A L L I A N Z D R E S D N E R E CO N O M I C R E S E ARC H Working Paper 18.08.2008 M A K R O Ö KO N O M I E FINANZMÄRKTE 113 WIRTSCHAFTSPOLITIK Dr. Rainer Schäfer & Christiane Seyffart Türkei: Krisenresistenter als gedacht BRANCHEN ALLIANZ DRESDNER ECONOMIC RESEARCH Working Paper / Nr. 113 / 18.08.2008 Working Paper Nr. 113 1. Phoenix aus der Asche: Die wirtschaftliche Erfolgsstory seit 2001 ............................ 3 2. Wunde Punkte: Hohes Leistungsbilanzdefizit und offene Währungspositionen .......................................... 6 3. Politik: Neue alte Wege ...................................................... 9 4. Im schlimmsten Fall: Hard Landing ................................... 10 2 ALLIANZ DRESDNER ECONOMIC RESEARCH Working Paper / Nr. 113 / 18.08.2008 AUTOREN: DR. RAINER W. SCHÄFER Tel.: +49.69.263-5 25 74 [email protected] CHRISTIANE SEYFFART Tel.: +49.69.263-1 13 48 [email protected] Nach einigen Jahren politischer Stabilität und hohen Wirtschaftswachstums droht der Türkei Ungemach. Zum einen hat die politische Unsicherheit wieder zugenommen. So hat in den letzten Monaten das inzwischen für die regierende AKP glimpflich ausgegangene Verbotsverfahren am obersten Gerichtshof das Land in Atem gehalten. Gleichzeitig sind die internationalen Kapitalmärkte durch die Subprimekrise in den USA in rauheres Wasser gekommen. Wie schafft das Land am Bosporus den Spagat zwischen der schwierigen innenpolitischen Lage sowie dem Vertrauen internationaler Investoren, auf das die Türkei aufgrund ihres hohen Bedarfs an ausländischem Kapital angewiesen ist? 1. PHOENIX AUS DER ASCHE: DIE WIRTSCHAFTLICHE ERFOLGSSTORY SEIT 2001 Bis zum Anfang dieses Jahrtausends glich die türkische Wirtschaftsentwicklung einer Achterbahnfahrt. Jahre mit boomender Konjunktur endeten meist in einem steilen Abschwung, nicht selten gepaart mit einer kräftigen Abwertung der heimischen Währung und hohen Wohlstandsverlusten. Die letzte dieser Krisen verzeichnete die Türkei im Jahr 2001, ausgelöst u.a. durch ein sehr anfälliges Geschäftsbankensystem und eine zu ambitionierte Wechselkurspolitik, die ein für allemal die notorisch hohe Inflation zähmen sollte. Die Inflation an sich war aber nicht die Quelle des Übels, sondern eher eine Begleiterscheinung der desolaten Staatsfinanzen, der eigentlichen Krisenursache. Letztere wiederum waren stark beeinflusst von der innenpolitischen Lage mit häufig wechselnden Koalitionsregierungen und starker Einflussnahme der Politik auf das wirtschaftliche Geschehen. Mit dem Wahlerfolg der AKP 2002 erhielt die Türkei die erste Regierung, die nicht auf Koalitionspartner angewiesen war. Die neue, über eine stabile Parlamentsmehrheit verfügende Regierung nutzte diese für weitreichende Reformen: Die Zentralbank wurde unabhängig und auf Inflationsziele verpflichtet, der Wechselkurs freigegeben. Dies sowie die konsequente Konsolidierung der Staatsfinanzen bildet die Grundlage des wirtschaftlichen Erfolgs mit Wachstumsraten von durchschnittlich knapp 7 % in den letzten Jahren. Abbildung 1: Boom-Bust-Zyklen in der Türkei (Reales BIP-Wachstum und Inflation in %) 12 120 8 80 4 40 0 0 1990 1995 2000 2005 -4 -40 -8 -80 Reales BIP-Wachstum (linke Skala) Inflation Quelle: Ecowin. 