Börsenkurs und fundamentaler Wert

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Börsenkurs und fundamentaler Wert
Ein empirisches Modell der Erklärung der Abweichungen bei
europäischen Immobilienaktiengesellschaften
Rafael Zajonz
Bei Immobiliengesellschaften gilt der NAV (Net Asset Value), berechnet als Summe der
Marktwerte des Vermögens abzüglich der Schulden, gemeinhin als gute Näherung für den
fundamentalen Wert des Unternehmens. Er basiert dabei auf der Überlegung, dass der Wert
eines Unternehmens, dessen dominante Geschäftsstrategie die Bestandshaltung von
Liegenschaften ist, durch die immanente Ertragskraft der sich in seinem Portfolio befindenden
Immobilienobjekte determiniert ist. In der Grundidee entspricht der NAV somit dem Saldo
aus den aggregierten Marktwerten aller Aktiva des Unternehmens und seinen
Verbindlichkeiten. Bei offenen Immobilienfonds ist er sogar gesetzliche Grundlage für die
tägliche Berechnung der Verkaufs- und Rücknahmepreise der Anteile. Bei börsennotierten
Immobilien-AGs dagegen – dies gilt für die einzelnen Unternehmen wie für die nationalen
Gesamtmärkte – konnte in der Vergangenheit an fast allen bedeutenden Märkten eine mehr
oder weniger starke Divergenz zwischen dem Börsenkurs und dem NAV beobachtet werden.
Diese konnte dabei sowohl positive (Premium) als auch negative (Discount) Vorzeichen
annehmen und erreichte bei mehreren Unternehmen bis zu 80%. In einigen Ländern wurden
auch auf der aggregierten Landesebene Werte von zum Teil 50% gemessen. Langfristig ist
eine sehr deutliche zyklische Oszillation der Börsenkurse und den NAV zu beobachten. Diese
gilt sowohl für einzelne Unternehmen, als auch für den gesamten Assetsektor der
Immobilienaktien. Die Dauer eines Zyklus beträgt dabei in Europa ca. 7-9 Jahre. Während
eines Zyklus weisen die Veränderungen der NAV-Spreads praktisch aller beobachteten
Unternehmen und Länder eine sehr hohe Korrelation untereinander auf. Damit muss
offensichtlich auch ein systematischer Marktfaktor eine wichtige Rolle spielen.
Ausgehend von der Akzeptanz des NAV als einer gut begründeten und in der Praxis vielfach
verwendeten Approximation an den fundamentalen Unternehmenswert einer
bestandshaltenden Immobilien-AG stellt sich die Frage, wie diese beobachteten BewertungsDivergenzen finanzmarkttheoretisch zu erklären sind. Eine Immobilienaktiengesellschaft ist
im Grunde eine rechtliche Organisationsstruktur für das Eigentum und das Management von
Grundvermögen. Wie kann es sein, dass die Börsenbewertung dieser Entität im Vergleich
zum Verkehrswert des sie konstituierenden Immobilienportfolios gravierende Abweichungen
nach oben oder nach unten annehmen kann?
Die Literatur bietet ein weites Spektrum von möglichen Erklärungen, die zum einen auf
unternehmensspezifischen Faktoren basieren, wie z.B. dem steuerlichen Status (REIT oder
Non-REIT), der Unternehmensgröße, dem Verschuldungsgrad, der strategischen
Positionierung oder der Transparenz und zum anderen auf exogene Faktoren wie die Wirkung
von Noise-Tradern und einer möglichen Irrationalität an den Märkten beruhen.
Die Zahl der Untersuchungen zur Erklärung dieser unternehmensspezifischen und
marktbezogenen Abweichungen ist dabei bisher überschaubar. Zudem
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beziehen sie sich oft auf die US-amerikanischen REITs,
beschränken sie sich oft auf unternehmensspezifische Faktoren, ohne den
Markteinfluss oder exogene Faktoren mit zu prüfen,
analysieren sie das Phänomen oft nur für ein einzelnes Land oder einen einzigen
Jahrgang, ohne damit der länderübergreifenden und zeitlichen Charakteristik des
Phänomens gerecht zu werden.
