Deutsches Ärzteblatt 1992: A-972

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Anerkennung unbestreitbarer Erfolge der Medizin einzutreten, wenn dies manchmal da und dort in Vergessenheit zu geraten droht.
Es darf nicht sein, daß
Ärzte, insbesondere Geburtshelfer, sich zum Anwalt gefährlicher Fehlentwicklungen, regressiver Tendenzen
„zurück zur Natur" machen,
auch wenn, vom Laien aus gesehen, der eine oder andere
Aspekt daran plausibel erscheinen mag ...
Dr. med. Michael Armann, Riekertstraße 12,
W-7400 Tübingen 1
Vielzahl
gedanklicher Irrtümer
Als Hebamme war ich
sehr überrascht, eine derartig
positive Reaktion zum Zuwachs der Hausgeburtenrate
im Deutschen Arzteblatt zu
lesen. Die Verfasser dieses
Artikels begehen jedoch eine
Vielzahl gedanklicher Irrtümer: Den Hinweis, daß die
Krankenkassen die zunehmenden Kosten der Neonatalmedizin nicht mehr mittragen würden, im gleichen
Atemzug mit der Behauptung
zu nennen, daß die Geburt
ein zunächst natürlicher Vorgang sei, der ohne medizinische Intervention stattfinden
kann, unterstützt noch zusätzlich die Position der
Krankenkassen.
Eine solche Haltung ist jedoch insofern bedenklich, als
daß eine Vernachlässigung
der Neon atalmedizin sehr
viel kostenintensivere Spätfolgen zu produzieren vermag.
Die Geburt schlicht als einen natürlichen Vorgang zu
bezeichnen, erscheint grotesk
angesichts der Tatsache, daß
sie auch Zeitpunkt höchster
Gefahr für Mutter und Kind
darstellt. Wer im täglichen
Umgang mit diesem Geschehen befaßt ist, weiß um die
„natürlichen" Gefahren, die
unvorhersehbar und sehr
plötzlich eintreten können,
und um die „natürlichen"
Schäden, die daraus resultieren können. In vielen Berei-
chen hat sich die moderne
Gesellschaft von der grausamen Natur zum Glück losgesagt.
Es erscheint paradox, intensivmedizinisch zu therapieren, aber lediglich „natürlich" vorsorgen zu wollen.
Jegliches Unterlassen
möglicher Sicherheitsmaßnahmen unter der Geburt
entzieht dem Kind das unveräußerliche Recht auf Gesundheit dafür, daß sogenannte bewußte Eltern ein
romantisches Geburtserlebnis als Form ihrer Selbstverwirklichung zelebrieren können, oder etwa, daß größenwahnsinnig gewordene Gynäkologen und Hebammen ihre
berufliche Entfaltung auf Kosten anderer ausleben.
Der potentielle geburtshilfliche Notfall ist optimal
nur in einem Krankenhaus
der Maximalversorgung zu
beherrschen (Anwesenheit
von Gynäkologen, Anästhesisten, Hebammen und gegebenenfalls Pädiatern).
Daß diese Grundvoraussetzung nicht einmal an allen
deutschen Krankenhäusern
gegeben ist, ist ein unhaltbarer Zustand und sollte angesichts der wiederaufflammenden Diskussion um den § 218
unsere soziale und zivilisierte
Gesellschaft nachdenklich
stimmen.
Eine weitere Zunahme
von Hausgeburten würde
auch eine Zunahme unkalkulierbarer Pathologie während
der Geburt bedeuten, die bisher ja nur „zu Lasten" der
großen Kliniken gegangen ist.
Wir können auf das Abwandern der Patienten nur in
der Art reagieren, daß wir die
positiven Aspekte der Hausgeburtshilfe in den Klinikalltag einbringen und so den
Frauen auch dort die Möglichkeit der Entspannung,
Angstfreiheit und der individuellen Entfaltung geben.
Nur so können wir unserer
höchsten Pflicht, nämlich die
Gesundheit von Mutter und
Kind sicherzustellen, gerecht
werden.
