L. Besymenski: Stalin und Hitler - H-Net

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Lew Besymenski. Stalin und Hitler: Das Pokerspiel der Diktatoren. Berlin: Aufbau Verlag, 2002.
488 S. (gebunden), ISBN 978-3-351-02539-7.
Reviewed by Manfred Wilke
Published on H-Soz-u-Kult (November, 2002)
L. Besymenski: Stalin und Hitler
Vorliegendes Buch ist ein russischer Beitrag zu einem
gemeinsamen deutsch-russischen Geschichtsbild über
die Beziehungsgeschichte beider Länder vor dem 22. Juni
1941, der aus russischer Sicht zu einem Krieg führte, in
dem es um Sein oder Nichtsein ging.
wjetischen Politik. Das wird besonders deutlich in seiner sorgfältigen Untersuchung des Nichtangriffsvertrages zwischen dem Reich und der Sowjetunion aus dem
Jahre 1939 und seiner Vorgeschichte. Hier zerstört er eine in Russland offenbar immer noch weit verbreitete Legende über den klugen Schachzug von Stalin, der Zeit geDem russischen Militärhistoriker, während des Krie- winnen wollte, um sich besser auf den antifaschistischen
ges Dolmetscher im Stab von Marshall Schukow und
Kampf gegen Hitler vorzubereiten. Schon die lange belangjähriger sowjetischer Publizist, geht es nicht um
kannten deutschen Akten zeigten ein anderes Bild von
ein vergleichendes Psychogramm der beiden Diktatoren. diesem Pakt, der den weiteren Weg Europas bestimmen
”
Sein Thema ist der deutsch-russische Krieg. Wie konn- sollte“. Es ging
Stalin durchaus auch um Zeitgewinn für
te er entstehen und wie lassen sich die folgenschweren die Sowjetunion, denn seit dem japanischen Angriff auf
Fehler erklären, die beide Diktatoren vor dem 22. Juni China 1937 und der Zerstörung der europäischen Nach1941 begingen. Hitler und seinen Generalen gelang der
kriegsordnung durch Hitler befand sich die Welt in einem
Überraschungsangriff, aber sie irrten sich fundamental in
neuen Krieg der imperialistischen Mächte in Asien und
der Widerstandskraft der sowjetischen Armee und den Europa.
Siegen dieses Feldzuges. Stalin dagegen schlug alle Warnungen der sowjetischen Spionage und seiner Militärs
Mit dem Pakt bekam Stalin die Chance, sich aktiv
vor einem drohenden deutschen Überfall in den Wind. an der von Hitler ins Werk gesetzten Neuordnung EuroEr wollte nicht vor 1942 in den europäischen Krieg ein- pas zu beteiligen. Den Auftakt zu dem Defacto-Bündnis
greifen und vor allem nicht glauben, dass Hitler so dumm zwischen Deutschland und der Sowjetunion bildete ein
sein würde, mit dem Angriff auf die Sowjetunion einen Wirtschaftsabkommen, das der Kriegsvorbereitung beiZweifronten-Krieg zu beginnen. Die Irrtümer ihrer Dik- der Mächte diente. Kurz vor Beginn des Krieges sichertatoren, denen Russen und Deutsche ausgeliefert waren, te sich das Reich kontinuierliche Rohstofflieferungen aus
haben beide Völker leidvoll bezahlen müssen.
der Sowjetunion; diese bekam im Gegenzug dringend benötigte Ausrüstungsgüter für Ausbau und ModernisieDas Material für Besymenskis Parallelgeschichte sind rung der eigenen Rüstungsindustrie. Dieses Wirtschaftsdie bekannten deutschen Dokumente und die bislang
abkommen war eine sowjetische Vorbedingung für den
weitgehend unbekannte Überlieferung aus Stalins ArPakt. Mit ihm knüpfte Moskau an die verdeckte Zusamchiv von 1923 bis 1941.
menarbeit mit der Reichswehr seit 1922 an, die mit dem
Unverkennbar verfolgt der Autor eine aufklärerische Namen Rapallo verbunden ist und auf die der Autor ausAbsicht gerade über Motive und Interessenlagen der so- führlich eingeht.
