Nova Mediaevalia Quellen und Studien zum europäischen Mittelalter Band 13 Herausgegeben von Nikolaus Henkel und Jürgen Sarnowsky Timo Kirschberger Erster Kreuzzug und Ethnogenese In novam formam commutatus – Ethnogenetische Prozesse im Fürstentum Antiochia und im Königreich Jerusalem V& R unipress ® MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen www.fsc.org FSC® C083411 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-6231 ISBN 978-3-8471-0432-2 ISBN 978-3-8470-0432-5 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0432-9 (V& R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Graduiertenschule für Geisteswissenschaften Göttingen (GSGG). Ó 2015, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Die Kreuzigung Christi aus dem Psalter der Königin Melisendis Ó The British Library Board, MS Egerton 1139, fol. 8r Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, 96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Gewidmet meinem Großvater Karl Fey (1926–2014) Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 I. 17 17 Forschungsstand, Forschungsprobleme und Methodik . . . . . . . 1. Ethnogenese und Kreuzzugsforschung . . . . . . . . . . . . . . . 2. Panlatinismus oder Partikularismus? – Antiochia und die Normannen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vereinnahmung, Instrumentalisierung und Projektion – Die Kreuzfahrerstaaten im Zeichen des Orientalismus . . . . . . . . . a. Kolonisierte Kolonisatoren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Religiöse, philosophische und nationale Instrumentalisierung des lateinischen Orients . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Der lateinische Orient als Projektionsfläche für abendländischen Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Geschichtswissenschaftliche Ethnogeneseforschung . . . . . . b. Sozialwissenschaftliche Ethnizitätsforschung zwischen Primordialismus und Konstruktivismus . . . . . . . . . . . . 5. Zielsetzung, zeitliche und räumliche Eingrenzung des Themas . . II. Die Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Historiographie des Fürstentums Antiochia . 2. Die Historiographie des Königreiches Jerusalem 3. Andere historiographische Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 27 29 34 38 40 41 49 52 57 58 66 71 8 III. Gesta Francorum? – ethnische Terminologie in der Historiographie der Kreuzfahrerstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Entwicklung der Franci-Bezeichnung . . . . . . . . . . . . . a. Franci und Galli in der frühen antiochenischen Historiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Die Franci-Bezeichnung in der jerosolymitanischen Überlieferung der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts . . . . . c. Die Franci-Bezeichnung bei Walter dem Kanzler . . . . . . . . d. Die Franci-Bezeichnung bei Wilhelm von Tyrus . . . . . . . . 2. Hierosolymitani, Antiocheni und Latini – ethnische Terminologie mit Bezug zur neuen Heimat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Die Hierosolymitani-Bezeichnung in der jerosolymitanischen Historiographie der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts . . . . b. Terminologische Jerusalem-Bezüge bei Wilhelm von Tyrus . . c. Die Antiocheni-Bezeichnung in der antiochenischen Historiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Die Antiocheni-Bezeichnung in der jerosolymitanischen Historiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e. Hierosolymitani und Latini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Fremd- und Feindbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kreuzzugsideologie