicht geteilt wurde.
Der „Türken-Diskurs“ Zwinglis wandte sich vielmehr gegen die gegen
das Papsttum und die Habsburger. Wenn von „Türkenfurcht“ die Rede
war, dann nicht in dem Sinne, dass die habsburgische Herrschaft pars
pro toto für die Christenheit unterstützt werden solle. Vielmehr legten
Zwinglis
Äußerungen
sogar
eine
Distanzierung
von
jenem
Herrscherhaus, „dessen Sache verloren sei“, nahe.
Wenngleich also erhebliche Unterschiede zu Luther und Melanchthon
festzustellen sind, gibt es doch auch Gemeinsamkeiten: Das Papsttum
selbst hielt Zwingli wie Luther für ein antichristliches Phänomen. Es
hatte für ersteren seit dem 6. Jahrhundert mit zunehmender Macht- und
Prachtentfaltung eine „teuflische“ Entwicklung genommen. Zwingli gab
damit der für die mittelalterliche Weltsicht grundlegenden Verbindung
von Imperium und Sacerdotium ebenso wie Luther den Abschied,
allerdings als Kritiker des Papsttums und des Kaiserreiches. Doch hatte
diese Kritik eben für ihn kaum eine apokalyptische Note. Es muss eher
von einer Antichrist-Polemik, denn von einer geschichtswirksamen
Gegenwart des Antichrist-Mythos bei Zwingli gesprochen werden. Das
Ende der Welt sah er nicht gekommen. Er glaubte vielmehr an die
Möglichkeit einer ganz an Gottes Wort orientierten Gemeinschaft, einer
„respublica Christiana“, wie sie Zürich für ihn schon darstellte.835 Aus
diesen
Aussagen
wird
deutlich,
dass
eine
apokalyptische
Hochspannung, wie sei zeitweise bei Luther herrschte, bei seinem
Zürcher Pendant keineswegs angenommen werden kann.
Zwinglis Vorstellungen von der Apokalyptik bzw. der Eschatologie sind
grundsätzlich umstritten.836 Teilweise ist gänzlich in Zweifel gezogen
835
836
Ebd.
Vgl. dazu die forschungsgeschichtliche Darstellung bei Meyer, Eschatologie,
2ff.
185
worden, dass Zwingli überhaupt von solchen Vorstellungen geprägt
war. Sicher ist, dass die enorme Wucht, die Luthers apokalyptische
Annahmen gerade auch der Interpretation der „Türkengefahr“ gaben,
bei Zwingli fehlen.837 Dies muss jedoch nicht heißen, dass Zwingli
überhaupt nicht mit einem Weltende gerechnet habe. Vielmehr muss
mit Walter Meyer von einer „inkohativen Eschatologie“838 gesprochen
werden. Zwingli sieht jede Epoche unter dem Anspruch Gottes und
damit verbundener immanenter Gerichtsvollzüge, die durchaus die
Welt, so wie sie bisher bekannt war, etwa in der mittelalterlichen
Verbindung von Imperium und Sacerdotium, ans Ende bringt, was für
ihn aber buchstäblich keinen „Weltuntergang“ bedeutet. Sicherlich
betrachtete er seine eigene Zeit durch die als Wiederentdeckung des
Wortes Gottes empfundene Reformation in besonderer Weise im oben
genannten Sinne als apokalyptisch qualifiziert,839 nur spielen die
Osmanen in diesem Zusammenhang keine profilierte Rolle.
Bevor Zwingli in den Kappeler Kriegen den Tod fand,840 scheint sich
auch bei ihm eine Ahnung des nahen Weltendes entwicklet zu
haben.841 Die Türken blieben aber „lediglich“ Zuchtrute für das
Versagen der Christenheit. In einer Predigt aus dem Jahre 1531 ging
Zwingli darauf ein:
„Wenn nun jemand sagen und sich beklagen möchte: ‚Warum lässt Gott
dem Türken, diesem Gottesfeind, Gewalt über sein Volk, dass er sie so
jammervoll tötet und ihnen Land und Leute verwüstet, ja Leute und
Vieh?’, so lautet die Antwort: ‚... Liess Gott nicht sein eigenes Volk, von
den heidnisch, ungläubigen Königen verwüstet, erobert und beherrscht
werden? ... Da sie aber in alle Schamlosigkeit aller Laster und in
Verachtung aller Belehrung und Verwarnung gekommen sind, werden
sie ... auch verdienstermassen so hart bestraft. Wenn dies nun dem
Volk widerfuhr, das doch ... als das besondere Gottesvolk galt, so darf
837
838
839
840
841
Vgl. Locher, Geschichtsbild, 283f.
Meyer, Eschatologie, 247.
Locher, Geschichtsbild, 282.
Zu den Kappeler Kriegen vgl. Gäbler, Zwingli, 133ff.
Meyer, Eschatologie, 240f.
186
es einen nicht verwundern, dass Gott auch uns mit den Türken eine
gleiche Strafe zukommen lässt.“842
In ihrer Sozialkritik sind sich Zwingli und Luther einig.
Wenn Walter Nigg festgestellt hat, dass die Zürcher Reformation
besonders die „verständige Nüchternheit vom Wittenberger Geschehen
unterscheidet“843, so ist dem hinsichtlich der „Türkenfrage“ sonst
zuzustimmen. Ein apokalyptisches Interpretationsschema findet sich bei
Zwingli nicht. Auch von einer dogmatischen Interpretation ist nicht
wirklich zu sprechen, zumal Zwingli, der hier den nachfolgend
darzustellenden spiritualistischen Auffassungen deutlich näher steht als
Luther,844 durchaus davon ausgehen kann, dass Menschen außerhalb
der christlichen Religion von Gott erwählt werden können,845 was
natürlich nicht heißt, dass Zwingli eine dogmatische „Richtigkeit“ der
islamischen
Religion
angenommen
hätte.
Zwingli
bleibt
beim
„Zuchtruten-Motiv“, dass auch Luther kannte, ohne es nennenswert
apokalyptisch oder dogmatisch anzureichern. Die „Türkenproblematik“
war
für
Zwingli
weitgehend
seinen
politischen
Überlegungen
untergeordnet.
5.4.
Spirituale und apokalyptische Zeitdeutung
5.4.1.
Das Wirken des Geistes in allen Völkern: Sebastian
Franck
Eine eigentümliche Gestalt der Reformationszeit ist der Spiritualist
Sebastian Franck (1499-1541).846 Zunächst als Geistlicher im Bistum
Augsburg und später im ansbachischen Gebiet tätig, gab er 1528/1529
sein Pfarramt auf und lebte fortan als Literat, Buchdrucker und
zeitweilig
als
Seifensieder
unter
großen
Schwierigkeiten
und
Bedrückungen in Nürnberg, Straßburg, Esslingen, Ulm und Basel.
Anfänglich ein Anhänger der Reformation, kritisierte er bald auch diese
Bewegung, die ihm, besonders in ihrer Konzentration auf die Bibel und
842
843
844
845
846
Zit. in ebd., 261.
Nigg, Reich, 225.
Holsten, Reformation, 21.
Zum Thema vgl. Pfister, Seligkeit.
Vgl. Weigelt, Franck, 119ff.
187
wegen der ausbleibenden sittlichen Besserung der Protestanten als
nicht zu ihrem Ziel gekommen erschien. Franck stellte der Reformation
und den entstehenden evangelischen Landeskirchen seine Vision von
der unsichtbaren Geistkirche und der reformatorischen Betonung der
Bibel seine Auffassung vom persönlichen Geistzeugnis, dem „inneren
Wort“, entgegen.
1531 trat er mit seiner „Cronica. Abconterfayung und entwerffung der
Türckey“ hervor. Bei Francks Chronik handelt es sich um eine
bearbeitete Neuausgabe847 des „Tractatus der moribus, condicionibus
et nequita Turcorum“ des Georgius de Hungaria.848 Fast 20% des
Textes hat Franck hinzugefügt, ca. 10% stark verändert,849 so „daß er in
allerlei Neuigkeiten und farbige Berichte ganz handfest seine
theologische Polemik einmischt.“850 Als Beispiel dafür mag etwa
Francks Ergänzung des 19. Kapitels, das über den muslimischen
Glauben, die islamischen Gesetze und das Gebet informiert, gelten. Mit
Luther in der Kritik an einem in Äußerlichkeiten sich erschöpfenden
Religionsbegriff einig, belässt Franck Gregorius’ Bezeichnung des Islam
als eine Religion teuflischen Ursprungs, fügt dann aber eine Papsttum
und Islam parallelisierende Kritik hinzu, wenn es weiter heißt, der Teufel
habe „ym Bapstum auch allzeit Gott vnd sein namen ym wappen
gefurt.“851
Die apokalyptische Interpretation, die sich bei Georgius findet, lehnt
auch Franck nicht ab, wenn er die islamische Religion als teuflischen
Ursprungs bezeichnet: „Von disen falschen Teuffels ... / ließ 2. Thessal.
2. Apoca. 13. Daniel. 7.8.11.“852 Von einem Monarchien-Schema ist
allerdings keine Rede, dass Reich der Christen ist vielmehr spirituell, so
dass Franck sagen kann, dass „dero reich (das den Türcken verborgen
ist) doch nit von dieser welt ist“.853
847
848
849
850
851
852
853
Zur Textgeschichte vgl. die Anmerkungen in Franck, Werke, 481ff.
Vgl. Klockow, Theologie; Höfert, Türkengefahr, 208ff, die eine inhaltliche
Zusammenfassung gibt; Palmer, Georgius.
Schimansky, Kirche, 43.
Ebd.,
Franck, Werke, 275; vgl. 483.
Ebd., 279.
Ebd., 268.
188
Franck selber gibt in seinem „Beschluss“854 (Nachwort) über seine
Editionsprinzipien Rechenschaft, wenn er erklärt, Georgius’ Darstellung
historischer Tatbestände sachgemäß „immitirt vnd verdeutscht“855, die
theologischen Abschnitte jedoch weggelassen zu haben. Dies habe er
getan, um das Buch durch die theologischen Ausführungen nicht zu
überladen. Dabei ist natürlich zu berücksichtigen, dass sich in dem
Buch diese in erheblichem Maße finden. Aber es sind nicht mehr die
des Dominikaners Georgius de Hungaria, sondern Francks eigene
spiritualistische Anschauungen.
Franck ging es, wie in seinem Nachwort nochmals deutlich wird,
besonders
darum,
die
vermeintlichen
Verführungskünste
der
muslimischen Religion deutlich zu machen. In dieser Hinsicht war der
Islam dann auch für ihn noch stärker als die „römische“ Lehre eine
Larve teuflischen Betruges. Dabei konzedierte er dem Islam wie dies
auch Luther tat, dass die muslimische Religion in ihrer Erscheinung so
beeindruckend sei, dass „wir jhnen das wasser nit moechten bieten“856,
doch blieb es für Franck dabei, dass die Muslime ebenso wie die
„Papisten“
den
Grundfehler
begingen,
sich
auf
äußere
Frömmigkeitsformen - die Werke - in ihrem Gottesverhältnis zu
beziehen. Mit einer Fülle von herangezogenen Bibelstellen versuchte
Franck dann seine These zu begründen. Seine diesbezüglichen
Ausführungen münden in die Feststellung, letztlich wirke durch diese
Haltung nicht Gott im Menschen, sondern dieser selber. Dieses
menschliche Tun aber sei Sünde. Soweit bewegt Franck sich noch in
den Bahnen der lutherischen Reformation. Die spirituale Ausrichtung
Francks wird aber bald deutlich. Ziel aller Frömmigkeit muss es für
Franck sein, den eigenen Willen aufzugeben und Gott „lassen
machen“857, also die mystische Grundtugend der „Gelassenheit“ zu
üben, die gleichzeitig eine Führung durch den Heiligen Geist intendiert.
Deutlich wird dann hier die Nivellierung der herkömmlichen religiösen
Grenzen. Nicht die äußere Religion und auch nicht die Konfession
854
855
856
857
Ebd., 311ff.
Ebd., 311.
Ebd., 312.
Ebd., 317.
189
entscheiden formal über das rechte Gottesverhältnis, sondern die
Gottverbundenheit im Heiligen Geist, die Franck als Einwohnung Gottes
im Menschen versteht. Dieses Gottesverhältnis kann sich für ihn
allerdings anscheinend zunächst nur im Rahmen des christlichen
Glaubens vollziehen.858 Gegen Ende seiner Ausführungen beginnt
Franck seine eigenen Anschauungen dann jedoch zu weiten, wenn er
ernsthafte Frömmigkeit in allen Religionen durchaus zu schätzen weiß.
Diese Frommen sind
„Gottes kinder, so got wie allenthalb also auch yn der Türckey hat, die
diesen wandel ym glauben mit ernst vnnd hertzen furen, wie auch vnter
vns yn vermeinter Christenheit die gotseligenn.“859
Offensichtlich handelt es sich bei diesen Frommen um sozusagen
unbewusste
Christen,
denn
Franck
fährt,
nachdem
er
die
heuchlerischen Scheingläubigen verdammt hat, fort, in diesem
Zusammenhang darauf hinzuweisen:
„Dann wie vil Christenn mitten vnter den wolffen yn der Türckey vnd
heydenschafft, Also zweyfelt mir nit, vil Türcken, vnd boeser dann
Türcken seind yn vermeinter Christenheyt.“860
Franck
wendet
sich
also
nicht
gegen
die
türkischen
Frömmigkeitsformen an sich. Frömmigkeit – ernsthaft betrieben – hält
er durchaus für notwendig.
„Darnach thu disen Türckischen schein yn glauben vnd hertzen/ so
bistu kein heuchler oder Türck, ob du gleich gebarest wie ein Tuerck
odder heuchler/ sonder ein guter baum/ heilig vnd Gottes kindt yn dem
vnterschieden von eim Tuercken vnd heuchler/ das dir alles von hertzen
geet ...“861.
Ein inklusiv angelegtes Verständnis der christlichen Religion, das so
etwa bei Cusanus zu finden ist, wird hier von der Dogmatik auf die
christliche Frömmigkeit angewendet. Ging es Cusanus und anderen
Vertretern des dogmatischen Interpretationsmodells, die am Gespräch
mit dem Islam interessiert waren, darum, zu zeigen, dass in der
858
859
860
861
Ebd., 321.
Ebd., 323.
Ebd.
Ebd., 324.
190
Religion der Muslime durchaus auch vom christlichen Verständnis her
richtige Glaubenssätze vorhanden waren, so legt Franck Wert darauf,
festzuhalten, dass auch unter den „Türken“ wahrhaft Fromme zu finden
seien. Es handelt sich also in Francks Stellungnahme gegenüber dem
Islam um eine dogmatische Interpretation, die spiritualistisch entgrenzt
wird. Yoko Miyamoto hat darauf hingewiesen, dass diese Konzeption
der unsichtbaren Gemeinschaft der Gläubigen an Joachim von Fiore
erinnert.862 Insofern war die ebenfalls ja von Fiores Denken beeinflusste
Schrift des Georgius durchaus seinen theologischen Vorstellungen in
diesem Punkt entsprechend.
Darüber
hinaus erinnern Francks
Ausführungen an Müntzer und teilweise auch an Zwingli, wobei bei
Müntzer das spiritualistische Element nicht so stark hervortritt und
Zwingli eher an die erwählten „Heiden“ der Antike denkt.
In der Frage eines bewaffneten Widerstandes gegen die „Türken“ liegt
Franck auf der frühen Linie Luthers. Er lehnt diesen Widerstand nicht
rundweg ab, doch ist es nötig, zuvor Buße zu tun, um zunächst
gleichsam den „inneren Türken“ aus dem eigenen Herzen zu treiben.863
Entschieden wendet sich Franck gegen eine gewaltsame Missionierung
der Osmanen, das hieße für ihn, es den „Türken“ gleich zu tun, wobei
Franck
hier
offensichtlich
militärische
Eroberung
mit
Mission
verwechselt. Ein Tatbestand der falsch ist, weil die Osmanen von einer
gewaltsamen Missionierung in ihrem Herrschaftsbereich absahen.
Mission kann für Franck nur in der freiwilligen Annahme Christi
bestehen, etwas, das letztlich allein auch nur Christus bewirken kann.
Die Christen können lediglich dazu beitragen, in dem sie beispielhaft
wirken mit „unschuldigem leben/ wolthat/ gebet / demuot/ gedult ...“864.
Francks Äußerungen atmen eine Weite in der Auffassung menschlicher
Religiosität, die die Wittenberger
Reformation
so
nicht
kennt.
Markantester Unterschied ist dabei die Stellung zur Bibel, die dem
inneren Geistzeugnis deutlich untergeordnet ist. So wird die Bibel für
Franck auch nicht zum Schlüssel einer Geschichtstheologie. Die
Konzentration auf den Heiligen Geist als dem Medium des Wirkens
862
863
864
Miyamoto, Influence, 136.
Schimansky, Kirche, 115f.
Franck, Kriegsbüchlein, zit. in Barber, Toleranz, 151.
191
Gottes
schafft
darüber
universalistisches
hinaus
bei
Franck
Menschenbild,
das
nicht
Ansätze
primär
an
für
ein
einem
theologischen Exklusivitätsschema orientiert ist, sondern nach dem
Wirken des Geistes unter allen Menschen fragt. Die „TürkenProblematik“ ist deshalb stark von der spiritualistischen Anschauung
Francks geprägt, politische Erwägungen kommen allenfalls am Rande
seiner Ausführungen vor. Andererseits bleibt die apokalyptische
Grundhaltung, die der Tractatus des Georg von Ungarn vertritt, bei
Franck beibehalten. Dass es sich bei den Osmanen trotz allen auch
unter ihnen vorhandenen latent-verborgenen „wahren“ Frommen um
apokalyptische Gestalten handelt, wird von Franck nicht bestritten.
Insofern verlässt auch der Spiritualist und „radikale Reformator“ Franck
den apokalyptischen Interpretationsrahmen der Reformation nicht.865
Überwiegend
ist
jedoch
in
Francks
Ansatz
die
dogmatisch
entgrenzende spiritualistische Interpretation.
5.4.2.
„Der Türke“ als der jeweils andere: Paracelsus
Für den Arzt, Sozialkritiker und Spiritualisten Theophrastus Bombastus
von Hohenheim, genannt Paracelsus (1493/94-1541), ist der „Der Krieg
als Sünde, insbesondere der weltanschauliche Krieg“866 anzusehen.
Um 1533 hat er ausgehend vom biblischen Tötungsverbot den Krieg
grundsätzlich und heftig verurteilt:
„Was ist’s: man hat Orden mit Landsknechten, den Türken zu
überwinden, zu erschlagen. Was ist das anderes als Mörderei und
vermessentliche Mörderei? ... Der Feind Christi soll überwunden
werden, aber mit der Lehr, nicht mit Mörderei;... . Denn das wissen sie:
so der Glaube verkündet würde von Bischöfen etc. Pfaffen, Mönchen
etc. mit solchem Ernst als sie den Wein aussaufen und den Huren
warten – es wäre längst kein Türken mehr. Aber es ist ihnen nicht
angelegen hinzugehen, sondern wollens mit dem Schwert erobern,
heißen arme Leut wider’n Türken ziehen. Sie aber bleiben sitzen,
geben dieweil Ablass aus und wollen doch selbst nicht des Ablasses
865
866
Miyamoto, Influence, 136.
Wollgast, Friedensidee, 55ff.
192
teilhaftig werden. ... So wir Christus ... folgen, so haben wir Fried, Ruhe
und Einigkeit. Der Türke wäre nicht nach Ungarn gekommen, hätte
Kaiser (!) Ferdinand dem Woiwoden [Zápolya M.K.] das gelassen, das
er mit Recht beanspruchte, und hätte
dem Evangelium, dem Rat
Christi gefolgt, als er sollt getan haben.“867
Der Paracelsus-Forscher Kurt Goldammmer hat die Einstellung des
Paracelsus auf die Formel gebracht: „Alles Gewaltsame ist dem
biologisch
denkenden
und
pazifistischen
Mediziner
fremd
und
verhaßt.“868 Dies gilt insbesondere für den Glaubenskrieg, wie die
zitierten Stellen zeigen. Das ist um so aufschlussreicher, als Paracelsus
in
seiner
Jugend
in
Kärnten
noch
die
verheerenden
Folgen
osmanischer Einfälle vor Augen hatte. Deshalb lehnte Paracelsus zwar
durchaus und entschieden den Glaubenskrieg ab, schloss aber eine
militärische Notwehr gegen die Osmanen nicht aus. Mit Luther
verbindet sich Paracelsus hier in der gemeinsamen Ablehnung, den
Krieg gegen die „Türken“ zu einer Glaubenssache zu machen, aber er
unterscheidet sich von ihm darin, dass er auch die christliche Obrigkeit
in der Gestalt des Kaiserbruders Ferdinand deutlich kritisiert. Fragen
über die Rechtmäßigkeit des habsburgischen Anspruches auf Ungarn,
wie Paracelsus sie hier behandelt, sind Luther oder Melanchthon nie
gekommen. Indem sich Paracelsus so kritisch mit der habsburgischen
Ungarn-Politik auseinandersetzt, kritisiert er direkt auch deren „TürkenPropaganda“: Nicht „raubgierige“ Osmanen wollten nach Ungarn,
sondern das „imperialistische“ Streben der Habsburger hat deren
Eingreifen in Ungarn provoziert.
Die theologische Einschätzung der Osmanen ist bei Paracelsus
insgesamt
ambivalent.
Grundsätzlich
beharrt
er
auf
seiner
spiritualistischen Auffassung, dass „aus der ordnung gottes seindt vil
weg zu got“869: Paracelsus sieht beide, Muslime und Christen auf
diesem Weg. Das entscheidende Kriterium ihrer Erwählung ist dabei
nicht der Glaube, sondern die Liebe, tätige Philanthropologie. Doch
finden sich bei ihm auch kritische Bemerkungen, wenn er die „iustitia
867
868
869
Paracelsus, Krieg, 62.
Goldammer, Friedensidee, 21.
Zit. in ebd., Paracelsus, 33.
193
civilis“ der Völker ähnlich wie Luther als Götzendienst ablehnt.870 Wie
der Wittenberger Reformator kann er diesen Götzendienst jedoch
ebenfalls in der christlichen Religion entdecken,871 doch kann er eben
nicht finden, dass mit der evangelischen Kirche eine bessere
Alternative zu den bisherigen kirchlichen Sozialgestalten entwickelt
worden sei.
Die Frage nach der apokalyptischen „Funktion“ der Osmanen stellt sich
auch bei Paracelsus. Er selbst war neben seiner ärztlichen Tätigkeit
auch Astrologe. Dabei hat Paracelsus sich u.a. mit den Vorhersagen
Johannes Lichtenbergers beschäftigt, so dass die Frage interessant ist,
wie er aus dieser Perspektive die Osmanen einschätzte. Waren sie ihm
ebenfalls Gestalten der Endzeit? Paracelsus’ Äußerungen sind
offensichtlich nicht bloße Prophezeiungen künftiger apokalyptischer
Ereignisse, sondern auch hier schlägt seine spiritualistische Auffassung
durch:
„Was nützte es der Seele, daß ein vom Mars begünstigter Christ mit
glücklicher Konstellation den Türken und alle Sarazenen erschlüge?
Nichts, denn das ist der Seele verhaßt. Denn stets wollen wir nach der
Weisheit der Herzens handeln und wandeln und nichts von dem
Himmel annehmen.“872
Weiter heißt es: „Nun sehet wiederum, wie der Himmel sein Glück und
Unglück zuschickt. Wie oft hat er Ungarn vom Türken einnehmen
lassen! Wie oft hat er den Ungarn den Sieg verliehen, so daß sie dem
Türken ihre Niederlagen vergolten haben! So war stets eines nach dem
andern. Das wir auch immerdar so sein, bis der Himmel diese
Konstellation ändert.“873
Für Paracelsus geht es also weniger um die Entdeckung eines
göttlichen Heilsplanes in der Geschichte, denn um die Akzeptanz der
astrologisch gewonnenen Erkenntniss. Erst wenn die Gestirne ihre
Konstellation ändern, kann die Geschichte einen neuen Verlauf
nehmen.