3 ALLIANZ DRESDNER ECONOMIC RESEARCH Gesundete Staatsfinanzen, die nicht mehr Spielball der Politik sind Working Paper / Nr. 113 / 18.08.2008 Budgetdefizite von über 10 % des BIP Anfang dieses Jahrtausends sind Fehlbeträgen von 1 bis 2 % des BIP in den letzten drei Jahren gewichen. Anhaltend hohe Primärüberschüsse (Haushaltssaldo ohne Zinszahlungen) von rund 5 % des BIP seit 2003 sowie im Zuge der Disinflationierung niedrigere Zinsraten haben zu diesem Erfolg beigetragen. Zwar belaufen sich die Zinszahlungen auf die Staatsverschuldung immer noch auf knapp ein Viertel der Budgetausgaben oder 5,7 % des BIP. Allerdings muss man bedenken, woher die Türkei bei diesem stellvertretend für die ganze Misere stehenden Indikator kommt: 2001 belief er sich noch auf über 50 % der Ausgaben bzw. über 17 % des BIP. Damit hat die Verwundbarkeit der Türkei beim Schuldendienst und der laufenden Finanzierung der Budgetdefizite deutlich abgenommen. Denn Spiegelbild der insgesamt günstigeren Haushaltslage ist die Staatsverschuldung, die sich seit 2002 in Relation zum BIP auf knapp 39 % etwas mehr als halbiert hat. Wichtiger ist fast noch, dass sich auch ihre Struktur grundlegend verbessert hat: nämlich anteilig weniger Auslandsschulden, ein deutlich höherer Anteil an Lira- und Festzinsverbindlichkeiten sowie längere Laufzeiten. Möglich wurde die Rückführung der Staatsverschuldung auch durch die in Gang gekommene Privatisierung von Staatsunternehmen. Sie erlöste rund 30 Mrd. USD in den Jahren seit 2003, immerhin rund 1,2 % des BIP jährlich. Im Vergleich dazu: Während der Jahre 1985 bis 2002 betrug dieser Wert nur gut 8 Mrd. USD. Abbildung 2: Verbesserte Struktur der Staatsverschuldung (Anteil in %) Laufzeit Inlandsverschuldung in Monaten* nicht markt-gängige Inlandsverschuldung Verschuldung mit variablen Zinsen Fremdwährungsverschuldung Auslandsverschuldung 2002 2007 0 10 20 30 40 50 60 Quelle: Türk. Finanzministerium, eigene Berechnungen. * Daten für 2004 und 2007. Mit der Vorstellung des „medium term fiscal framework“ im Mai 2008 gibt die Regierung nach dem Auslaufen des letzten IWF-Programms mit seiner strikten Konditionalität den Rahmen für die zukünftige Fiskalpolitik vor. Zwar fallen die Eckwerte des Programms – die Primärüberschüsse sollen von 3,5 % des BIP 2008 auf 2,4 % 2012 fallen – weniger ambitioniert aus als in den letzten Jahren, was zu kritischen Analystenkommentaren geführt hat. Insgesamt stellt sich jedoch in der Projektion ein durchaus akzeptables Budgetdefizit von rund 1,5 % des BIP ein, und die Staatsverschuldung soll von knapp 39 % des BIP heute auf 30 % in fünf Jahren fallen. 4 Working Paper / Nr. 113 / 18.08.2008 ALLIANZ DRESDNER ECONOMIC RESEARCH Strukturelle Verbesserung im Budget Zudem ist strukturell einiges geschehen: Zunächst ist das Budget transparenter geworden, Sonderfonds und -finanzierungen wurden abgeschafft. Auch kürzlich geäußerte Vorschläge, ähnliches wieder einzuführen, sind trotz der verfahrenen innenpolitischen Lage abschlägig beschieden worden, was das Budget zunehmend gegen willkürlichen politischen Einfluss immun macht. In dieselbe Richtung zielt die Festlegung von Regeln für Preisanpassungen (noch) subventionierter Güter. So ist am 1. Juli eine neue Regel für die Anpassung von Strompreisen in Kraft getreten. Eine ähnliche Richtlinie gilt bereits seit Anfang des Jahres für die Benzinpreise. Dies ist wichtig, da die bislang nicht kostendeckende Preisstruktur die Investitionen und die Privatisierungen in diesem Sektor hemmt, was z.B. Stromengpässe befürchten ließ. Zudem hat das türkische Parlament im April dieses Jahres die Reform der Sozialversicherung gebilligt, die u.a. das Verrentungsalter auf 65 Jahre anhebt, nachdem ein erster Versuch am Verfassungsgericht