Erster Kreuzzug und Ethnogenese

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Nova Mediaevalia
Quellen und Studien zum europäischen Mittelalter
Band 13
Herausgegeben von
Nikolaus Henkel und Jürgen Sarnowsky
Timo Kirschberger
Erster Kreuzzug und Ethnogenese
In novam formam commutatus – Ethnogenetische
Prozesse im Fürstentum Antiochia und im
Königreich Jerusalem
V& R unipress
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ISSN 2198-6231
ISBN 978-3-8471-0432-2
ISBN 978-3-8470-0432-5 (E-Book)
ISBN 978-3-7370-0432-9 (V& R eLibrary)
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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Graduiertenschule für Geisteswissenschaften
Göttingen (GSGG).
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Titelbild: Die Kreuzigung Christi aus dem Psalter der Königin Melisendis Ó The British Library
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Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Gewidmet meinem Großvater Karl Fey (1926–2014)
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
I.
17
17
Forschungsstand, Forschungsprobleme und Methodik . . . . . . .
1. Ethnogenese und Kreuzzugsforschung . . . . . . . . . . . . . . .
2. Panlatinismus oder Partikularismus? – Antiochia und die
Normannen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Vereinnahmung, Instrumentalisierung und Projektion – Die
Kreuzfahrerstaaten im Zeichen des Orientalismus . . . . . . . . .
a. Kolonisierte Kolonisatoren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b. Religiöse, philosophische und nationale Instrumentalisierung
des lateinischen Orients . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c. Der lateinische Orient als Projektionsfläche für
abendländischen Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a. Geschichtswissenschaftliche Ethnogeneseforschung . . . . . .
b. Sozialwissenschaftliche Ethnizitätsforschung zwischen
Primordialismus und Konstruktivismus . . . . . . . . . . . .
5. Zielsetzung, zeitliche und räumliche Eingrenzung des Themas . .
II. Die Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Die Historiographie des Fürstentums Antiochia .
2. Die Historiographie des Königreiches Jerusalem
3. Andere historiographische Quellen . . . . . . . .
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58
66
71
8
III. Gesta Francorum? – ethnische Terminologie in der Historiographie
der Kreuzfahrerstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Die Entwicklung der Franci-Bezeichnung . . . . . . . . . . . . .
a. Franci und Galli in der frühen antiochenischen
Historiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b. Die Franci-Bezeichnung in der jerosolymitanischen
Überlieferung der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts . . . . .
c. Die Franci-Bezeichnung bei Walter dem Kanzler . . . . . . . .
d. Die Franci-Bezeichnung bei Wilhelm von Tyrus . . . . . . . .
2. Hierosolymitani, Antiocheni und Latini – ethnische Terminologie
mit Bezug zur neuen Heimat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a. Die Hierosolymitani-Bezeichnung in der jerosolymitanischen
Historiographie der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts . . . .
b. Terminologische Jerusalem-Bezüge bei Wilhelm von Tyrus . .
c. Die Antiocheni-Bezeichnung in der antiochenischen
Historiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
d. Die Antiocheni-Bezeichnung in der jerosolymitanischen
Historiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
e. Hierosolymitani und Latini . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IV. Fremd- und Feindbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Kreuzzugsideologie oder Toleranz? – Abgrenzung von den
Muslimen im Königreich Jerusalem und im Fürstentum
Antiochia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a. ex fonte pernicioso aque […] pestilentes – das Bild der
Muslime bei Wilhelm von Tyrus und Fulcher von Chartres . .
b. Unwissen und Verachtung – Muslime in der antiochenischen
Historiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. timeo Danaos et dona ferentes – das Bild der Byzantiner in den
lateinisch-orientalischen Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a. Byzanz und die Ursprünge des Kreuzzuges . . . . . . . . . . .
b. Kampfestüchtige Barbaren und verweichlichte
Zivilisationsmenschen – das normannisch-byzantinische
Verhältnis vor dem ersten Kreuzzug . . . . . . . . . . . . . . .
c. Quare miseri occiditis gentem Christi et meam? –
antiochenische Graecophobie . . . . . . . . . . . . . . . . . .
d. Den Grundsätzen des Kreuzzuges verpflichtet – Byzantiner in
den jerosolymitanischen Quellen . . . . . . . . . . . . . . . .