870
871
872
873
Ebd., 33ff.
Vgl. seine Schrift De septem punctis idolatriae christanae. Dazu Gause,
Paracelsus.
Paracelsus, Auslegung, 1046f.
Ebd.
194
Die eigentliche fundamentale Bedeutung der Auslegung des Paracelsus
jedoch liegt darin, dass er die Auseinandersetzung mit den Osmanen
vollständig
spiritualisiert
und
dabei
den
Begriff
„Türke“
als
innerchristlichen Kampfbegriff entlarvt, indem er das hohe polemische
Potential des Begriffes thematisiert. Der „Türken-Diskurs“ wird nach
seiner Meinung hauptsächlich als Mittel zum Zweck der Verunglimpfung
des Gegners geführt, um die Osmanen geht es dabei nur am Rande.
Zwar nimmt auch Paracelsus an, dass es zu einer Endschlacht bei Köln
kommen werde, wie es Lichtenberger vorausgesagt habe, doch ist
keineswegs sicher, dass die Osmanen darin involviert sind. Er sagt
voraus, diese Schlacht sei vielmehr ein Kampf, in dem der letztliche
Sieger, wer auch immer es sei, behaupten werde, der Unterlegene sei
„der Türke“ gewesen. „Der Türke“ ist sozusagen immer der andere:
Dem Besitzenden der Arme, dem Armen der Reiche usw. Indem
Paracelsus den Konflikt seiner Zeit nicht mehr entscheidend auf dem
Gebiet der Religion sich abspielen sieht, sondern ihn im Bereich des
Sozialen ansiedelt, gibt er der Lichtenberger’schen Pronosticatio eine
völlig neue Auslegung.874
In seiner Sozialkritik ist er dabei mit Luther verbunden, wenn auch
Luther den Konflikt nicht wie Paracelsus in den sozialen Bereich
transformiert. Bei Paracelsus ist andererseits auch das Fehlen eines
„klassischen“ apokalyptischen Interpretationsmodells bezüglich der
Osmanen festzustellen. Seine
Anschauungen sind ebenfalls so
spiritualisiert, dass „der Türke“ nur noch zu einer Chiffre wird. Die
dogmatische Interpretation verurteilt schließlich Christentum und Islam
gleichermaßen bzw. sieht beide noch nicht als in ihrer gegenwärtigen
Gestalt vollendete Religionen an.
5.4.3.
Die Türken im Endkampf: Melchior Hoffmann
Zu den profilierten Vertretern einer gewaltlosen Täuferkirche gehört
Melchior Hoffmann.875 Hoffmann, ein gelernter Kürschnergeselle aus
Schwäbisch-Hall, wirkte zunächst ab 1523 als Laienprediger im
874
875
Vgl. auch Kurze, Lichtenberger, 64ff.
Zu Hoffmann vgl. besonders, Deppermanns Biographie.
195
baltischen
Livland.
Hoffmann
verkörpert
dabei
typisch
Eigenschaften der „Laienprädikanten der frühen Reformationszeit“
die
876
:
Nach anfänglicher Duldung wurde bald von den Magistraten und den
Reformatoren die „Gefährlichkeit“ der frei berufenen Prediger, dieser
‚unruhigen, saturnischen, melancholischen, fanatischen Menschen, die
herumschweifen’877, erkannt. Wandten sich diese doch nicht nur gegen
das
Papsttum,
sondern
bald
auch
gegen
die
evangelisch-
landeskirchliche Reformation. Dies gilt auch für Hoffmann. 1526 wurde
er aus Livland ausgewiesen. Ein unruhiges Wanderleben begann, was
wiederum nicht ungewöhnlich für die sich am Beispiel des Apostels
Paulus, der seinen Lebensunterhalt bekanntlich als Handwerker
verdiente,
orientierenden
Prediger
war.
Der
Hoffmann-Biograph
Deppermann schreibt.:
„Häufig gehörten sie [die Laienprediger M.K.] dem Stand der
wandernden Handwerksgesellen an, der auf Grund seiner sozialen
Situation zur Unzufriedenheit und zum Protest neigte, gleichzeitig aber
auch über ein ungewöhnliches Maß an Mobilität, Risikobereitschaft,
Kontaktfähigkeit und Weltkenntnis verfügte.“878
Hoffmanns Predigt war von Anbeginn an apokalyptisch geprägt. Dabei
dürfte Hoffmann auch von Johannes Hilten, der in Dorpat gewirkt
hatte,879 zumindest indirekt beeinflußt worden sein. Hoffmann lehrte,
der „jüngste Tag“ stehe unmittelbar bevor.880 Das Buch Daniel war ihm
dabei wie so vielen anderen in dieser Zeit Inspirationsquelle. 1526, also
mehrere Jahre vor den entsprechenden Arbeiten Luthers und
Melanchthons, gab er einen eigenen Daniel-Kommentar heraus, der
das Ende der Welt für das Jahr 1533 voraussagte.881 Zunächst sollte
ab 1526 für dreieinhalb Jahre das Evangelium dem ganzen Erdkreis
verkündet werden, bevor dann mit kaiserlicher Unterstützung der Papst,
der für Hoffmann der Antichrist war, seine Macht zurückgewinne.
876
877
878
879
880
881
Deppermann, Art.: Hoffmann, 323.
Zit. in ebd., 323.
Ebd., 323.
Deppermann, Hoffmann, 70.
Vgl. ebd., 65ff.
Ebd., 67ff.
196
Danach würden die „Türken“ die Herrschaft übernehmen und dann
Christus das Endgericht heraufführen.
Nach Aufenthalten in Stockholm und im norddeutschen Raum kam
Hoffmann 1529 nach Straßburg, „dem Treffpunkt der europäischen
Nonkonformisten“882, das er bald für das neue „himmlische Jerusalem“
hielt und deshalb als Zentrum der zukünftigen apokalyptischen
Ereignisse und eines neuen chiliastischen Reiches ansah. Sich selbst
hielt Hoffmann nun für den in seinem Daniel-Kommentar geweissagten
wiederkommenden Propheten Elia.883 Hoffmann fand in Straßburg, wo
es schon verschiedene Täufergruppen gab, 884 zahlreiche Anhänger.
Mit dem Näherrücken der osmanischen Machtsphäre ab 1526/1529
wurde dann auch die „Türkenfrage“ virulent. Ursula Jost, eine der
treusten Anhängerinnen Hoffmanns, die sich selbst als Prophetin
verstand, schaute in einer Vision „den Türken“ als eine schwarze
Gestalt, von der jedoch paradoxerweise Licht ausging. Ihr wurde
offenbart, dass es sich dabei um die „Kraft Gottes“ handle, durch die
dieser mittels der Osmanen sein Strafgereicht an der Christenheit
vollziehe.885 Dass Hoffmann sich mit diesen Visionen identifizierte, lässt
sich daraus erschließen, dass er für ihren Druck sorgte.886 Auch Ursula
Josts Ehemann Lienhard verkündete Visionen, die Hoffmann ebenfalls
in den Druck gab. Hier wurden die endzeitlichen Ereignisse, in denen
der „Türke“ eine gewichtige Rolle spielte, noch deutlicher. Nach
Lienhard Jost sollten die Osmanen sowohl den Papst, Priester und
Mönche, wie überhaupt alle Unbußfertigen vernichten, ebenso auch
König Ferdinand, während Kaiser Karl V. von den Osmanen gefangen
genommen werde. Danach erscheine ein „Pastor Angelikus“, der die
ganze Welt mitsamt den „Türken“ bekehren werde.
1530
verließ
Hoffmann
Straßburg,
um
seiner
drohenden
Gefangennahme durch die örtlichen Behörden, die die täuferischapokalyptischen Umtriebe nicht duldeten, zu entgehen. Er wirkte für
drei Jahre in Ostfriesland und den Niederlanden.
882
883
884
885
886
Deppermann, Art.: Hoffmann, 329.
Ebd., 140.
Ebd., 174ff.; 185f.
Ebd., 183.
Ebd., 180.
197
In der 1529 erschienenen “Weissagung usz heiliger götlicher geschrifft.
Von den truebsalen dieser letsten zeit. Von der schweren hand vnf
straff gottes über alles gottloß wesen. Von der zukunfft des Türckischen
Thirannen vnd seines gantzen anhangs. Wie er sein reiß thun vnnd
volbringen wirt vns zu einer straff vnnd ruten. Wie er durch Gottes gwalt
sein niderlegung vnnd straff entpfahen wirt“887 sowie der 1530 dem
dänischen König Friedrich I. gewidmeten Auslegung der biblischen
Apokalypse „Auslegung der heimlichen Offenbarung“888 wird dann auch
von Hoffmann selbst die Rolle der Osmanen stärker profiliert, wie
überhaupt die endzeitlichen Ereignisse stärker präzisiert werden. Von
einer „höllischen Dreifaltigkeit“ aus Papst, Kaiser und Mönchtum ist die
Rede, die sich zum Ziel setzt, den durch die täuferische Predigt
erneuerten Tempel Gottes zu zerstören. Dagegen wendet sich ein Heer
frommer Könige und Gläubiger. Doch zuvor erscheinen Gog und
Magog, die als die „Türken“ verstanden werden. Sie besiegen die
Gottlosen, vernichten jedoch auch die Frommen. Auf dem Höhepunkt
der Ereignisse bricht der „Jüngste Tag“ an.
1533 ging Hoffmann nach Straßburg zurück, wo er den Anbeginn der
endzeitlichen Ereignisse sich nun vollziehen glaubte. Hier schloß er
sich offensichtlich unter dem Einfluss der täuferischen Kreise
chiliastischen Vorstellungen an.889 Nicht mehr den wahrhaft Frommen
stand nun das Martyrium vor dem Endgericht bevor, sondern vielmehr
sollten jetzt allein die „Ungläubigen“ vernichtet werden, bevor das
Friedensreich Christi anbreche. Seine jetzt durch den Magistrat erfolgte
Verhaftung begrüßte Hoffmann freudig als Beginn dieses Geschehens.
Als jedoch die geweissagten Ereignisse ausblieben, hoffte er auf eine
endzeitliche Reformation, die von den freien Reichsstädten ausgehen
sollte.
Die Bewegung der sog. Melchioriten zerbrach mit dem Ausbleiben der
endzeitlichen Katastrophe von 1533 bald in eine radikale gewaltbereite
Richtung, die dann im Täuferreich von Münster ihre Gestalt und ihr
887
888
889
Zitiert wird hier der ausführliche Titel, um die hervorgehobene Bedeutung der
Osmanen aufzuzeigen; vgl. Deppermann, Hoffmann, 346.
Ebd., 217.
Deppermann, Art.: Hoffmann, 330.
198
Ende fand, und in eine weiterhin von Hoffmann indirekt geführte
Straßburger Gruppe, die ohne eigene Gewaltanwendung das Ende der
Welt ersehnte. Hoffmann selbst starb 1543 nach zehn Jahren
Kerkerhaft.
Im Wiedertäuferreich zu Münster spielte dann die Gefahr der Osmanen
keine nennenswerte Rolle. Sie wurden faktisch zum symbolischen
Begriff, gemeint war jetzt der „eigene ‚Türke’“, der im Inneren
Deutschlands auch das „Königreich der letzten Tage“ bedrohte.890
Wenn sich auch die chiliastischen Hoffnungen nicht erfüllt hatten, so
war die Betonung der Apokalyptik bei den radikalen reformatorischen
Gruppen ein Merkmal gewesen, das allerdings ohne das chiliastische
Element erst später von der Wittenberger Reformation übernommen
wurde. Die Osmanen spielten in beiden Gruppen im Sinne des
apokalyptischen Modells eine Rolle. Während sie jedoch bei den
Täufern eher weiter als Gottesgeißel gegenüber allen „Ungläubigen“,
d.h. allen Nicht-Wiedergetauften, fungierten, blieben sie Luther die
Helfershelfer des päpstlichen Antichrist.
5.5.
Zwischenbilanz
War die apokalyptische Grundhaltung bisher die Angelegenheit der
radikal-reformatorischen
Kreise,
so
gewann
ab
1529
diese
Grundstimmung auch bei Luther eindeutig die Oberhand. Dabei
geschah dies nicht wegen des Beispiels der „Schwärmer“, sondern eher
trotz deren apokalyptischen Anschauungen. Vermittelt wurden diese
Auffassungen Luther ganz offensichtlich durch Melanchthon, der
zusammen mit diesem die am biblischen Buch Daniel orientierte VierMonarchien-Lehre zur gleichsam normativen Geschichtsauffassung der
lutherischen Konfession machte. Luther und Melanchthon lassen damit
den breiten Strom apokalyptischer Anschauungen weiter anschwellen,
doch bleiben signifikante Unterschiede zur radikalen Reformation weiter
bestehen, die besonders in der Ablehnung chiliastischer Auffassungen,
wie sie in dieser Zeit etwa Melchior Hoffmann übernahm, durch die
lutherische Reformation deutlich werden.
890
Rommé, Königreich, 34.
199
Völlig
von
diesen
Annahmen
getrennt
entwickelte
sich
die
schweizerische Reformation durch Zwingli, der in einem hohen Maß
politischer Rationalität dass „Türkenproblem“ einzuordnen versuchte,
während bei Johannes Brenz eine deutliche Nähe zu Luther
festzustellen ist, ohne dass dieser wie der Wittenberger Reformator die
apokalyptische Grundhaltung zu einer Auffassung vom unmittelbar
bevorstehenden Ende steigert.
Einen spezifischen Neuansatz versuchten die Spiritualisten, die unter
grundsätzlicher Beibehaltung des apokalyptischen Schemas, dass
allerdings bei ihnen zurück tritt, jenseits dogmatischer Kriterien nach
den wahrhaft Frommen in allen Religionen suchten. Bei unbestrittener
Verurteilung des Islam als Religion entstand unter ihnen doch eine am
gemeinsamen Humanum bzw. potentiell vorhandenen Geistbesitz aller
Menschen orientierte Sicht der Dinge, die kritisch zu allen handelnden
politischen wie religiösen Kräften stand. Die bleibende Pluralität der
Auffassungen gegenüber den Osmanen innerhalb der Reformation und
darüber hinaus überhaupt im Abendland ist signifikant für das
Entstehen einer differenzierten Meinungskultur in der frühen Neuzeit.
6.
Luthers verstärkte theologische Auseinandersetzung
mit dem Islam ab Mitte der 1530iger Jahre
6.1.
Der islamische Schöpfungsglaube als Ergebnis der
Rationalität
In
den
1530iger
Auseinandersetzungen
Jahren,
mit
den
in
denen
Osmanen
die
militärischen
zumindest
an
der
Reichsgrenze geringer wurden, vertiefte Luther seine theologische
Auseinandersetzung mit dem Islam. Dies geschah auch nach der
neuerlichen
Bedrohung
ab
1540
weiter,
doch
wurde
diese
Beschäftigung dann wieder von politisch begründeten Stellungnahmen
und später zusätzlich noch von einer scharfen Anti-Islam-Polemik
überformt. Den Rahmen, in dem Luther seine Auseinandersetzung
vornahm, bildeten besonders die Große Genesis-Vorlesung, die Luther
von 1535 bis 1545 hielt, sowie die zahlreichen Promotionsdisputationen
200
in dieser Zeit. In diesen Zusammenhängen sind die Osmanen bzw. der
Islam
jedoch
immer
ein
Thema
unter
anderen.
Eine
eigene
systematisch-theologische Schrift zum Islam hat Luther nie verfasst.
Trotzdem lassen sich klare theologische Grundlinien in der Stellung
Luthers zu der Religion der Muslime herausarbeiten. Diese Haltung
wird unter zwei grundsätzlichen Aspekten, die jedoch kaum säuberlich
voneinander getrennt werden können, deutlich. Einmal erörtert Luther
die
Religion
der
Muslime
unter
dem
Gesichtspunkt
des
Schöpfungsglaubens zum anderen unter der Frage der Stellung des
Islams zum Evangelium.
Luther bestreitet den „Heiden“, in diesem Zusammenhang ist dann auch
von den „Türken“ die Rede, grundsätzlich nicht die Annahme der
Existenz eines Gottes. Im Anschluss an Cicero hält er die Postulierung
einer Gottheit als Konstitutivum für Kultur und Menschlichkeit
schlechterdings für unerlässlich:891 „Die natur gibt, das man Gott sol
anrufen, Das zeygen auch die Heyden an, ...“892.
Luther kann dabei durchaus zu einer bedingten positiven Einschätzung
dieser wesentlich in der Rationalität des Menschen begründeten
Gotteserkenntnis
kommen:
„Divinitas
est
naturaliter
cognita.“893
Grundsätzlich ist die Rationalität des Menschen, wie er besonders in
der Disputatio „De homine“ 1536 betont, die größte Gottesgabe an den
Menschen.894 In ihr lag vor dem Sündenfall die Gottebenbildlichkeit des
Menschen und die „vera notitia Dei“895 begründet.
Dass also zur Religiosität der Muslime wie eben aller Menschen und
Religionen auch die Annahme eines Gottes gehört, ist Luther
selbstverständlich,
weil
dies
eben
schlicht
ein
menschliches
Grunddatum ist. Hier ist eine gemeinsame Grunderkenntnis fast aller
Religionen angesprochen, die zum Ausgangspunkt einer positiven
Auseinandersetzung zwischen den Religionen gemacht werden kann.
Luther
hat
jedoch
eine
positive
Möglichkeit
der
Anknüpfung
grundsätzlich ausgeschlossen. Dies ist für ihn der Irrweg der
891
892
893
894
895
Vgl. Ratschow, Religionen, 16; Blöchle, Heidentum, 194.
WA 9, 24f.
WA 40 I, 607.
WA 39 I, 175; vgl. auch Maurer, Luther, 128ff.
WA 42, 47; vgl. Lohse, Theologie, 215.
201
„scholasticis“896,
mundo“
898
und
„speculationes
„Philosophi“
899
theologorum“897,
„sapientissimi
in
und immer auch der der „Papisten“,
Juden und „Türken“. Die Gründe für diese Ablehnung liegen in den
Spezifika seines Gottesverständnisses. Um dies zu erläutern, muss
zunächst kurz Luthers allgemeine Auffassung von der Schöpfung
verdeutlicht werden:
Für Luther ist das Schöpfersein Gottes zutiefst Bestandteil seiner
Gottheit.900 Dabei ist die Schöpfung kein abgeschlossener Vorgang,
der in der Vergangenheit liegt, sondern ein dauerndes Ereignis. Zwar
hat Gott zu einem bestimmten Zeitpunkt die Welt ins Sein gerufen,
trotzdem aber ist seine fortwährende Erhaltung ebenfalls als jeweils
aktuale Schöpfung zu verstehen: „Gott schaffts doch teglich.“901 In
diesem Sinne ist dann etwa auch die bekannte KatechismusAuslegung zum Ersten Gebot zu lesen: „Ich glaube, dass mich Gott
geschaffen hat samt allen Kreaturen ... und noch erhält; ...“902.
Schöpfungs- und Erhaltungswirken sind also für Luther gleichsam zwei
Aspekte eines Handelns, das durch sein Wort (Joh 1,1) geschieht.903 Im
Wortbegriff kommt es dann zu einer Verbindung mit der Christologie,
wenn Christus als „Wort Gottes“ somit zum Schöpfungsmittler wird.904
Gott als der Schöpfer kann also abseits der Christologie nicht
sachgemäß erfasst werden. Ein Sachverhalt, der dann für die
Beurteilung der muslimischen Gotteserkenntnis aus der Schöpfung von
Bedeutung ist.
Die fortwährende Aktualisierung der Schöpfung, die von einem
deistischen Gottesverständnis von Gott als dem „ersten Beweger“, der
die Welt dann sich selbst überlässt, weit entfernt ist, schafft einen
außerordentlich engen „existentiellen Bezug“.905
Schöpfung ist nicht
nur ein allgemeines, sondern auch ein persönliches Ereignis, wie es in
896
897
898
899
900
901
902
903
904
905
WA 40 III, 78.
Ebd., 335.
WA 31 I, 307.
WA 41,551
Vgl. dazu etwa Althaus, Theologie, 99.
WA Tr 5,17 (1540).
Luther, Kleiner Katechismus, 6.
WA 42,27.
Ebd., 14f.
Lohse, Theologie, 258.
202
der schon genannten Katechismus-Auslegung auch heißt: „Ich glaube,
dass Gott mich geschaffen hat, ...“. Das rechte Verständnis der
Schöpfung ist dabei eine wesentliche Grundbedingung für den rechten
Glauben, zumal hier schon eine Verbindung zu der für Luther
schlechterdings zentralen Rechtfertigungslehre hergestellt wird, wenn
es in der Katechismus-Auslegung dann weiter heißt „... und das alles
aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohne all mein
Verdienst und Würdigkeit.“906
Die Verzahnung der Gottesvorstellung mit der Christologie und damit
zusammenhängend mit der Rechtfertigungslehre macht nun eine
positive Anknüpfung an die Gottesannahme aller Religionen und eben
damit auch der Muslime grundsätzlich unmöglich, da diese weder eine
Christologie noch die Rechtfertigungslehre kennen. Nur mit Hilfe jener
Voraussetzungen entscheidet sich aber, ob das Gottesverhältnis des
Menschen wirklich gelingt; denn Luther ist weniger an gewissen
ontischen Voraussetzungen und Gegebenheiten interessiert, als an der
voluntativen
Seite
des
Gottesbildes
und
damit
auch
des
Schöpfungsverständnisses. Die Welt ist aus Gottes Willen geschaffen
und sie existiert nur durch diesen. Dieser Wille aber ist Heilswille, der
im Christusgeschehen sein Zentrum findet. Doch gerade dieses
Zentrum wird von den Muslimen und mit ihnen den anderen „Heiden“
nicht erkannt. So heißt es 1542 in der Promotionsdisputation für
Heinrich Schmedenstedte:
„Frustra Turcae et gentes aliae credunt in creatorem mundi, ... imo
blaphemant, eum non esse patrem Christi ungeniti filii. Frustra credunt
papistae et sophistae Deum patem et omes articulos alios fidei nostrae,
dum respuunt opus Christi pro nobis impletum. Negant enim, sola fide
seu, quod idem est, solius Christi opere impleto nos iustificari.“907
So ist zwar die Annahme eines Schöpfergottes durch die „Heiden“
grundsätzlich richtig, es „geht jedoch der eigentliche Gewinn dieser
Einsicht dadurch verloren, daß es an der rechten Erkenntnis des
Heilswillen Gottes gebricht.“908
906
907
908
Luther, Kleiner Katechismus, 6.
WA 39 II, 188.
Gerhard Ebeling, Lutherstudien II, 424.
203
In
der
Auslegung
des
Glaubensbekenntnisses
im
„Großen
Katechismus“ heißt es dazu:
„Darum unterscheiden und sondern diese Glaubensartikel uns Christen
von allen andern Leuten auf Erden. Denn die außerhalb der
Christenheit sind, seien es „Heiden“, Türken, Juden oder falsche
Christen und Heuchler, mögen zwar nur einen wahrhaftigen Gott
glauben und anbeten, aber sie wissen doch nicht, wie er gegen sie
gesinnt ist.“909
In scharfer Abgrenzung gegen die scholastische Theologie ist somit von
der rationalen Gotteserkenntnis her der Glaube an den Gott Jesu
Christi keine Konsequenz vernünftigen Denkens. Zwar weiß die
menschliche Vernunft um Gott, doch weiß sie nicht, wer dieser Gott ist:
„Die Vernunft spielt Blindekuh mit Gott und tut eitel Fehlgriffe und
schlägt immer neben hin ...“910 .
