Gesamtwirtschaftlicher Analphabetismus oder Brüning lässt grüßen

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Rudolf Hickel
Gesamtwirtschaftlicher Analphabetismus oder Brüning lässt grüßen
Kommentar zum schwarz-roten Koalitionsvertrag
Es konnte nicht überraschen, dass das über 143 Seiten umfassende Programm der schwarz-roten
Koalition eine donnernde Kritik auslösen würde. Schließlich löst jede einzelne Ausgabenkürzung, jede Steuererhöhung, vor allem aber jeder Eingriff in bisherige Steuervorteile wütende
Proteste aus. Weil vor allem die unterschiedlichen Interessengruppen die großteils diffuse Kritik
bestimmen, verdient das für die kommenden vier Jahre vorgesehene Politikprogramm jenseits
der Interessenklüngel eine angemessene Bewertung. Am Anfang gilt es festzustellen: Die zentralen Eckwerte sind gegenüber dem Wahlprogramm der jetzt koalierenden Parteien extrem widersprüchlich. Da wird die von der SPD ursprünglich bekämpfte Erhöhung des Normalsatzes der
Mehrwertsteuer auf 19 % ab 2007, die sog. Merkel-Steuer, fixiert. Gleichzeitig kommt die von
der CDU/CSU als Neidsteuer diffamierte erhöhte Besteuerung der Reichen mit zusätzlich 3 % ab
einem Jahreseinkommen von 250 000 € für einen Alleinstehenden zum Einsatz. Mit diesen zwar
im Einzelnen umstrittenen Steuererhöhungen wird der Eindruck erweckt, durch den schwarzroten Kompromiss sei eine Verschärfung des neoliberalen Kurses erst einmal verhindert worden.
Dafür spricht der Verzicht auf die Entfesselung kapitalistischer Marktkräfte durch eine Verlagerung der Lohnbildung aus dem Tarifvertragssystem auf die betriebliche Ebene. Selbst die zwar
ärgerliche, weil diskriminierende Verlängerung der Probezeit bei Einstellungen von derzeit
sechs Monate auf ein Jahr ist meilenweit vom durch die CDU/CSU angedrohten, radikalen Abbau des Kündigungsschutzes entfernt.
Jedoch, der Eindruck, durch die Suche nach dem kleinsten Nenner durch Schwarz-Rot sei der
massive Marsch in die neoliberale Entfesselung der Marktkräfte und damit die Demontage sozialen Mindestschutzes aufgehoben worden, täuscht. Eine in die Tiefe gehende Analyse entpuppt
dieses Regierungsprogramm für die Wirtschaft, die Beschäftigung sowie die Umwelt als ein
hoch explosives Instrumentengemisch. Die wichtigsten Sprengsätze sind: Kürzung von
Staatsausgaben, falsche bzw. völlig unzureichend ausgerichtete Steuererhöhungen, die mittelfristige gewollte Senkung der Löhne sowie der Ausbau des Niedriglohnsektors durch Disziplinierung der Langzeitarbeitslosen. Der Einsatz dieser zentralen Instrumente ist absehbar zum Misserfolg verdammt. Denn die Binnenwirtschaft wird massiv belastet, die Arbeitslosigkeit erhöht und
der dringliche ökologische Umbau der Wirtschaft vernachlässigt. Vor allem aber wird am Ende
die öffentliche Neuverschuldung wieder steigen. Wenn dann an der Logik des Koalitionsprogramms festgehalten wird, dann müssen neue Spar- und Kostensenkungsrunden folgen. Was
jetzt recht kompromisslerisch daher kommt, führt bei Fortsetzung der Schrumpfpolitik mangels
Erfolglosigkeit zu einer neoliberalen Radikalkur.
Unter Berücksichtigung dieser Folgereaktionen ist mit der Kompromissbildung der Großen Koalition der größte gemeinsame Nenner gesamtwirtschaftlichen Unsinns Regierungsprogramm geworden. Anstatt sich auf die Stärkung eines ökologisch fundierten Wirtschaftswachstums und
hohe Beschäftigung zu konzentrieren, starrt Schwarz-Rot auf den Skandal öffentliche Schulden.