gescheitert war. Diese Reform ist immer wieder vom IWF angemahnt worden, da das Rentendefizit sich derzeit auf rund 3,5 % des BIP beläuft, ab 2030 aber auf bis zu 6 % des BIP angeschwollen wäre. Mit der Reform dürfte sich der Fehlbetrag in der Sozialversicherung über die nächsten dreißig Jahre sukzessive zurückbilden. Effizienteres Finanzsystem Durch den drastischen Rückgang der Inflation sowie den Rückzug des Staates hat sich auch das türkische Finanzsystem, das in der Krise 2001nahezu kollabiert war, in den vergangenen Jahren neu erfunden. Galten die Banken früher als Krisenkatalysatoren, wird ihnen heute die Rolle eines Krisenpuffers zuerkannt. Die frühere Rolle der Kreditinstitute als Financier des Staates ist einer aktiven Finanzintermediation mit mehr Darlehen an Unternehmen und private Haushalte gewichen. Wurde Ende 2002 nur ein gutes Drittel der Depositen als Kredite ausgereicht, so beläuft sich dieser Anteil jetzt auf gut 80 %. Dazu beigetragen hat insbesondere die Entwicklung der Konsumentenkredite, die doppelt so schnell gewachsen sind wie die Ausleihungen an Unternehmen und inzwischen gut 40 % des Kreditvolumens auf sich vereinen. Langsam weiten sich auch die Laufzeiten der Engagements aus: Unternehmen können nun Finanzierungen mit mehrjähriger Laufzeit auch in Lira bekommen, ein für die Türkei mit ihrer Hochinflationsvergangenheit neues Phänomen. Der Hypothekenmarkt steckt zwar noch in den Kinderschuhen, allerdings mit großen Wachstumsschritten. Damit holt die Türkei beim Entwicklungsstand seines Finanzsystems nun von niedrigem Niveau auf, auch wenn sowohl der Anteil der Bankaktiva als auch der der privaten Kreditvergabe am BIP mit 87 % bzw. knapp 30 % noch niedriger als in den meisten mittel- und osteuropäischen Ländern liegt und eher vergleichbar mit Mexiko oder den Philippinen ist. Insbesondere die Verschuldung der privaten Haushalte in Verhältnis zum BIP ist mit 12,4 % 2006 noch deutlich geringer als in Polen oder Ungarn. Diese Relationen zeigen auch das große Entwicklungspotenzial auf, das unterstützt von der guten makroökonomischen Stabilisierung in den Fokus ausländischer Investoren gerückt ist. So hat sich der Anteil ausländischer Banken auch dank der Privatisierung staatlicher Banken zwischen 2004 und 2006 auf gut 22 % verfünffacht. Die zunehmende Präsenz der ausländischen Institute, ein neues Bankengesetz und eine stringentere Aufsicht haben zudem das Risikomanagement der Banken gestärkt. So dürfen die Banken keine offenen Devisenpositionen mehr eingehen und der Spielraum für von der Politik in die Wege geleitete Kreditvergaben (directed lending) ist deutlich eingeschränkt worden. Zwar ist die Einführung von Basel II bis auf weiteres vertagt worden – insbesondere mit Blick auf die kaum zu leistenden Informationsanforderungen für die kleinen und mittleren kreditnehmenden Unternehmen. Dies 5 ALLIANZ DRESDNER ECONOMIC RESEARCH Working Paper / Nr. 113 / 18.08.2008 steht einer kontinuierlichen Weiterentwicklung der aufsichtsrechtlichen Regeln wie z.B. der Bewertung operationaler Risiken aber nicht entgegen. Grundsätzlich steht das Banksystem mit einer Eigenkapitalausstattung von derzeit 17,3 % der risikogewichteten Aktiva und einem Anteil notleidender Kredite von 3 % auch im internationalen Vergleich gut da. 100% 80% Abbildung 3: Finanzintermediation auf gutem Weg (Anteil an Bilanzsumme) Sonstiges Wertpapiere 60% 40% 20% 0% Sonstiges Wertpapiere Kredite Kredite 2002 2007 Quelle: Bank Regulation and Supervision