In der letzten von Luther durchgeführten Promotionsdisputation911 1545
fasst er deshalb nochmals zusammen:
„Totus mundus est contrarius huic propositioni, quia Turcae, gentes et
alii omnes fatentur et credunt, Deum omnio condidisse
coelum
et
terram, sed incarnationis articulum Iesu Christi non credunt. Ergo
articulus incarnationis est difficilior creditu quam articulus creationis.“912
Diese aus Luthers Sicht mangelnde Gotteserkenntnis ist jedoch nicht
nur eine Defizitbeschreibung, sondern letztlich eine radikale Verkehrung
des richtigen Glaubens, deren Ursprung diabolisch ist.913 Deshalb aber
ist der Gottglaube der „Heiden“ „Abegoetterey“914: „Extra Christum
idolatria.“915 Dieser Irrglaube ist vom Teufel bewirkt, was Luther dann
auch auf den Islam bezieht.916
Paradoxerweise aber schließt diese Abgötterei, wie oben dargestellt,
gewisse Grundlagen der Ethik nicht aus: „Und derhalben ist es
natuerlich, Gott ehren, nicht stelen, nicht ehebrechen, nicht falsch
909
910
911
912
913
914
915
916
Luther, Großer Katechismus, 98.
WA 19, 207.
Brecht, Luther III, 137.
WA 39 I, 388.
WA 19, 207,
WA 24,9f.
WA 40 I, 611.
WA 31 II, 345; WA 30 II, 129.
204
gezeugnis geben, nicht todschlagen ...“917. Deshalb kann Luther
durchaus eine Form bürgerlicher Gerechtigkeit unter den „Heiden“
anerkennen.
Von der islamisch vorhandenen Kenntnis über Jesus, bzw. seiner
Einschätzung als Prophet kann Luther gelegentlich auch auf die von
Johannes Damascenus u.a. her bekannte Linie einschwenken, der
Islam sei eine ursprüngliche Häresie des Christentums. Dabei geht
Luther teils davon aus, dass der Islam sich von dem frühchristlichen
Ketzer Arius ableitet, bzw. auch Macedonius und Nestorius zu den
frühen (Irr-)Lehrern des Propheten Mohammed gehört haben.918 Trotz
dieser gelegentlich vorkommenden historischen Reminiszenzen rechnet
Luther den Islam aber grundsätzlich wie die Scholastik zum
Heidentum.919
6.2.
Der „usus politicus legis“ bei den Osmanen
Oben wurde schon angedeutet, dass Luther paradoxerweise, obwohl er
den Glauben der nichtchristlichen Religionen als Abgötterei ansah,
doch
auch
eine
gewisse
bürgerliche
Zivilisationsleistung
den
nichtchristlichen Kulturen keineswegs absprach. Dies geschieht bei
Luthers theologischer Auseinandersetzung mit dem Islam und anderen
917
918
919
WA 24,9f.
WA 50, 575; 54, 160 u.ö. Der später als „Erzketzer“ verurteilte
alexandrinische Presbyter Arius (gest. 336) bewirkte den ersten großen
dogmatischen Streit innerhalb der konstantinischen Reichskirche. Er betonte
die Unterordnung Jesu Christi als geschaffenen Logos unter Gott. Diese
Auffassung minderte nach Auffassung der Gegner des Arius das Heilswirken
Christi, weil es seine Göttlichkeit herabstufte. Arius ging es eher um die
Betonung der vollen Transzendenz Gottes. Sein subordinatarisches
Christusverständnis wurde auf Synoden 318 in Alexandrien und 324 od. 325
in Antiochia als häretisch verurteilt. Die erste Reichssynode in Nicäa lehnte
den Arianismus ebenfalls ab. Historische Bedeutung erlangte diese Lehre u.a.
dadurch, dass die ostgermanischen Reiche bei ihrem Übertritt zum
Christentum eine dem Arianimus ähnelnde Christusauffassung übernommen
hatten, vgl. Hauschild, Kirchen- und Dogmengeschichte I, 28ff; 168, 357.
Der Patriarch von Konstantinopel, Nestorius (gest. 451), betonte gegenüber
seinem Gegenspieler, Bischof Cyrill von Alexandrien, innerhalb der Person
Jesu Christi die strikte Trennung von göttlicher und menschlicher Natur. Der
Streit war in wesentlichen Teilen auch kirchenpolitisch motiviert. Nestorius
wurde 435 in die Verbannung geschickt. Als ostsyrisch-persische Kirche
haben die Anhänger der Lehren des Nestorius als Missionskirche dessen
Auffassungen sowohl im persischen Sassanidenreich wie dann auch unter der
Herrschaft der Muslime weit, bis hin nach China, verbreitet. Hauschild,
Dogmengeschichte I, 180ff., 213.
Blöchle, Heidentum, 156.
205
Religionen meist auf dem Hintergrund des theologischen Topos von
„Gesetz und Evangelium“, den Luther gerade in den dreißiger Jahren
ausführlich entfaltet hat. Hintergrund dafür war der sog. Antinomistische
Streit mit Luthers ursprünglich engem Weggefährten Johann Agricola
(1492/94-1566) und dessen Anhängern.920 Im Kern ging es hier um die
Frage nach der Heilsnotwendigkeit des göttlichen Gesetzes, die von
den sog. Antinomern abgelehnt wurde.
Ausgangspunkt dieses Streites war zunächst einmal Luthers Distinktion
von „Gesetz und Evangelium“, die von ihm und anderen Reformatoren
als „Feldzeichen rechter reformatorischer Lehre“ aufgerichtet wurde.921
Luther unterschied dabei das Wort Gottes, wie es in der Bibel zur
Sprache kommt, in die beiden gegensätzlichen Weisen des Gesetzes
als bindende Bekundung des Gotteswillens und der Überführung des
Menschen als Sünders sowie des Evangeliums als Frohe Botschaft von
der Erlösung des Menschen im Heilstod Jesu Christi. Dabei war diese
Unterscheidung nun keineswegs so zu verstehen, dass das Gesetz
identisch sei mit dem Alten und das Evangelium mit dem Neuen
Testament. Vielmehr handelt es sich für Luther um eine existentielle
Dialektik, die den Menschen entsprechend Luthers Verständnis der
menschlichen Existenz als „semper iustus et peccator“ lebenslang
begleitet, ja angreift.
Während nun das Evangelium seinen Inhalt in Jesus Christus hat, ja
dieser selber es ist, hat das Gesetz unterschiedliche Gestalt. Es
begegnet
u.a.
als
Torah
des
Judentums,
wobei
Luther
die
Zeremonialgebote als der „Juden Sachsenspiegel“922 als für die
Christen abgetan ansah, während der Dekalog von ihm mit der
Scholastik als Naturgesetz des Menschen angesehen wurde.923 Dieses
ist dem Menschen „von Natur eingepflanzet, ... und Mose allein gleich
mit der Natur übereinstimmet.“924
Die Bedeutung des Gesetzes ist aber auch für Luther nicht nur in dieser
theologisch-religiösen Hinsicht zu verstehen. Daneben gibt es auch
920
921
922
923
924
Vgl. Brecht, Luther III, 158ff.
Vgl. Albrecht Peters, Gesetz und Evangelium, 30; Maurer, Luther, 51ff.
WA 18,81.
Peters, Gesetz, 34.
WA 16, 380.
206
noch einen usus civilis legis, der dazu dient, unter den Menschen die
weltliche Ordnung aufrecht zu erhalten.925 Darüber hinaus dient das
Gesetz auch dem an Christus Glaubenden als Mahnung und
freundliche Weisung, da dieser nun im Glauben die von Jesus in seiner
Bergpredigt offen gelegte Intention des Gesetzes zu erfüllen versucht,
ohne dass er hierbei noch eine eigene Gerechtigkeit aus diesen
Werken aufrichten muss bzw. kann.926
Dadurch, dass die Antinomer diesen letzten Gebrauch des Gesetzes an
den Gläubigen ablehnten, sah sich Luther zu einer grundsätzlichen
Erörterung des Themas veranlasst, die besonders in mehreren
Disputationen zum tragen kam. Dabei kam Luther im grundsätzlichen
Zusammenhang
Bedeutung
seiner
des
usus
Ausführungen
civilis,
also
auch
die
mehrfach
allgemeine
auf
die
gleichsam
ordnungspolitische Funktion des Gesetzes, zu sprechen. Oben war
schon deutlich gemacht worden, dass Luther diese Funktion auch den
nichtchristlichen Religionen zusprechen konnte, das galt insbesondere
für die Osmanen. An zahlreichen Stellen finden sich überaus positive
Einschätzungen Luthers des osmanischen Gemeinwesens: Schon in
seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“ bezog Luther
sich darauf: „Man sagt, das kein feyner weltlich regiment yrgend sey,
dan bey dem Turcken, ...“927. Eine Feststellung, die er in der Schrift
„Zwei kaiserliche uneinige und widerwärtige Gebote den Luther
betreffend“ 1524 ausdrücklich aufnahm, wenn er die Osmanen als
„zehen
mal
klüger
und
frummer“928
bezeichnete
als
das
Reichsregiment. Noch in seiner späten großen Genesis-Vorlesung
konnte er die Osmanen als „homines honestissimi, sapientissimi et
religosissimi, rerum magnis laboribus partum serverissima disciplina
retinent“929 bezeichnen. Und er schlußfolgerte weiter:
925
926
927
928
929
WA 2, 43.
Peters, Gesetz, 47ff.
WA 6, 459.
WA 15,277.
WA 43, 385.
207
„Si itaque talis esset populus Dei, qualis Turcius populus est, nihil
ampius requirendum esset. Insuper a Deo ornantur opulentia, sapientia,
gloria, ratione et clarissimis victoriis.“930
In Heerpredigt gegen die Türken 1528 bezeichnete Luther die
Osmanen als „untereinander trew und freundlich und die warheit zu
sagen sich befleissigen“931. Etwas später bescheinigte er ihnen in
dieser Predigt
„nach dem eusserlichen wandel ein dapfer strenge und ehrbarlich
wesen: ... Und haben yhr regiment eusserlich gefasset und ym
schwanck, wie wirs gerne haben wollten ynn Deudschen landen.“932
Vollends positiv waren die Aussagen in dieser Hinsicht dann 1530 in
der Vorrede zum „Libellus de ritu et moribus Turcorum“ des Georgius
de Hungaria,
933
eben jenes Werk, das wenig später auch Sebastian
Franck als „Chronica“ ins Deutsche übertragen sollte.
Das „Libellus“ war ursprünglich ein Anhang zu der schon genannten
Schrift „Contra legem sarracenorum“ des Ricoldus des Monte Crucis,
die nach einer verworrenen Textgeschichte als Rückübersetzung aus
dem Griechischen jetzt als „Confutatio Alcorani“ erschienen war.934
Luther kannte beide Schriften. Er nahm jedoch damals von der
Veröffentlichung der Hauptschrift ebenso wie von der „Cribratio
Alcorani“ des Cusanus mit dem ausdrücklichen Hinweis Abstand, dass
ihm diese zu polemisch erschienen. Anders schätzte er das „Libellus“
ein. So hieß es denn im Vorwort:
„Man sah freilich, dass sowohl jener ‚Widerleger’ als auch der Verfasser
der ‚Auswahl’ (Cribrator) aus einem gottseligen Bestreben die
einfältigeren Christen von Mahomet abschrecken und im Glauben an
Christum erhalten wollte, aber da sie sich allzu sehr befleißigen, alles,
was überaus schändlich und ungereimt ist, aus dem Alkoran
auszulesen,
was
Hass
erregt
und
den
gemeinen
Mann
zur
Gehässigkeit bewegen kann, und das Gute, das in demselben ist,
entweder übergehen, ohne es widerlegt zu haben, oder es verhehlen,
930
931
932
933
934
WA 43, 385.
WA 30 II, 127.
Ebd., 189f.
Ebd., 205ff.
Vgl. die Einführung von Ehmann in Ricoldus, Confutatio.
208
so ist es geschehen, daß sie gar wenig Glauben und Ansehen
gefunden haben“.935
Luther entschloss sich also, ohne genauere Kenntnis des Islam, nur
den „Libellus“ herauszugeben, aus dem deutlich würde, dass auf dem
Gebiet der Sitten und Gebräuche die Muslime dem Christentum weit
überlegen wären, dass es aber darauf eben aus seiner Sicht auch nicht
primär ankomme, weil „die christliche Religion etwas weit anderes sei
als gute Sitten oder gute Werke“.936 Im übrigen aber sei deutlich, dass
hier der Verfasser die Darstellung des Islam „mit der größten Treue zu
behandeln“ unternommen habe.937 Allerdings ging es Luther mit der
Herausgabe des „Libellus“ nun keineswegs darum, eine Darstellung
des Islam zu liefern, aufgrund derer konstruktiv nach Gemeinsamkeiten,
die dann wiederum ein interreligiöses Gespräch im Sinne eines
Raimundus Lullus oder Nicolaus Cusanus ermöglichten, gesucht
werden sollte. Dies war allein schon aufgrund seiner geschilderten
Schöpfungstheologie unmöglich. Luther wollte vielmehr möglichst
objektiv über den Islam aufklären.
Gerade
das
Papsttum
hatte
nach
Luthers
Meinung
die
Auseinandersetzung mit dem Islam durch eine verzerrte Darstellung
verhindert, damit eine abgewogene Schilderung des Islam nicht die
überraschenden
Parallelen
zum
Katholizismus
(Werkfrömmigkeit,
Prachtentfaltung usw.) deutlich mache. Wiederum also war das
vermeintlich antichristliche Papsttum der entscheidende Faktor, dem
sich alles andere zuzuordnen hatte. Nicht dem Islam gleichsam
Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, war für Luther das Ziel - das
negative Urteil über den Islam blieb bestehen -, sondern die bisher
verborgenen Gemeinsamkeiten von Papsttum und islamischer Religion
aufzudecken.
„Es mögen die Türken, es mögen die Papisten in diesen Dingen herrlich
sein, aber zugleich ermangeln sie des rechten Glaubens und sind dabei
935
936
937
Walch 14, 301.
Ebd., 302.
Ebd., 300
209
voll anderer Laster und vor Gott ein Greuel und den Menschen
hassenswerth.“938
Deutlich wird die Absicht Luthers, die Frömmigkeit der Muslime lediglich
als in äußeren Dingen beeindruckend, als „schönen Schein“ zu
identifizieren. Er nimmt faktisch damit den Gedankengang des
Kirchenvaters Augustin auf, der die heidnische Frömmigkeit und ihre
guten Werke als „glänzende Laster“939 bezeichnete. Deshalb ist ihre
Frömmigkeit für Luther ein Gräuel.
Trotz dieser negativen Aussagen hat Luther zu einem neuzeitlichen
Verständnis von „Religion“ hier beigetragen. Almuth Höfert hat darauf
hingewiesen, dass im Gegensatz zu dem Befund von Ernst Feil, der
den Religionsbegriff im Sinne einer „alle Vorstellungen, Einstellungen
und Handlungen“940 gegenüber einer transzendenten Wirklichkeit
umfassenden Sinndeutung erst ab 1620 sich im Unterschied zur
bisherigen Vorstellung von „Gottesverehrung“ entwickeln sieht, diese
Tendenzen auch schon in den frühneuzeitlichen Reisebeschreibungen
gegeben waren.941 Zwar konstatiert Feil den Religionsbegriff bei Luther
auch im Blick auf die „Türken“, doch nur im Sinne einer Abwertung
falscher Gottesverehrung.942
Er unterschätzt die Dynamik, die darin
bestand, dass Religiosität, christliche wie außerchristliche, nun
prinzipiell vergleichbar wurde. Dies wird auch darin deutlich, dass bei
Luther die „Turcorum seu Mahometum religionem“943 zwar als falsche,
wenn auch überaus eindrückliche Form der Gottesverehrung dargestellt
und mit der päpstlich-katholischen Religiosität verglichen wird, er sich
aber darauf nicht beschränkt. Luther gebraucht auch den bis dahin, wie
Feil annimmt, nur für das Christentum gebräuchlichen Begriff „fides“,944
wenn er ausdrücklich auch vom „fidem Mahometi“945 spricht und damit
noch vor dem Reiseschriftsteller Luigi Bassano, den Höfert als den
938
939
940
941
942
943
944
945
Walch, 305.
Augustin, Contra Julianum IV, 3, 25, 25, 32.
Feil, Religio I, 29.
Höfert, Türkenfurcht, 328.
Feil, Religio I, 241f.
WA 30 II, 206.
Feil, Religio, 147.
WA 30 II, 207.
210
Vorreiter in dieser Hinsicht ansieht,946 diesen „Glauben Mohammeds“
hier sogar inhaltlich beschreibt. Die „Etablierung des Feldes der
Religion“947 in neuzeitlicher Sicht geschieht auch schon bei Luther!
Was allerdings hier im muslimischen Glauben für Luther fehlt, ist die
Einsicht in die Rechtfertigungslehre. Wenn diese Einsicht aber nicht
vorhanden ist, wird die äußere Frömmigkeit geradezu zur Gefahr, weil
der Mensch meint, auf diesem Wege sich seine Gerechtigkeit vor Gott
selbst schaffen zu können. Selbst Luther ist nach eigener Auskunft von
diesen Gefährdungen nicht frei gewesen:
„Und wen es geluestet, der dencke mein bey diesem Exempel, das ich
hiemit bekennen will. Es hat mich der Teuffel etliche mal erwisscht, da
ich an dies heubtstück nicht gedacht, und mit spruechen der schrifft
also zu plagt, das mir himel und erden zu enge ward. ... Auch were mir
bey nahent der schendliche Mahomet zum Propheten und beide,
Türcken und Jüden, eitel heiligen geworden.“948
Unter diesem von Luther hier eingeschärften Gesichtspunkt ist dann
trotz allem die ganze Kulturleistung und Frömmigkeit der Muslime
hinfällig und zu verurteilen, so dass Luther hinsichtlich derselben auch
zu scheinbar völlig entgegengesetzten Urteilen kommen kann. So wird
in der „Heerpredigt wider die Türken“ ihr Regiment als „unchristlich und
wuest“949 bezeichnet. Etwas zuvor kann es sogar heißen:
„Zum andern leret des Turcken Alkoran odder glaube nicht allein den
Christlichen glauben verstoeren, sondern auch das gantz weltlich
Regiment.“950
Zwar ist zu beachten, dass diese Äußerungen aus einer Kriegspredigt
stammen und die zerstörerischen Wirkungen sich natürlich auch auf die
unmittelbaren Folgen kriegerischer Handlungen beziehen, aber es wäre
falsch, die negativen Urteile lediglich darin begründet zu sehen.
Hermeneutischer
Schlüssel
ist
für
Luther
tatsächlich
die
Rechtfertigungslehre. Aus dieser Perspektive muss alles andere – und
sei es auch noch so glänzend – trügerisch und letztlich destruktiv sein,
946
947
948
949
950
Höfert, Türkenfurcht, 329.
Ebd., 325.
WA 31 I, 255f
WA 30 II, 144.
WA 30 II, 123.
211
so dass Luther sagen kann: „Non est differentiae inter Iudaeum,
Papistam, Turcam“.951
Indem alle diese Genannten nach Luthers Meinung durch Werke, durch
äußere Frömmigkeit und Kulturleistungen leben wollen, stehen sie in
theologisch-religiöser Sicht unter dem Gesetz: „Papa, Monachi, Turca
volunt per opera satisfacere.“952
Dies ist aber nun kein lediglich bedauernswerter Irrtum, sondern eine
Herausforderung Gottes. So heißt es in in der Zweiten AntinomerDisputation: „Omnes, qui docent legem, tentant Deum. ... Arguit enim
hoc, quod papistae, Turcae et omnes, qui docent legem opinione
iustitiae, sint tentatores Dei.“953
Die Annahme, gute Werke seien zur Seligkeit notwendig, ist deshalb
ein „argumentum papistarum, sophistarum, Turcarum.“954
Deutlich wird in der Form der Argumentation, dass der Hauptgegner für
Luther wiederum weniger der Islam, denn die Papstkirche ist. Luthers
scharfe Abgrenzung gegen die katholische Werkfrömmigkeit, wie sie
sich schon in den „95 Thesen“ äußerte, und seine Betonung der
Rechtfertigung allein aus Glauben ist auch in den 1530iger und
1540iger Jahren sein entscheidender Bezugspunkt. Aus dieser
Perspektive werden dann auch wieder die „Türken“ betrachtet. Waren
sie in der stärker apokalyptisch geprägten Sichtweise der frühen
Auseinandersetzung mit dem Papstum und der akuten politischen
Bedrohungen die Hilfstruppen des päpstlichen Antichrist, sind sie nun
wie die Papstkirche im falschen Wahn der Gesetzesfrömmigkeit
befangen. Die entscheidende Scheidelinie geht also nicht zwischen
dem Christentum und anderen Religionen, etwa Judentum und Islam,
hindurch, sondern mitten durch das Christentum. Nicht in erster Linie
die Religion ist Luthers Kritikpunkt, sondern die Religiosität der falschen
Gesetzesfrömmigkeit. Luther verwendet also hinsichtlich der Osmanen
hier ein dogmatisches Interpretationsmodell, doch wendet er es
genauso gegen das Christentum. Das verbindet ihn mit Männern wie
951
952
953
954
WA 40 I , 603.
WA 31 I, 269.
WA 39 I, 480.
Ebd., 255.
212
Franck oder Paracelsus. Sein hermeneutischer Schlüssel ist aber nicht
das „innere Wort“ oder die „Liebe“, sondern die Rechtfertigung allein
aus Glauben.
6.3.
Die Frage der „Abrahams-Kindschaft“ der Osmanen
Ist auch die Rede von „Gesetz und Evangelium“ dem Islam fremd, sieht
es mit der Frage der Erwählung Gottes, wie sie sich im Thema
Abrahams-Kindschaft äußert, anders aus. Hier ist der Islam der
Meinung, er besitze diese. Luther lehnt das aufgrund seiner
Bibelexegese rundweg ab. Als hermeneutisches Kriterium dient ihm die
von Paulus übernommene Unterscheidung zwischen „nativitate“ und
„vocatio“955, zwischen Geburt und Berufung, die er als „firmissimam
Dialecticam“956 fasst. Luther führt allerdings sofort einen dritten Begriff,
„sanguis“, das Geblüt, bzw. Geschlecht, ein, den Paulus in Röm 9,7 mit
Bezug auf Gen 21,12 ebenfalls verwendet. Dort heißt es, nur was von
Isaak abstamme, sei das eigentliche abrahamitische Geschlecht. Luther
bestreitet
deshalb
nicht,
dass
die
Muslime
durch
Ismael
selbstverständlich von Abraham herkommen, aber das nützt ihnen
nichts, da es sich hier lediglich um eine rein fleischliche Abstammung
handelt und ihnen das Geblüt,957 die Zugehörigkeit zu einer
Geschlechterfolge, die erst durch die Erzväter insgesamt vermittelt wird,
fehlt. Deshalb gilt dem Islam für Luther auch keine Berufung.
Luther scheint diese Tatsache in diesem Zusammenhang ehrlich zu
bedauern, wenn hier das schon erwähnte Zitat von den Türken als
„äußerst ehrenhaften, weisen und frommen Menschen“958 folgt. Doch
gerade in diesen Dingen äußerlicher Gerechtigkeit ist für Luther der
Weg in die Verdammung vorgezeichnet. Dies gilt nun im übrigen
wiederum nicht allein für die „Türken“, sondern auch für die Juden,
obwohl sie zwar die „Geburt“ und das „Geblüt“ haben. Doch auch sie
haben ihre „Berufung“ ebenso wie das Papsttum durch ihr Vertrauen
auf die Werkgerechtigkeit verspielt. Wem aber gilt nun die „vocatio“?
