33 Mein alter Freund Desmopressin Mein Interesse an einem beschleunigten Lernen nahm seinen Anfang auf der biochemischen Ebene. Im Jahr 1996 begann ich im Rahmen einer geplanten Hausarbeit an der Princeton University mit einer Vielzahl von smarten Drogen (Nootropika) zu experimentieren, die ich gemäß den FDA-Einfuhrbestimmungen in die USA mitgebracht hatte.5 Nach vier Wochen hatte ich mir ein Verfahren für das Erlernen von chinesischen Schriftzeichen erarbeitet: 15 Minuten vor Kursbeginn verpasste ich jedem Nasenloch zwei Sprühstöße Desmopressin. Desmopressin ist eine synthetisch hergestellte Variante von Vasopressin, einem natürlich vorkommenden Antidiuretikum und Peptidhormon. Als Nasenspray wird es häufig Kindern verschrieben, die auch jenseits eines bestimmten Alters noch ins Bett machen. Ich war mehr an seinen nicht aufgeführten Wirkungen auf das Kurzzeitgedächtnis interessiert. In der Praxis sah das dann so aus: 1. Zwei Stöße Desmopressin in jedes Nasenloch. 2. Fast so schnell, wie ich umblättern konnte, die Schriftzeichen in »Chinesisch für Anfänger – Textbuch« abscannen. 5 Nichts, was ich weiterempfehlen kann. Ein Fehler – und Sie betreiben illegalen Drogenschmuggel, was den FDA-lern gar nicht gefällt. 3. Im Quiz fünf bis zehn Minuten später 100 Prozent der Punkte erreichen.6 Die Methode funktionierte unglaublich zuverlässig. Aber nachdem ich einige Monate lang Dihydroergotoxin, Oxiracetam und Kombinationen von Dutzenden weiterer Stoffe getestet hatte, setzte das Kopfweh ein, und mir kam ein Gedanke: womöglich war das Schnupfen von antidiuretischen Hormonen nicht die beste Langzeitstrategie. Mein Badezimmer im Studentenwohnheim begann im Übrigen einem Methamphetamin-Labor zu gleichen, was die Mädchen entschieden abtörnte. Ich verlagerte meinen Eifer also von den Molekülen auf den Prozess. War es möglich, ein Verfahren oder einen Plan zu entwickeln, der mir erlauben würde, beliebige Dinge rascher zu lernen? Beliebige Lernstoffe, beliebige Sportarten, überhaupt alles? Das war jedenfalls meine Vermutung. Ein erstes Puzzlestück hatte ich bereits vier Jahre früher, im Jahr 1992, erspäht. Material schlägt Methode Im Jahr 1992 hatte ich, 15-jährig, gerade meinen ersten längeren Auslandsaufenthalt in Japan angetreten. Hier sollte ich ein Jahr lang als Austauschschüler die Seikei-Gakuen-Oberschule besuchen. An meinem ersten Unterrichtstag meldete ich mich in der vorgeschriebenen marineblauen Schuluniform, in der ich aussah wie ein West-Point-Kadett. Hippelig erwartete ich meinen Begleiter, der mich zu meiner »Heimatklasse« bringen würde, jener Gruppe von rund 40 Schülern, mit der ich die meiste Zeit zusammen verbringen sollte. Ein Lehrer sah mich in der Ecke sitzen und kam auf mich zu: »Ah, Timu-kun!«, sagte er mit einer Handbewegung. »Kun« ist wie »san«, wird aber gegenüber männlichen Niedrigergestellten gebraucht. »Kore wa … (Das ist …)«, sagte er und zeigte auf ein mysteriöses Blatt Papier. Ich brachte kaum einen 6 Wenn Sie am gegenteiligen Effekt interessiert sind, versuchen Sie es mit Komasaufen. Alkohol in größeren Mengen unterbindet die Freisetzung von Vasopressin, was das Pinkelnmüssen im Zehnminutenabstand erklärt, gefolgt von einer Zeitreise (so viel wie Blackout oder Nichts-mehr-Erinnern). Die Macht der Ausnahme Hormone inhalieren: Was soll da ­schiefgehen? 