Agency; eigene Berechnungen. Weniger anfällig für Krisen Der Rückgang der Inflation, gesundete Staatsfinanzen und ein effizienteres Banksystem haben Raum für das kräftige Wachstum geschaffen, das nun in erster Linie der private Sektor erwirtschaftet. Dies wie die stabile politische Lage der letzten Jahre haben die Türkei auch für ausländische Investoren attraktiv gemacht, was zu hohen Kapitalzuflüssen geführt hat. Es erlaubte der Zentralbank, die Devisenreserven auf inzwischen 75,8 Mrd. USD aufzustocken, was die Importe von etwa vier Monaten deckt. All dies stärkt die Krisenresistenz der Türkei. So hat sie die jüngsten Turbulenzen wie im Mai 2006, als plötzlich die Risikoaversion zunahm und die Risikoaufschläge nach oben schossen, oder aber auch die schwierige innenpolitische Situation um die annullierte Präsidentschaftswahl im Frühjahr 2007 nahezu unbeschadet überstanden. Selbst die zunehmend ungewissere EU-Perspektive hat den Kapitalstrom in die Türkei nicht bremsen können. 2. WUNDE PUNKTE: HOHES LEISTUNGSBILANZDEFIZIT UND OFFENE WÄHRUNGSPOSITIONEN Unwirtliches globales Umfeld und innenpolitische Spannungen 6 Derzeit gerät die Türkei jedoch von zwei Seiten unter Druck: Zum einen ist die innenpolitische Lage angespannt: Auch wenn das Verbotsverfahren nun für die AKP glimpflich ausgegangen ist, lassen die dadurch offen zu Tage getretenen unterschiedlichen Positionen im türkischen Machtgefüge auch weiterhin Konflikte erwarten. Zum anderen hat sich das internationale Umfeld stark eingetrübt: die globale Konjunkturentwicklung dürfte ihren Höhepunkt im ersten Quartal 2008 überschritten haben und sich nun deutlich abkühlen. Schwerer für die Türkei wiegt aber fast noch die internationale Finanzkrise, die den Risikoappetit internationaler Investoren und Banken stark ALLIANZ DRESDNER ECONOMIC RESEARCH Working Paper / Nr. 113 / 18.08.2008 verringert hat. Allerdings versucht die Regierung zur Zeit zumindest den IWF über einen „precautionary standby“ als Stabilitätsanker zu halten, obwohl das letzte reguläre Beistandsabkommen im Mai dieses Jahres ausgelaufen ist. Hohe Abhängigkeit von ausländischen Kapitalzuflüssen Die Türkei ist weltweit das Schwellenland mit dem höchsten externen Refinanzierungsbedarf. Obwohl die Exporte volumenmäßig stärker zulegen als die Importe, dürfte das Leistungsbilanzdefizit infolge des Ölpreisanstiegs in diesem Jahr auf 48 Mrd. USD bzw. 6,1 % des BIP ansteigen. Dazu tragen zum einen die hohen Ölpreise – immerhin gut 7 % der Importe entfallen auf Rohöleinfuhren –, aber auch steigende Zins- und Dividendenzahlungen ins Ausland bei. Demgegenüber sprudeln die Direktinvestitionen im derzeitigen Umfeld weniger. Bis Mai beliefen sie sich nur auf 4,4 Mrd. USD. Während die Privatisierungen unter Einschluss ausländischer Adressen in der ersten Jahreshälfte noch relativ gut liefen, ist hier nun weniger zu erwarten wie auch bei den für die Türkei wichtigen M&A-Aktivitäten. Somit rechnen wir nur mit einem Zufluss von 12 Mrd. USD im Gesamtjahr, womit die Direktinvestitionen gerade mal ein Viertel des Leistungsbilanzdefizits decken würden. Da zudem ausländische Investoren seit Mitte letzten Jahres Positionen am türkischen Aktien- und Anleihemarkt im Volumen von 8 Mrd. USD aufgelöst haben, ist das Land zunehmend auf Fremdwährungskredite angewiesen. Bislang ist es aber gut gelungen, gegen einen Aufschlag bei den Finanzierungskosten den Kapitalbedarf zu decken. Dies erklärt auch die relative Stärke der Lira. 10 Abbildung 4: Leistungsbilanzdefizit auf hohem Niveau 2,0 0 Prognose 0,0 -10 -2,0 -20 -4,0 -30 -6,0 -40 -8,0 -10,0 -50 1996 2000 Mrd. USD (linke Skala) 2004 2008 % des BIP Quelle: Zentralbank, eigene Berechnungen. Dennoch bleiben Risiken: Denn neben den Finanzierungserfordernissen aus der Leistungsbilanz schiebt die Türkei noch einen hohen Refinanzierungsbedarf bei der Auslandsverschuldung von insgesamt knapp 90 Mrd. USD vor sich her. Davon entfallen 60 % auf kurzfristige Fälligkeiten, der Rest entfällt auf Tilgungen für langfristige Kredite. Zudem halten Ausländer lira-denominierte Staatspapiere im Volumen von gut 27 Mrd. USD. Demgegenüber stehen Devisenreserven von 75,8 Mrd. USD, deren Anstieg jedoch zuletzt zum Stillstand gekommen ist. Darüber hinaus halten die Türken auch nennenswertes Vermögen im Ausland, was sich noch einmal auf rund 75 7 ALLIANZ DRESDNER ECONOMIC RESEARCH Working Paper / Nr. 113 / 18.08.2008 Mrd. USD beläuft. Allerdings ist offen, ob dieses im Falle einer Krise angetastet werden würde; die Erfahrung aus den letzten Jahren zeigt eher, dass insbesondere bei innenpolitischen Spannungen Depositen im Ausland aufgebaut werden. 180 Abbildung 5: Fremdwährungsliquiditätslage 2008 (Mrd. USD) 160 140 120 100 Privates Auslandsvermögen 80 60 40 Devisenreserven Kurzfristige Verschuldung Schuldendienst FDI Leistungsbilanzdefizit Devisenpolster Devisenbedarf 20 0 Lira-denom. Staatspapiere Quelle: Zentralbank, eigene Schätzungen. Unternehmenssektor anfällig für Abwertung 8 Ein weiterer Schwachpunkt sind die offenen Devisenpositionen im türkischen Unternehmenssektor, die sich nach Zentralbankangaben Ende 2007 auf 60 Mrd. USD bzw. gut 8 % des BIP beliefen. Diese entfallen bei weitem nicht nur auf exportorientierte Unternehmen, die durch ihre Devisenerlöse eine natürliche Absicherung gegen Währungsschwankungen haben. Ein Indiz hierfür ist, dass immerhin mehr als die Hälfte der Auslandsverschuldung des türkischen Unternehmenssektors auf den Dienstleistungsbereich entfällt, und hier insbesondere auf die Branchen Transport/ Kommunikation, Immobilien und Bau. Die Anfälligkeit des Unternehmenssektors im Falle einer Abwertung ist damit sehr hoch, da neben einem dann drastisch erhöhten Schuldendienst auch die Konjunktur und damit die Gewinne wegbrechen sowie zudem die Inlandszinsen ansteigen dürften. Ein solches Szenario würde natürlich auch auf die türkischen Banken zurück schlagen, auch wenn diese, im Gegensatz zur Phase vor der Krise 2001, selbst keine offenen Devisenpositionen in ihrer Bilanz mehr aufweisen. Im übrigen hätten hiervon die Filialen und Tochtergesellschaften ausländischer Kreditgeber die Hauptlast zu tragen. Diese haben immerhin zwei Drittel der ausstehenden Fremdwährungskredite ausgelegt. 41 Mrd. USD an Unternehmensforderungen in ausländischer Währung verbleiben aber bei den türkischen Banken, die dann mit einem höheren Ausfallrisiko konfrontiert wären. ALLIANZ DRESDNER ECONOMIC RESEARCH Working Paper / Nr. 113 / 18.08.2008 Abbildung 6: Offene Positionen im Unternehmenssektor (Mrd. USD) 150 125 Offene Devisenposition 100 75 50 25 0 5 200 FDI Fremdwährungsanlagen 6 200 7 200 Fremdwährungsverbindlichkeiten Quelle: Zentralbank. 