955
956
957
958
WA 43, 385.
Ebd.
Ebd.
Ebd.
213
Denen, die die „regeneratio“, die Wiedergeburt durch Jesus Christus
haben. Diese Menschen haben das „Wort“ Christus und damit auch die
wahre Berufung.
Deutlich wird wiederum, dass für Luther nicht die Frage nach der
wahren
oder
falschen
Religion
im
phänomenologischen
Sinne
entscheidend ist, sondern die nach der wahren oder falschen
Religiosität. Diese findet sich aber durchaus auch im Christentum
selbst. Somit ist der Unterschied zwischen „Papisten“, Juden und
„Türken“ allein gradueller Art. Dass die Mitglieder der wahren Religion
jedoch allein innerhalb des Christentums zu finden sind, bzw. in der
Annahme der Rechtfertigungslehre sich wahres Christentum von
falschem trennt, ist Luther selbstverständlich. Den Schritt, das Wirken
Gottes in den wahrhaft Frommen aller Religionen zu finden, wie etwa
Sebastian Franck dies tut, oder wie Paracelsus alle Religionen auf dem
Weg zu Gott zu sehen, kann Luther nicht mitgehen.
6.4.
Zwischenbilanz:
Nach dem Abklingen der unmittelbar als apokalyptisch angesehenen
Bedrohung durch die Osmanen, entwickelte Luther eine verstärkte
dogmatische Interpretation des Islam. Im Übereinklang mit der
traditionellen Theologie sah er die Religion der Muslime als eine falsche
Lehre an, die ursprünglich von christlichen Häretikern beeinflusst
worden war. Wechselweise konnte er dann auch einfach „Heiden“ in
den Muslimen sehen.
Deutlich wird jedoch, dass Luthers dogmatische Interpretation metareligiös war. Es ging ihm nicht darum, das „wahre“ Christentum gegen
den „falschen“ Islam zu verteidigen. Dies verbindet ihn mit den
Spiritualisten. Die Frage der religiösen Wahrheit ging für ihn wie bei
diesen quer durch die vorhandenen Religionen hindurch. Maßstab war
für Luther allerdings die Stellung zur Rechtfertigungslehre. Diese
trennte den wahrhaften Christen von „Juden, Türken und Papisten“.
214
7.
Letzte politische Stellungnahmen und verschärfte
Anti-Islam-Polemik Luthers ab 1539 bis zu seinem
Tode 1546
7.1.
Luthers politische Stellungnahmen
7.1.1.
Die politischen Ereignisse seit 1539
Janos Zápolya war es durch die 1530iger Jahre hindurch gelungen,
sich in seinem ungarischen Teilreich Siebenbürgen mit osmanischer
Protektion an der Macht zu halten. Der alternde König dachte nun
daran, dieses Reich auch nach seinem Tode zu sichern. Im Vertrag von
Großwardein 1538 akzeptierte er Ferdinand als seinen Nachfolger.959
Nachdem ihm aber neun Tage vor seinem Tod ein Sohn, Johann
Sigismund, geboren wurde, widerrief er die Vereinbarung. Ferdinand
beharrte jedoch auf dem Vertrag und versuchte nach Zápolyas Tod
dessen
Reich
unter
seine
Herrschaft zu bringen. Gleichzeitig
unternahmen es die ungarischen Magnaten nun ihrerseits, die
Osmanen zur Protektion gegen die Habsburger zu bewegen. Suleiman
zog mit einer Heeresmacht heran, nahm die Hauptstadt Ofen ein,
verwandelte die Hauptkirche in eine Moschee und gliederte das Gebiet
um Ofen 1541 als „Paschalik Buda“ dem Osmanischen Reich ein. Der
Ostteil Ungarns wurde als späteres Fürstentum Siebenbürgen unter der
Regentschaft für den unmündigen Johann Sigismund, formal nun ein
Adoptivsohn Suleimans,960 den Osmanen tributpflichtig.961
Zwischenzeitlich war man in Regensburg 1541 zu einem neuen
Reichstag zusammengekommen, der nach Vorgesprächen in Hagenau
und
Worms
eine
theologische
Einigung
der
verschiedenen
Konfessionsparteien im Reich bringen sollte. Doch scheiterte das
„Regensburger Religionsgespräch“ ebenfalls. Um nun die nötige
militärische
Unterstützung
gegen
die
erneut
heraufgezogenen
osmanischen Heere zu erhalten, machte Karl in Geheimdeklarationen
beiden Seiten Zugeständnisse. Tatsächlich erreichte er die notwendige
Militärhilfe von Katholiken und Protestanten.962 Der im Jahr 1542
959
960
961
962
Fischer-Galati, Imperialism, 68.
Majoros/Rill, Osmanische Reich, 229.
Dzambo, Zäsur, 35.
Seibt, Karl, 145ff.
215
durchgeführte Heereszug gegen die Osmanen sollte jedoch erfolglos
verlaufen.
7.1.2.
„Eine Vermanung D. Martini an alle Pfarrhern“
Über die Vorgänge im Südosten Europas dürfte Luther recht gut
informiert gewesen sein. Mit steigenden Zahlen waren Studenten aus
Ungarn und Siebenbürgen in Wittenberg immatrikuliert963 und sicherlich
erhielt Luther auch von Melanchthon, dessen Haus schon an anderer
Stelle als „Nachrichtenzentrale“ bezeichnet wurde, jeweils neue
Informationen. So sandte Melanchthon Luther noch im Februar 1546
einen Brief eines ungarischen Humanisten über gute Fortschritte der
Verbreitung der reformatorischen Lehre – sogar unter osmanischer
Oberherrschaft – nach Eisleben nach.964 Darüber hinaus wohnte der
Pfarrer von Kaschau, Matthias Devay, dreimal (1537, 1541, 1543)
während seiner Aufenthalte in Wittenberg in Luthers Haus.965
Diese Nachrichten haben Luthers Meinungsbildung allerdings auch
kaum beeinflusst. Er blieb bei der theologischen Deutung der
Osmanen. Allerdings kam es nun auch zu einer nun zunehmen
resignativen Einschätzung der Reformation.
Noch in die Zeit vor der erneuten Zuspitzung der politischen Ereignisse
im Verhältnis zu den Osmanen fällt eine kurze Vermahnung Luthers
aus dem Jahr 1539, die jedoch zunächst nur als handschriftliches
Rundschreiben verbreitet wurde. Sie sollte erst – gleichsam als
Vermächtnis – nach Luthers Tod 1546 gedruckt werden.966 Der
historische Hintergrund ist folgender: Nachdem sich zahlreiche
katholische Stände 1538 im „Nürnberger Bund“ als Pendant zum
protestantischen
„Schmalkaldischen
Bund“
zusammengeschlossen
hatten, waren die Protestanten sich darüber im Unklaren, ob die von
Ferdinands
Seite
wiederholt
propagierten
Rüstungsbestrebungen
wirklich gegen die Osmanen oder nicht vielmehr gegen sie selbst
gerichtet waren. 1538 sandte deshalb Kurfürst Johann Friedrich von
963
964
965
966
Fabiny, Ungarn, 643.
Dieser Brief sollte den zwischenzeitlich verstorbenen Luther aber nicht mehr
erreichen, vgl. Fabiny, Ungarn, 646.
Ebd.
Mau, Luther, 658, 963 A. 192.
216
Sachsen einen Kundschafter nach Polen und Ungarn, um bessere
Informationen über die „Türkengefahr“ zu erhalten. Im Zusammenhang
mit den Verhandlungen der Stände auf dem Frankfurter Reichstag
1539, der dann zum sog. „Frankfurter Anstand“, einem weiteren
Moratorium in den religionspolitischen Auseinandersetzungen, führte,
wird wohl auch die Vermahnung Luthers erschienen sein.967
Der kurze Text beginnt zunächst damit, das die wiedersprüchlichen
Nachrichten
über
eine
vermeintlich
bevorstehende
osmanische
Invasion Luther „endlich jrre gemacht“968 hätten. Trotz der Unsicherheit
über eine Invasion sei es, meint Luther, unverantwortlich, über den
vielen Gerüchten letztlich sorglos zu werden. Deshalb erscheint nun
diese „Vermahnung“. In ihr klingen auch protestanten-kritische Töne an,
wenn Luther in bekannter Manier zwar die „Papisten“ angreift, die
Gottes Zorn heraufbeschwören, er aber andererseits die „Sünde zu
beiden teilen“969, also auch bei den Protestanten, sieht. Besonders das
soziale Versagen als Folge nicht wirklich reformatorischen Glaubens
kritisiert Luther. Zu den Verfehlungen des protestantischen Lagers zählt
er „undanckbarkeit, verachtung Göttlichs worts, geitz und viel
mutwillen“. Ee resümiert: „... der teuffel schlefft nicht, der Türck seumet
nicht, die Papisten rugen nicht.“970
Luther warnt vor den zwei Ruten, mit denen im Zusammenhang
Altgläubige und besonders die Osmanen gemeint sind. Wenn sich die
Menschen nicht bessern, wird die Strafe mit diesen Ruten über sie
kommen: „... mir grauet ubel fur unseren Sunden, Bin auch nicht gern
Prophet, Denn es pfleget zu kommen gemeiniglich, was ich
weissage.“971
War
aufgrund
der
lediglich
handschriftlichen
Verbreitung
der
Vermahnung die Wirkung von Luthers sozialer Kritik noch lokal
begrenzt, sollte sich die mit der nächsten Vermahnung ändern
967
968
969
970
971
WA 50, 478ff.
Ebd., 485.
Ebd., 486.
Ebd.
Ebd., 485.
217
7.1.3.
Die „Vermanung zum Gebet wider den Türcken“ 1541
Abermals wuchs dann nach den Ereignissen um die Nachfolge Johann
Zápolyas in Deutschland die „Türkenfurcht“. Auf Anweisung seines
Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen, der Luther zu einer Schrift
wider die „Türken“ aufforderte, verfasste Luther eine „Vermanung zum
Gebet Wider den Türcken“972. Der Grundton war nun dezidiert anders
als in den vorigen Schriften. Verurteilenswert waren nicht nur die
Osmanen, sondern auch die Deutschen, die die Möglichkeit zur Buße
nicht ergriffen hatten, was mit anderen Worten bedeutete, dass die
Reformation sich nicht wirklich durchgesetzt hatte. Anschaulich wird die
Problematik am Geiz und dem Wucherunwesen, einem Thema, dem in
den letzten Lebensjahren Luthers besondere Aufmerksamkeit galt.973
Schon 1539 hatte er eine Vermahnung an die Pfarrer, gegen den Geiz
zu predigen, herausgehen lassen. Luther hatte damals die Geistlichen
aufgefordert, Obrigkeiten, die nicht gegen den Wucher vorgingen, als
Teufel und Werwölfe zu brandmarken.974 Gegen Ende seines Lebens
war der Reformator so verärgert über die Zustände, dass er in den
Predigtstreik
wegzuzuiehen.
trat
975
und
Anstände
machte,
von
Wittenberg
So beginnt nun auch die Vermahnung gleich mit
vorwurfsvollen Worten:
„Man spricht, Wem nicht zu raten ist, dem ist nicht zu helffen. Wir
Deudschen haben nu vile jar her das liebe wort Gottes gehört, Da durch
uns Gott, der Vater aller barmherzigkeit, erleuchtet und von den
grewlichen grweln der Bepstlichen finsternis und Abgötterey geruffen in
sein heiliges liecht und Reich. Aber wie dankbarlich und ehrlich wir
haben das angenomen und gehalten, ist schrecklich gnug zu sehen.“976
Nicht die reformatorische Botschaft wurde ergriffen, sondern nun
„ist komen der grosse Gott Mammon oder Geitz, Wie hat der nicht allein
Baurn und Bürger, sondern recht gröblich Adel, Graven, Fürsten und
Herren besessen, ... . Der Adel wils alles haben, was Baur und Bürger
hat, Ja sie wollen Fürsten sein, Der Baur steigert neben dem Adel Korn,
972
973
974
975
976
WA 51, 585ff.
Vgl. Brecht, Luther III, 257ff.
Ebd., 259.
Ebd., 261.
WA 51, 585.
218
Gersten und alles, und machen muthwillige Theuerunge, da sonst Gott
genug hat wachsen lassen.“977
In einer Art Lasterspiegel werden weitere Gruppen – und insgesamt alle
Stände - angeklagt: ungehorsame Knechte und Mägde, die „untrew
[sind] und allerley bosheit ... treiben“978, ungerechte Juristen, die die
Menschen um ihr gutes Recht bringen, das Kaiserliche Kammergericht,
das als „Teuffelshure“979 bezeichnet wird, die Wucherer, der sicher
lebet unf wütet ..., als were Er selber Gott und herr in allen landen“980.
Besonders verdrießt es Luther in diesem zusammenhang, dass seine
Schriften gegen die Wucherer981 von diesen lächerlich gemacht worden
sind. Hinzu kommt nun, dass Adel, Städte, „ ja auch kleine drekstedtlin,
Dörfer dazu“982, ihren Pfarren nicht nur die nötige Aufmerksamkeit zur
Predigt, sondern auch den notwendigen Unterhalt verweigern. Luther
ruft allen zu, dass „Bruder Veit“ (die Landsknechte) sie strafen werde.
„Ursach, jr stelets den Armen und dürfftigen, welcher geschrey in Himel
rufft, Und Gott nicht rugen lesst, bis er sie erhöre und euch Geitzhelse
straffe.“983
Die Pfarrer werden jetzt ausdrücklich aufgefordert, den Menschen ihre
Vergehen vorzuhalten, um vielleicht doch noch eine Sinnesänderung
bei ihnen zu erreichen. Auf die imaginäre Frage, ob denn angesichts
solcher Zustände Widerstand gegen den „Türken“, der jetzt wieder
primär wie zu Beginn der Reformation „unser Schulmeister“, der die
Deutschen „steupen“984 müsse, ist, nicht zwecklos sei, antwortet Luther,
Gott sei eine defätistische Grundhaltung ebenso zuwider wie die o.g.
Verhaltensweisen,985 vielmehr gebühre es einem jeden, „sich zu
wehren und zu thun, was er kann, bis auff den letzten odem.“986
Vielleicht, meint Luther, gebe es ja noch Rettung wie einst für die
Niniviten, fügt Luther hinzu, von denen im biblischen Buch Jona erzählt
977
978
979
980
981
982
983
984
985
986
Ebd., 587f.
Ebd., 588.
Ebd., 589.
Ebd.
WA 15, 279ff.
WA 51, 590.
Ebd., 592.
Ebd., 594.
Ebd., 593.
Ebd., 597.
219
wird. Die „Papisten“ wurden in diese Aufforderung ausdrücklich mit
einbezogen, denn es gab für Luther nur zwei Möglichkeiten: „Und
mussen entweder sie unsers Gebets geniessen, oder wir jrer Sünde
entgelten.“987 Wiederholt schärfte er die geistliche Dimension des
Kampfes ein. Gerade die Heerprediger sollen sich darüber im Klaren
sein, „das wir nicht wider fleisch und blut, sondern wider die Teufel in
der helle streiten“.988
Luther betonte dann dem Thema des Sendschreibens entsprechend die
Bedeutung des Gebetes und entwarf eine ausführliche Liturgie, für
Bittgottesdienste gegen die Osmanen.989 Er gab jedoch auch
Selbstzweifel an dem Sinn der Gebete zu erkennen.990 Lediglich
deshalb, weil er nicht wie manche alttestamentliche Propheten das
fürbittende Gebet von Gott verboten bekommen habe, halte er weiter
daran fest. Die Auffassung, dass das Ende der Zeiten nahe sei, behielt
Luther nach wie vor bei,991 doch trat die Dringlichkeit dieser Gedanken
jetzt zurück.
„Und, O selig weren wir, wenn wir mit diesem Gebet das mal an den
Türcken feilen müsten, Und darauff den Jüngsten tag dafur bald
hernach erworben hetten, Welcher doch nicht ferne sein kann, Und der
Türcken auch (wie der Babst) seinem ende sein muss, daran ich nicht
zweivele.“992
Abermals betonte Luther deshalb auch, dass der Kampf gegen die
Osmanen nicht gegen Menschen geführt werde, sondern gegen „ein
gros heer Teuffel“.993 Danach folgte wieder eine anti-türkische Polemik,
die die Folgen osmanischer Herrschaft vor Augen malte. Jetzt wird
wieder ein deutlich resignativer Ton hörbar. Deutschland hat sich dem
göttlichen Angebot der Reformation gegenüber nicht als würdig
erwiesen, immer noch sind Kräfte da, die „viele ehe wider uns selbst
Türcken würden“994, anstatt die reformatorische Lehre anzunehmen.
987
988
989
990
991
992
993
994
Ebd., 598.
Ebd., 602.
Ebd., 606ff.
Ebd., 612.
Ebd., 614, 620.
Ebd., 614.
Ebd., 617.
Ebd., 622.
220
Wie ernst es Luther mit seiner Ständekritik war, zeigt ein Nachtrag, in
dem er ausdrücklich „Meintz (Kurfürst Albrecht von Mainz) und Heintz
(Heinrich von Braunschweig) und, wer sie mehr sind, die verzweivelten
Meucheler, Verretter, Mordbrenner und Böswichter“995
aus seinem
Trost innerhalb der Vermahnung ausnahm.
Dann wandte sich Luther gegen den Adel, den er mit den „Nephilim“,
den riesenhaften Halbgöttern der Bibel (Gen. 6,4) verglich:
„Des gleichen will ich und kann auch nicht getröstet haben unsere
Niphilim. Die Tyrannen und Wucherer und Schelmen unter dem Adel,
die sich lassen düncken, Gott habe unds das Evangelion darumb
gegeben und vom Bepstlichen gefengnis erloset, das sie mügen
geitzen, Schinden und allen mutwillen treiben, jre Fürsten pochen, Land
und Leute drücken und alles in allem sein wollen, das jnen nicht
befolhen, sondern verbotten ist. Die sinds, so dazu helffen, das Gottes
zorn den Türcken zum Dresscher uber uns, uber sie selbs auch
schicket, wo sie nicht busse thun werden.“996
Vergleicht man diese Äußerungen mit der Anrede an den Adel in seiner
Adelsschrift gut zwanzig Jahre zuvor, wird die ganze Resignation des
Reformators deutlich. Das Konzept der evangelischen Landeskirchen,
wie es sich im Zuge der Reformation entwickelt hatte, war auch Luther
in seiner ganzen Fragwürdigkeit bewusst, dies zeigen solche Stellen.
Der neuzeitliche territoriale Fürstenstaat, in dem die Herrscher „alles in
allem“ (s.o.) sein wollten und die Kirche zur Behörde wurde, war auch
für Luther ein Irrweg.
Trotz alledem blieb es für Luther dabei: Widerstand gegen die
Osmanen zu leisten war geboten, und die Christen sollten wissen, sie
führten einen „Gottseligen krieg wider den Türken und sind heilige
Christen und streben seliglich.“997
Luthers Schrift hat rasch mehrere Auflagen erlebt und erfreute sich
offensichtlich einer Verbreitung, die über das Kurfürstentum hinaus
995
996
997
Ebd., 622.
Ebd., 623f.
Ebd., 620.
221
ging, jedenfalls wurde ein Exemplar bald schon nach Preußen
gesandt.998
Wie prekär die Situation angesichts der drohenden „Türkengefahr“
angesehen wurde, zeigt auch die Tatsache, dass Luthers eigentliches
„Türkengebet“ in der Vermahnung auch in die Ausgabe des Kleinen
Katechismus von 1543 aufgenommen wurde.999
7.1.4.
Die
Vermahnung
an
die
Pfarrherrn
in
der
Superattendenz der Kirchen zu Wittenberg 1543
Noch resignativer wird der Ton Luthers in seiner letzten Türkenschrift,
der „Vermahnung an die Pfarrherrn in der Superattendenz der Kirchen
zu Wittenberg“ aus dem Jahre 1543, die er zusammen mit Bugenhagen
auf kurfüstlichen Befehl verfasste. Luther geht zunächst auf den von
Kurfürst Joachim II. angeführten und gescheiterten Feldzug gegen die
Osmanen im Vorjahr ein. 1542 war ein Reichsheer unter der Führung
des brandenburgischen Kurfürsten gegen die Osmanen gezogen, ohne
jedoch irgend etwas auszurichten. Dass der Luther seit Kindertagen
bekannte Kurfürst, der immer wieder als Vermittler in Religionsfragen
aufgetreten war, und dessen Ansehen nun erheblich gelitten hatte,1000
nach Luthers Meinung von König Ferdinand im Stich gelassen wurde,
wird aus persönlichen Briefen des Reformators deutlich.1001 Zwar hatte
Joachim Luther und Melanchthon um ihre Fürbitte für den Kriegszug
ersucht, doch hatte gerade Luther in einem Schrieben an Joachim zu
erkennen gegeben, dass er den Erfolg seiner Gebete bezweifle, da die
so oft geforderte Umkehr der Deutschen nicht erfolgt sei.
An Joachim schrieb er damals, „unseres deutschen landes vorige und
Itzige sunde, Als Gottes wortt lestern und seine diener verfolgen, Ist so
uber macht eingewurtzeltt, das mir offt mein Gebett dadurch
geschwecht ist worden.“1002
Ähnlich ist es auch hier: Nicht nur, dass die Türkensteuer umsonst
gewesen sei und viele Soldaten den Tod gefunden hätten, beklagt
998
999
1000
1001
1002
Ebd., 576.
Ebd., 582.
Mast, Hohenzollern, 37.
WA 50, 553.
WA Br 10, 65f.
222
Luther nun in der Vermahnung, noch schlimmer erscheint ihm, dass
nicht alle Fürsten, gemeint ist der nicht namentlich angesprochene
König Ferdinand,1003 ihre Unterstützung gewährt hätten. Jedenfalls, so
fügt Luther hinzu, werde dies kolportiert.1004
Luthers Vorwürfe erscheinen allerdings wenigstens in dieser Hinsicht
unberechtigt. Der Grund für Joachims Scheitern dürfte nicht in der
mangelnden habsburgischen Unterstützung gelegen haben. Tatsächlich
war es dem Kurfürsten eher gelungen, wie es Karl Brandi formuliert,
„seinen Mangel an Feldherrentalent in Ungarn zu beweisen.“1005
Offensichtlich hatte Joachim seine Aufgabe auch nicht mit dem nötigen
Ernst ergriffen, denn schon Luther war es aufgefallen, dass sein Heer
eher einem Festzug geglichen habe.1006
In der Vermahnung benennt Luther wieder die schon in seiner letzten
Mahnung vorgebrachten ständekritischen Beschwerden,
„weil nicht allein kein Busse gefolget ist, Sondern wuchern, stelen,
ubersetzten (übervorteilen), allerley mutwill in allen Stenden, hohen und
niddern, immer fort bleiben, wo nicht gewachsen ist“.1007
Den gegen die Osmanen kämpfenden Soldaten ist teilweise der Sold
sogar nicht ausgezahlt worden:
„Solchs, sage ich, bewegt uns warlich auch, neben andern vielen
fromen Leuten, das es scheinet, als wolle Gottes zorn und straffe nicht
zubitten sein, sondern dem Turcken und seinen Verrethern raum
geben.“1008
Trotzdem hält Luther am Gebet gegen die Türken fest; es möge sich
jedoch auch gegen die wenden, die unbußfertig sind. Besonders die
Kinder sollen zum Gebet ermahnt werden, denn „uns Alten ist nicht so
viel dran gelegen, die wir dahin faren“.1009 Zuletzt fordert Luther auf, des
gerade eröffneten Reichstages in Nürnberg zu gedenken, damit endlich
einmal eine Einigkeit unter den Fürsten im Kampf gegen die Osmanen
zustande komme.