Inhalt
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9
Inhalt
Ethnohistorische Entwürfe und Reflexionen . . . . . . . . . . .
1. Prologe in der antiochenischen Historiographie . . . . . . . .
a. Der normannisch-antiochenische Kreuzzug im Prolog der
Gesta Tancredi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b. Antiochia als primärer Bezugspunkt in den Prologen der
Bella Antiochena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Ethnohistorische Reflexion in den Prologensembles der
jerosolymitanischen Historiographie . . . . . . . . . . . . . .
a. Quis audivit unquam talia? – Reflexion der
jerosolymitanischen Ethnogenese im Prologensemble
Fulchers von Chartres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b. Das Prologgedicht der Historia Nicæna vel Antiochena . .
c. urgentissimus instat amor patrie – ethnohistorische
Reflexionen Wilhelms von Tyrus in den Abendstunden des
lateinischen Königreiches . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Prologe in der abendländischen Überlieferung . . . . . . . .
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170
VI. Der erste Kreuzzug – die ethnogenetische Phase . . . . . . . . . . .
1. Die unterschiedliche Gewichtung der Kreuzzugsphasen . . . . .
2. Urban II. und das Konzil von Clermont . . . . . . . . . . . . . .
3. Der erste Kreuzzug bis zur Eroberung Antiochias . . . . . . . . .
a. Ex pluribus unum – die kleinasiatische Phase des ersten
Kreuzzuges in der jerosolymitanischen Historiographie . . . .
b. Wiscardi acta nota sunt orbi – die normannisch-guiscardische
Ouvertüre zum ersten Kreuzzug und der
personal-dynastische antiochenische Mythomoteur . . . . . .
4. Die Schlacht von Dorylaeum – Moment des Zusammenwachsens
oder Triumph der Normannitas? . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a. Die grünen Auen von Dorylaeum und die Speisung des
wandernden Volkes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b. quasi ut unigenæ uno consilio unam patriæ suæ gloriam
prærogarent – Dorylaeum und die Normannitas . . . . . . . .
5. Antiochia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a. de uino non loquar – Hungersnöte vor und in Antiochia . . .
b. Belagerung, Eroberung und Verteidigung Antiochias . . . . .
c. Antiochi[a] horribilis oder anhelata Antiochia? – Sehnsuchtsoder Etappenziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
d. Ein Denkmal für Bohemund und die antiochenische
Ethnogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V.
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233
10
Inhalt
6. Die Heilige Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a. Die Belagerung und Eroberung Jerusalems in den
nicht-jerosolymitanischen Quellen . . . . . . . . . . . . . . .
b. Kurz vor dem Ziel – die Annäherung an die Heilige Stadt und
der Adventus von Bethlehem . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c. novum edificium, veteri continuo et inserto – das Jerusalem
der Jerosolymitaner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
d. Liturgisches Gedenken an die primordiale Tat – die Feier des
Befreiungsfestes in Jerusalem . . . . . . . . . . . . . . . . . .
235
VII. Das Fürstentum Petri und das Königreich des Kreuzes . . . . . . .
1. Gegründet gegen den Geist des Kreuzzuges? – Antiochenische
Legitimationsprobleme und Lösungsstrategien . . . . . . . . . .
a. nec cohibere flammas potuit fornax succensa – Heiliger Zorn
gegen berechtigte byzantinische Ansprüche . . . . . . . . . .
b. Pereant male qui volunt habitare Antiochie – die
antiochenische Erbsünde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. super hanc petram – der Apostelfürst und das Fürstentum Antiochia .