oder Toleranz? – Abgrenzung von den Muslimen im Königreich Jerusalem und im Fürstentum Antiochia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. ex fonte pernicioso aque […] pestilentes – das Bild der Muslime bei Wilhelm von Tyrus und Fulcher von Chartres . . b. Unwissen und Verachtung – Muslime in der antiochenischen Historiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. timeo Danaos et dona ferentes – das Bild der Byzantiner in den lateinisch-orientalischen Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Byzanz und die Ursprünge des Kreuzzuges . . . . . . . . . . . b. Kampfestüchtige Barbaren und verweichlichte Zivilisationsmenschen – das normannisch-byzantinische Verhältnis vor dem ersten Kreuzzug . . . . . . . . . . . . . . . c. Quare miseri occiditis gentem Christi et meam? – antiochenische Graecophobie . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Den Grundsätzen des Kreuzzuges verpflichtet – Byzantiner in den jerosolymitanischen Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 75 80 80 82 86 87 88 88 91 93 94 97 103 103 106 114 118 121 124 128 133 9 Inhalt Ethnohistorische Entwürfe und Reflexionen . . . . . . . . . . . 1. Prologe in der antiochenischen Historiographie . . . . . . . . a. Der normannisch-antiochenische Kreuzzug im Prolog der Gesta Tancredi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Antiochia als primärer Bezugspunkt in den Prologen der Bella Antiochena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ethnohistorische Reflexion in den Prologensembles der jerosolymitanischen Historiographie . . . . . . . . . . . . . . a. Quis audivit unquam talia? – Reflexion der jerosolymitanischen Ethnogenese im Prologensemble Fulchers von Chartres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Das Prologgedicht der Historia Nicæna vel Antiochena . . c. urgentissimus instat amor patrie – ethnohistorische Reflexionen Wilhelms von Tyrus in den Abendstunden des lateinischen Königreiches . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Prologe in der abendländischen Überlieferung . . . . . . . . . . . . 139 140 . . 140 . . 144 . . 148 . . . . 149 158 . . . . 160 170 VI. Der erste Kreuzzug – die ethnogenetische Phase . . . . . . . . . . . 1. Die unterschiedliche Gewichtung der Kreuzzugsphasen . . . . . 2. Urban II. und das Konzil von Clermont . . . . . . . . . . . . . . 3. Der erste Kreuzzug bis zur Eroberung Antiochias . . . . . . . . . a. Ex pluribus unum – die kleinasiatische Phase des ersten Kreuzzuges in der jerosolymitanischen Historiographie . . . . b. Wiscardi acta nota sunt orbi – die normannisch-guiscardische Ouvertüre zum ersten Kreuzzug und der personal-dynastische antiochenische Mythomoteur . . . . . . 4. Die Schlacht von Dorylaeum – Moment des Zusammenwachsens oder Triumph der Normannitas? . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Die grünen Auen von Dorylaeum und die Speisung des wandernden Volkes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. quasi ut unigenæ uno consilio unam patriæ suæ gloriam prærogarent – Dorylaeum und die Normannitas . . . . . . . . 5. Antiochia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. de uino non loquar – Hungersnöte vor und in Antiochia . . . b. Belagerung, Eroberung und Verteidigung Antiochias . . . . . c. Antiochi[a] horribilis oder anhelata Antiochia? – Sehnsuchtsoder Etappenziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Ein Denkmal für Bohemund und die antiochenische Ethnogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 176 178 184 V. 185 188 199 200 206 210 212 216 224 233 10 Inhalt 6. Die Heilige Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Die Belagerung und Eroberung Jerusalems in den nicht-jerosolymitanischen Quellen . . . . . . . . . . . . . . . b. Kurz vor dem Ziel – die Annäherung an die Heilige Stadt und der Adventus von Bethlehem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. novum edificium, veteri continuo et inserto – das Jerusalem der Jerosolymitaner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Liturgisches Gedenken an die primordiale Tat – die Feier des Befreiungsfestes in Jerusalem . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 VII. Das Fürstentum Petri und das Königreich des Kreuzes . . . . . . . 1. Gegründet gegen den Geist des Kreuzzuges? – Antiochenische Legitimationsprobleme und Lösungsstrategien . . . . . . . . . . a. nec cohibere flammas potuit fornax succensa – Heiliger Zorn gegen berechtigte byzantinische Ansprüche . . . . . . . . . . b. Pereant male qui volunt habitare Antiochie – die antiochenische Erbsünde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. super hanc petram – der Apostelfürst und das Fürstentum Antiochia . 3. Legitimation weltlicher Herrschaft im irdischen regnum Christi . a. advocatus, princeps, rex – die Titel Gottfrieds von Bouillon und ihre Bedeutung für das jerosolymitanische Selbstverständnis . . b. Der abwesende König . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Königreich des Kreuzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Kreuz und Kreuzzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Das Kreuz als Verweis auf Jerusalem . . . . . . . . . . . . . . c. Die Auffindung der Kreuzesreliquie in Jerusalem . . . . . . . d. Wahres Kreuz und Bundeslade . . . . . . . . . . . . . . . . . . e. Wem gehört das Wahre Kreuz? – das lignum domini zwischen König, Patriarch und Volk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f. Das Kreuz im Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g. Der jerosolymitanische Kreuzes-Adventus . . . . . . . . . . . 5. Das Wahre Kreuz im Fürstentum Antiochia . . . . . . . . . . . . 267 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Personen-, Orts- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 237 242 248 254 268 268 272 278 287 287 298 304 304 307 315 324 327 331 339 343 Vorwort Bücher erzählen nicht nur Geschichten, sie haben auch selbst eine Geschichte. Die des vorliegenden Buches begann vor beinahe zehn Jahren in einem Seminar, das Dorothea Weltecke an der Georg-August-Universität Göttingen angeboten hat. Die Begeisterung für die Kreuzfahrerstaaten, die ich aus diesem Seminar mitgenommen habe, hat schließlich zu der Entscheidung geführt, meine Dissertation dem lateinischen Orient zu widmen. Neben dem geographischen Raum und der historischen Epoche sind für diese Arbeit auch ihre Fragestellung und die zu deren Beantwortung gewählte Methode von Bedeutung. Hier habe ich die entscheidenden Prägungen und Anregungen meiner Doktormutter und langjährigen akademischen Lehrerin Hedwig Röckelein zu verdanken, die mir in Lehrveranstaltungen, im persönlichen Gespräch und nicht zuletzt in meiner langjährigen Tätigkeit an ihrem Lehrstuhl in Göttingen das Handwerkszeug historischen Arbeitens mit auf den Weg gegeben hat. Sie hat mir vor allem hervorragende Grundlagen zur Erforschung von Ethnogenese und Ethnizität in Spätantike und Frühmittelalter vermittelt und mich darin bestärkt, diese Methodik auch auf meinen Forschungsgegenstand anzuwenden. Mein großer und herzlicher Dank gilt daher Frau Röckelein und Frau Weltecke sowie meinem Drittgutachter Herrn Peter Aufgebauer. Sie alle haben die Geschichte dieses Buches begleitet und dazu