Für Europa bzw. einzelne europäische Länder liegen nur wenige Studien vor. Dies ist zu
großen Teilen auf den Mangel an brauchbaren Daten zurückzuführen. So gibt es, im
Gegensatz zu den USA, keine der Wissenschaft zugängliche Quelle, die die NAVs der
europäischen Unternehmen in einer einheitlichen Datenbank erfasst. Zudem sind für
Länderstudien schlicht die Zahlen der einzubeziehenden Unternehmen für aussagefähige
empirische Untersuchungen zu gering. Gesamteuropäische Untersuchungen wiederum haben
mit den unterschiedlichen rechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen in den
einzelnen Ländern zu kämpfen, die eine Vergleichbarkeit der Daten erschweren.
Ziel dieser Arbeit ist es, einige wesentliche Bausteine zur Schließung dieser Forschungslücke
zu liefern. Auf der Basis eines eigenständigen, selbst aus den Jahresabschlüssen und anderen
Datenquellen erhobenen Datensatzes für ca. 40 der größten europäischen
Immobiliengesellschaften wird ein empirisches Gesamtmodell entwickelt, welches einen
signifikanten Beitrag für das Verständnis über die Kausalität und das Zusammenwirken von
unternehmensspezifischen sowie marktbezogenen Komponenten bei der Entstehung von
Premiums und Discounts zu leisten vermag. Aufgrund der Publizitätsstandards der
europäischen Gesellschaften sind verwertbare Daten in einer ausreichenden Zahl erst ab dem
Jahr 2000 verfügbar, so dass der Datensatz den Zeitraum der Jahre 2000 bis 2007 umfasst.
Damit übertrifft die Datenbasis die der anderen vorliegenden Studien sowohl in der Breite der
erfassten Unternehmen als auch in der Periodenlänge.
Nachdem in den Kapiteln Zwei und Drei die Grundlagen der verbrieften Immobilienanlage
und die wichtigsten Methoden zur Bewertung von Immobilienaktien dargelegt werden,
behandelt Kapitel Vier das Phänomen der NAV-Spreads, seine direkten Auswirkungen auf
die betroffene Branche sowie die aus wissenschaftlicher Sicht sich hieraus ergebenden
Implikationen. Im fünften Kapitel erfolgt eine ausführliche Vorstellung und Erörterung
möglicher Erklärungsansätze für das Problem. Das Kernstück der Arbeit stellt das sechste
Kapitel dar. Darin wird der Datensatz zu europäischen Immobilien-AGs einer umfangreichen
statistischen Analyse unterzogen, um die vorgestellten möglichen Determinanten und
Faktoren auf ihren empirischen Erklärungsgehalt hin zu prüfen.
Im Rahmen der Untersuchung kann gezeigt werden, dass die in der bisherigen Literatur
dominierenden unternehmensspezifischen Faktoren (wie Größe, Verschuldung, steuerlicher
Status, Free Float etc.) in den Regressionsanalysen lediglich einen geringen Bruchteil der
beobachteten NAV-Spreads erklären können (ca. 14%). Die Annahme, dass NAV-Spreads
lediglich Ausdruck eine rationalen und effizient funktionierenden Marktes sind, der
firmenspezifische Charakteristika berücksichtigt, kann somit nicht bestätigt werden.
Stattdessen zeigt sich, dass der bei weitem größte Teil der Divergenzen auf einen exogenen,
systemischen Markteinfluss zurückgeführt werden kann. Es stellt sich heraus, dass die
Applikation der Noise-Trader Theorie und der mit ihr verbundenen Annahme ineffizienter
Märkte einen sehr großen Beitrag zum Verständnis des bis dahin unerklärten
Streuungsresiduums leisten kann. Daneben zeigen die Daten, dass sich die Stärke der
zyklischen Schwankungen von Land zu Land sehr deutlich unterscheidet. Dieser Umstand
kann als ein mögliches Indiz dafür aufgefasst werden, dass die generelle Wirkungsrichtung
des Marktsentiments zwar europaweit gleich ist, die Stärke des Effekts allerdings national
durchaus variieren kann.