34 Gruß fehlerfrei hervor, und so rief er einen Englischlehrer herbei, damit der mir das Dokument erläuterte. Wie sich herausstellte, beschrieb es in Schriftzeichen, von denen ich kein einziges lesen konnte, meinen genauen Tagesablauf. Der Englischlehrer übersetzte: »Physik, Mathematik, Weltgeschichte, kōbun – ah, traditionelles Japanisch« und immer so weiter. Mich packte die Panik. Vor meiner Ankunft hatte ich lediglich einige Monate rudimentäres Japanisch gelernt, und meine Lehrer in den USA hatten mir zu meiner Beruhigung versichert: »Keine Sorge, du wirst noch genug japanischen Unterricht haben!« Nun, unwiederbringlich in Tokio, wurde mir bewusst, dass ich in einem größeren »Lost-inTranslation«-Schlamassel steckte. »Japanischer Unterricht« war nicht gleichbedeutend mit JapanischUnterricht. Das ganze folgende Jahr sollte ich normale japanische Oberschulklassen gemeinsam mit japanischen Schülern besuchen, die sich auf ihre Universitätseingangsprüfungen vorbereiteten! Das war der Augenblick, in dem ich mir in die Hosen machte. Ich geriet denn auch mächtig ins Straucheln, wie ich auch schon in der Unterstufe bei Spanisch versagt hatte. Es schien ganz offensichtlich so zu sein, dass ich für Sprachen unbegabt war. Nach sechs Monaten in Tokio war ich drauf und dran, die Koffer zu packen. Doch dann lächelte mich plötzlich das Glück an. Ich stolperte über ein Poster (siehe Nebenseite), als ich gerade im Kinokuniya-Buchladen in Shinjuku nach dem »Buch der fünf Ringe« suchte. Dieses Poster, das noch heute, 20 Jahre später, meine Wand schmückt, enthält alle 1945 »jōyō kanji« ( 常用漢字), jene Schriftzeichen, deren Beherrschung das japanische Bildungsministerium als das Kriterium für das Vorhandensein elementarer Lese- und Schreibfähigkeiten festgelegt hat. Die meisten Zeitungen und Zeitschriften beschränken sich auf die »jōyō kanji«. Für alle praktischen Zwecke bedeutet dies, dass Sie, wenn Sie die Zeichen auf dem Poster kennen, Japanisch können – mitsamt den wichtigsten Verben. Japanisch auf einer Seite! Heiliger Strohsack! Sprache ist ausufernd ohne Ende (ähnlich wie die Kochkunst) und deshalb im ungefilterten Zustand total erschlagend. Dieses Poster war eine Offenbarung. Es brachte die wichtigste Lektion des Sprachenlernens auf den Punkt: Was einer lernt, ist wichtiger, als wie er es lernt. Schüler sind vom Lernmaterial abhängig, ganz wie der Kochanfänger auf Rezepte angewiesen ist. Wenn Sie das falsche Material, das falsche Textbuch, die falsche Gruppe von Wörtern wählen, spielt es keine Rolle, wie viel (oder wie gut) Sie lernen. Es spielt keine Rolle, wie gut Ihr Lehrer ist. Entscheidend ist, das Material mit der größten Häufigkeitsrelevanz zu finden. Material schlägt Methode. Die Judo-Grammatik: Überall gültig Wenn Sie sich nicht für Politik interessieren, werden Sie dann Spaß an einem Sprachkurs haben, der mit politischen Artikeln arbeitet? Natürlich nicht. Sie werden sich langweilen und den Kurs abbrechen. Die Autoren der meisten japanischen Sprachbücher scheinen die Lektüre des »Asahi Shimbun« (Asahi-Zeitung) für den alleinigen Lackmustest der Beherrschung des Japanischen zu halten. Für einen Oberschüler und selbst für mich heute noch ist der »Asahi Shimbun« ungefähr so spannend, wie Farbe beim Trocknen zuzuschauen. Glücklicherweise lernte ich, dass es auf den Inhalt herzlich wenig ankommt, solange die Häufigkeitsrelevanz stimmt. Mein Allheilmittel, stellte sich heraus, waren Judo-Lehrbücher. Auch wenn das Vokabular (alias die Zutaten) sehr speziell war, stellte ich die grammatikalischen Fähigkeiten von Japanisch-Schülern des vierten und fünften Jahres nach zwei Monaten Judo-Studium in den Schatten. Warum? Weil die Grammatik (alias die Zubereitungsweise) universell war. Die Prinzipien gelten überall. 