1003
1004
1005
1006
1007
1008
1009
WA 50, 558 A. 5
Ebd., 558.
Brandi, Reformation, 248.
WA 50, 553.
Ebd., 558f.
Ebd., 559.
Ebd.
223
Trotz dem hegt er auch gegenüber den eigenen Fürsten in dieser Zeit
tiefen Pessimismus. An Wenzeslaus Linck schreibt er am 20.6.1543,
zwar werde er gegen die Osmanen beten, doch habe er hinsichtlich des
Erfolges seiner Gebete erheblich Zweifel, seien doch die eigenen
Herrscher, schlimmer als die Osmanen.1010
Am Schluss seines Lebens ist Luther dann offensichtlich von seiner
früheren Auffassung einer unmittelbar bevorstehenden Apokalpyse
abgerückt und hat das Ende der Welt auf das Jahr 1600 datiert.1011 Es
war aber für ihn trotz dieser Verzögerung die „Endzeit“, in der er lebte,
auch wenn er wohl das Ende nicht mehr selbst zu erleben glaubte.
In all diesen Vermahnungen bleibt es bei der apokalyptischen
Interpretation der Osmanen und der Verurteilung des Papsttums, die
ebenfalls nach wie vor apokalyptisch geprägt ist. Doch es tritt noch ein
weiterer „Gegner“ Gottes auf, der Protestantismus selbst. Dieser hat
nach Luthers Auffassung das Wort Gottes neu gehört und sich doch
nicht darnach gerichtet. Die bekannte Resignation, Verbitterung und
manches mal auch unkontrollierte Wut des alternden Reformators hat
auch hierin ihre Wurzeln.
7.2.
Luthers verstärkte Anti-Islam-Polemik
7.2.1.
Die „Verlegung des Alkoran Bruder Richardi“ 1542
Schon lange hatte Luther bedauert, dass er noch keinen vollständigen
Koran zur Lektüre bekommen habe. An Fastnacht 1542 kam es dazu,
und gleichzeitig bedingte dies eine dramatische Verschärfung in
Luthers Türkenbild. Hartmut Bobzin hat in seiner Schrift „Der Koran im
Zeitalter der Reformation“ Luthers Beschäftigung mit der Confutatio
ausführlich behandelt,1012 so dass hier darauf ausdrücklich verwiesen
werden soll.
Luther las eine lateinische Ausgabe des Koran, die schon erwähnte
Koranübersetzung des Robert von Ketton. Der Eindruck, den sie auf ihn
machte, war verheerend. Hatte er bisher die Kritik von Ricoldus de
1010
1011
1012
WA Br 10, 335.
Mau, Stellung, 661.
Bobzin, Koran, 95ff. Dies gilt insbesondere für die textkritischen Aspekte
224
Monte Crucis und Nicolaus Cusanus für polemisch überzogen gehalten,
sah er deren Anwürfe nun für vollständig zutreffend an.
„Das Buch Bruder Richards, prediger ordens, Confutatio Alcoran
genant, hab ich vormals mehr gelesen, Aber nicht gleuben können, das
vernünftige Menschen auff erden weren, die der Teufel sollte bereden,
solch schendlich ding zugleuben...“1013.
Waren bisher die Osmanen eher als Vertreter einer Gesetzesreligion
wie die des Papsttums dessen apokalyptisch gesehene Gehilfen, deren
bürgerliche
Gerechtigkeit
schwerlich
bestritten
werden
konnte,
entlarvten sie sich nun für Luther als Anhänger einer solch wirren
Lehre, dass er nur bewusste teuflische Bosheit unterstellen konnte.
Luther machte sich nun daran, Ricoldus de Monte Crucis Werk doch ins
Deutsche zu übersetzten, „das doch bey uns deudschen auch erkand
werde, wie ein schendlicher Glaube des Mahmets Glaube ist“1014.
Schon im April 1542 erschien seine „Verlegung (Widerlegung) des
Alcoran Bruder Richardi“ im Druck. Luther ging allerdings mit dem Text
sehr frei um. Dazu war er auch aufgrund seiner Theologie gezwungen.
Während
es
Ricoldus
unter
Zugrundelegung
eines
positiven
Gesetzesbegriffes in scholastischer Weise darum ging, den Koran von
der
menschlichen
Vernunft
ausgehend
als
widervernünftig
zu
desavouieren, konnte Luther diesen Ansatz nicht durchhalten. Als
Kritiker
der
Scholastik1015
kämpfte
er
„gegen
die
aristotelisch
abgesicherten Denkvoraussetzungen der scholastischen Theologie“1016
und deren Hochschätzung menschlicher Vernunft. Luther stand deshalb
vor der Schwierigkeit, den Denkansatz Ricolduss nicht teilen zu
können. Er musste den Koran nicht nur als im scholastischen Sinne
unvernünftig, sondern überhaupt als dem menschlichen Verstand
radikal widersprechend darstellen. Während also für Ricoldus der Koran
„irrationalis“ bzw. „non secundum rationem“1017 war, wurde er bei Luther
„viehisch und Sewisch“1018.
1013
1014
1015
1016
1017
1018
WA 53, 272.
Ebd.
Vgl. Schwarz, Luther, 44ff.
Ebd.,
WA 53, 311.
Ebd., 312.
225
An einigen Beispielen soll dies veranschaulicht werden: In einem ersten
Kapitel der Verlegung werden die zentralen Lehren des Islam
dargestellt. Dabei schliesst sich Luther in seiner Übertragung
weitgehend an Ricolduss dogmatische Interpretation des Islam an,
wenn er wie dieser in Mohammeds Lehre eine Ableitung aus
christlichen Häresien sieht.1019 Die göttliche Inspiration des Koran
wurde dann bestritten, seine Ausführungen als grob und unvernünftig
abgetan bzw. als Lügen verurteilt. In Randglossen bestätigte Luther
immer wieder Ricolduss‘ Kritik an Mohammed, wenn er etwa hinzufügte
„Das hat er [sc. Mohammed] von den Arianern“, „Das hat er von den
Jüden ...“.1020
In zahlreichen Kritikpunkten versuchten nun Ricoldus und mit ihm
Luther die Fehlerhaftigkeit und Unglaubwürdigkeit des Koran und mit
ihm Mohammeds ja des Islam überhaupt gleichsam zu beweisen. Die
Übereinstimmung mit der Bibel wurde trotz vieler Parallelen bestritten
und zudem auf eigene Widersprüche im Koran hingewiesen. Dabei
nahm diese Schrift auch die antichristliche Polemik des Islam auf, wenn
die Behauptung, Juden und Christen hätten Gottes Wort bewusst
verfälscht, zurückgewiesen und gleichsam nun gegen den Islam selbst
gewendet wurde.1021
Die Schrift hatte also polemischen Charakter, der nun allerdings von
Luther noch verstärkt wurde. Jetzt wurden die einstmals von ihm selbst
schon für Überzeichnungen gehaltenen Ausführungen des Ricoldus
noch weiter gesteigert. Dabei kam es wieder zu einer Vermischung mit
der anderen Frontstellung gegen den Katholizismus und gelegentlich
auch gegen das Schwärmertum. Besonders seine Randbemerkungen
zum lateinischen Text des Ricoldus machen dies deutlich:
Während Ricoldus z.B. über die islamischen Reinigungsriten und über
die Anweisung, sich bei Ermangelung von Wasser notfalls mit Sand zu
reinigen, nur die doch offensichtliche Unvernünftigkeit dieses Hinweises
heraushob, schlug Luther sofort die Verbindung zum Katholizismus. An
den Rand des Textes von Ricoldus notierte er ironisch „O Weiwasser
1019
1020
1021
Ebd., 278ff.
Ebd., 278.
Ebd., 286ff.; 326ff.
226
wo bistu“1022. An der Stelle, an der Ricoldus eine altchristlichpolemische Legende weitergab, Mohammed sei ein letztlich neureicher
Straßenräuber gewesen, der, nachdem es ihm nicht gelungen sei,
König von Arabien zu werden, sich als Prophet ausgegeben habe,
setzte Luther in seiner Übertragung als Randbemerkung
„Münster“
hinzu, womit er auf die Vorkommnisse im sogenannten „Königreich der
letzten Tage“ der Täufer in Münster 1534/35 hinwies.1023
Aus den Sarazenen, die bei Ricoldus die Möglichkeit, das Evangelium
einzuhalten, als unmöglich bezeichneten, wurden bei Luther nun
„geistliche und zenkische“ Sarazenen, offensichtlich nach dem Vorbild
der Gelehrten der Pariser Sorbonne, fügte Luther doch an den Rand
des lateinischen Textes „O Parisia similis Turce“ und an den deutschen
Text seiner Übertragung „Da ligts Parisiense hoc est“1024ein. Luther
spielt damit auf die Verwerfungssätze der Sorbonne bezüglich seiner
Theologie an.1025
Abgesehen von diesen von Luther vorgenommenen Veränderungen
und Zuspitzungen muss noch einmal besonders darauf hingewiesen
werden,
dass
Ricoldus
die
koranischen
bzw.
islamischen
Überlieferungen oft verfälscht und so auch irreführend wiedergab. Ein
Beispiel möge dies hier kurz belegen: Eine islamische Hadith
(Überlieferung) erzählt von Abu Darr,1026 der Mohammed in einer Nacht
begleitet und indirekt Zeuge einer an den Propheten ergangenen
Offenbarung wird. Als Mohammed aus der Einsamkeit, in der er die
Offenbarung empfangen hat, zurückkommt, erzählt er Abu Darr den
Inhalt. Er besteht darin, dass der, der die „shahada“, das islamische
Glaubensbekenntnis
spricht,
nach
seinem
Tod
ins
Paradies
aufgenommen wird.
Auf die Frage Abu Darrs, ob dies auch für
Ehebrecher und Räuber gelte, bejaht Mohammed dies.
Bei Ricoldus wurde diese Hadith nun auf Ehebruch, Räuberei, Mord
und Weingenuss erweitert. Zur Bekräftigung seiner Aussage zog
1022
1023
1024
1025
1026
Ebd., 320.
Vgl. Rommé, Königreich.
WA 53, 384f.
Sie begannen jeweils mit der Formulierung: „Haec proposito est haeretica,
haec proposito est falsa, haec proposito est temeraria.“ Vgl. WA 53, 384 A. 6.
Zu Abu Dharr al-Ghifari vgl. Khoury, Koran, 503f.
227
Mohammed bei Ricoldus dann noch ein Schwert. Es wundert kaum,
dass Luther an den Rand schrieb: „Id est, Diabolum est etiam deus“.1027
Im Hintergrund dieses Hadith steht allerdings die Frage nach dem
Verhältnis von Glaube und Werk im Gericht. Eine Fragestellung, die
Luther ja ebenfalls zentral beschäftigte. Luther erkannte dies hier nicht,
aber man muss wohl hinzufügen, er konnte es in der von Ricoldus
gebotenen Übersetzung auch nicht erkennen.
Grundsätzlich ist jedoch festzustellen, dass Ricolduss Polemik von
Luther noch maßlos überzeichnet wurde und diese kaum nur als
„temperamentvolle Anmerkungen“1028 zu bezeichnen sind. Besonders
der Prophet Mohammed, der bei Ricoldus unter Aufnahme der
bekannten Topoi christlicher Polemik, die sich besonders auf sein
Verhältnis zu Frauen bezogen, schon äußerst heftig attackiert wurde,
wurde bei Luther noch schärfer angegriffen.1029 Luthers Ausführungen
sind beklemmend zu lesen und sie erinnern an seine späten
Judenschriften, die ebenfalls in dieser Zeit entstanden.1030 Hier suchte
weder ein Scholastiker noch ein Humanist nach einer gemeinsamen
Gesprächsbasis, hier sah vielmehr jemand den Teufel am Werk, dem
gegenüber es keine Zurückhaltung geben durfte.
Offensichtlich wollte Luther mit dieser Schrift die Menschen nach
seinem Verständnis über den Charakter des Koran als einem geradezu
widerchristlichen Dokument aufklären. Seinen früheren Grundsatz,
Polemik könne dabei nicht helfen, behielt er nicht bei. Dies war
wiederum eine Tat mit apokalyptischen Hintergrund. Denn der Antichrist
bzw. sein Helfer konnte nach christlichem Verständnis nicht militärisch
besiegt, sondern nur von den Gläubigen entlarvt werden. Doch noch in
der Schrift selbst wird wieder deutlich, dass der eigentliche Gegner
nicht der Islam sondern das Papsttum war, wenn Luther wiederum
beide Größen parallelisierte.
„Und zwar ists nicht vile besser bey uns Christen auch gangen, Denn
da sind so vile Lügen in unsern Alcoranen, Decretalen, Lügenden,
1027
1028
1029
1030
WA 53, 310.
Brecht, Luther, 20.
WA 30 II, 294, 296, 334, 352, 376 u.ö.
Vgl. Lohse, Theologie, 362ff.
228
Summen und unzelichen Büchern, ... Aber Gott hat seinen letzten
Endlichen zorn also lassen gehen, das der Teuffel all sein vermügen
und bosheit hat sollen ausschütten, bis er nichts mehr noch ergeres hat
könnnen thun, Nemlich, das er dort gegen Morgen durch Mahmets
regiment und hie gegen abent durch Babsts regiment eitel wisentliche
lügen ... gestiftet"1031
Hier nun greift Luther explizit die Frage auf, ob denn der „Türke“ der
Antichrist sei. Luther lehnt diese Auffassung ab.
„Und ich halt den Mahmet nicht fur den Endechrist, Er machts zu grob
und hat einen kendlichen schwartzen Teuffel, der weder Glauben noch
vernunfft betriegen kan. ... Aber der Bapst bey uns ist der rechte
Endechrist, der hat den hohen, subtilen, schönen, gleissenden Teuffel,
Der sitzt inwendig in der Christenheit ...“1032.
Luthers auch in seiner letzten Türkenschrift vorgenommene Verbindung
von Papsttum und Osmanen unter dem Begriff des Antichrists sollte
weit über dessen Tod im Luthertum hinauswirken. Noch in den Zeiten
des Dreißigjährigen Krieges war diese Verbindung geläufig.1033
7.2.2.
Weitere Polemik
Auf derselben vermeintlich „aufklärerischen“ Ebene wie in der
Herausgabe der Schrift des Ricoldus bewegte sich auch Luthers letzte
größere Aktion in der „Türkenfrage“, die Hilfe für den Zürcher
Theologen, Sprachwissenschaftler und Humanisten Theodor Bibliander.
Biblianders Arbeit wird in einem eigenen Kapitel noch dargestellt, doch
soll Luthers Stellungnahme dazu hier schon geschildert werden.1034
Als Bibliander 1543 die Koranübertragung Robert von Kettons mit
weiteren Beiträgen zum Verständnis des Islam in den Druck geben
wollte, konfiszierte der Rat der Stadt Basel den Erstdruck. Erst nach
einer schriftlichen Intervention Luthers, der einer von mehreren
Gutachtern in dieser Sache war,1035 entschied man sich zur
1031
1032
1033
1034
1035
Ebd., 392.
Ebd., 394.
Leppin, Antichrist, 238.
Vgl. bes. Bobzin, Koran, 153ff.
Hagenbach, Koran 295.
229
Druckgenehmigung.1036 Luther, obwohl in der humanistisch geprägten,
religionsgeschichtlich
bedingten
Einschätzung
von
Bibliander
grundsätzlich verschieden, setzte sich für den Druck ein, weil er meinte,
man könne dem Islam gar nicht mehr schaden, als seine für ihn
unvernünftige Lehre allen Menschen zugänglich zu machen. In seinem
Brief hieß es:
„Mich hat das bewogen, das man den Mahmet oder Turcken nichts
verdrieslichers thun, noch mehr schaden zu fugen kann (mehr denn mit
allen waffen), denn das man yhren Alcoran bey den Christen an den tag
bringe, darinnen sie sehen mugen, wie gar ein verflucht, schendlich,
verzweifelt Buch es sey, voller lugen, fabeln ...“.
Zur dann doch veröffentlichten Koranausgabe Biblianders steuerte
Luther ein kurzes Vorwort bei.1037 Dieses konnte allerdings nur noch
einem Teil der Drucke beigebunden werden. Nachdem sich die
lutherische und die reformierte Reformation weiter von einander
entfernt hatten, fiel das Vorwort ganz weg. Erst im 20. Jahrhundert
wurde die Vorrede „wiederentdeckt“.1038
Hartmut Bobzin bilanziert: „Luther gebührt in jedem Fall das Verdienst,
für die Kenntnis des Korans im Europa des 16. Jahrhunderts einen
wichtigen Beitrag geleistet zu haben.“1039
Offensichtlich zu keiner literarischen Stellungnahme hat Luther das
Treffen mit Bartholomäus Georgejevic veranlasst, den er zusammen mit
Melanchthon 1544 kennen lernen sollte.1040 Durch ihn konnten beide
Informationen über das Osmanische Reich und die Religion der
Muslime aus erster Hand erhalten. Georgejevic, der zwischen 1505 und
1510 entweder in Ungarn oder Kroatien geboren wurde,1041 war in der
Schlacht von Mohács von den Osmanen gefangen genommen worden.
Als Gefangener bzw. als Flüchtling lebte er in Istanbul, Damaskus und
Jerusalem. 1538 kehrte er nach Europa zurück. Ab 1544 legte er seine
Erfahrungen im Osmanischen Reich in einer Reihe von Büchern nieder
1036
1037
1038
1039
1040
1041
Ebd., 296.
WA 53, 569ff.
Vgl. Bobzin, Koran, 154. Abgedruckt in: Luther 64 (1993), 4 – 7.
Ebd., 156.
Vgl. Höfert, Türkengefahr, 221.
Zur Vita vgl. Kidric, Gjorgejevic.
230
und lebte seither als Literat. Georgejevics Schriften waren im 16.
Jahrhundert die „unangefochtenen Bestseller unter den Turcia.“1042 Zu
Georgejevics Schriften verfasste Melanchthon später ein Vorwort,1043
allerdings ließ dieser sich (trotzdem) nicht für die Reformation
gewinnen.1044
7.3.
Andere Stimmen
7.3.1.
Der Islam aus religionsgeschichtlicher Sicht: Theodor
Bibliander
Theodor Bibliander (1504/1509-1564)1045 studierte in Basel, um nach
einer Lehrtätigkeit im schlesischen Liegnitz nach Zwinglis Tod „Leser“,
also öffentlicher Ausleger, der Septuaginta in Zürich zu werden. Er
übernahm mit der Professur für die Septuaginta neben Konrad Pellikan
und Leo Jud die theologische Vorlesungsarbeit des in der Schlacht von
Kappel umgekommenen Reformators, während Bullinger mit der
Kirchenleitung der Zürcher Kirche dessen kirchenpolitische Funktionen
auf sich vereinigte. Bibliander hat sein Amt bis kurz vor seinem Tod
ausgeübt. Seine Vorlesungen, die als solche nicht gedruckt wurden,1046
sind von einem humanistisch-universalistischen Geist durchdrungen:
Zwar hat Gott nach Bibliander besonders das jüdische Volk erwählt,
doch hat er sich keinem Volk unbezeugt gelassen.1047 Von dieser
„weiten“ Einstellung her verwundert es nicht, dass Bibliander an einer
genaueren Kenntnis des Koran ebenfalls Interesse hatte. Dieses
bestand seit seiner Zeit in Schlesien und den Ereignissen um die
Belagerung Wiens 1529.1048 Dabei war seine Absicht allerdings von
Anfang an die, den Koran als die „muhametische Verführung“1049 zu
entlarven und ihn deshalb auch im Druck herauszugeben. Religiöse
Offenheit besteht also für Bibliander darin, auch außerhalb der
Christenheit Gottes Offenbarungen zu finden, bzw. im positiven Sinne
1042
1043
1044
1045
1046
1047
1048
1049
Höfert, Türkengefahr, 222.
Ebd.
Miyamoto, Influence, 142.
Zu den verschiedenen Geburtsdaten wie überhaupt zur Biographie vgl. Egli,
Bibliander und auch Bobzin, Koran, 159ff.
Egli, Bibliander, 40.
Ebd., 20f.
Bobzin, Koran 177.
Bibliander in einem Brief an Oporin, zit. in Egli, Bibliander, 51.
231
religiöse Menschen zu entdecken. Eine Wertung des Koran in Gänze
als eine religiöse Offenbarung ist ihm allerdings jedoch wie allen
anderen Reformatoren völlig ausgeschlossen gewesen. Trotzdem
unterstellt Bibliander Mohammed, dass auch er sich in einigen
Aussagen als Zeuge der Wahrheit Christi erwiesen habe.1050 Die
„Wahrheiten“ über Christus, die im Koran stehen, gilt es nun für
Bibliander herauszuarbeiten und so von den „Verführungen“, die der
Koran enthält, zu befreien.
Bibliander war neben seiner universalistischen Auffassung, die den
Islam im Rahmen des dogmatischen Modells interpretierte, ein
Anhänger
der
apokalyptischen
Grundhaltung
innerhalb
der
Reformation, womit er allerdings in Zürich eine eher singuläre
Erscheinung war. Die militärischen Ereignisse als Folge des Todes von
Janos Zápolya 1540/1541 deutete er als Zeichen der Endzeit. Nicht
zuletzt deshalb forcierte Bibliander die Koran-Ausgabe.1051 Zunächst
erschien im Frühjahr 1542 eine vorbereitende Schrift unter dem Titel
„Ad nominis christiani socios consulatio, quanam ratione Turcarum dira
potentia repelli possit ac debeat a populo Christiano“1052, in der also
über geeignete Mittel zum Schutz vor den Osmanen nachgesonnen
wurde, wobei die entscheidende Überlegung bei Bibliander wie auch
bei so vielen anderen Reformatoren darin bestand, das es besonders
wichtig sei, dass die Christen ihren Lebenswandel besserten, um so in
Namen und Tat Christus zu entsprechen. Bibilander schließt sich hier
also dem konventionellen straftheologischen Bußmotiv, das die
Osmanen als göttliche „Zuchtrute“ begreift, an.
Die nach der vorbereitenden Schrift folgende Ausgabe des Korans
mitsamt einer Widerlegung Biblianders sollte dann ausdrücklich dem
Zweck dienen, „List und Betrug des Antichrists auf[zu]decken“.1053 Der
Druck mitsamt einem Vorwort Melanchthons wurde von Johannes
Oporin
1050
1051
1052
1053
in
Basel
besorgt,
der
allerdings
die
notwendigen
Holsten, Reformation, 24.
Egli, Bibliander, 51. Holsten, Reformation,
sieht bei Bibliander keine
apokalyptische Grundhaltung, kann alerdings nicht erklären, warum dann
gerade Bibliander der Auslegung der Apokalyse solches Interesse geschenkt
hat.
Ebd., 52 A. 1; Vgl. Bobzin, Koran, 179.
Zit. in ebd., 53.
232
Zensurbestimmungen umging. Der Rat der Stadt konfiszierte, als das
Unternehmen bei ihm anrüchig wurde, die gedruckten Exemplare und
Oporin kam in Haft. Der darauf folgende Einsatz Luthers für die
Verbreitung der Koranausgabe wurde schon geschildert. Neben Luthers
Gutachten
hatte
der
Rat
jedoch
noch
eine
Reihe
anderer
Stellungnahmen angefordert.1054 Im Spiegel dieser Gutachten wird die
Haltung von einer Reihe weiterer Reformatoren zum Islam ebenfalls
deutlich.
So äußerte sich u.a. Oswald Myconius, der frühere Lehrer Biblianders.