3. POLITIK: NEUE ALTE WEGE Neue Elite gegen Kemalisten Die Achillesferse der Türkei war und ist die Politik. Zwar gelang es nach der letzten Finanzkrise 2001 die Wirtschaft durch den Aufbau stabiler Institutionen besser von der volatilen politischen Lage zu isolieren. Beispiele hierzu bilden die inzwischen unabhängige und der Preisstabilität verpflichtete Zentralbank sowie das Geschäftsbankensystem, das man von der zuvor üblichen Einflussnahme der Politik auf Kreditentscheidungen abgeschottet hat. Gleichwohl lebt die Wirtschaft nach wie vor in enger Symbiose mit der Politik, die sich in der Türkei zudem unübersichtlicher als in den meisten Schwellenländern darstellt. Zum einen finden auch hier die üblichen Richtungskämpfe statt. Zum anderen gibt es seit Jahrzehnten den Konflikt zwischen der alten kemalistischen und streng säkular orientierten Istanbuler Elite sowie der an Einfluss gewinnenden, konservativ orientierten anatolischen Bürgerschicht, wie sie die regierende AKP repräsentiert. Das dem säkularen Lager zuzurechnende Militär bildet eine weitere wichtige Komponente im Machtgefüge. Hinzu kommt noch der von der Regierung und Bevölkerungsmehrheit gewünschte EU-Beitritt des Landes. Sollte sich dieser konkreter abzeichnen, müsste das Militär notgedrungen Privilegien abgeben. Der Konflikt zwischen kemalistischer Elite und AKP hat sich in den letzten Monaten deutlich zugespitzt, nachdem der Generalstaatsanwalt einen Antrag auf Verbot der AKP sowie auf ein Berufsverbot führender Mitglieder der Regierungspartei, einschließlich von Ministerpräsident Erdogan, stellte. Die Verhaftung von ehemaligen Angehörigen des Militärs vor einigen Tagen wegen eines angeblichen Putsches ist als Ausdruck der Eskalation anzusehen. Handlungsfähigkeit wieder hergestellt, aber unter Vorbehalt Nun ist das oberste Gericht dem Antrag nicht gefolgt, sondern hat „nur“ Finanzstrafen gegen die AKP verhängt. Allerdings war die Entscheidung denkbar knapp, sodass dieses Urteil als Warnschuss zu interpretieren ist und sich eine ähnliche Situation bei gegebenem Anlass durchaus wiederholen kann. Positiv ist, dass jetzt die Handlungsfähigkeit der Regierung wiederhergestellt ist und weitere Reformvorhaben, wie die neue Verfassung, vorangetrieben werden können. 9 ALLIANZ DRESDNER ECONOMIC RESEARCH Working Paper / Nr. 113 / 18.08.2008 Auch auf anderen Gebieten sind Reformen nötig. Denn nach wie vor gibt es viele staatseigene Unternehmen mit hohen Verlusten, die das Budget belasten und auch einer effizienteren Allokation von Ressourcen im Weg stehen. Außerdem ist die Türkei, um das hohe Leistungsbilanzdefizit zu finanzieren, auf einen kräftigen Zufluss an ausländischen Direktinvestitionen angewiesen. Bislang stand das Gros des Mittelzuflusses im Zusammenhang mit Privatisierungen. Nach deren Abklingen kommen nun die Engagements ausländischer Firmen spärlicher. Reformen, z.B. am Arbeitsmarkt und in der Unternehmensbesteuerung, könnten hier den Weg zu einem wieder stärkeren Zufluss an Auslandskapital und damit einer weniger krisenanfälligen Zahlungsbilanz ebnen. Dies würde auch den Wettbewerb in der Türkei beleben. 4. IM SCHLIMMSTEN FALL: HARD LANDING Mehr Reformen zahlen sich natürlich nur mittel- und langfristig aus. Die insgesamt fragile politische Lage sowie die Nervosität der internationalen Finanzmärkte stellen aber auch für die kommenden Monate eine Herausforderung für die Türkei dar. Hierbei steht die Frage klar im Vordergrund, ob es zu Kapitalabzügen kommt und welche Wunden diese der Wirtschaft schlagen könnten. Politische Wechselbäder bisher gut verkraftet Die in den letzten Monaten gestiegene Risikoaversion von internationalen Banken und Investoren trifft erfahrungsgemäß besonders Länder mit einem hohen externen Finanzierungsbedarf wie die Türkei. Bisher ist der Spread