Dabei wird übersehen, dass diese hohen Schuldenzuwächse nur die Folge des eigentlichen Skandals sind: Massenarbeitslosigkeit durch wirtschaftliche Stagnation. Mit den angebotenen Instrumenten wird der Schuldenabbau scheitern, weil mit der eingesetzten Bremse für Wirtschafs-
wachstum ausreichende Einnahmen aus Steuern nicht zu erwarten sind und wegen ungebrochener Massenarbeitslosigkeit hohe Krisenkosten anfallen werden. Es wird zwar für das kommende
Jahr die Neuverschuldung mit einer Gesamtsumme von 41 Mrd. € geplant und damit um
23 Mrd. € über die öffentlichen Investitionen hinausgegangen. Im Folgejahr werden dann jedoch
die die Aufschwungkräfte belastenden Instrumente zum rigorosen Abbau der Neuverschuldung
um geschätzte 35 Mrd. € eingesetzt. Die Hoffnung, im kommenden Jahr einen Aufschwung hinzubekommen, um danach hart sanieren zu können, wird wegen der heute schon beschlossenen
Einschnitte und Belastungen ab 2007 nicht in Erfüllung gehen. Nach dem gewollten Schuldenanstieg durch die Überschreitung des Verfassungsziels nach Art. 115 GG („öffentliche Schulden
gleich öffentliche Investitionen“) wird mit der heute bekannten und ab 2007 einsetzenden Finanzpolitik eher nochmals die Nettokreditaufnahme ansteigen als zurückgehen.
Für dieses finanzpolitische Desaster ist maßgeblich die geplante Erhöhung des Normalsatzes bei
der Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte verantwortlich. Wegen der großteils gelingenden Überwälzung der Mehrwertsteuer auf die Preise des Endverbrauchs sinkt die reale Kaufkraft der Masseneinkommen. Auch nimmt die Konzentration im Einzelhandel zu, weil die kleinen Anbieter
die Preiserhöhung nicht überwälzen können und die Großanbieter mit Dumpingpreisen operieren. Im Handwerk droht durch das Mehr an Mehrwertsteuer ein wachsender Kostendruck und
am Ende die Zunahme der Schwarzarbeit. Was nützt einem Handwerker mit wenigen
Beschäftigten die Reduzierung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung, wenn der
Absatz Wegbrechen sollte? Schließlich steigt der Druck auf die Gewerkschaften, den
Inflationsanstieg bei künftigen Tarifabschlüssen auszugleichen. Da aber wegen der hohen
Arbeitslosigkeit die Gewerkschaften, selbst wenn sie wollten, dazu nicht in der Lage sind,
werden Reallohnverluste die Folge sein. Schließlich wird die Europäische Zentralbank wegen
des auch im Euroraum wirksamen Inflationsanstiegs aus Deutschland endgültig eine restriktive
Geldpolitik durchsetzen. Sicherlich, diese höhere Mehrwertsteuer setzt erst ab 2007 ein. Jedoch,
die sich im kommenden Jahr abzeichnende schwache Binnenkonjunktur wird die Lage nicht
grundsätzlich verändern. Es wird Monate vor dem Anstieg der Mehrwertsteuer zu vorgezogenen
Käufen kommen. Daraus aber einen Konjunkturaufschwung zu begründen, ist schon peinlich.