Zur empirischen Verifikation dieser Annahmen wird erstmalig ein spezieller SentimentIndikator für Immobilienaktien entwickelt und anhand von SENTIX-Daten über die
Anlegerstimmung, Informationen über die IPO-Aktivität der Branche sowie der
Preisentwicklung an den Immobilienmärkten quantitativ unterlegt. Darüber hinaus wird auch
die unterschiedliche landesspezifische Volatilität der NAV-Spreads mitberücksichtigt. Der
resultierende Sentimentindikator wird dann zusammen mit den Variablen für die
unternehmensinternen Faktoren in ein umfassendes Strukturgleichungsmodell der NAV-
Spreads implementiert. Die Auswertung der Ergebnisse belegt, dass mit dem so konzipierten
Modell ca. 76% der Divergenzen zwischen dem Wert und dem Preis von Immobilienaktien
erklärt werden können. Dabei entfällt der weitaus größte Teil auf den Einfluss des
Marktsentiments. Von den zahlreichen getesteten unternehmensinternen (rationalen) Faktoren
erweisen sich lediglich der Steuerstatus der Unternehmen (REIT oder Non-REIT) und das
Risikoniveau der Unternehmen (Jahresvolatilität des Kurses) als signifikante Einflussgrößen
auf für den NAV-Spread. Andere Variablen, wie z.B. der Verschuldungsgrad, die regionale
oder sektorale Fokussierung der Firmen, ihr Freefloat, EBITDA / Portfoliowert und weitere
Kennzahlen, lassen keinen Zusammenhang erkennen.
Das vom semirationalen Gesamtmodell der NAV-Spreads gezeichnete Bild zeigt einen Markt,
an dem die irrationalen Marktkräfte in ihrer Wirkung auf die Spreads die rationalen Einflüsse
deutlich überwiegen. So gehen Phasen, die durch einen hohen Anteil an Optimisten unter den
Investoren, hohen Wertzuwächsen auf dem direkten Immobilienmarkt, sowie einer regen
IPO-Aktivität gekennzeichnet sind, mit nur geringen Discounts und sogar ausgeprägten
Überbewertungen von Immobilienaktien einher. Umgekehrt zeichnen sich Jahre, in denen das
Verhältnis der Optimisten zu den Pessimisten ausgeglichener (oder gar kleiner Eins) und die
Anzahl der Börsengänge von Immobilien-AGs niedriger sind, stets durch hohe Discounts und
sinkende Kurse aus.
Ausgehend von der Annahme, dass das Sentiment marktbreit wirkt und ein weites Spektrum
von Wertpapieren und Branchen erfassen kann, stellen die Ergebnisse dieser Arbeit auch über
den Bereich der Immobilienaktien hinaus einen interessanten Beitrag zur wissenschaftlichen
Diskussion über die Funktionsweise von Kapitalmärkten dar. Sie reiht sich damit ein in eine
wachsende Zahl von Arbeiten, die in der Efficient Market Hypothesis eine inkorrekte bzw.
unvollständige Hypothese sehen und diese durch einen Ansatz ersetzen wollen, der vor allem
zwei Dinge hervorhebt: Erstens, dass viele Investoren in der realen Welt wenig gemein haben
mit den kühl kalkulierenden, perfekt informierten Anlegern der EMH und statt dessen von
Herdenverhalten, überschwänglichen Erwartungen, Panik und Gier beeinflusst werden. Und
zweitens, dass die Akteure, die dem in der EMH gezeichneten Bild eines rationalen Investors
entsprechen, es in der Realität des Börsengeschehens oftmals extrem schwer haben, für einen
Ausgleich zwischen dem Wert und dem Preis von Wertpapieren zu sorgen.
Aus Sicht der Investment-Praxis offerieren die Untersuchungsergebnisse eine Möglichkeit,
eine Anlagestrategie zu entwickeln, die sich an den derzeitigen Abweichungen zwischen dem
approximierten fundamentalen Wert (NAV) und dem aktuellen Börsenkurs der
Immoblienaktien orientiert. Eine derartige Assetallocation würde antizyklisch sein und
Kaufsignale in Phasen hoher Discounts geben, während hohe Premiums (und damit ein
Vorliegen von irrationaler Überbewertung) vice versa zu Verkaufsignalen führen.
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