Frauke Wagener, Michelbacher Straße 2, W-3550
Marburg/Lahn
A1 -972 (8) Dt. Ärztebl. 89, Heft 12, 20. März 1992
AMBULANZEN
Zu dem Beitrag „Streit um
Hamburgs Überweisungsambulanzen — Keine Ermächtigung für ärztlich geleitete Einrichtungen" in
Heft 4/1992:
Ein Eklat
,
Die Entscheidung der
Kassenärztlichen Vereinigung in Hamburg, abrupt die
Klinikambulanzen nicht mehr
zu ermächtigen, ist ein Eklat,
der sicher zu einer spürbaren
Verschlechterung der ambulanten Patientenversorgung
führen wird, und dies dürfte
nicht im Auftrag der KV liegen. Die zwischenzeitige Vertagung der Entscheidung
mindert zwar die Folgen, ändert sie aber nicht grundsätzlich. Die Problematik sollte
auch aus dem Blickwinkel der
Kostenexplosion betrachtet
werden.
Die Verknüpfung von stationärer und ambulanter ärztlicher Tätigkeit ist als besonders glückliche Lösung anzusehen, die ausgebaut und
nicht abgeschafft werden sollte. Die jahrzehntelangen Erfahrungen in Ostdeutschland,
wo diese Verknüpfung ohne
organisatorische Schwierig-
Diskussion überfällig
„Nach drei Dezennien Tätigkeit in eigener Praxis sollen
hier einige Aspekte angesprochen werden: Die meisten
Überweisungen in eine Krankenhausambulanz sind überflüssig, weil die entsprechende ärztliche Versorgung
durch die Kassenärzte ..gesichert ist. Die meisten Überweisungen landen bei Azubis
der jeweiligen Klinik; selten
wird ein Oberarzt zugezogen
oder gar ein hochqualifizierter Chefarzt gefragt.
Mit Bestimmtheit werden
vom Praktiker oder auch Internisten Patienten an die
anonymen Adressen der Kliniken verwiesen aus der
Furcht heraus, bei einer
Überweisung an den niedergelassenen Facharzt diese Patienten zu verlieren: Hier
greift zweifelsfrei die durch
keiten erfolgen konnte, sprechen dafür. Limitiert wurde
die ambulante Ausweitung
der stationären Tätigkeit nur
dadurch, daß dem Kliniker
gegen seinen Willen mehr
und mehr Hausarztaufgaben
zugeschoben wurden. Wenn
es jedoch genügend niedergelassene Kollegen gibt, und davon muß heute im ganzen
Deutschland ausgegangen
werden, so droht diese Gefahr nicht, und der überwiegend klinisch tätige Arzt kann
sich ganz auf seine speziellen
ambulanten Aufgaben konzentrieren .
Die Tätigkeit der Klinikärzte in speziellen Ambulanzen hat eine Beratungsfunktion der ausschließlich ambulant tätigen Ärzte, die nach
unserer Erfahrung dankbar
angenommen wird, zumal
keine Konkurrenz auftritt.
Die ambulante Versorgung
als grundsätzliche Aufgabe
der niedergelassenen Ärzte
wird dadurch nicht angetastet, nur werden bestimmte
Möglichkeiten der klinischen
Versorgung in die Ambulanz
herübergebracht.
Dr. med. Eckart Wunderlich, Friedrichstraße 39,
0-8010 Dresden
Arztschwemme entstandene
Existenzangst vieler sogenannter Kollegen, die eine
zum Teil windige fachübergreifende Diagnostik und Behandlung ausüben.
Anzuschuldigen sind hierbei auch die Kliniken selbst,
welche durch Anforderung
eines Überweisungsscheines
und Wiederbestellung der Patienten die Scheinzahl hochtreiben, auch wenn es sich um
bereits entlassene Patienten
handelt. Recht böse Reaktionen beweisen dies, wenn der
unwillige Facharzt auf solchen Anforderungen den
Vermerk macht: „Auf
Wunsch der Klinik".
Ebenfalls anzuschuldigen
sind die Patienten selbst, die
in einer Apparategläubigkeit
und in der Hoffnung, im
Krankenhaus die modernsten
Aspekte zu kosten, eine
Überweisung zur Klinikam-
bulanz fordern, ja ganz im
Gegensatz zum sonstigen Benehmen halbtägige Wartezeiten friedlich akzeptieren.