Verstärkt werden die Kaufkraftverluste auch durch weitere steuerpolitische Maßnahmen der
Großen Koalition. So wird die deutliche Verschlechterung der steuerlichen Pauschale für Fahrten
zwischen Arbeitsplatz und Wohnort die Budgets der Beschäftigten belasten. Gegenüber diesen
Einschnitten
erweist
sich
die
geplante
„Reichensteuer“
als
unglaubwürdige
Gerechtigkeitssymbolik. Insgesamt sind es nur 60 000 steuerpflichtige private Haushalte, die
durch den Aufschlag von 3 % auf den Spitzensteuersatz von 42 % ab einem Jahreseinkommen
von 500 000 € für Verheiratete belastet werden. Während die höhere Mehrwertsteuer zur sozial
ungerechten Verteilung der Gesamtbelastung von ca. 24 Mrd. € führt, tragen rechnerisch die
Reichen nur ca. 1,3 Mrd. € zur Finanzierungsbasis des Staates bei. Dabei führt der Begriff
Reichensteuer auch noch in die Irre. Denn die Vermögen der Reichen bleiben weiterhin
steuerfrei. Interessant ist, dass die Großkoalitionäre die Kapitalgesellschaften durch den
unveränderten Körperschaftsteuersatz von 25 % völlig aus der Konsolidierung öffentlicher
Haushalte
heraushalten.
Zwar ist bei
historischen Vergleichen immer größte Vorsicht geboten. Dennoch, die Politik des
Reichskanzlers Heinrich Brüning von 1932 lässt Rot-Schwarz grüßen. Mit massiven Ausgabenkürzungen im öffentlichen Dienst und bei den Sozialausgaben, Steuererhöhungen und Lohnkürzungen im Rahmen der Notstandsgesetze ist eine tiefe ökonomische Krise ausgelöst worden, die
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die Weimarer Republik endgültig in die Knie gezwungen hat. Nach wie vor stellt sich die Frage,
ob durch das damalige WTB-Alternativprogramm des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes mit kreditfinanzierten Arbeitsbeschaffungsprogrammen der auch durch die Wirtschaftskrise gestärkte Faschismus hätte verhindert werden können. Wer denkt, der Vergleich mit Brüning sei zu weit hergeholt, der sei an Japan erinnert. 1997 hatte sich die japanische Regierung
dem Ziel Abbau öffentlicher Schulden verschrieben. Öffentliche Ausgaben wurden gestrichen
und auch die allgemeine Umsatzsteuer von 3 auf 5 % erhöht. Wegen steigender Preise stürzte der
private Konsum ab. Eine lang anhaltende Deflation, die im Sommer 2000 noch durch eine restriktive Politik der Notenbank verschärft wurde, war die Folge. Bis heute sich Japan von dieser
Schrumpfpolitik noch nicht richtig erholt.
Gesamtwirtschaftlich verstärkt die Große Koalition die Tendenz zur Deflation. Massiver Preisdruck, der durch eine halsabschneiderische Konkurrenz verschärft wird, belasten die Gewinnentwicklung und damit die Investitionen der auf die Binnenwirtschaft bezogenen Unternehmen.
Mit dieser Koalitionsrezeptur werden die dadurch erzeugte Schwächung des Wirtschaftswachstums und der Abbau sozialversicherungspflichtiger Jobs vorprogrammiert. Jetzt schon ist absehbar, dass die krisengeschüttelte Gesamtwirtschaft die öffentliche Verschuldung nach oben treiben wird. Wird dann aber eisern an der Koalitionslogik festgehalten, ist der Marsch in einen radikalen Neoliberalismus die logische Folge.
Gegen diesen gesamtwirtschaftlichen und sozialen Analphabetismus der schwarz-roten Koalition
müssen alle Kräfte auf das Werben für eine Politik gesamtwirtschaftlicher Vernunft konzentriert
werden. Die Alternativprogramme sind gegenüber diesem sich in wachsendem Neoliberalismus
verheddernde Politikmuster wichtiger denn je. Die Elemente einer Politik für Arbeit, Umwelt
und soziale Gerechtigkeit sind: ein öffentliches Zukunftsinvestitionsprogramm, der gezielte Einsatz der öffentlichen Verschuldung, eine an der ökonomischen Leistungsfähigkeit ansetzende
Steuerfinanzierung vor allem unter Einbindung der Einkommens- und Vermögensstarken, eine
konsequente Politik der Arbeitszeitverkürzung sowie eine nicht auf Disziplinierung, sondern auf
Integration durch Qualifizierung ausgerichtete Arbeitsmarktpolitik.
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