Er setzte sich für eine Veröffentlichung ein. Myconius’ Urteil über den
Koran war ebenfalls vernichtend. Er fasste seine Kritik zusammen:
„Summa, es ist ein buch, wer es lißet, der muß erkennen, daß es ein
straf Gottes ist, sunst hädte es nit mögen so vyl lüdt betriegen.“1055 Um
so schlimmer erschien es Myconius, dass zahlreiche „christlich
monarchen und völcker“1056 mit den Osmanen gar militärische
Bündnisse eingingen. Ein großer Abfall der Christen hin zur
muslimischen Religion sei nicht auszuschließen. Deshalb, so folgerte
Myconius mit ausdrücklichem Bezug auf Daniel 7,24f., sei es nützlich,
den Koran herauszugeben, da so die Menschen erkennen würden,
dass es sich bei Mohammed um den geweissagten falschen Propheten
handle. Schließlich und endlich, so fügte er hinzu, werde dem Werk,
dessen Veröffentlichung ihm eben aus diesen Gründen geboten
erschien, ja auch Luthers „Fürwarnung“ vorangestellt, so dass keine
Gefahr drohe, das ganze Projekt misszuverstehen.
Innerlich zeigen sich aber auch hier die Spannungen der besonders im
reformierten Bereich sich ausbildenden Prädestinationslehre, nach der
über Erwählung und Verwerfung des Einzelnen nach seinem Tode
schon
vor
dessen
Existenz
entschieden
ist.
Myconius
folgert
pragmatisch daraus, dass einer eventuellen Konversion zum Islam
durch die Koranlektüre in der Bibliander’schen Ausgabe nicht gewehrt
werden könne. Den so Verworfenen sei dies allerdings schon
1054
1055
1056
Vgl. Bobzin, Koran, 183ff.
Zit. in Hagenbach, Koran, 303f.
Zit. in ebd.,
233
vorherbestimmt, so dass ein solches Argument ebenfalls nicht gegen
die Veröffentlichung ins Feld geführt werden könne.
Gegen Myconius Auffassung und gegen eine Veröffentlichung des
Korans stellten sich in einem Separatgutachten u.a. der Humanist und
Kartograph Sebastian Münster. Dass der Koran „ein schantlich,
schädlich, ergerlich, verfürisch und nit allein kätzerisch, sunders ein
gruoben und kisten aller kätzereien“1057 sei, war ihm gewiss. Zwar ehre
der Koran Christus, „doch allein wie einen puren Menschen“1058. Er
bekenne die Geburt durch Maria als Jungfrau usw., doch sei es
aufgrund
des
Gesamtduktus
des
Buches
„gefärlich
(unseres
bedunckens), das es vilen und iederman in die händ“1059 käme. Den
Schwachen werde dadurch im Glauben ein Ärgernis gegeben, wovor
Christus bekanntlich ernstlich warne. Und schließlich fordere Gott
schon im Alten Testament, dass man die falschen Propheten ausrotten
solle. Also könne man, so folgerte Münster, doch wohl kaum die Lehre
statt dessen mit dem Druck des Koran „pflantzen“ und „under die lüth
uspreiten“.1060
Heinrich Bullinger, der nicht um ein Gutachten gebeten worden war,
hielt mit seiner Meinung aber ebenfalls nicht zurück. Er lobte
Biblianders Werk und bezeichnete die Gegner des Drucks als
„asini“1061.
Ein besonders ausführliches Gutachten lieferten Reformatoren und
Ratsherren aus Straßburg ab. Zu dieser Gruppe gehörten u.a. Martin
Bucer und Caspar Hedio. Dass der zeitgenössische „Türken-Diskurs“,
besonders wenn er in Form der „Türkenfurcht“ propagiert wurde, schon
damals auf Skepsis in Teilen der Bevölkerung stieß, wird hier nochmals
deutlich. Dieser Zurückhaltung unter den Menschen gegenüber den
Warnungen vor den Osmanen sollte nun für die Straßburger Gutachter
die
Drucklegung
Straßburger
ist
wechselseitiges
1057
1058
1059
1060
1061
des
Koran
zugleich
ein
Spannungs-
Zit. in ebd., 310.
Zit. in ebd., 311.
Zit. in ebd., 311.
Zit. in ebd., 312.
Zit. in Egli, Bibliander, 58 A. 5.
wehren.
Hinweis
und
Die
Stellungnahme
darauf,
wie
Zuordnungsverhältnis
sich
der
ein
zwischen
234
veröffentlicher und öffentlicher Meinung zu entwickeln begann. Bucer,
Hedio u.a. konstatierten zunächst, dass „die menschen dieser zeit gern
inn allen sachen ein grund zü sehen und zu wissen begeren“.1062
Schließlich würden sogar viele Leute meinen, der muslimische Glaube
sei gar nicht so verwerflich, wie immer gesagt werde, eher sei „den
Türcken zü leid allein das unfügest aus irem alcoran gezogen“
worden.1063 Deshalb könne man nun hier leider nicht mit dem Koran so
umgehen wie mit Büchern von christlichen Ketzern, die man besser
unterdrücke, schließlich bleibe diese Schrift ja bei den Muslimen
erhalten. Deshalb sei es besser, den Koran in Gänze - „nachdem die
leut nunmehr wie gemeldet, ein grund wöllen wissen und sich mit
auszigen nicht vergnügen lassen“1064 – zu drucken. Den Lesern werde,
so hoffte man in Straßburg, nochmals der verurteilenswerte Charakter
des Koran deutlich und die „armen leut damit wider die Turckische
tyranney desto hertzhaffter und getroster“1065 gemacht. Um alle
Missverständnisse auszuschließen, schlugen die Straßburger vor,
Luther solle der Ausgabe ein schärferes Vorwort voranschicken, damit
den Osmanen auf keinen Fall „fürschub“1066 getan werde.
Die
sich
überwiegend
für
Biblianders
Projekt
aussprechenden
Gutachter bewogen den Basler Magistrat dann, die Veröffentlichung
des Koran-Druckes, bzw. seiner „Islam-Enzyklopädie“, innerhalb derer
die Koran-Übertragung ja nur ein Teil war,1067 doch zu erlauben. 1543
konnte die erste, 1550 die zweite Auflage der Koranausgabe erfolgen,
allerdings durfte der Druckort nicht genannt werden.1068 Die Analyse
des Korandruckes ist in erschöpfender Weise von Hartmut Bobzin
vorgenommen worden, so dass an dieser Stelle hier darauf nur
verwiesen werden soll.1069
Biblianders Interesse am Islam und seine gleichzeitige apokalyptische
Weltsicht verstärkten sich in der Folgezeit, wofür seine Vorlesungen
1062
1063
1064
1065
1066
1067
1068
1069
Zit. in Hagenbach, Koran, 316.
Zit. in ebd.
Zit. in ebd., 317.
Zit. in ebd., 318.
Zit. in ebd., 319.
Vgl. Bobzin, Koran, 215.
Egli, Bibliander, 60.
Bobzin, Koran, 215ff.
235
über den Propheten Daniel und die Offenbarung des Johannes, letztere
war die einzige neutestamentliche Schrift, die er ausgelegt hat,
sprechen.1070
Trotzdem blieb Bibliander aber auch seinem religiös-universalistischen
Ansatz treu. Er fasste um 1545 den Plan, unter den Muslimen zu
missionieren. Wegen der zu erwartenden Gefahren für Leib und Leben
Biblianders gelang es Bullinger mit einigen wohlmeinenden Rankünen
diesen von seinem Plan abzubringen.1071
Bibliander trat in der
Folgezeit dann mit Schriften hervor, die von einem universalistischen
Heilsverständnis geprägt waren. 1548 vertrat er in einem „Kommentar
über die gemeinsame Art und Weise aller Sprachen und Literaturen
nebst einer kurzen Erklärung der Lehre vom sittlichen Leben und der
Religion aller Völker“ die potentielle Berufung der Andersgläubigen, die
aber nicht durch Gewalt, sondern durch den Geist Jesu Christi
verwirklicht werden könne. Bibliander glaubte, dass sich alle Völker auf
religiöse Grundwahrheiten zu einigen vermöchten und so die falsche
Lehre des Antichrist von alleine entlarvt werde. Gerade die Kenntnis der
unterschiedlichen Sprachen sollte für Bibliander diese Mission fördern.
Die religiösen Missverständnisse lagen für ihn weitgehend auf der
sprachlichen Ebene begründet, so dass hier der Ansatz für das
religiöse Gespräch zu suchen sei. Noch einmal sollte deshalb auch für
Bibliander das Evangelium unter den einst christlichen Völkern
verkündet werden, die durch Mohammeds „Sophistik“1072 davon
abgefallen seien. Bibliander meinte, so könne es dann zu einer
Einigung der Menschheit kommen, wobei die Grundlage für diese
Einheitsreligion wie bei Cusanus allerdings selbstverständllich der
christliche Glaube war.1073
1553 gab Bibliander in „De monarchia totius orbis suprema legitima et
semiterna“ eine Auslegung verschiedenster biblischer Weissagungen
auf Christus heraus, die allerdings wie die meisten seiner Werke nicht
1070
1071
1072
1073
Egli, Bibliander, 61ff.
Egli, Missionsgedanken, 48.
Holsten, Reformation, 30.
Egli, Bibliander, 80ff.
236
im Druck erschien. Welch anderer Ton hier herrschte als bei Luther,
macht die Praefatio des Werkes deutlich:
„Allen
Christen,
Juden
und
mohammedanischen
Muselmännern
wünscht Theodor Bibliander Gnade, Frieden und jegliches Heil von Gott
dem Herrn.“1074
Das Werk ist der Versuch einer Mission auf schriftlichem Wege.
Bibliander will in dieser Schrift alle drei monotheistischen Religionen als
gleichwertig ansprechen, ein Versuch, der zuletzt von Nicolaus
Cusanus unternommen worden war. Er beklagt den religiösen Hass
und die Kriege der Menschen untereinander, wo doch Einigkeit in so
vielen Grundanschauungen bestünde. Die Verbindung aus taktischer
Freundlichkeit und religiös irenischer Überzeugung bleibt wie bei
Cusanus im Einzelnen nicht vollständig analysierbar. Klar ist jedoch,
dass der Koran als religiöse Urkunde für Bibliander ebenfalls nicht
diskussionsfähig
war.
Dies
zeigen
seine
chronologischen
Berechnungen. Das Jahr 1553 war für ihn das 1000. Mondjahr nach
dem ersten prophetischen Auftreten Mohammeds und in diesem Jahr
sollte nach einer alten Weissagung der Koran und damit auch der Islam
untergehen. Gleichzeitig fanden sich in dieser Berechnung Bezüge auf
den Untergang Israels und den Verfall der Papstkirche.1075
Es war wohl gerade die apokalyptische Grundanschauung Biblianders,
die ihn zur Mission trieb. Sein Biograph Emil Egli hat es so formuliert:
„Gewiss ist es kein Zufall, dass der Mann, der sich so eingehend, wie
mit dem Koran so mit der Apokalypsis beschäftigt hat, auf den
Missionsgedanken gekommen ist; diese Arbeiten haben ihn auf
solchem Wege gefördert.“1076
Wie so in keinem anderen Falle bei einem Reformator finden sich bei
Bibliander in einer Verbindung apokalyptisches und dogmatisches
Interpretationsmodell, Missionsgedanke und religiöser Universalismus.
7.3.2. Warnung vor dem „Türgg“: Heinrich Bullinger
1074
1075
1076
Zit. in Egli, Missionsgedanke, 49.
Egli, Bibliander,93.
Ebd., 95.
237
Nach dem Tode Huldrych Zwinglis erwuchs der Zürcher Kirche, der als
frühem Zentrum des reformierten Flügels der reformatorischen
Bewegung eine hohe Bedeutung zukam, in Heinrich Bullinger (15041575) ein langjährig wirkender Nachfolger. Er ist der eigentliche
Organisator der Zürcher Reformation geworden.1077 Bullinger verfügte
durch seinen Schriftwechsel über ein weitreichendes Informations- und
Verbindungsnetz, ca. 12000 Briefe sind erhalten geblieben.1078 Darüber
hinaus stellte er sog. „Neue Zeitungen“ her, in denen allgemein
interessierende Nachrichten aus seiner Korrespondenz, von ihm mit
Kommentaren versehen, einem breiteren Publikum zugänglich gemacht
wurden.
In der Korrespondenz Bullingers findet sich auch ein ausgedehnter
Briefwechsel mit ungarischen Kirchenmännern.1079 Hier hatte sich nach
lutherischen Anfängen die reformierte Variante des evangelischen
Glaubens immer mehr ausgebreitet. Nach Luthers Tod wurde die
Verbindung zur Zürcher Reformation noch stärker.
Bullinger schickte auf Anfrage des Sekretärs in der ungarischen
Staatskanzlei
in
Wien,
Johann
Fejérthóy,
ein
Sendschreiben
seelsorgerlichen Inhalts an die ungarischen Christen, in dem in 50
Kapiteln der christliche Glaube zusammengefasst und praktische
Ratschläge gegeben wurden.1080 Das Werk wurde zunächst in
Abschriften weitergereicht, bevor es 1559 in Klausenburg gedruckt
wurde. Mehrfach nahm Bullinger auch auf die „Türken-Problematik“
Bezug, die jedoch eher den äußeren Rahmen seiner sonst allgemein
gehaltenen Ausführungen darstellt. Schon in der Einleitung begründete
er sein Schreiben damit, dass er gehörte habe, wie in ganz Ungarn,
auch
in
den
osmanischen
Teilen,
ja
(protestantisch
verstandene)
Evangelium
sogar
in
verkündet
Istanbul
das
werde.
Er,
Bullinger, wolle nun die Christen mit dieser Schrift auf ihrem Weg
stärken. Ausführlich ging er im vorletzten Kapitel auf die Frage ein, ob
1077
1078
1079
1080
Vgl. Gäbler, Bullinger, 197ff.; Blanke/Leuschner, Bullinger.
Gäbler, Bullinger, 206.
Zu Bullingers Beziehungen nach Ungarn vergleiche auch Bryner,
Ausstrahlungen.
Eine Zusammenfassung der Schrift „Brevis ac pia institutio Christianae
religionis ad dispersos in Hungaria ...“ bietet Schlegl, Bullinger, 25ff.
238
die Christen unter der Herrschaft der „Ungläubigen“, mit denen
offensichtlich neben den Osmanen auch die „Papisten“ gemeint waren,
leben dürften. Bullinger beantwortete diese Frage positiv. Schließlich
hätten auch die Juden in der babylonischen Gefangenschaft gelebt und
die ersten Christen unter römischer Bedrängnis ihren Glauben
praktiziert. Andererseits stellte sich die grundsätzliche Frage, warum es
wieder zu einer solchen Bedrägnis gekommen sei. In der Antwort tritt
bei Bullinger ebenfalls das straftheologische Bußmotiv auf: Da die
Christen in ihrem Glauben lasch wurden, haben die Osmanen die von
Gott gegebene Aufgabe zu erfüllen, diese für ihren Glaubensschwund
zu strafen.
Über Fejérthóy u.a. erfuhr Bullinger auch, dass die evangelische
Konfession von den Osmanen durchaus milder behandelt wurde, als
der Katholizismus.1081 Ein Mitteilung, die durchaus den historischen
Tatbestand
zu
treffen
scheint.
Tatsächlich
konnte
sich
der
Protestantismus in den osmanisch besetzten ungarischen Gebieten
relativ stark verbreiten. Eine gewisse Duldung der Osmanen, die den
als Oppositionskraft zu Papst- und Kaisertum wahrgenommenen
Protestantismus wohl eher akzeptierten als den Katholizismus, spielt
hier eine Rolle.1082 Letztlich blieb aber das Verhältnis der Osmanen
auch den Protestanten gegenüber unberechenbar und von Willkür
geprägt.1083
Bullinger hat ebenfalls eine „Türken-Chronik“ verfasst, die er unter dem
Namen seines Freundes Matthias Erb, der ihn um diese Schrift gebeten
hatte, 1566 erscheinen ließ.1084 Diese Chronik zeigt die signifikanten
Unterschiede im Geschichtsbild der Zürcher Reformation zu dem Martin
Luthers:
Zunächst erscheint es jedoch so, als vertrete das Werk „Der Türgg. Von
Anfang und ursprung des Türggischen Gloubens ...“ das apokalyptische
Geschichtsbild Luthers und Melanchthons, da schon auf der Titelseite
aus der Johannes-Apokalypse zitiert wird.
1081
1082
1083
1084
Schlegl, Bullinger, 34f.
Gragger, Kulturbeziehungen, 7f.
Ebd., 14f.
Staedtke, Bullinger, 556.
239
Offensichtlich sollen die Osmanen in diesem Zusammenhang als eine
apokalyptische
Plage
dargestellt
werden,
doch
ist
von
einer
apokalyptischen Grundhaltung in der Schrift dann keine Rede. Bullinger
selbst hat im Unterschied zu Calvin und Zwingli aber in Gemeinsamkeit
mit seinem Kollegen Bibliander der Apokalyptik-Thematik durchaus
seine Aufmerksamkeit gewidmet. 1555/1556 hielt er 100 Predigten zur
Apokalypse, die im Jahr darauf gedruckt und in mehrere Sprachen
übersetzt wurden.1085 Bullingers Akzent liegt aber keinesfalls auf einer
akuten Apokalyptik, die sich noch dazu in äußeren Ereignissen, wie
etwa einer osmanischen Invasion, vollzieht. Vielmehr deutet er seine
Zeit als letzte Zeit, die durch die Reformation und die Widerstände des
als antichristlich verstandenen Papsttums gekennzeichnet ist,1086 wenn
auch die „Türken“ gelegentlich als endzeitliche Gegner bezeichnet
werden können.1087 Mehr geht es jedoch darum, die Osmanen als eine
widerchristliche
Kraft
zu
charakterisieren,
mit
der
es
keine
Verständigung geben kann. Zu dieser Befürchtung war offensichtlich
auch für Bullinger aller Anlass gegeben. Schon die Vorrede macht
deutlich,
dass
es
in
der
Bevölkerung
an
einem
wirklichen
Widerstandswillen gegen die Osmanen fehlte, wenn als weit verbreitete
Meinung widergegeben wurde, dass die Menschen „fry heruß sagen/
ich wöllte lieber under dem Türggen syn/ dann under yetziger
Christenlicher Oberkeit.“1088
Wer so redet, das macht die Bibelstelle auf dem Titelblatt deutlich, der
begibt sich unwissend und freiwillig unter eine apokalyptische Plage, da
er offensichtlich von „schwerer ja vihischer dienstbarkeit/ an seel lyb
und gut/ den armen gefangenen Christen“ nichts weiß.1089
Da die Osmanen bisher außerordentlichen militärischen Erfolg gehabt
haben, besteht für Bullinger nun auch die Gefahr, dass Deutschland
von ihnen erobert wird, wenn sich die Christen in ihrem Leben und
Glauben nicht bessern. Diese Besserung zu befördern, ist das Ziel der
1085
1086
1087
1088
1089
Cunningham/ Grell, Horsemen, 52; vgl. auch Petersen, Preaching, 120ff.
Vgl. Neddemeyer, Mittelalter, 49.
Vgl. Seifert, Rückzug, 27.
Bullinger, Türgg, A II.
Ebd., A III.
240
Schrift Bullingers. Erreicht soll dies durch eine „aufklärende“ Information
über die Osmanen werden.
Die Geschichtschronik verarbeitet dann verschiedenste Vorbilder, wie
Bullinger deutlich macht. Er nennt ausdrücklich u.a. Johannes
Damascenus, Philipp Melanchthon, Johannes Nauclerus, Johannes
Sleidan und Johannes Aventinus. Innerhalb des Textes wird Aventinus,
der 1531 ein Werk zur deutschen Geschichte herausgegeben hatte,1090
am häufigsten als Referenzstelle angegeben.
Die Chronik beginnt zunächst einmal damit, den Ursprung des
muslimischen Glaubens zu erläutern.
Mit
einer
Fülle
richtiger
Detailkenntnisse wird Mohammed als Stifter der Religion dargestellt.
Letztlich bleibt aber für Bullinger nur, zu konstatieren, dieser habe einen
„geselligen glouben“1091 erfunden, dass heißt eine Religion, die die
hohen
Anforderungen
des
Christentums,
besonders
was
die
dogmatischen Glaubenssätze angeht, nicht teilt. So ist auch der Koran
für Bullinger aus allen möglichen frühchristlichen Häresien, besonders
auch wieder der des Arius und der des Nestorius, „zamen geflickt“.1092
Das allerdings ist für Bullinger ein klarer Hinweis auf die Endzeit, wenn
ausdrücklich das 2. Kapitel des 2. Thessalonicherbriefes genannt wird,
wo vom Antichristen inmitten des Tempels die Rede ist. Diese Stelle,
die Luther auf das Papsttum bezog, wird hier von Bullinger mit den
Osmanen in Verbindung gebracht. Dies zeigt einmal, wie die heftigen
und erschütternden Auseinandersetzungen mit dem Papsttum, die
Luthers Türkenbild so charakterisieren, zwanzig Jahre nach dessen
Tod in dieser Intensität der Vergangenheit angehören und wie
andererseits bei Bullinger eindeutig die dogmatische Interpretation der
Türkengefahr überwiegt. Zwar sind die Osmanen Gestalten der Endzeit,
die aber nicht näher qualifiziert wird, doch sind sie es deshalb, weil sie
eine falsche Lehre vertreten, nicht weil sie der äußere Diener des
„päpstlichen Antichrists“ sind. Die falschen Lehren der Osmanen,
Ablehnung der Dreifaltigkeit, der Gottheit Jesu Christi, seines
Heilstodes, der Gerechtigkeit aus Glauben, Ablehnung der Taufe und
1090
1091
1092
Joachimsen, Geschichtsauffassung, 187.
Bullinger, Türgg, A IIII.
Ebd., A V.
241
des Abendmahles werden dann von Bullinger dargestellt. Als Ergebnis
stellt er deshalb fest, dass allein der christliche Glaube der wahre
Glaube ist, so dass alle Christen „disen Türggischen glouben/ als eine
nüwe erdichte von unreinen wüsten lüten verderpliche verfürung“1093
durchschauen sollen. An dieser Stelle wird dann auch kurz die
Hoffnung geäußert, dass sich doch auch viele Osmanen zum
christlichen Glauben bekehren mögen.
Bullinger geht dann der Frage nach, warum denn die „häretischen“
Osmanen so viele Erfolge erlangt haben. Dabei bezieht er sich
ausdrücklich auf Daniel 7. Doch die Interpretation ist hier rein historisch!
Schon immer hat es große Mächte mit falschem Glauben gegeben,
führt Bullinger aus, doch Gott hat ihnen allen ihre Zeitspanne
herrschaftlicher Macht bemessen. Das gilt auch für das danielische
Vierte Reich, das Römische Reich, das Bullinger als historisches
Phänomen interpretiert. Ausdrücklich qualifiziert Bullinger dabei in
seinen Predigten zur Apokalypse dieses Römische Reich als
widerchristlich und sieht im Papsttum dessen Nachfolger.1094
An dieser Stelle ist auch ein Blick auf Bullingers Auslegung des Buches
Daniel hilfreich. Zwar teilt Bullinger die übliche Auffassung der
Reformatoren von den vier Weltreichen, von denen das römische das
letzte sei, doch sieht er eben wie Calvin das Imperium
Romanum
schon als vergangen an. Der Stein, der in Daniel 2 den „Koloss auf
tönernen Füßen“ zerstört, ist dahingegen das Reich Christi, das als
„Reich der Gnade auf Erden, dass sich in gestalt der Kirche über die
ganze Welt ausgebreitet hat.“1095 Dieses Reich Christi ist aber für
Bullinger nun keineswegs eine rein apokalyptisch qualifizierte Größe.