36 »Vital Judo«: Mein Grammatiklehrer Die Entstehung einer Methode: 1999 – 2010 Ich kehrte aus Tokyo in die USA zurück und bestand den japanischen SAT-II-Test mit höherer Punktzahl als ein Freund von mir, der Muttersprachler war. Bis zu meinem High-School-Abschluss im Jahr 1995 hatte ich zwei einfache Linsen entwickelt, durch die ich Sprachlernmethoden und Lernmethoden ganz generell betrachtete: Ist die Methode effektiv? Konzentriert sie sich auf die Lerninhalte mit der größten Häufigkeitsrelevanz? Ist die Methode nachhaltig? Habe ich Zeitplan und Pensum so gewählt, dass ich durchhalte, bis ich das Stadium der Geläufigkeit erreicht habe? Werde ich die Pille, die ich mir verschrieben habe, auch wirklich schlucken? Ein Puzzleteil fehlte aber leider noch: Effizienz. Wenn Effektivität bedeutet, das Richtige zu tun, bedeutet Effizienz, es auf die richtige Weise zu tun. Von Martin Luther King Jr. stammt der Ausspruch: »Zu lange aufgeschobene Gerechtigkeit ist verweigerte Gerechtigkeit.« Beim Lernen ist es ähnlich: Das Tempo entscheidet über den Wert. Mag das Material noch so gut sein – wenn Sie bis zur Geläufigkeit 20 Jahre brauchen, sieht es mit der Investitionsrendite ziemlich schlecht aus. War auch 1996 das Jahr, in dem mir Vasopressin und seine Verwandten auf der biochemischen Ebene unmittelbare Erfolgserlebnisse bescherten, so mussten noch drei Jahre verstreichen, bis ich mich der schwersten Übung, dem glitschigsten Puzzleteil zuwandte: der Methode. Der Auslöser kam dann eines Abends in der Wither­spoon Street im Zentrum von Princeton. Ich arbeitete damals verbissen an meiner Abschlussarbeit, einem hübschen Büchlein mit dem Titel »Das Erlernen japanischer Kanji-Zeichen – übliche Praxis und ergänzende Mnemotechnik«. Ich hatte eine Telefonfreundschaft mit Dr. Bernie Feria entwickelt, der damals in der nur wenige Kilometer vom Campus entfernt gelegenen Weltzentrale von »Berlitz International« für den Bereich »Lehrplan und Entwicklung« zuständig war. Er lud mich zu einem förmlichen Abendessen ein, zu dem ich in meiner feinsten Aufmachung erschien: Cordhose, schlecht sitzendes Sakko und gefaktes Polohemd. Es war ein fantastisches Mahl, und Bernie war ein wunderbarer Gastgeber. Er kannte seine Sprachen, und der Rotwein floss nur so. Wir tauschten Kriegs­ geschichten aus den linguistischen Schützengräben: gelernte Lektionen, komödiantische Fehler und kulturelle Patzer. Bernie berichtete von seinen fran- 37 japanisch chinesisch (mandarin) ein Jahr Sechs Monate german Drei Monate spanish Acht Wochen Mit 15 war es mir wohlgemerkt nicht gelungen, so viel Spanisch zu lernen, dass ich eine einfache Konversation führen konnte. Jetzt lobten mich die Leute, wie gut ich in Sprachen sei, und gratulierten mir zu meiner Begabung. Davon wollte ich überhaupt nichts wissen. Ich besaß einfach nur die bessere Bedienungsanleitung. Im Jahr 2005 bereiste ich als digitaler Nomade die Welt, eine Erfahrung, die ich später in »Die 4-Stunden-Woche« beschrieb. Ich stürzte