3. Legitimation weltlicher Herrschaft im irdischen regnum Christi .
a. advocatus, princeps, rex – die Titel Gottfrieds von Bouillon und
ihre Bedeutung für das jerosolymitanische Selbstverständnis . .
b. Der abwesende König . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Das Königreich des Kreuzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a. Kreuz und Kreuzzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b. Das Kreuz als Verweis auf Jerusalem . . . . . . . . . . . . . .
c. Die Auffindung der Kreuzesreliquie in Jerusalem . . . . . . .
d. Wahres Kreuz und Bundeslade . . . . . . . . . . . . . . . . . .
e. Wem gehört das Wahre Kreuz? – das lignum domini zwischen
König, Patriarch und Volk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
f. Das Kreuz im Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
g. Der jerosolymitanische Kreuzes-Adventus . . . . . . . . . . .
5. Das Wahre Kreuz im Fürstentum Antiochia . . . . . . . . . . . .
267
Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
351
Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
355
Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
359
Personen-, Orts- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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343
Vorwort
Bücher erzählen nicht nur Geschichten, sie haben auch selbst eine Geschichte.
Die des vorliegenden Buches begann vor beinahe zehn Jahren in einem Seminar,
das Dorothea Weltecke an der Georg-August-Universität Göttingen angeboten
hat. Die Begeisterung für die Kreuzfahrerstaaten, die ich aus diesem Seminar
mitgenommen habe, hat schließlich zu der Entscheidung geführt, meine Dissertation dem lateinischen Orient zu widmen.
Neben dem geographischen Raum und der historischen Epoche sind für diese
Arbeit auch ihre Fragestellung und die zu deren Beantwortung gewählte Methode von Bedeutung. Hier habe ich die entscheidenden Prägungen und Anregungen meiner Doktormutter und langjährigen akademischen Lehrerin Hedwig
Röckelein zu verdanken, die mir in Lehrveranstaltungen, im persönlichen Gespräch und nicht zuletzt in meiner langjährigen Tätigkeit an ihrem Lehrstuhl in
Göttingen das Handwerkszeug historischen Arbeitens mit auf den Weg gegeben
hat. Sie hat mir vor allem hervorragende Grundlagen zur Erforschung von
Ethnogenese und Ethnizität in Spätantike und Frühmittelalter vermittelt und
mich darin bestärkt, diese Methodik auch auf meinen Forschungsgegenstand
anzuwenden.
Mein großer und herzlicher Dank gilt daher Frau Röckelein und Frau Weltecke sowie meinem Drittgutachter Herrn Peter Aufgebauer. Sie alle haben die
Geschichte dieses Buches begleitet und dazu beigetragen, daß es überhaupt
entstehen konnte. Zu danken habe ich ebenfalls Jörg Bölling, der durch fachlichen Rat und freundschaftlichen Zuspruch dieser Arbeit und ihrem Autor über
so manchen steinigen Wegabschnitt geholfen hat. Wichtige wissenschaftliche
Anregungen haben mir in verschiedenen Phasen und bei verschiedenen
Schritten der Arbeit Deborah Gerish, Nikolas Jaspert, Thomas Madden, Alan
Murray, Galit Noga-Banai, William Purkis, Jochen Schenk und Kurt Villads
Jensen gegeben. Finanzielle und ideelle Förderung habe ich im Laufe der Promotion von der Society for the Study of the Crusades and the Latin East, dem
Institute for Medieval Studies (Leeds), dem Deutschen Historischen Institut
London und dem Center for Medieval and Renaissance Studies (Saint Louis)
12
Vorwort
erhalten. Besonderer Dank gilt dem Cusanuswerk, das meine Promotion durch
ein Stipendium ermöglicht hat, und der Graduiertenschule für Geisteswissenschaften Göttingen für einen großzügigen Zuschuß zu den Druckkosten. Julia
Freder, Jasmin Hoven, Benjamin Müsegades, Christian Popp und Christian
Stadermann haben das Manuskript korrekturgelesen und zu zahlreichen Gelegenheiten fachliche Hilfe und Anregungen beigesteuert.