Weltliche Legitimität kann neben ihm durchaus bestehen. Nur
gottwidrige Reiche wird dieses Gottesreich zerstören. Grundsätzlich gilt
jedoch: „Christus imperia non sustulit sed stabiliuit.“1096
Dass nun der Islam aufkommen konnte, sieht Bullinger in der Schrift
„Der Türgg“ als Ergebnis der Uneinigkeit unter den Christen an. Dies ist
1093
1094
1095
1096
Ebd., A VIII.
Zur Thematik vgl. Büsser, Predigten und Mäder, Papam.
Vgl. Krüger, Ausleger, 101.
Zit in ebd., 102. Vgl. auch Campi, Ende
242
dann das Leitmotiv der folgenden Ausführungen: Immer dann, wenn die
Christen uneinig waren, konnten „unchristliche“ Mächte groß werden.
Das gilt eben auch für die Entstehung und Ausbreitung des Islam, wo
doch in dieser Zeit „vil spans und zangs in der kyrchen/ von dem Herren
Christo/
sinder
unzertrenten
einigen
person/
und
beiden
underscheidnen naturen/ der göttlichen unnd menschlichen/ item von
den bildern“1097 war. Bullinger fasst hier also die frühchristlichen
dogmatischen Auseinandersetzungen, besonders den christologischen
Streit und den Bilderstreit zusammen und sieht in ihnen und der
dadurch bedingten inneren Schwäche des Christentums eine Wurzel
der frühen muslimischen militärischen Erfolge.
Die weitere Entstehung und Ausbreitung des muslimischen Weltmacht
wird nun geschildert, dabei wird die Herleitung des Namens
„Sarazenen“ im Sinne einer manipulierten Genealogie der Agareni
(Hagar/Sarah) lediglich als eine denkbare Möglichkeit beschrieben, von
irgendwelchen
Bezügen
gar
zur
Alexandersage
oder
den
Weissagungen des Pseudo-Methodius von der Endschlacht mit den
Agareni ist keine Rede. Die Herkunft der Türken aus Zentralasien wird
ebenfalls erwähnt und in ihnen das biblische Volk Magog gesehen.
Doch wieder fehlt jeglicher apokalyptischer Ton, denn der MagogBezug wird aus der Völkertafel von Gen. 10,2 hergeleitet, von den
„apokalyptischen“ Bibelstellen ist keine Rede.
Wie
das
Aufkommen
der
muslimischen
Araber
eine
Folge
innerchristlichen Streites war, so auch die Machtstellung der Osmanen,
die mit dem Jahre 1300 einsetzt. Bullinger sieht darin eine Folge des
päpstlichen Weltmachtanspruch durch Papst Bonifaz VIII., wie er sich in
der Bulle „Unam Sanctam“ 1302 äußerte, sowie in der Ausrufung des
Jubeljahres für 1300 und dem damit verbundenen Ablass, der das
Heilswerk Christi nach evangelischer Auffassung entwertete. Ebenso ist
das Fußfassen der Osmanen in Europa für Bullinger ein Ergebnis des
Streites unter den Christen in Byzanz, wobei er auf den Bürgerkrieg im
Byzantinischen Reich 1321-1354 anspielt, in dem die politische Rolle
der Osmanen, die in die Rolle von „Kaisermachern“ kamen, eine
1097
Bullinger, Türgg, B.
243
enorme Aufwertung erfuhr. Sultan Orhan war der Schwiegersohn des
byzantinischen Kaisers Johannes Kantakuzenos. Nach dem Fall von
Adrianopel 1363 geriet Kaiser Johannes V. dann in osmanische
Abhängigkeit.1098
Der Siegszug der Osmanen durch Europa wird nun detailliert und im
Wesentlichen historisch zutreffend geschildert, wobei jeweils die
einzelnen Sultane, als türkische „Könige“ und zusätzlich ab Mohammed
II., dem Eroberer Konstantinopels, auch als türkische Kaiser“
charakterisiert werden. Während die Eroberung Konstantinopels nur
kurz erwähnt wird, offensichtlich ist sie nur der logische Schlußpunkt
der
geschilderten
Auseinandersetzungen,
ist
der
sukzessive
Machtverlust der Christen in Ungarn wiederum ein Ergebnis christlicher
Uneinigkeit. Am Verlust Belgrads tragen für Bullinger die Bischöfe und
der Adel Ungarns Schuld, weil sie König Ludwig falsch beraten haben.
Der Untergang des ungarischen Heeres 1526 in der Schlacht von
Mohács ist schließlich ein Ergebnis der Uneinigkeit des Reichstages
von Speyer und besonders des Heerführers Pal Tomori (Paulus
Comerey) der König Ludwig „fräfentlich“1099 zur Schlacht aufgestachelt
habe.
Schließlich geht der innerchristliche Streit zwischen Ferdinand und
Zápolya weiter: „Und diese zwytracht dieser Christen Fürsten hat zum
teyl den Türggen gebracht in Tütschland oder Osterrych.“1100
Die Schilderung schließt mit der aktuellen Situation 1566. Nach dem
Reichstag von Regensburg 1566 wurde eine beträchtliche Türkenhilfe
genehmigt.1101 Allerdings blieb dieses Unternehmen weitgehend
erfolglos. Der Heereszug der Osmanen hingegen war mit der Einnahme
der Städte Güns und Sziget erfolgreicher. Gerade die Einnahme von
Sziget wird von Bullinger hier als voller Erfolg der Osmanen
beschrieben. Dies war jedoch nur teilweise der Fall. Tatsächlich war es
dem ungarischen Feldherrn Miklos Zrinyi lange Zeit gelungen, Sziget zu
1098
1099
1100
1101
Vgl. bes. 369ff.
Bullinger, Türgg, D IIII.
Ebd., D IIIIf.
Höfert, Türkenhilfe, 111.
244
halten.1102 Sultan Suleiman verstarb während der Belagerung, was
Bullinger auch kurz erwähnt. Mit dem Tod des expansionsfreudigen
Herrschers endete langfristig gesehen das erfolgreiche Vordringen der
Osmanen in Europa,1103 Zrinyi wurde zum ungarischen Nationalhelden.
In einem an die Schrift anschließenden Gebet bittet Bullinger dann um
Verschonung von der Herrschaft des osmanischen „Züchtigers“1104, um
Vergebung der innerchristlichen Streitigkeiten, „die sich aeben nit
wöllend gütlich riechten lassen“1105 und um die Bekehrung der
Osmanen.
Der Unterschied zu Luther und Melanchthon wird auch hier wieder
deutlich: Bullinger hofft auf die Bekehrung der Osmanen, aber er
erwartet nicht das Ende der Zeiten. Zwar finden sich gelegentliche
apokalyptische Anspielungen, doch sind diese eher wie bei Zwingli als
inkohative
Eschatologie
zu
verstehen.
Das
dogmatische
Interpretationsschema dominiert bei Bullinger eindeutig. War Bullingers
Vorgänger Zwingli hinsichtlich apokalyptischer Vorstellungen schon
zurückhaltend, fehlen sie bei Bullinger ganz. Dies verbindet ihn mit
Calvin
und
lässt
die
fehlende
Apokalyptik
zu
einem
Unterscheidungsmerkmal der reformierten Form der Reformation im
Unterschied zu der lutherischen werden.
7.3.3.
Weiterwirken
der
apokalyptischen
Grundhaltung:
Andreas Osiander
Nicht nur Luther wurde zu Beginn der 1540iger Jahre erneut literarisch
mit dem Ziel tätig, die Bevölkerungen und auch die kämpfenden
Truppen für die Auseinandersetzungen mit den Osmanen geistlich
zuzurüsten. An vielen Orten forderte die Obrigkeit zum Gebet für die
Abwendung der Gefahr auf. Damit waren die Geistlichen natürlich in
besonderer Weise angesprochen. Die Prediger reagierten auf diese
Anordnungen mit gesonderten Vermahnungen und selbstverständlich
auch mit Bezugnahmen im Rahmen anderer Predigten. In Nürnberg
1102
1103
1104
1105
Majoros/ Rill, Reich, 244f.
Vgl. Höfert, Türkengefahr, 112f.
Bullinger, Türgg, D VIII.
Ebd., D VIII.
245
übernahm diese Aufgabe nachweislich der Prediger an der SebaldusKirche, Veit Deitrich, und der Pfarrerr an St. Lorenz, Andreas Osiander.
Andreas Osiander (1496/1498 -1552) war seit 1522 Prediger an St.
Lorenz, einer der beiden Pfarrkirchen Nürnbergs, das damals zu den
herausragendsten Städten Deutschlands zählte. Hier fanden in diesen
Jahren mehrere Reichstage statt und hier saß das „Reichsregiment“.
Osiander kam so immer wieder mit der „großen Politik“ in Berührung.
Königin Isabella von Dänemark, einer Schwester der Habsburger Karl,
Ferdinand und Maria, reichte er das Abendmahl in beiderlei Gestalt,
was faktisch als Übertritt zum Protestantismus gewertet werden konnte,
den Hochmeister des Deutschen Ordens Albrecht von Brandenburg
gewann er - und damit Preußen - für die Reformation.1106 In Osianders
Persönlichkeit verbinden sich mittelalterliche und in die Neuzeit
weisende Elemente: Als 1524 der päpstliche Legat Campeggio in
Nürnberg war, predigte Osiander über den Papst als Antichristen. 1527
veröffentlichte er sowohl Weissagungen des Joachim von Fiore wie
auch der Hildegard von Bingen.1107 Wenige Jahre später gab er die
Schriften des Nikolaus Kopernikus mit einem Vorwort versehen
heraus.1108
1548
trat
Osiander
in
die
Dienste
Albrechts
von
Brandenburg und ging nach Königsberg. Auf seine letzten Lebensjahre
fällt der Schatten des innerprotestantischen „osiandrischen Streites“.1109
Osianders Beschäftigung mit der „Türken-Problematik“ fällt noch in die
Nürnberger Zeit. Neben einer Vermahnung, die als „Unterricht wider
den Türken“1110 herauskam, und einer Predigtreihe über die „Zehn
Gebote“, die das „Türken-Thema“ mehrfach aufnahm,1111 predigte
Osiander um den Jahreswechsel 1542/43 auch über den Propheten
Daniel, was sicherlich in dieser besonderen politischen Situation kein
Zufall war. Erneut wurde hier also die Frage der Wahrnehmung der
eigenen Zeit im Lichte biblischer Deutung, insbesondere durch das
1106
1107
1108
1109
1110
1111
Vgl. Müller, Osiander, 59ff.
Barnes, Prophecy, 56.
Ebd., 63,70.
Hier ging es um die Frage der Einwohnung der Natur Christi in den im
Glauben Gerechtfertigten, eine Lehre, die von den übrigen Reformatoren
deutlich abgelehnt wurde; vgl. Hägglund, Geschichte, 212.
Osiander, Schriften VII, 469ff.
Ebd., 343ff.
246
Danielbuch, aufgegriffen. Dabei konnte Osiander auf Vorarbeiten
zurück greifen. Schon 1524 hatte er seine Auffassung vom Papst als
dem Antichristen u.a. anhand des Daniel-Buches entwickelt.1112
Zunächst soll hier auf den „Unterricht“ eingegangen werden, der
offensichtlich aus einer Predigt heraus entstanden ist, und der wohl im
Vorfeld des im Juli 1542 in Nürnberg tagenden Reichstages, dessen
Thema ebenfalls die „Türkengefahr“ war,1113 erschien.
Osianders Ausführungen beginnen mit einer heftigen Polemik gegen
„Machmeds verfuerische, gotßlesterliche, teufflische greul und luegen“,
die „alle gesetz und recht, alle politey und gute siten“1114 verderben.
Gezielt greift er die Frage auf, worin denn die schier unfaßlichen Erfolge
der Osmanen begründet seien. Die Antwort findet Osiander mit vielen
anderen Reformatoren darin, dass es sich hier um eine zugelassene
Strafe Gottes handelt, die in der Sündhaftigkeit der Christen ihren
Grund hat. Eine Aufzählung dieser Sünden erweist, dass damit
insbesondere die Verachtung der reformatorischen Lehre gemeint ist.
„Die suend aber, umb welcher willen Gott also uber uns erzuernet ist,
seind ungeferlich diese: Verachtung, verfelschung und verfolgung
seines
heyligen
goettlichen
worts,
misprauch
seiner
heyligen
sacrament, falsche, erdichte menschenleer in goetlichen und des
glaubens sachen, gewaltige vertaidigung derselben mit vergiesung
unschuldig bluts, abgoetterey, ketzerey, symoney, zauberey und das
haidnisch, epicurisch leben deren, die nach Gott nichts fratgen, nichts
glauben, kein predigt hoeren ...“1115.
Diese Dinge sind für Osiander zweifelsohne ein Zeichen der Endzeit, so
dass er den Kampf gegen die Osmanen nicht lediglich als militärische
Auseinandersetzung begreift. Deshalb ist der „Türke“ auch für Osiander
eine „scharpfe, starcke, eysene ruten“1116, mit der Gott gegen die
Christen vorgeht. Sollten nun die Osmanen militärisch die Oberhand
behalten, ist das noch nicht das Ende. Ausgehend von seiner
apokalyptischen Geschichtsdeutung bricht für Osiander die eigentliche
1112
1113
1114
1115
1116
Seifert, Rückzug, 11.
Osiander, Schriften VII, 470.
Ebd., 473.
Ebd., 478.
Ebd., 481.
247
Katastrophe erst an. Denn nun werden die Osmanen und die
ungläubigen Christen vernichtet. Sollten die Christen jedoch Buße tun
„und alle obgemelte mißpreuch, so vil an uns ist, abstellen“1117, wird
Gott von seinem Strafgericht ablassen und das Ende der Zeiten
aufhalten. Dann ist auch „der Türck nichts anders mer dann ein loser,
laerer, unsinniger, wuetiger tyrann und moerder, der von Gott kein hilf
und beystand mer hat“1118. Von diesen Voraussetzungen ausgehend ist
also der Kampf gegen die Osmanen geboten. Diejengen, die im Kampf
gegen die Osmanen sterben, tun dies wegen der „beschützung des
vatterlands“ und „umb Christus namen willen“1119.
Man kann also bei Osiander von einem bedingt-apokalyptischen
Interpretationsmodell hinsichtlich der „Türkengefahr“ sprechen. Zwar
handelt es sich bei den Osmanen um Gestalten der Endzeit, aber der
„Jüngste Tag“ ist für Osiander doch nicht eine so sichere Gegebenheit
wie etwa für Luther. Die Möglichkeit des „kat’echon“, des Aufhaltens,
die bis dahin dem Römisch-deutschen Kaiserreich zugeschrieben
wurde, liegt nun bei den Christen selbst. Dass diese Funktion nun den
Christen selbst zufiel, lag auch daran, dass Osiander, die Lehre von der
translatio imperii nicht teilte. Für ihn war das deutsche Reich eines wie
alle anderen auch, die Bezeichung als „Römisches Reich“ bedeutete
ihm nur eine päpstliche List, um dadurch den Anspruch auf
Weltherrschaft durchzusetzen.1120
Da um den Jahreswechsel 1542/43 die „Türkengefahr“ noch immer
nicht gebannt schien, schloss Osiander eine Reihenpredigt über das
Buch Daniel an, von der allerdings nur die Predigten zu Kapitel 1 und 2
(bis Vers 11) erhalten sind. Da in der Reihenpredigt die Auslegung zum
im Rahmen dieser Fragestellung besonders wichtigen Kapitel 7 und
2,31ff. fehlen, sind Osianders Ausführungen hier notwendigerweise
fragmentarisch. Trotzdem wird in den wenigen erhaltenen Passagen
schon deutlich, wie sehr ihn das „Türken-Thema“ beschäftigte. Die
Thematik des Daniel-Buches wird allerdings in diesem Zusammenhang
1117
1118
1119
1120
Ebd., 482.
Ebd., 483.
Ebd., 484.
Vgl. dazu Seifert, Rückzug, 50.
248
wiederum wie schon das „kat’ echon“ personalistisch interpretiert. Die
Beständigkeit des nach Babylon exilierten Daniel wird für Osiander zum
Beispiel für seine Zeit. „Und da leret man abermals, wie wir uns hallten
sollen, wan es und dahin kumpt, das uns der Turck erobert, nemlich
das man vom wort nit abfall, sondern vest pleib wie hie Daniel.“1121
Während also Luther zwar für die in osmanische Gefangenschaft
geratenen oder in Gefangenschaft zu geraten drohenden Christen
einige Hinweise und Ermahnungen zur Beständigkeit im christlichen
Glauben gab, erörtert Osiander hier die Frage einer möglichen
Besetzung des Reiches durch die Osmanen. Zwingli hielt dies auch für
möglich, schien aber eine Unterweisung in diesem Falle nicht für
ausdrücklich nötig zu halten, während Luther sich diesen Fall
offensichtlich nur als Beginn der dann unaufhaltsam ablaufenden
Endzeitereignisse vorstellen konnte.
1544
berechnete
Osiander
in
den
„Coniecturae
de
ultimis
temporibus“1122 das Ende der Welt für das Jahr 1672. Nach dem
Augsburger Interim 1548, dass die Protestanten nach der Niederlage im
Schmalkaldischen Krieg 1546/47 akzeptieren mussten, hielt er dann
einen rascheren Einbruch der Endzeit doch für wahrscheinlicher.1123 In
den „Coniecturae“ spielten die Danielweissagungen ebenfalls wieder
eine wichtige Rolle. Allerdings wurden dessen Prophezeiungen nun so
historisiert, dass Osiander „das kleine Horn“ aus Dan 7 als Julius
Caesar interpretierte und den Niedergang des (West)-Römischen
Reiches als das Ende der vierten Monarchie.1124
Osiander ähnelt Luther besonders darin, dass seine Vorhersagen stark
von
den
allgemeinen
politischen
Ereignissen
abhängig
sind.
Grundsätzlich bleibt bei ihm die apoklayptische Weltsicht beibehalten
und insofern kann Osiander, der dogmatisch ein Einzelgänger war
(s.o.),
hier
als
typischer
Vertreter
konfessionellen Luthertums gelten.
1121
1122
1123
1124
Ebd., 536.
Osiander, Schriften VII, 470.
Barnes, Prophecy, 116.
Ebd., 129.
des
sich
verfestigenden
249
7.3.4.
Veränderte lutherische Sicht der Rolle des Papsttums
in der Auseinandersetzung mit den Osmanen: Veit
Dietrich
Osianders Nürnberger Amtsbruder an der St. Sebaldus-Kirche war Veit
Dietrich (1506-1549), der als langjähriger Famulus Luthers zahlreiche
von dessen Schriften herausgegeben hat und mit diesem 1530 auch
auf der Coburg war. Seit 1535 amtierte Dietrich in Nürnberg. Seine
Abhängigkeit von Luther ist in der nachfolgend dargestellten Auslegung
des 20. Psalms teilweise bis in die Wortwahl hinein deutlich, doch gibt
es auch signifikante Unterschiede. Die Auslegung erschien im
September 1542 als „Der XX. Psalm Davids, Wie man für unser
Kriegsvolck recht betten, und sie sich Christlich wider den Türcken
schicken, und glücklich kriegen sollen.“ Auslöser für Dietrichs
Auslegung war offensichtlich eine Kriegspredigt des Bischofs von Wien,
Johannes Nauseus.1125 Dietrichs Grundargumentation wird sehr schnell
deutlich: Wer den „falschen“ - für Dietrich den katholischen - Glauben
hat, der kann auch nicht recht zum Beten anleiten und dessen Gebet
kann offensichtlich auch keinen Erfolg haben. Dietrich unternimmt es
dann, seine eigenen Auffassungen darzustellen:
Der „Türke“ ist für ihn der Teufel. „Nun aber ist es unmüglich/ das man
dem Teuffel mit wehr und waffen abbrechen oder begegnen
könnte.“1126 Dietrich übernimmt also Luthers Teufelsglaube, besonders
was den Bezug zu den Osmanen angeht, aber vom päpstlichen
Antichrist ist an keiner Stelle mehr die Rede. Überhaupt fehlt trotz der
Diabolik in der Charakterisierung der Osmanen die apokalyptische
Perspektive. Stattdessen geht es um eine dogmatische Interpretation
der Osmanen, die Luther wohl auch, wie gesehen, bietet, die aber für
ihn nicht vorrangig ist. Dietrich bestreitet den Osmanen mit derselben
Argumentationslinie den rechten Glauben wie Luther. Das Gebet von
„Türcken/ Juden [und] Papisten“1127 ist sinnlos, da sie Gott nicht
kennen. Zwar glauben sie an einen Schöpfergott, aber der „Türke“
1125
1126
1127
Dietrich, XX. Pslam, A 2.
Ebd., B.
Ebd., B 4.
250
„wayß ... doch nit was für ein Gott er sey/ und sonderlich wayß er das
fürnemste nit/ ob er gnedig und barmherzig sey.“1128
Schließlich trifft dann noch besonders Juden und „Papisten“ der
Vorwurf, sie verließen sich auf die „guten Werke“ und damit einen
äußerlichen Gottesdienst. Die Osmanen werden hier im Unterschied zu
Luther nicht in die Kritik einbezogen, dies folgt an einer späteren
Stelle.1129 Der Grund dürfte einfach darin liegen, dass Dietrich folgert,
dass solcher äußerlicher Gottesdienst keinen Nutzen gegen die
Osmanen verspricht. Ausdrücklich wird wieder Nauseas Kriegspredigt
genannt.1130 Es folgt dann eine lange Auseinandersetzung mit dieser
Predigt. Deutlich wird: Die „Papisten“ sind jetzt nicht mehr eine Gestalt
des Antichrist, sondern sie sind die, die durch ihren „falschen“ Glauben,
verhindern, dass das christliche Heer gegen die Osmanen siegt.
„Denn die vergangene zeyt hat uns gelernet/ was die ausrichten und für
glück haben/ so nichts können/ denn wunden und martern/ Gottes wort
verachten/ und lestern ...“1131
Möglicherweise ist damit eine indirekte Kritik an Kurfürst Joachim II. von
Brandenburg intendiert, der, obwohl er – wie schon gezeigt – dem
Protestantismus nahe stand und mit dem Empfang des Abendmahls in
beiderlei Gestalt 1539 deutliche Zeichen gesetzt hatte,1132 „am Dekor
des katholischen Gottesdienstes festhalten ließ“1133 und erst 1563 offen
zum Protestantismus übertrat. Der von ihm angeführte Feldzug gegen
die Osmanen war bekanntlich ein Misserfolg. Wer so unentschieden ist,
könnte Dietrich hier andeuten, kann nicht gewinnen, bei demjenigen
jedoch, der sich offen zu Gottes Wort (in evangelischer Auslegung)
bekennt, „da ist gute hoffnung/ Gott werde mit seinem segen auch
dabey sein und gnedig wider seine und unsere feinde helffen“.1134
Dietrich rechnet also auch hier mit der Möglichkeit eines Sieges gegen
die Osmanen und nicht mit dem Weltende. Dafür spricht auch, dass er
an einer Stelle in der Predigt indirekt auf die vier Reiche aus dem 7.
1128
1129
1130
1131
1132
1133
1134
Ebd., C 2.
Ebd., G 3.
Ebd., C 2.
Ebd., F 2.
Brandi, Reformation, 240.
Mast, Hohenzollern, 35.
Dietrich, XX. Psalm, F 3.
251
Kapitel des Danielbuches zu sprechen kommt, allerdings alle vier
Reiche, also auch das Römische Reich als vergangene Größen
ansieht.
Wenn so – so folgert Dietrich – ein Erfolg gegen die Osmanen erzielt
werden soll, muss erst die „abgötterey/ so wider das wort [Gottes M.K.]
vom Bapst und seim hauffen/ auffbracht“1135 gestritten werden, sonst
bleibt der „Türke“ der, der diesen Ungehorsam straft.
7.3.6.