Mit Gewißheit aber
kommt die Schrotschußdiagnostik der jungen Assistenten . . . wesentlich teurer, als
sich jeder KV-Abhängige jemals getrauen würde. Zum
Beispiel großzügige Röntgenuntersuchungen mit bis zu 20
Aufnahmen, Medikamente
außerhalb des Festsatzes und
Behandlungsempfehlungen
außerhalb jedes wirtschaftlichen Bereiches .. .
Dr. med. Ottmar Bengert,
Mittelweg 15, W-2000 Hamburg 13
PSYCHOTHERAPIE
Zu dem Leserbrief „Kurios"
von Prof. Suchenwirth in Heft
7/1992:
Ergänzung
Der Zuschrift stimme ich
zu, möchte jedoch eine Ergänzung anbringen: Wie so
häufig, wird bei der Aufzählung wichtiger Vertreter der
Psychotherapie/Psychosomatik der eigentliche „Vater
der Psychosomatik", Dr.
med. Georg Groddeck
(1866-1934), nicht erwähnt.
Mit seiner bereits 1917 erschienenen Schrift „Psychische Bedingtheit und psychoanalytische Behandlung organischer Leiden" begründete
er das, was später unter dem
Namen „Psychosomatik" von
den von Suchenwirth aufgeführten Klinikern und vielen
anderen fortgeführt und weiterentwickelt wurde. Groddecks entscheidende Rolle
wurde lange totgeschwiegen,
und erst seit etwa zwei Jahren
erscheinen die Gesammelten
Werke dieses höchst originellen Arztes und Schriftstellers.
Eine zusätzliche kleine
Korrektur: Es muß J. H.
Schultz heißen (nicht I. H.),
denn der Begründer des autogenen Trainings hieß mit
Vornamen Johannes Heinrich.
Prof. Dr. med. W. Geinitz,
Blumenthalstraße 41, W-6900
Heidelberg
PERSPEKTIVE
Zu dem Beitrag „Geburtenkontrolle: Mutiger Vorstoß — aus der
CSU" von Kurt Gelsner in Heft
3/1992:
Verstand einsetzen
Professor W. Pförringers
Gedanken zur Überbevölkerung der Welt sind im Kontext zu den bisher von den CParteien ausgehenden Signalen höchst beachtenswert.
Die jetzige „Biomasse
Mensch" übertrifft die Summe aller anderen Säugetiere
auf diesem kleinen Planeten.
Prof. Paul E. Ehrlich (USA)
äußerte in Chicago, daß jedes
Jahr 90 Millionen Menschen
mehr ernährt werden müssen
und daß 24 Milliarden Tonnen Muttererde sowie Billionen Liter Grundwasser weniger zur Verfügung stünden.
Abholzung der Regenwälder
und Reisanbau tragen zur
weltweiten Erwärmung der
Erdatmosphäre bei.
Mehr als eine Milliarde
Menschen hungern heute.
Morgen wird jeder dritte
Mensch verhungern.
Trotzdem propagieren
Religions-Obere ungehemmte Vermehrung, und Wirtschafts-Wachstums-Ideologen setzen auf das Prinzip:
„Nach uns die Sintflut, laßt
den Ur-Enkeln doch die Sorgen".
Die Hungernden werden
die Satten überfallen und berauben. Es sei denn, daß der
Verstand der Menschen es
ermöglicht, sich noch in diesem Jahrhundert mit der gerechten Verteilung der WeltArmut an Ressourcen so zu
befassen, daß kein weiteres
Wachstum von Menschenmassen und Industrieprodukten diesen Planeten endgültig
zum Kippen bringt.
Gen-Forscher fanden jetzt
ein Enzym, das die Lebensdauer (zumindest von Fadenwürmern) verdoppelt. Damit
könnten Menschen so um 130
Jahre alt werden.
Goethe sagte vor fast zwei
Jahrhunderten zu Eckermann: „In wenigen Jahren
wird in Europa jeder jedermannes Krankenwärter sein!"