beigetragen, daß es überhaupt entstehen konnte. Zu danken habe ich ebenfalls Jörg Bölling, der durch fachlichen Rat und freundschaftlichen Zuspruch dieser Arbeit und ihrem Autor über so manchen steinigen Wegabschnitt geholfen hat. Wichtige wissenschaftliche Anregungen haben mir in verschiedenen Phasen und bei verschiedenen Schritten der Arbeit Deborah Gerish, Nikolas Jaspert, Thomas Madden, Alan Murray, Galit Noga-Banai, William Purkis, Jochen Schenk und Kurt Villads Jensen gegeben. Finanzielle und ideelle Förderung habe ich im Laufe der Promotion von der Society for the Study of the Crusades and the Latin East, dem Institute for Medieval Studies (Leeds), dem Deutschen Historischen Institut London und dem Center for Medieval and Renaissance Studies (Saint Louis) 12 Vorwort erhalten. Besonderer Dank gilt dem Cusanuswerk, das meine Promotion durch ein Stipendium ermöglicht hat, und der Graduiertenschule für Geisteswissenschaften Göttingen für einen großzügigen Zuschuß zu den Druckkosten. Julia Freder, Jasmin Hoven, Benjamin Müsegades, Christian Popp und Christian Stadermann haben das Manuskript korrekturgelesen und zu zahlreichen Gelegenheiten fachliche Hilfe und Anregungen beigesteuert. Ganz besonders danke ich meinen Eltern Angelika Kirschberger und Peter Crepon sowie meinem leider noch vor der Publikation der Arbeit verstorbenen Großvater, Karl Fey, die mir mein Studium und meine Promotion durch finanzielle Unterstützung, vor allem aber durch familiären Rückhalt und Zuspruch überhaupt ermöglicht haben. Für Ihre Ermunterung und Unterstützung bei der Vorbereitung der Publikation danke ich von Herzen meiner Frau Zuzana Kirschberger. Einleitung In novam […] formam commutatus1 – Mit diesen Worten bezeichnet der im ersten Viertel des 12. Jahrhunderts in Jerusalem schreibende Chronist Fulcher von Chartres († ca. 1127) die Veränderung der Gestalt der Sonne bei einer Eklipse im Spätsommer des Jahres 1124. Ausgehend von der Anschauung des Naturphänomens stellt Fulcher Überlegungen zu Ereignissen der jüngsten Vergangenheit an. Er vergleicht die Erscheinung am Himmel über Jerusalem mit dem Einzug der Teilnehmer des ersten Kreuzzuges in den Orient und reflektiert einen Prozeß, der an der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert zur dauerhaften Ansiedlung lateinischer Christen aus verschiedenen Teilen Europas in Syrien und Palästina führte.2 Als Folge dieses Prozesses entstanden neue Staaten im Orient und in seinem Verlauf entwickelten die Einwanderer sowie ihre Nachkommen und Nachfolger ein neues Selbstverständnis, das nicht mehr an die europäischen Herkunftsgebiete geknüpft war, sondern an die neue Heimat in der Levante. Der Auftakt zu diesen Geschehnissen war fanfarenartig am 27. November 1095 auf dem Konzil von Clermont erschallt, als Papst Urban II. zur Hilfeleistung für die durch die Expansion der muslimischen Seldschuken bedrohten Christen des Orients aufgerufen hatte. Neben diese Absicht, den Kirchen des Ostens und vor allem dem Kaiser von Konstantinopel – Alexios I. Komnenos – Unterstützung zukommen zu lassen, war jedoch schon früh das Bestreben getreten, die Kirche von Jerusalem selbst aus der Herrschaft der Muslime zu befreien.3 1 Fulcher von Chartres, Historia Hierosolymitana, hg. v. Heinrich Hagenmeyer, Heidelberg 1913 (fortan FvC), III.xxxvii.1. Detaillierte Angaben zu Fulcher in Kapitel II.2. 2 Vgl. hierzu mit anderen Akzenten Giese, Wolfgang, ›Untersuchungen zur Historia Hierosolymitana des Fulcher von Chartres‹, in: Archiv für Kulturgeschichte (69; 1987), 62–115, 93. 