türkischer Fremdwährungsanleihen aber kaum stärker als derjenige der Schwellenländer insgesamt gestiegen. Hinzu kommt, dass die Wirtschaft auch in den vergangenen Jahren politische Unwägbarkeiten, wie z.B. die deutlich abgekühlte „EU-Phantasie“ sowie das militärische Engagement im Nordirak gut verkraftet hat. Finanzielle Desaster sowie eine deutlichere Abwertung der Lira sind zumindest ausgeblieben. Der Wechselkurs zeigt zwar gegenüber dem Euro starke Schwankungen. Eine eindeutige und kräftige Abwertungstendenz ist aber nicht auszumachen; gegenüber dem US-Dollar legte die Lira sogar eher zu. In Verbindung mit dem hohen Inflationsgefälle zum Euroraum ergibt sich vielmehr eine substanzielle reale Aufwertung, die die internationale Wettbewerbsfähigkeit untergräbt und zunehmend zum Problem für die Leistungsbilanz geworden ist. Zur relativen Stabilität der Währung dürften auch die für eine eher niedrigere Volatilität bekannten Portfolioinvestitionen der arabischen Golfländer vor allem am türkischen Aktienmarkt beitragen, die aber kaum zu quantifizieren sind. Geringerer Kapitalzufluss – niedrigeres Wirtschaftswachstum Alles in allem sprechen diese Faktoren nicht für einen plötzlichen und massiven Abzug von Auslandskapital, wie es in der Finanzkrise von 2001 der Fall gewesen war. Mit rekordhohen Devisenreserven und dem weitgehend flexiblen Wechselkurs wäre das Land auch besser als in der Vergangenheit in der Lage, diesem zu begegnen. Zu einer Neuauflage dieser Ereignisse dürfte es daher nicht kommen. Wahrscheinlicher ist vielmehr, dass weniger zusätzliche Mittel von jenseits der Landesgrenze ihren Weg in die Türkei finden könnten, vor allem im Fall von politischen Eruptionen in Ankara. Allein dies würde aber ausreichen, die Leistungsbilanz unter Anpassungszwang zu setzen. Aufgrund der eher ungünstigen Konjunkturperspektiven in Westeuropa dürfte die Exporttätigkeit in den kommenden Monaten ohnehin an Fahrt verlieren. Der spärlichere Kapitalzufluss würde damit vor allem die Importe und das Wirtschaftswachstum treffen, das schon durch die restriktive Geldpolitik unter Druck geraten ist. Ein solcher Anpassungszyklus wäre für die Türkei natürlich alles andere als neu. In der länger zurück liegenden Vergangenheit gab es solche Phasen im Rahmen von Stabilisierungskrisen fast alle zehn Jahre, sogar mit weit höherer Intensität, als es heute zu erwarten wäre. 10 ALLIANZ DRESDNER ECONOMIC RESEARCH Working Paper / Nr. 113 / 18.08.2008 Abbildung 7: Risikoprämien und Wechselkurs 2,0 400 1,8 350 1,6 300 1,4 250 1,2 200 150 1,0 06 EMBI Plus Spreads 07 08 TRY pro USD Quelle: Ecowin. Aber ohne Stress ginge ein verminderter Kapitalzufluss auch in der näheren Zukunft nicht ab. Ein solcher Abschwung würde seinen Tribut in Form höherer Unternehmensinsolvenzen fordern. Hinzu käme eine stärkere Abwertung, die ebenfalls aufgrund der hohen offenen Devisenpositionen der türkischen Unternehmen, ihre negativen Spuren in den Bilanzen und auch jenen der türkischen Banken hinterlassen würde. Freilich wäre die Abwertung im Hinblick auf die dann wieder verbesserte internationale Wettbewerbsfähigkeit keineswegs nur als unvorteilhaft zu sehen. Aber so weit muss es ja nicht kommen. In unserem Basisszenario, dem wir die höchste Eintrittswahrscheinlichkeit zubilligen und das unsere Prognosen in untenstehender Tabelle widerspiegelt, gehen wir für 2008 und 2009 von moderat rückläufigem Wirtschaftswachstum aus, das man auch im Zusammenhang mit der Boomphase der letzten fünf