A1 -974 (10) Dt. Ärztebl. 89, Heft 12, 20. März 1992
Wir Forscher und Mediziner können uns damit einer
ungeahnten Zukunftsperspektive erfreuen. Das allerdings nur, wenn die Menschen nicht weiterhin soviel
fressen, saufen, rauchen und
kiffen würden.
Dr. med. Günter Neumeyer, Koppelweg, W-2114
Hollenstedt-Emmen
BELEGÄRZTE
Zu dem „seite eins"-Beitrag
„Blutauffrischung" in Heft 6/1992:
Kostenverschiebung
Das vom Kollegen Hahn
angesprochene Einsparvolumen, das im übrigen erst einmal statistisch sicher bewiesen werden müßte, im stationären Bereich bei Vermehrung der Belegabteilungen
würde lediglich dem ambulanten Sektor zugute kommen, da die von ihm angesprochenen Voruntersuchungen ja schließlich den durchführenden niedergelassenen
Kolleginnen und Kollegen
vergütet werden müssen. Es
läge also keine Kostenersparnis, sondern lediglich eine
Kostenverschiebung vor.
Im übrigen funktionieren
die meisten belegärztlichen
Abteilungen nur deshalb, weil
in den betreffenden Krankenhäusern hauptamtliche Abteilungen bestehen und bei
Notfällen im belegärztlichen
Bereich die in den hauptamtlichen Abteilungen tätigen
Kollegen einspringen. Mir
sind persönlich viele derartige Fälle bekannt, in denen
die belegärztlichen Kolleginnen und Kollegen nicht so
rasch erreichbar waren respektive ihre Tätigkeit aufnehmen konnten, daß auftretende bedrohliche Komplikationen hätten in dieser Zeit
behoben werden können. Wir
haben es in unserem Hause
daher kollegialerweise so geregelt, daß bei Notfällen die
hauptamtlichen Abteilungen
einspringen.
Dr. med. D. Bauer, Jakobi-Krankenhaus Rheine,
Hörstkamp 12, W-4440
Rheine
SOZIALPOLITIK
Zu dem Beitrag „Gesundheitsund sozialpolitische Reformprojekte '92: Kein Abschied von sturer
Kostendämpfungspolitik?" von Dr.
rer. pol. Harald Clade in Heft
1-2/1992:
Zusammenhänge
erkennen
Der Leitartikel kann von
uns Ärzten nur begrüßt werden. Seit der damalige Sozialpolitiker aus RheinlandPfalz, Dr. Heiner Geißler, das
Schlagwort von der Kostenexplosion prägte, kommen wir
Arzte von den Vorwürfen
nicht mehr los. Völlig vergessen wird dabei die parallel dazu laufende Gesundheitsexpansion.
Wir haben seit langem die
längste Lebenserwartung in
der westlichen Welt, und in
den letzten zehn Jahren ist sie
nochmals um vier Jahre gestiegen.
In den Praxen häufen sich
die Alten, welche, statt gestorben zu sein, mit einem hohen Aufwand und therapeutischen und diagnostischen
Maßnahmen ein längeres und
lebenswerteres Leben führen
können als in früheren Jahrzehnten.
Ich bin seit über 50 Jahren
Arzt, und von einem derartigen Gesundheitswunder, dessen Segnungen ich auch am
eigenen Leibe erfahren habe,
konnte man damals noch
nicht einmal träumen ...
So erfreulich die Aufnahme der Gesundheitsuntersuchungen im Gesundheits-Reformgesetz ist, so provoziert
der Gesetzgeber damit eine
neue Kostensteigerung. Die
Aufspürung der Risikofaktoren kostet Geld, die Beseitigung der Risikofaktoren kostet Geld.
Und wenn die Risikofaktoren beseitigt sind, sterben
diese Bürger nicht mehr vorzeitig, können aber trotzdem
ihr Leben nicht ohne laufende ärztliche Betreuung beenden, und das kostet wieder
Geld.
Sanitätsrat
Dr.
med.
Hans-Hugo Wrede, Hauptstraße 1, W-6573 Simmertal
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