3 Zu den Grundlagen der Debatte über die Frage, welche Rolle Jerusalem in den Kreuzzugsplänen Urbans II. spielte, vgl. knapp und immer noch aktuell Blake, Ernest O. u. Morris, Colin, ›A Hermit goes to War : Peter and the Origins of the First Crusade‹, in: Monks, Hermits and the Ascetic Tradition. Papers Read at the 1984 Summer Meeting and the 1985 Winter Meeting of the Ecclesiastical History Society, hg. v. William J. Sheils (= Studies in Church History ; 22), Oxford 1985, 79–107, 79ff. Hans Eberhard Mayer beharrt darauf, daß der »Sinn« 14 Einleitung Am Mittag des 15. Juli 1099 gelang dieses Unterfangen, als die Besatzung eines Belagerungsturms unter dem Kommando Gottfrieds von Bouillon die Nordmauer Jerusalems erstürmte. Mit der Überwindung dieser Mauer fand die einmonatige Belagerung der Heiligen Stadt ein erfolgreiches Ende, und gleichzeitig bildete die Eroberung den Schlußakkord des ersten Kreuzzuges. In den mehr als dreieinhalb Jahren, die vom Aufruf Urbans II. bis zur Eroberung Jerusalems vergingen, traten mehrere Kontingente von Kreuzfahrern – vor allem aus dem Herrschaftsbereich des Königs von Frankreich, aber auch aus dem Reich, aus Süditalien und Sizilien – zunächst getrennt den beschwerlichen Weg gen Osten an und konnten bei der Belagerung von Nicaea im Juni 1097 einen ersten großen gemeinsamen Erfolg feiern. Es folgten weitere Siege in offenen Feldschlachten wie auch in Belagerungen, unter denen vor allem der Triumph von Dorylaeum im Juli 1097 und die Eroberung und anschließende Verteidigung der nordsyrischen Metropole Antiochia im Juni 1098 hervorstechen.4 Wenn sich auch die genauen Pläne nicht im Detail rekonstruieren lassen, welche der Papst für den Kreuzzug ursprünglich ersonnen hatte, so bleibt doch zu konstatieren, daß die Resultate dieses Unternehmens über eine Unterstützung der orientalischen Kirchen und eine bewaffnete Pilgerfahrt zu den Heiligen Stätten weit hinausgingen. So wurden die eroberten Gebiete und Städte nicht der Obhut orientalischer Christen anvertraut. Weder Antiochia, das noch kurze Zeit zuvor unter byzantinischer Herrschaft gestanden hatte, noch Jerusalem, das vor seiner schon länger zurückliegenden Eroberung durch die Araber im Jahre 638 ebenfalls von Konstantinopel aus regiert worden war, wurden an Kaiser Alexios übergeben. Vielmehr ließen sich zahlreiche Kreuzfahrer in den von ihnen eroberten Gebieten in der Levante nieder und gründeten insgesamt vier neue Staaten – die sogenannten Kreuzfahrerstaaten. Zunächst ging aus einer Nebenkampagne Balduins von Boulogne im März 1098 die Grafschaft Edessa hervor.5 Noch im Sommer des selben Jahres errichtete der süditalienische von Urbans Plänen tatsächlich in der »Hilfe für die christlichen Ostkirchen« bestanden habe (Mayer, Hans Eberhard, Geschichte der Kreuzzüge, Stuttgart 2005 (10. Aufl., 1. Aufl. 1965, 20). Auch die neuere und neueste angelsächsische Forschung hingegen setzt immer noch voraus, daß Jerusalem von Beginn an mit den Kreuzzugsplänen verknüpft war, wobei diese Position wohl aus einer unkritischen Übernahme der Aussagen von Quellen beruhen dürfte, welche im Rückblick auf die Entwicklung der Ereignisse verfaßt wurden. Vgl. Asbridge, Thomas S., The Crusades. The War for the Holy Land, London 2010, 1ff; Phillips, Jonathan, Holy Warriors. A Modern History of the Crusades, London 2009, 4; Riley-Smith, Jonathan Simon Christopher, The First Crusade and the Idea of Crusading, London 1986, 18. 4 Für einen knappen und übersichtlichen Überblick zum ersten Kreuzzug vgl. Mayer, Kreuzzüge, 51–80. Für eine ausführlichere Darstellung vgl. Asbridge, Thomas S., The First Crusade. A New History, London 2003. Die byzantinische Perspektive auf den ersten Kreuzzug betont Frankopan, Peter, The First Crusade. The Call from the East, London 2012. 