mich auf Sprachen, um der Einsamkeit zu entfliehen: IrischGälisch, Norwegisch, Deutsch, Spanisch (mitsamt dem argentinischen Lunfardo-Dialekt), alles, womit ich in Berührung kam. Die Verfeinerung dauerte bis 2010 und bis in die Gegenwart an. In kürzeren Einbis Zweiwochenperioden habe ich das Verfahren an Türkisch, Griechisch, Xhosa und anderen Sprachen überprüft. Das ZARR-Verfahren, das ich verwendete, bewährte sich beim Erwerb deklarativer Wissensinhalte wie »Fakten und Zahlen« (Auswendiglernen von Seriennummern, Sich-merken, wo man sein Auto geparkt hat). Es funktionierte auch unglaublich gut bei prozeduralen Wissensinhalten, bei denen es um Tätigkeiten geht (zum Beispiel Judo, Fahrradfahren, Autofahren). Selbst für Hybridvarianten (wie beispielsweise das Schreiben chinesischer Zeichen) eignete es sich. Das alles sage ich nicht, um damit anzugeben. Ich will Ihnen vielmehr verdeutlichen, dass es ein reproduzierbares Verfahren gibt, und dass Hunderte von Lesern meine Erfahrungen für sich wiederholt haben. In fast jeder Disziplin ist es möglich, binnen sechs bis zwölf Monaten oder sogar binnen sechs bis zwölf Wochen Weltklasseniveau zu erreichen und leistungstechnisch unter die obersten fünf Prozent der Welt aufzusteigen. Es gibt ein Rezept, das eigentliche Rezept in diesem Buch, und das ist ZARR. Wenn Sie umblättern, werden Sie die Formel sehen. Die Macht der Ausnahme zösischen Abenteuern, und ich erzählte ihm, wie ich einmal meine japanische Gastmutter bat, mich anderntags um acht Uhr früh zu »vergewaltigen«. Ah, nur einen Vokal daneben! Aber okasu (vergewaltigen) war nicht dasselbe wie okosu (wecken). So irritiert haben Sie noch keine japanische Frau gesehen. Er grölte. Als der Nachtisch kam, hielt Bernie inne und sagte: »Echt schade, dass du mit dem Studium nicht früher fertig bist. Wir starten da in Kürze ein Projekt, für das du perfekt wärest.« Das »Projekt« bestand darin, den Lehrplan des Anfängerkurses Japanisch von Berlitz zu überarbeiten, was gleichzeitig die Gelegenheit bot, auch den Englisch-Lehrplan zu überprüfen, der damals die Grundlage für 70 Prozent der jährlich rund fünf Millionen Berlitz-Kurse an 320 Sprachzentren rund um den Globus bildete.* Stellen Sie sich vor, Sie betreten den Gitarrenladen um die Ecke, gehen auf den Auszubildenden hinter der Theke zu und sagen: »Hallo Junge, möchtest du nicht vielleicht das London Philharmonic Orchestra durchstimmen? Es gibt nächste Woche im Central Park ein Konzert, das live in 50 Länder übertragen wird. Bist du dabei?« Ich fühlte mich wie dieses Kind. Ich verließ Princeton in der Mitte meines letzten Jahres nur wenige Monate vor dem Abschluss, um dieser Sprachenliebe zu frönen. Ich arbeitete für Berlitz, reiste anschließend – wild darauf, neue Ideen sofort auszuprobieren – nach Taiwan, wo sich mir das »ZARR«-Puzzle (siehe nächste Seite) zusammenzufügen begann. Dann tat ich etwas Seltsames. Ich wandte dieselbe ZARR-Methodik auf das Erlernen des Kickboxens an, und in weniger als zwei Monaten gewann ich die chinesische Meisterschaft im Kickboxen in der 75-Kilo­gramm-Klasse. Vorblende in das Jahr 2005. Ich habe sechs Jahre lang unterschiedliche Herangehensweisen an natürliche Sprachen getestet. Hier sehen Sie, wie viel Zeit ich jeweils benötigte, um die Sprachen so weit zu lernen, dass ich einen Standardtest bestand (mit Ausnahme des Chinesischen):