Jenseits einer „Reichstheologie“: Jean Calvin
Das Verhältnis der Reformation zur osmanischen Expansion wäre
unvollständig dargestellt, fehlte Jean Calvin (1509-1564), der wohl zum
herausragendsten Reformator der reformierten Kirche geworden ist und
neben Zwingli, Melanchthon und Luther zum Quartett der wichtigsten
Reformatoren gehört. Der in der Picardie geborene Calvin wurde
während seines juristischen Studiums zunächst besonders durch den
französischen Humanismus geprägt, bevor er sich zunehmend der
Reformation zuwandte und in einer dramatischen Begegnung durch
den Reformator Guillaume Farel 1536 für eine Tätigkeit in Genf
gewonnen werden konnte. Seine prägenden Jahre verbrachte Calvin in
Frankreich, teilweise in Paris. Dabei nahm er sicher auch an den
französischen Debatten über eine vermeintliche „Türkengefahr“ teil. Für
den französischen König Franz I. war das Osmanische Reich aber
bekanntlich keine apokalyptische Macht, sondern ein potentieller
Bündnispartner gegen die Habsburger. Diese Politik der Verständigung
und der teilweisen Kooperation konnte auch in Frankreich nur in einem
Klima durchgeführt werden, das durch den Humanismus vorbereitet
war. Zwar konnte dem König Zusammenarbeit mit einem „enemy de
nostre foy“1136 zum Vorwurf gemacht werden, nicht jedoch wurde die
Anklage erhoben, Franz I. mache sich zu einem Helfer des Antichrist.
Franz konnte sich darüber hinaus auch auf publizistische Unterstützung
verlassen. Zur Verteidigung der Politik des Königs zog man sogar den
1135
1136
Ebd., I 3.
Diese Charakterisierung gebrauchte Franz allerdings gelegentlich selbst, vgl.
zit. in Malettke, Vorstöße, 379,
252
Vergleich mit dem bekanntlich „ungläubigen“ Samariter (Lk 10,25ff.)
heran. Dieser sei der osmanische Sultan, der dem unter die Räuber
(Habsburger!) gefallenen Franz I. beistehen würde.1137 Für ein
apokalyptisches Klima fand sich kein Nährboden.
Nach einer Exilszeit in Straßburg wurde Genf für den in Frankreich als
Protestanten verfolgten Calvin ab 1541 endgültig zur Heimat. Er sollte
den Stadtstaat zunehmend geistlich prägen und darüber hinaus zum
Zentrum der reformierten Kirche machen.
Calvin selbst ist ein Reformator der zweiten Generation. Als er 1536
erstmals mit seiner maßgeblich wirkenden Glaubenslehre, der „Institutio
Religionis Christianae“, hervortrat, zeigte sich, wie distanziert er der
„Türkengefahr“ gegenüberstand. Lediglich in einer Randbemerkung
wurde deutlich, dass sich Calvin gegen die gewaltsame Missionierung
der Osmanen und anderer „Feinde der wahren Religion“1138 aussprach,
wobei er in Verkennung der tatsächlichen Verhältnisse von „Türken und
Sarazenen“1139 redete. In den späteren Ausgaben findet sich selbst
dieser
Bezug
nicht
mehr.
Insgesamt
hat
bei
Calvin
die
„Türkenproblematik“ bei weitem nicht die Dramatik und Intensität wie
etwa bei Luther. Dies mag neben seiner Prägung in Frankreich auch
daran liegen, dass der Stadtstaat Genf, von den Osmanen militärisch
nicht bedroht war und statt dessen sogar Handelsverbindungen nach
Istanbul unterhielt.1140
Calvin konnte die Osmanen zwar auch gelegentlich als „perpétuels
ennemis du christianisme“1141 bezeichnen, doch fehlte bei ihm
diesbezüglich jegliche apokalyptische Zuspitzung. Einen Kommentar
zur Johannes-Apokalypse herauszugeben, hat sich Calvin immer
gescheut.1142 Die vier Reiche der Danielweissagung sind für ihn längst
Vergangenheit.1143 Jetzt regiert Christus mit den Seinen ein spirituelles
Reich. Calvins anti-apokalyptische Interpretation wird in seinem
Kommentar zum Propheten Daniel, die 1561 erstmals im Druck
1137
1138
1139
1140
1141
1142
1143
Höfert, Türkenfurcht, 100.
Calvin, Glaubenslehre, 90.
Ebd.
Pannier, Turcs, 282.
Zit. in Pannier, Turcs, 275.
Wendel, Calvin, 252.
Vgl. auch Seifert, Rückzug, 52ff.
253
erschien, deutlich. Die Weissagungen des Propheten sind wie alle
anderen alttestamentlichen Prophezeiungen für ihn im Kommen Christi
erfüllt. Zu dem mit Mohammed bzw. dem Islam interpretierten kleinen
Horn des vierten Tieres im 7. Kapitel des Buches Daniel heißt es bei
Calvin:
„Das beziehen die einen auf den Türken, die anderen auf den Papst,
aber beide Meinungen sind falsch. Sie meinen, hier werde der Gang
des Reiches Christi beschreiben, während Gott seinem Propheten doch
nur die Zukunft bis zum ersten Erscheinen Christi hat zeigen wollen.
Der Zweck dieser Vision war doch der: alle Kinder Gottes sollten
wissen, was ihnen vor der Ankunft Christi noch für schwere Kämpfe
bevorständen. Zweifellos sind unter dem kleinen Horn Julius Caesar
und seine Nachfolger zu verstehen, Augustus, Tiberius, Caligula,
Claudius, Nero und andere. ...“1144
Calvin steht damit – wohl dank seiner humanistischen Prägung – im
Kontext des „modernen“ Geschichtsdenkens des 16. Jahrhunderts, wie
es sich gerade in Frankreich entfaltete.1145 Jean Bodin sollte das VierMonarchien-Schema mit seiner Konzentration auf das RömischDeutsche Reich wenige Jahre später als „Ausgeburt deutscher
Ruhmsucht“1146 ablehnen.1147 Calvins Auslegung war auch hier nicht
nur anti-apokalyptisch, sondern auch anti-monarchianisch. Für den
Bewohner Genfs spielte die Staatsform der Monarchie eine völlig
andere Rolle als für Martin Luther, der gleichsam in Sichtweite seines
kurfürstlichen Herrn wohnte. Calvin ist damit ein Exponent der
präteritischen Daniel-Auslegung, die die Prophezeiungen mit dem
Kommen Jesu erfüllt sah.1148
Hinzu kam, dass Calvins Ausführungen auch einen seelsorglichen
Charakter hatten. Sie sollten seine französischen Landsleute, die sich
zur Reformation bekannten, stärken.1149 Calvin macht hier deutlich,
dass die Monarchie als Staatsform kein Wert an sich ist. Die sog.
1144
1145
1146
1147
1148
1149
Calvin, Auslegung, 478f.
Miegge, Regnum, 245.
Koch, Europa, 111.
Vgl. Seifert, Rückzug, 65ff.
Seifert, Rückzug, 49ff.
Calvin, Auslegung, 354.
254
Monarchomachen sollten dann später als reformierte Christen die
theoretische Grundlegung gegen jeden fürstlichen Absolutismus
entwerfen.1150 Von einer „Reichstheologie“, die gar dem römischdeutschen Kaiserreich eine besondere Bedeutung zusprach, ist an
keiner Stelle die Rede.
Im Zuge der innerfranzösischen Religionsauseinandersetzungen wurde
dann analog den deutschen Verhältnisses „le turque“ zum Begriff für
den jeweiligen innerchristlichen religiösen Gegner.1151 Doch war dies
eher
eine
interne
Polemik,
denn
in
irgendeiner
Weise
ein
geschichtstheologisches Konzept.
7.4.
Zwischenbilanz
Luthers später „Türken-Diskurs“ war von Resignation und Polemik
geprägt. Darin ähneln diese Äußerungen den anderen „expressions of
frustration“1152, etwa seinen zeitgleichen Stellungnahmen zu den Juden.
War hier die ausgebliebene erfolgreiche Missionierung der Juden zum
(reformatorischen) Christentum der Auslöser seiner Haltung, war es im
Blick auf die Osmanen die Enttäuschung über eine wahrhafte
Bekehrung der Christen selbst. Das Angebot der Gnade Gottes, wie es
für Luther in seiner Wiederentdeckung des reformatorischen Wortes
geschah, war ausgeschlagen worden. Luthers zunehmende Sozialkritik
macht dies deutlich. Die Rolle der Osmanen als „Gottesgeißel“ wurde
von ihm aktualisiert und nun auf Altgläubige und Protestanten bezogen.
Das Ende der Zeiten schien ihm immer noch nahe, wenn auch nicht
unbedingt unmittelbar bevorstehend.
Die „Entdeckung“ des vollständigen Koran ließ Luthers Haltung in
maßlose Polemik umschlagen, so diabolisch erschien ihm nun der
Islam.
Während Osiander und Dietrich mit gewissen Abweichungen im
Rahmen der apokalyptischen Interpretation der Osmanen verblieben,
findet sich bei Bullinger trotz aller apokalyptischer Auffassungen
diesbezüglich kaum ein Bezug auf die „Türken“. Calvin schließlich
1150
1151
1152
Vgl. Miegge, Regnum, 246.
Höfert, Türkengefahr, 102.
Barnes, Prophecy, 50.
255
historisierte die danielischen Weissagungen völlig und entkleidete sie
jeglichen Bezuges auf die Osmanen. Theodor Bibliander stellte mit
seinem Versuch, mit den Muslimen in dieser Zeit in einen wirklichen
Dialog
einzutreten,
eine
singuläre
Erscheinung
dar.
Unter
grundsätzlicher Beibehaltung eines Monopolanspruchs christlicher
Wahrheit nahm er den seit Nicolaus Cusanus fallengelassenen
Gesprächsfaden wieder auf, ohne das es in dieser Zeit militärischer
Dauerkonfrontation zu einem Dialog der Religionen kommen konnte.
8.
Schluss
Martin Luthers Meinungs- und Wissensbildung zu den „Türken“ ist auf
dem
Hintergrund
der
Beziehungen
zwischen
der
lateinischen
Christenheit und dem Islam ambivalent. Dies zeigen die Ergebnisse der
vorliegenden Arbeit. Dabei ist eine Erkenntnis deutlich: Luther hat sich
zwar vielfach zu den „Türken“, die für ihn die zeitgenössischen Vertreter
der islamischen Religion waren, geäußert, aber nur sehr selten
kommen die Osmanen per se, als die „realen Türken“1153 in den Blick.
Seine theologische, historische und politische Sichtweise war fast
vollständig
geprägt
von
seiner
Auseinandersetzung
mit
dem
zeitgenössischen Papsttum. Diese aus der theologischen Sichtweise
entstandene Fronstellung überformte alle anderen Konflikte. Luther sah
sich und die von ihm angestoßene Reformation als ein Signum der
biblisch angekündigten Endzeit, so dass für eine innerweltliche
Interpretation der politischen Ereignisse für ihn kein Platz war. Damit
wurden die Osmanen jenseits ihrer tatsächlichen politischen Rolle zu
einem
religiösen
und
historisch
bzw.
geschichtstheologisch
zu
interpretierenden Symbol. Sie waren für ihn Boten der Endzeit und als
solche Helfer des als „Antichrist“ verstandenen Papsttums. Luther
gelang damit zwar eine Verobjektivierung der Ereignisse, allerdings in
einem
Zusammenhang,
nämlich
der
geschichtssymbolistischen
Interpretation der Historie, der heute fremd wirkt und auch in damaliger
Zeit seinen Höhepunkt schon überschritten hatte. Bald nach Luthers
1153
Cardini, Europa, 199.
256
Tod setzte mit Jean Bodins „Methodus ad facilem historiarum
cognitionem“ 1566 ein Neuanfang säkularer Geschichtsinterpretation
ein.
Vertiefte
geschichtliche
Kenntnisse
der
christlich-islamischen
Beziehungen hat Luther offensichtlich nicht besessen. Von Karl des
Großen
freundlichen
Kontakten
zu
Harun-al-Raschid
oder
den
„Märtyrern von Cordoba“ und ihrer Deutung des Danielbuches wusste
Luther scheinbar nichts.
Die tatsächliche Rolle der Osmanen im politischen Geschehen dürfte
darauf hinauslaufen, dass sie tatsächlich - aber ungewollt - mit die
stärksten Förderer der Reformation waren. Indem Karl V. durch die
Auseinandersetzung mit den Osmanen immer wieder Kräfte binden
musste, ja sogar die protestantischen Reichsstände als Bündnispartner
benötigte, kam er nicht dazu, die „protestantische“ Frage mit militärisch
geballter Macht nach innen „zu lösen“. Das Zerbrechen des corpus
christianum im mittelalterlichen Sinne ist dem Islam zwar nicht
militärisch aber unbeabsichtigt in geistiger Hinsicht durch die indirekte
Stützung der Reformation mit gelungen. Dass Luther und Sultan
Suleiman auf einer meta-politischen Ebene durchaus Bündnispartner
waren, ist Luther nie deutlich geworden und er hätte eine solche
Interpretation im Unterschied zu Zwingli auch weit von sich gewiesen.
Er blieb dem „lieben Keiser Karolus“ treu, obwohl dieser auf politischer
Ebene neben den Papsttum sein mächtigster Feind war. Luthers
schwankende Stellung zur translatio imperii an die Deutschen lief
letztlich doch auf eine Stärkung der Reichstradition hinaus, was dazu
führte,
dass
den
politischen
Gegnern
der
Reformation
eine
heilsgeschichtliche Stellung zugebilligt wurde, was einem konsequenten
politischen Handeln des „politischen Protestantismus“ gegen das
Kaisertum die Kraft nahm. Die eigentümliche politische Naivität des
Luthertums, die geradezu zu seinem Signum geworden ist, hat in dieser
rein theologischen Sichtweise politischer Dinge und in der faktisch
oftmals zu einer strikten Trennung der beiden „Reiche“ führenden
Interpretation von Luthers Lehre ihre Wurzeln.
257
In den wenigen Stellungnahmen zu den Osmanen „an sich“ war Luther
hingegen von einem bemerkenswerten Pragmatismus, wenn er den in
osmanische Gefangenschaft geratenen Christen riet, die „Türken“ als
für sie nun legitime Obrigkeit anzuerkennen und wenn er durchaus
lobende
Worte
für
das
osmanische
Gemeinwesen
fand.
Den
Tatbestand, dass die Reformation im Rahmen der geschilderten
duldenden Toleranz unter türkischer Herrschaft relativ gegenüber den
Katholiken bevorzugt wurde, registrierte Luther aber offenbar nicht,
bzw. blieb sie in heilsgeschichtlicher Perspektive letztlich unerheblich.
Die Trennung der Bereiche Politik und Kirche wurde durch Luthers
vehemente Ablehnung des Kreuzzugsgedankens forciert. Luther stand
damit einerseits in der abendländischen Tradition der dialektischen
Zuordnung der Bereiche von „Imperium“ und „Sacerdotium“, in dem er
dem päpstlich-unilateralen Dominanzanspruch wehrte und einen
Eigenwert
des
Politischen
behauptete,
andererseits
wurde
die
Durchdringung des Politischen mit dem Religiösen bei ihm aufgehoben,
was ein Signum der Moderne werden sollte. Allerdings muss auch
gesehen werden, dass diese Entwicklung nicht allein auf Luther und die
Reformation zurückzuführen ist. Die Humanisten wandten sich
ebenfalls gegen diese Kriegsform, und das Nichtzustandekommen
eines Kreuzzuges trotz dem Falls Konstantinopels und der vehementen
Propaganda der Päpste, macht deutlich, dass die allgemeinpolitische
Entwicklung in diese von Luther mit forcierte Richtung ging.
Das islamisch-christliche Gespräch konnte unter den apokalyptisch
geprägten Denkvoraussetzungen Luthers keinen Eigenwert besitzen.
Bedingt durch seine Kritik an der scholastischen Theologie und ihrer
Rezeption
des
aristotelischen
Vernunftbegriffes
war
der
hochmittelalterliche Versuch eines christlich-islamischen Dialoges bei
ihm nicht im Blick. Thomas’ und anderer Theologen Anstrengungen, auf
Basis der Vernunft ein Gespräch, sei es auch durchaus ein
Missionsgespräch, zu führen, oder Lullus’ und Cusanus’ Hoffnung auf
eine Einheitsreligion konnten nur seine scharfe Ablehnung finden. Die
stets
gefährdete
Verständigungsbereitschaft,
das
zeigte
die
258
Entwicklung von Lullus und Cusanus, war bei Luther überhaupt nicht
mehr vorhanden.
Ohne der an Schablonen gebundenen Überlegung, ob Luther denn
dem Mittelalter oder der Neuzeit angehörte, zu viel Bedeutung
beizumessen, kann doch mit dem Mut zu einer gewissen plakativen
Darstellung gesagt werden: In seiner Ablehnung der Kreuzzüge und der
klaren Zuordnung eines Krieges gegen die Osmanen zum Bereich des
Politischen
war
symbolistischen
Luther
Bestandteil
Geschichtsdeutung
der
und
Neuzeit,
der
mit
seiner
Aufnahme
der
„Antichristvorstellung“ sowie des danielischen Geschichtsschemas
befand er sich im Rahmen mittelalterlichen Denkens, mit seiner völligen
Ausblendung christlich-islamischen Dialoges fiel er noch hinter dieses
zurück.
Besonders beeinflusst wurde durch die osmanische Expansion das
Geschichtsverständnis der Reformation, allerdings in unterschiedlichem
Maße.
Sowohl
dass
dogmatische
wie
das
apokalyptische
Interpretationsmodell wurde durch die Reformatoren aufgegriffen. Dabei
lassen
sich
teilweise
erhebliche
Unterschiede
feststellen.
Klar
beherrscht von einer apokalyptischen Interpretation des Islam ist Martin
Luther. Dies gilt ebenso für Melanchthon, Osiander, Dietrich und – mit
Abstrichen – Brenz. Es kann deshalb auch vom Grundmodell der
lutherischen
Reformation
gesprochen
werden.
Die
radikalen
Reformatoren wie Müntzer, Hut und Hoffmann interpretieren wie Luther
den Islam ebenfalls apokalyptisch, doch kommt hier ein in der
lutherischen Reformation vollständig fehlendes chiliastisches Element
hinzu. Dogmatisch-spiritualistisch ist die Interpretation bei Franck und
des Paracelsus, deren universalistischen Ansatz auch Bibliander teilte,
dogmatisch-historisch schließlich die Interpretation der schweizerischen
Reformatoren
Zwingli,
Bullinger
und
Calvin.
Hier
kann
vom
Interpretationsmodell der reformierten Reformation gesprochen werden.
Die schweizerische Reformation um Zwingli, Bullinger und Calvin
schließlich
verlässt
über
eine
historische
apokalyptischen
Referenzstellen
der
apokalyptischen
Geschichtsanschauung
Bibel
und
Interpretation
den
ebnet
Rahmen
damit
der
der
einer
259
historisch-kritischen Einschätzung der biblischen Texte den Weg1154,
während die lutherische Reformation im Gegenzug dazu noch einmal
die teilweise in der Scholastik überwundenen Geschichtsmythen,
besonders den vom „Antichrist“, neu belebt. Dieses „modernste“ Modell
ist am deutlichsten von Luther geschieden. Geschichtstheologie wird
hier nicht mehr betrieben.
In seinen sozialen Auffassungen wird Luthers Kritik an den konkreten
Verhältnissen im Reich zunehmend stärker. Das die Reformation so
wenig ethische Auswirkungen gehabt hat, enttäuscht ihn. Trotzdem
bleibt durch all die Jahrzehnte Luthers Grundhaltung unverändert. Er
kritisiert soziale Mißstände, doch er solidarisiert sich mit keiner Gruppe.
Dies unterscheidet ihn natürlich von den radikalen Reformatoren, die –
wie etwa Müntzer – die soziale Unzufriedenheit für ihre chilisatischen
Zwecke instrumentalisierten oder gar – wie etwa Hoffmann und Hut –
selbst aus den sozial gefährdeten Schichten kamen.
Auffällig ist, dass mit Ausnahme Biblianders kein Reformator an einem
Gespräch mit dem Islam interessiert war. Natürlich sind hier die
politischen Hintergründe zu bedenken. Konfrontationsphasen, wie die
osmanische Expansion unter Suleiman nun einmal auch eine war,
machen Gespräche zwischen Gegnern schwer. Trotzdem bleibt zu
beobachten,
dass
über
die
grundsätzliche
Möglichkeit
eines
Gespräches, etwa zu einem späteren Zeitpunkt oder unter anderen
Bedingungen, zwischen beiden Religionen nicht nachgedacht wurde.
Zum
christlich-islamischen
Dialog
hat
die
Reformation
nichts
beigetragen, selbst dort, wo die apokalyptische Interpretation auf
reformatorischer
Seite
fehlte
und
eine
stärker
dogmatische
Interpretation zumindest Möglichkeiten eröffnet hätte. Maßgeblich bleibt
das stärker geschichtstheologische Interesse der Reformatoren, wenn
es um die Osmanen ging.
Allen diesen hier aufgezeigten Modellen eignet jedoch, dass sie nicht
mehr umfassend wirksam werden konnten, nachdem die Reformation
selbst die Einheit von Religion und Gesellschaft, in der sich die frühere
Auseinandersetzung mit dem Islam noch bewegt hatte, zerbrach. Die
1154
Vgl. Seifert, Rückzug, 54.
260
Grundtypen
waren
konfessionellen
nun
nur
Subsystems
noch
im
relevant
Rahmen
und
des
eigenen
kommunizierbar.
Übergreifend gesellschaftlich sinnstiftend zu wirken, gelang keiner
Auffassung mehr. Statt dessen mussten diese Konzepte mit anderen
Anschauungen
konkurrieren,
etwa
der
universalistischen
Geschichtskonzeption des Habsburgers Karl V., für den die Osmanen
ein zu bezwingender Gegner seiner „monarchia universalis“ waren,
oder der pragmatischen Geschichtsauffassung der RenaissancePäpste, die die Osmanen allenfalls unter polemischen Aspekten als
„antichristlich“
deklarierten.
ausgetragene
konkurrierende
Die
innerhalb
Interpretation
der
der
Reformation
osmanischen
Expansion und damit der Geschichte überhaupt war im Kleinen die
Wiederspiegelung
der
konkurrierenden
Interpretations-
und
Geschichtsmodelle, die sich nun herausbildeten. Die Osmanen waren
nicht nur indirekt Stabilisatoren der Reformation und Zertrümmerer des
mittelalterlichen Corpus Christianum, sie waren auch Katalysatoren
einer pluriformen Geschichtsdeutung im abendländischen Europa.
261
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ERKLÄRUNG:
Hiermit erkläre ich, dass ich die vorliegende Dissertation
„Geschichtsdenken und Ständekritik in apokalyptischer Perspektive.
Martin Luthers Meinungs- und Wissensbildung zur ‚Türkenfrage’ auf
dem Hintergrund der osmanischen Expansion und im Kontext der
reformatorischen Bewegung“ selbständig und ohne unerlaubte fremde
Hilfe angefertigt und andere als in der Dissertation angegebenen
Hilfsmittel nicht benutzt habe. Stellen, die wörtlich oder sinngemäß aus
veröffentlichten oder nicht veröffentlichten Schriften entnommen sind,
habe ich als solche kenntlich gemacht. Die vorliegende Dissertation hat
zuvor keiner anderen Stelle zur Prüfung vorgelegen. Es ist mir bekannt,
dass wegen einer falschen Versicherung bereits erfolgte
Promotionsleistungen für ungültig erklärt werden und eine bereits
verliehende Doktorwürde entzogen wird.
Hamm, 01.02.2004
gez. Dr. Michael Klein
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