5 Zur Geschichte der Grafschaft Edessa vgl. Cahen, Claude, La Syrie du Nord a l’Êpoque des Croisades et la Principatu¦ Franque d’Antioche (= Institut FranÅais de Damas. BibliothÀque Einleitung 15 Normanne Bohemund von Tarent nach der Eroberung Antiochias ein Fürstentum, welches Nordsyrien und Teile Kilikiens umfaßte.6 Am 22. Juli 1099 schließlich wurde Gottfried von Bouillon vom Heer des Kreuzzuges zum ersten Herrscher7 des lateinischen Königreichs Jerusalem erhoben.8 Nach dem Kreuzzug errichteten in den Jahren 1102 bis 1113 zudem Graf Raimund von Toulouse und seine Erben die Grafschaft Tripolis.9 Zur Bezeichnung dieser formativen Phase während des Kreuzzuges und in den Jahren unmittelbar nach der Eroberung Jerusalems prägte Erzbischof Wilhelm von Tyrus (†1186) die Bezeichnung Latinorum introitus.10 Die vorliegende Arbeit ist der Analyse der Prozesse gewidmet, die im Laufe dieses introitus die Einwanderer aus dem Westen im Orient zu neuen Gruppen zusammenwachsen ließen. Es gilt, die nova forma, die sie in dieser Phase annahmen, genauer zu untersuchen. Im Folgenden werden dazu zunächst die Schwerpunkte der Analyse vor dem Hintergrund der bisherigen Forschung und ihrer Probleme erarbeitet. Zudem wird die Methodik der Analyse hergeleitet und vorgestellt. 6 7 8 9 10 Orientale; 1), Paris 1940; Amouroux-Mourad, Monique, Le Comt¦ d’Edesse, 1098–1150 (= BibliothÀque Arch¦ologique et Historique; 128), Paris 1988. Zur Geschichte des Fürstentums Antiochia vgl. Asbridge, Thomas S., The Creation of the Principality of Antioch. 1098–1130, Woodbridge 2000; Cahen, Syrie du Nord; Mayer, Hans Eberhard, Varia Antiochena. Studien zum Kreuzfahrerfürstentum Antiochia im 12. und frühen 13. Jahrhundert (= Monumenta Germaniae Historica. Studien und Texte; 6), Hannover 1993. Zu Bohemund vgl. Flori, Jean, Boh¦mond d’Antioche. Chevalier d’Aventure, Paris 2007; Russo, Luigi, Boemondo. Figlio di Guiscardo e Principe di Antiochia, Ariano Irpino 2009. Der erste gekrönte König des Reiches war jedoch Balduin von Boulogne. Nach dem frühen Tod Gottfrieds im Sommer des Jahres 1100 trat er die Grafschaft Edessa an seinen Verwandten Balduin von Bourcq ab und wurde am Weihnachtstag in Bethlehem gekrönt. Vgl. Mayer, Kreuzzüge, 85f. Zur Geschichte des Königreichs Jerusalem vgl. Mayer, Hans Eberhard, Herrschaft und Verwaltung im Kreuzfahrerkönigreich Jerusalem (= Schriften des Historischen Kollegs: Vorträge; 43), München 1996; Murray, Alan V., The Crusader Kingdom of Jerusalem. A Dynastic History. 1099–1125 (= Occasional Publications of the Linacre Unit for Prosopographical Research; 4), Oxford 2000; Prawer, Joshua, The Latin Kingdom of Jerusalem. European Colonialism in the Middle Ages, London 1972; Richard, Jean, The Latin Kingdom of Jerusalem (= Europe in the Middle Ages. Selected Studies; 11), Amsterdam 1979. Zur Geschichte der Grafschaft Tripolis: Dédèyan, G¦rard u. Rizik, Karam (Hgg.), Le Comt¦ de Tripoli: Êtat Multiculturel et Multiconfessionnel (1102–1289). Actes des Journ¦es d’Êtudes, Universit¦ Saint-Esprit, Kaslik, Liban, D¦cembre 2002, Paris 2010; Richard, Jean, Le Comt¦ de Tripoli sous la Dynastie Toulousaine (1102–1187) (= BibliothÀque Arch¦ologique et Historique; 39), Paris 1945. Wilhelm von Tyrus, Willelmi Tyrensis Archiepiscopi Chronicon, hg. v. Robert Burchard Constantyn Huygens (= Corpus Christianorum Continuatio Mediaevalis; 63/63 A), 2 Bde., Turnhout 1986 (fortan WvT), VIII.iii.24, IX.xvii.1, XI.xvi.4, XI.xxvii.18, XXII.xvii.42–43. Detaillierte Angaben zu Wilhelm in Kapitel II.2.