Jahre sehen muss. Mittel- und längerfristig sehen wir die Wirtschaftsperspektiven der Türkei positiv, und zwar aus den folgenden Gründen: • Demographisch gesehen ist die Türkei die „jüngste“ europäische Volkswirtschaft. Der Anteil der Jugendlichen unter 15 Jahre liegt hier mit gut 28 % fast doppelt so hoch wie in den EU-Staaten. Dies lässt in Verbindung mit verbesserter Ausbildung künftig hohe Produktivitätsschübe erwarten. • Wir erwarten, dass Regierung und Zentralbank ihre stabilitätsorientierte Wirtschaftspolitik fortsetzen werden. Temporär langsamere Reformen sprechen nicht dagegen. Auch Brüssel wird zumindest auf absehbare Zeit für eine türkische EU-Mitgliedschaft offen bleiben und die Tür zur Gemeinschaft nicht schließen. Konsequenterweise wird man in Ankara versuchen, weiter den „Acquis Communautaire“ umzusetzen. Dies wird Außenhandel und Kapitalverkehr der Türkei mit der Gemeinschaft fördern. • Selbst wenn sich der Beitritt eines Tages als obsolet herausstellen sollte, muss dies für das Land wirtschaftlich kein allzu großer Nachteil sein. Denn der EURaum wird der Türkei im Rahmen einer „privilegierten Partnerschaft“ weitgehend 11 ALLIANZ DRESDNER ECONOMIC RESEARCH Working Paper / Nr. 113 / 18.08.2008 schrankenlos als Absatzmarkt erhalten bleiben. Auch würde die EU einiges an Kapitalhilfen sozusagen als „Kompensation“ für die verweigerte Mitgliedschaft leisten müssen. • Der Handel der Türkei mit den zentralasiatischen Staaten hat sich bereits belebt und wird vermutlich noch an Bedeutung zunehmen, zumal das Land eine Schlüsselposition im Transport von Rohstoffen aus der Region einnimmt. Stabilisiert sich der Irak weiter, so würde die Türkei einen wichtigen Außenhandelspartner (wieder)gewinnen. • Trotz der vielen Wirtschaftskrisen in der Vergangenheit und den damit verbundenen starken Konjunkturschwankungen gelang es der Türkei, ihre Wirtschaft zu modernisieren und sich vom Agrar- zum Industrieland zu wandeln. Immerhin lag das jahresdurchschnittliche reale Wirtschaftswachstum im Zeitraum 1980 bis 2007 mit 4,5% um einen halben Prozentpunkt über demjenigen der Emerging Markets insgesamt. TÜRKEI | Kennzahlen und Prognosen Binnenwirtschaft Veränderung des BIP in % (real) BIP (in Mrd. USD) Inflationsrate in % (Jahresdurchschnitt) Öffentlicher Budgetsaldo in % des BIP Außenwirtschaft Export von Gütern (in Mrd. USD) Import von Gütern Leistungsbilanzsaldo Leistungsbilanzsaldo in % des BIP Ausländische Netto-Direktinvestitionen Brutto-Auslandsverschuldung Kurzfristige Auslandsverschuldung Auslandsverschuldung in % der Exporte* Auslandsschuldendienst in % der Exporte* Devisenreserven zum Jahresende exkl. Gold Importdeckung in Monaten* Zinsen Schatzwechsel (3 Monate, Jahresdurchschnitt) Spread (EMBI+) (Basispunkte, Jahresende, 2008: 11.08.) Börse ISE-Börsenindex (Jahresende, 2008: 11.08.) Wechselkurs Jahresendkurs (TRY pro USD) Jahresdurchschnittskurs (TRY pro USD) * Güter, Dienstleistungen und Zinsen. 12 2005 2006 2007 2008s 2009p 8,4 482,5 8,2 -1,5 78,4 111,4 -22,1 -4,6 9,0 168,7 37,1 155 35 50,6 4,6 14,2 219 39.778 1,35 1,35 6,9 528,4 9,6 -0,7 93,6 134,6 -31,9 -6,0 19,0 205,5 40,4 167 31 61,1 4,7 15,5 207 39.117 1,41 1,44 4,5 658,8 8,8 -1,7 115,3 162,1 -37,4 -5,7 19,8 247,2 41,8 164 28 73,3 4,6 16,4 239 54.873 1,17 1,30 4,5 807,2 10,5 -1,8 142,0 200,0 -48,0 -5,9 12,0 280,0 50,0 153 25 74,0 3,8 16,6 300 41.733 1,20 1,22 4,3 902,5 7,5 -2,0 165,0 225,0 -51,0 -5,7 15,0 315,0 55,0 149 19 75,0 3,4 15,8 1,25 1,22 s= Schätzung, p= Prognose.