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So dokumentiert er eine Analyse von Jan Bersin,
dem Chef des Nachrichtendienstes der Roten Armee,
über die Ergebnisse dieser Kooperation für den Aufbau
der Rüstungsindustrie aus dem Jahre 1928. Besymenski:
Im praktischen Sinn erhielt die sowjetische Verteidi”
gungsindustrie und die gesamte Industrialisierung Anfang der 30er Jahre sehr viel an deutschen Know-How.“
Dieser Transfer wurde nach Hitlers Machtergreifung unterbrochen. Alle Versuche seitens der sowjetischen Führung, diese Wirtschaftsbeziehungen zu Deutschland trotz
politisch-ideologischer Feindschaft aufrechtzuerhalten,
scheiterten bis 1939.
können? “
dingt gefechtsbereit. 1937 verlangte Hitler in Berlin von
seinen Generalen, dass die Wehrmacht in vier Jahren
kriegsbereit zu sein hatte. Zeitgleich enthauptete“ Stalin
”
die Rote Armee. 1937/38 wurden über 3000 Komman”
deure der Flotte und 38679 Offiziere der Landstreitkräfte
zum Tode verurteilt.“ Zehntausende saßen in Gefängnissen und Lagern. Im Herbst 1938 soll Stalin seinen Volkskommissar für Verteidigung Woroschilow gefragt haben:
Klim, hast Du noch Leutnants, die Divisionen befehligen
”
Mit dieser halbvergessenen Episode in den
”
sowjetisch-deutschen Beziehungen“ beginnt diese Parallelgeschichte.
Die sowjetische Führung drängte die KPD, die Machtergreifung operativ vorzubereiten. Am 10. Oktober 1923
erklärte der Generalsekretär der russischen Kommunisten Stalin in der Roten Fahne“, dem Parteiorgan der
”
KPD, dass mit dem Sieg der deutschen Revolution sich
”
das Zentrum der Weltrevolution unweigerlich von Mos-
Nicht das Politbüro der KPdSU fällte damals die
Grundsatzentscheidungen über das Schicksal der Sowjetunion, es sind inoffizielle Dreier- und Fünfergruppen“,
”
die dies taten streng nach dem Willen des Generalsekre”
tärs“. Es ist kein überraschendes Ergebnis, aber dem Autor geht es nicht um Enthüllungen. Sein Anliegen reicht
tiefer. Ihn treibt die Frage um, was bedeutet die sowjetische Periode und namentlich Stalins Regime in der Geschichte Russlands? Wo liegen die Grenzlinien zwischen
den Verbrechen des Despoten sowie der seiner willigen
Knechte und dem Dienst an ihrem Land, den die GeneraDer Molotow-Ribbentrop-Vertrag grenzte die Inter- tion der Kriegsteilnehmer leistete, der nur die Erinnerung
essensphären zwischen beiden Mächten in Ostmitteleu- blieb an den Schmerz des Verlustes und die Freude des
”
ropa ab. Beide Seiten einigten sich auf die vierte Teilung Sieges über Hitler“.
Polens, Stalin bekam freie Hand im Baltikum und gegenEs ist gewiss nicht zufällig, dass der 82jährige Besyüber Finnland. Der sowjetisch-finnische Krieg 1939/40
menski
den Widerspruch zwischen russischer Staatsraioffenbarte den katastrophalen Zustand, in dem sich die
son
und
bolschewistischer Vision von der Weltrevolutisowjetische Armee befand. 1940 verweigerte Hitler Moon zum Ausgangspunkt seiner Parallelgeschichte wählt.
lotow die Zustimmung, nach dem Baltikum auch FinnAls die Bolschewisten 1917 in Rußland die Macht ergrifland endgültig in die sowjetische Interessensphäre einzugliedern. Die von Besymenski dokumentierte Verhand- fen, taten sie es auch im Vertrauen auf die kommenlungsdirektive Stalins an Molotow von 1940 ist nach An- de deutsche Revolution. Diese Spekulation erwies sich
sicht des Autors die erste Festlegung sowjetischer In- schnell als Illusion. 1919 wurde in Moskau die Kommuteressensphären in Asien und Europa. Molotow sollte nistische Internationale als Generalstab der Weltrevolution gegründet. Als nach dem russischen Bürgerkrieg
in Berlin über den Beitritt der Sowjetunion zum DreiSowjetrussland von den kapitalistischen Staaten zunehMächte-Pakt verhandeln. Stalin bot sogar eine gemeinsame Friedensinitiative gegenüber England an und woll- mend anerkannt wurde, stellte sich die Frage, ob das
te sich für die sofortige Rückgabe der im ersten Welt- Volkskommissariat für auswärtige Angelegenheiten oder
krieg verlorenen deutschen Kolonien einsetzen. Ein Mo- die Komintern die Zentrale der Außenpolitik des Sowjetnat nach diesem Besuch gab Hitler den Befehl zum An- staates sein sollte.
griff. Das Schicksal der sowjetischen Diplomaten unter
Lenins Außenminister Tschitscherin forderte 1922
Stalin in Deutschland liest sich wie ein Zeugenvernich- die strikte Trennung der Aktivitäten der Komintern von
tungsprogramm. In der Heimat wartete auf viele Lager der Außenpolitik Sowjetrusslands. Dessen Sicherung als
oder Tod.