Ganz besonders danke ich meinen Eltern Angelika Kirschberger und Peter
Crepon sowie meinem leider noch vor der Publikation der Arbeit verstorbenen
Großvater, Karl Fey, die mir mein Studium und meine Promotion durch finanzielle Unterstützung, vor allem aber durch familiären Rückhalt und Zuspruch überhaupt ermöglicht haben. Für Ihre Ermunterung und Unterstützung
bei der Vorbereitung der Publikation danke ich von Herzen meiner Frau Zuzana
Kirschberger.
Einleitung
In novam […] formam commutatus1 – Mit diesen Worten bezeichnet der im
ersten Viertel des 12. Jahrhunderts in Jerusalem schreibende Chronist Fulcher
von Chartres († ca. 1127) die Veränderung der Gestalt der Sonne bei einer Eklipse im Spätsommer des Jahres 1124. Ausgehend von der Anschauung des
Naturphänomens stellt Fulcher Überlegungen zu Ereignissen der jüngsten
Vergangenheit an. Er vergleicht die Erscheinung am Himmel über Jerusalem mit
dem Einzug der Teilnehmer des ersten Kreuzzuges in den Orient und reflektiert
einen Prozeß, der an der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert zur dauerhaften
Ansiedlung lateinischer Christen aus verschiedenen Teilen Europas in Syrien
und Palästina führte.2 Als Folge dieses Prozesses entstanden neue Staaten im
Orient und in seinem Verlauf entwickelten die Einwanderer sowie ihre Nachkommen und Nachfolger ein neues Selbstverständnis, das nicht mehr an die
europäischen Herkunftsgebiete geknüpft war, sondern an die neue Heimat in der
Levante.
Der Auftakt zu diesen Geschehnissen war fanfarenartig am 27. November
1095 auf dem Konzil von Clermont erschallt, als Papst Urban II. zur Hilfeleistung
für die durch die Expansion der muslimischen Seldschuken bedrohten Christen
des Orients aufgerufen hatte. Neben diese Absicht, den Kirchen des Ostens und
vor allem dem Kaiser von Konstantinopel – Alexios I. Komnenos – Unterstützung zukommen zu lassen, war jedoch schon früh das Bestreben getreten, die
Kirche von Jerusalem selbst aus der Herrschaft der Muslime zu befreien.3
1 Fulcher von Chartres, Historia Hierosolymitana, hg. v. Heinrich Hagenmeyer, Heidelberg
1913 (fortan FvC), III.xxxvii.1. Detaillierte Angaben zu Fulcher in Kapitel II.2.
2 Vgl. hierzu mit anderen Akzenten Giese, Wolfgang, ›Untersuchungen zur Historia Hierosolymitana des Fulcher von Chartres‹, in: Archiv für Kulturgeschichte (69; 1987), 62–115, 93.
3 Zu den Grundlagen der Debatte über die Frage, welche Rolle Jerusalem in den Kreuzzugsplänen Urbans II. spielte, vgl. knapp und immer noch aktuell Blake, Ernest O. u. Morris,
Colin, ›A Hermit goes to War : Peter and the Origins of the First Crusade‹, in: Monks, Hermits
and the Ascetic Tradition. Papers Read at the 1984 Summer Meeting and the 1985 Winter
Meeting of the Ecclesiastical History Society, hg. v. William J. Sheils (= Studies in Church
History ; 22), Oxford 1985, 79–107, 79ff. Hans Eberhard Mayer beharrt darauf, daß der »Sinn«
14
Einleitung
Am Mittag des 15. Juli 1099 gelang dieses Unterfangen, als die Besatzung eines