Basis der proletarischen Weltrevolution besaß oberste
Welche Rolle spielte der Faktor Zeitgewinn in Stalins Priorität. Ein erster Erfolg dieser Außenpolitik war 1922
Politik gegenüber Hitler? Es gab hierfür eine Reihe ob- der Vertrag von Rapollo mit Deutschland und die Wiejektiver Gründe. Nach dem Münchener Abkommen von deraufnahme der Beziehungen zu England. 1923 kam es
zur ersten Existenzkrise der Weimarer Republik, und die
1938 war die Sowjetunion in Europa aus dem Spiel der
Stunde der Komintern schien gekommen, um in DeutschMächte ausgeschlossen, und in Asien drohte ein Krieg
mit Japan. Vor allem war die sowjetische Armee nur be- land eine neue Oktoberrevolution zu organisieren.
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kau nach Berlin verlagern“ würde.
Oberleiter der KPD, 1950 wird er der erste Minister für
Staatssicherheit der DDR.
Die Dokumente, die unter dem Titel KPD – deutsche
”
Revolution“ in Moskau abgelegt sind, lesen sich heute
wie ein utopischer Roman, in dem immer wieder be”
kannte Namen auftauchen – Sinowjew, Trotzki, Molotow, Thälmann, Zetkin. Und Stalin¡‘ Er war es auch, der
vorschlug, die Führung der KPD nach Moskau zu beordern, um dort den Aufstand zu beraten. So geschah es. Im
Oktober 1923 legte die Militärkommission des ZK einen
Mobilisierungsplan vor: Er sah vor, bis zu 2,5 Millionen
Rotarmisten einzusetzen, die dem deutschen Proletariat,
”
falls erforderlich, militärisch zu Hilfe eilen sollten.“ Der
Aufstand sollte am 9. November erfolgen. Noch vor diesem Tag X teilte Stalin dem Vertreter der sowjetischen
Führung in Berlin, Pjatakow, seine Skepsis über die Erfolgsaussichten des Unternehmens mit. Gleichzeitig äußerte er sich erstmals zur Politik gegenüber Hitler, der
am 9. November in München putschte. Man solle die Fa”
’
schisten’ (d.h. Hitler) agieren lassen. Wenn sie zunächst
die Oberhand gewönnen, könnten die Kommunisten sie
dann um so besser schlagen.“
Neben dem Pakt von 1939 sind die Gründe für den
Erfolg des deutschen Überfalls am 22. Juni 1941 ein weiterer Schwerpunkt der Analyse, hier stützt sich der Autor vor allem auf die Zeugnisse sowjetischer Militärs.
Was er nicht erwähnt, ist die Debatte um dieses Ereignis, die in der Sowjetunion in den 60er Jahren geführt
wurde und die mit den Namen Nekritsch und Generalmajor Grigorenko verbunden ist. Das Buch von Nekritsch
über den 22. Juni ( Genickschuß“, Wien 1969) diskutier”
te die persönliche Schuld von Stalin an den sowjetischen
Niederlagen 1941 und widersprach damit den Tendenzen
zur Stalinschen Restauration“ (Lew Kopelew) zu Beginn
”
der Breshnew-Ära. Damals verloren Nekritsch und Grigorenko die Auseinandersetzung mit den Ideologen der
Partei. Verfolgung und Exil waren der Preis für ihren Mut
zur historischen Wahrheit.
Wenn Besymenski beklagt, daß die russische Öffent”
lichkeit heute nur noch von Stalin Kenntnis nimmt, wenn
im russischen Fernsehen betagte Renterinnen mit dem
Die weitere Rolle der KPD in der sowjetischen Porträt des Generalsekretärs demonstrieren“, so hat das
Deutschlandpolitik der 20er und 30er Jahre lässt der Au- sicher viele Gründe. Einer davon ist, dass auch im heutitor außer Betracht. Dies ist aus seiner Perspektive ver- gen Rußland offenbar diejenigen immer noch beschwieständlich, aber für die deutsche Diskussion dieser Bezie- gen werden, die mit ihrem Kampf um die Wahrheit über
hungsgeschichte beider Länder misslich. Ein Beispiel soll Stalins Verbrechen das Ende des Bolschewismus in Russdies illustrieren. 1923 ist Zaisser einer der militärischen land mit herbeiführten.
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Citation: Manfred Wilke. Review of Besymenski, Lew, Stalin und Hitler: Das Pokerspiel der Diktatoren. H-Soz-u-Kult,
H-Net Reviews. November, 2002.
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