Belagerungsturms unter dem Kommando Gottfrieds von Bouillon die Nordmauer Jerusalems erstürmte. Mit der Überwindung dieser Mauer fand die einmonatige Belagerung der Heiligen Stadt ein erfolgreiches Ende, und gleichzeitig
bildete die Eroberung den Schlußakkord des ersten Kreuzzuges. In den mehr als
dreieinhalb Jahren, die vom Aufruf Urbans II. bis zur Eroberung Jerusalems
vergingen, traten mehrere Kontingente von Kreuzfahrern – vor allem aus dem
Herrschaftsbereich des Königs von Frankreich, aber auch aus dem Reich, aus
Süditalien und Sizilien – zunächst getrennt den beschwerlichen Weg gen Osten
an und konnten bei der Belagerung von Nicaea im Juni 1097 einen ersten großen
gemeinsamen Erfolg feiern. Es folgten weitere Siege in offenen Feldschlachten
wie auch in Belagerungen, unter denen vor allem der Triumph von Dorylaeum
im Juli 1097 und die Eroberung und anschließende Verteidigung der nordsyrischen Metropole Antiochia im Juni 1098 hervorstechen.4
Wenn sich auch die genauen Pläne nicht im Detail rekonstruieren lassen,
welche der Papst für den Kreuzzug ursprünglich ersonnen hatte, so bleibt doch
zu konstatieren, daß die Resultate dieses Unternehmens über eine Unterstützung
der orientalischen Kirchen und eine bewaffnete Pilgerfahrt zu den Heiligen
Stätten weit hinausgingen. So wurden die eroberten Gebiete und Städte nicht der
Obhut orientalischer Christen anvertraut. Weder Antiochia, das noch kurze Zeit
zuvor unter byzantinischer Herrschaft gestanden hatte, noch Jerusalem, das vor
seiner schon länger zurückliegenden Eroberung durch die Araber im Jahre 638
ebenfalls von Konstantinopel aus regiert worden war, wurden an Kaiser Alexios
übergeben. Vielmehr ließen sich zahlreiche Kreuzfahrer in den von ihnen eroberten Gebieten in der Levante nieder und gründeten insgesamt vier neue
Staaten – die sogenannten Kreuzfahrerstaaten. Zunächst ging aus einer Nebenkampagne Balduins von Boulogne im März 1098 die Grafschaft Edessa
hervor.5 Noch im Sommer des selben Jahres errichtete der süditalienische
von Urbans Plänen tatsächlich in der »Hilfe für die christlichen Ostkirchen« bestanden habe
(Mayer, Hans Eberhard, Geschichte der Kreuzzüge, Stuttgart 2005 (10. Aufl., 1. Aufl. 1965, 20).
Auch die neuere und neueste angelsächsische Forschung hingegen setzt immer noch voraus,
daß Jerusalem von Beginn an mit den Kreuzzugsplänen verknüpft war, wobei diese Position
wohl aus einer unkritischen Übernahme der Aussagen von Quellen beruhen dürfte, welche im
Rückblick auf die Entwicklung der Ereignisse verfaßt wurden. Vgl. Asbridge, Thomas S., The
Crusades. The War for the Holy Land, London 2010, 1ff; Phillips, Jonathan, Holy Warriors. A
Modern History of the Crusades, London 2009, 4; Riley-Smith, Jonathan Simon Christopher,
The First Crusade and the Idea of Crusading, London 1986, 18.
4 Für einen knappen und übersichtlichen Überblick zum ersten Kreuzzug vgl. Mayer,
Kreuzzüge, 51–80. Für eine ausführlichere Darstellung vgl. Asbridge, Thomas S., The First
Crusade. A New History, London 2003. Die byzantinische Perspektive auf den ersten Kreuzzug
betont Frankopan, Peter, The First Crusade. The Call from the East, London 2012.
5 Zur Geschichte der Grafschaft Edessa vgl. Cahen, Claude, La Syrie du Nord a l’Êpoque des
Croisades et la Principatu¦ Franque d’Antioche (= Institut FranÅais de Damas. BibliothÀque
Einleitung
15
Normanne Bohemund von Tarent nach der Eroberung Antiochias ein Fürstentum, welches Nordsyrien und Teile Kilikiens umfaßte.6 Am 22. Juli 1099
schließlich wurde Gottfried von Bouillon vom Heer des Kreuzzuges zum ersten
Herrscher7 des lateinischen Königreichs Jerusalem erhoben.8 Nach dem
Kreuzzug errichteten in den Jahren 1102 bis 1113 zudem Graf Raimund von
Toulouse und seine Erben die Grafschaft Tripolis.9
Zur Bezeichnung dieser formativen Phase während des Kreuzzuges und in
den Jahren unmittelbar nach der Eroberung Jerusalems prägte Erzbischof
Wilhelm von Tyrus (†1186) die Bezeichnung Latinorum introitus.10 Die vorliegende Arbeit ist der Analyse der Prozesse gewidmet, die im Laufe dieses introitus
die Einwanderer aus dem Westen im Orient zu neuen Gruppen zusammenwachsen ließen. Es gilt, die nova forma, die sie in dieser Phase annahmen,
genauer zu untersuchen. Im Folgenden werden dazu zunächst die Schwerpunkte
der Analyse vor dem Hintergrund der bisherigen Forschung und ihrer Probleme
erarbeitet. Zudem wird die Methodik der Analyse hergeleitet und vorgestellt.
6
7
8
9
10
Orientale; 1), Paris 1940; Amouroux-Mourad, Monique, Le Comt¦ d’Edesse, 1098–1150 (=
BibliothÀque Arch¦ologique et Historique; 128), Paris 1988.
Zur Geschichte des Fürstentums Antiochia vgl. Asbridge, Thomas S., The Creation of the
Principality of Antioch. 1098–1130, Woodbridge 2000; Cahen, Syrie du Nord; Mayer, Hans
Eberhard, Varia Antiochena. Studien zum Kreuzfahrerfürstentum Antiochia im 12. und
frühen 13. Jahrhundert (= Monumenta Germaniae Historica. Studien und Texte; 6), Hannover 1993. Zu Bohemund vgl. Flori, Jean, Boh¦mond d’Antioche. Chevalier d’Aventure,
Paris 2007; Russo, Luigi, Boemondo. Figlio di Guiscardo e Principe di Antiochia, Ariano
Irpino 2009.
Der erste gekrönte König des Reiches war jedoch Balduin von Boulogne. Nach dem frühen
Tod Gottfrieds im Sommer des Jahres 1100 trat er die Grafschaft Edessa an seinen Verwandten Balduin von Bourcq ab und wurde am Weihnachtstag in Bethlehem gekrönt. Vgl.
Mayer, Kreuzzüge, 85f.
Zur Geschichte des Königreichs Jerusalem vgl. Mayer, Hans Eberhard, Herrschaft und
Verwaltung im Kreuzfahrerkönigreich Jerusalem (= Schriften des Historischen Kollegs:
Vorträge; 43), München 1996; Murray, Alan V., The Crusader Kingdom of Jerusalem. A
Dynastic History. 1099–1125 (= Occasional Publications of the Linacre Unit for Prosopographical Research; 4), Oxford 2000; Prawer, Joshua, The Latin Kingdom of Jerusalem.
European Colonialism in the Middle Ages, London 1972; Richard, Jean, The Latin Kingdom
of Jerusalem (= Europe in the Middle Ages. Selected Studies; 11), Amsterdam 1979.
Zur Geschichte der Grafschaft Tripolis: Dédèyan, G¦rard u. Rizik, Karam (Hgg.), Le Comt¦
de Tripoli: Êtat Multiculturel et Multiconfessionnel (1102–1289). Actes des Journ¦es d’Êtudes,
Universit¦ Saint-Esprit, Kaslik, Liban, D¦cembre 2002, Paris 2010; Richard, Jean, Le Comt¦
de Tripoli sous la Dynastie Toulousaine (1102–1187) (= BibliothÀque Arch¦ologique et
Historique; 39), Paris 1945.
Wilhelm von Tyrus, Willelmi Tyrensis Archiepiscopi Chronicon, hg. v. Robert Burchard
Constantyn Huygens (= Corpus Christianorum Continuatio Mediaevalis; 63/63 A), 2 Bde.,
Turnhout 1986 (fortan WvT), VIII.iii.24, IX.xvii.1, XI.xvi.4, XI.xxvii.18, XXII.xvii.42–43.
Detaillierte Angaben zu Wilhelm in Kapitel II.2.
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