SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 WISSEN - Manuskriptdienst „Viren im Erbgut Gefährliche Helfer der Evolution“ Autor und Sprecher: Michael Lange Redaktion: Sonja Striegl Sendung: Mittwoch, 10. September 2014, 08.30 Uhr, SWR2 ___________________________________________________________________ Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Wissen/Aula (Montag bis Sonntag 8.30 bis 9.00 Uhr) sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für 12,50 € erhältlich. Bestellmöglichkeiten: 07221/929-26030! SWR2 Wissen können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/wissen.xml Manuskripte für E-Book-Reader: E-Books, digitale Bücher, sind derzeit voll im Trend. 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Viren sind die Piraten der Biologie. Sie kapern lebende Zellen von Menschen, Tieren, Pflanzen oder Bakterien. Viren tauchen oft unerwartet auf, sind hoch ansteckend und schlagen erbarmungslos zu. Es gibt aber auch Viren, die sich mit ihrem Wirt arrangiert haben. Diese Viren sind nicht mehr infektiös, und sie sind sogar zu einem Teil ihres Wirts geworden. Sprecherin: „Viren im Erbgut - Gefährliche Helfer der Evolution“. Eine Sendung von Michael Lange. Autor: Ob Viren Lebewesen sind, ist unter Biologen umstritten. Das hängt von der Definition ab. Wenn ein eigener Stoffwechsel verlangt wird, sind Viren keine Lebewesen. Eindeutig steht aber fest: Viren gehören zur Natur. Sie prägen das Leben im Boden, im Meer, in Gewässern und in der Luft. Nahrung oder einen eigenen Stoffwechsel brauchen sie nicht. Sie bestehen lediglich aus ein wenig Erbmaterial, meist geschützt von einer Hülle aus Proteinen. Wenn ein Virus auf eine Zelle trifft, dringt es in sie ein, und die Zelle übernimmt unfreiwillig die Vermehrung der Viren. Der Wirtsorganismus erkrankt. Zum Beispiel an Grippe, Masern, Hepatitis oder Aids. Einige Viren jedoch geben ihre Tätigkeit als Piraten auf. Sie bauen ihr Erbmaterial in das des Wirtes ein und setzen sich im Wirt zur Ruhe. Fachleute sprechen von endogenen 2 Retroviren. In einem Roman des Schweizer Autors Beat Glogger mit dem Titel „Xenesis“ spielen sie eine Hauptrolle. Musik Sprecherin: „Die endogenen Retroviren sind perfekt getarnt. Sie schlummern im Erbgut des Wirtes bis sie wieder aktiv werden. Diese Inaktivität kann unter Umständen Jahre dauern. Retroviren sind perfekte Zeitbomben.“ „Darum kann es bei Aids und Krebs so lange dauern, bis die Krankheit ausbricht,“ warf Narcy ein. „Das sind raffinierte Kerle“, nickte Alvaro. Musik ENDE Autor: „Endogen“ bedeutet „innen“, und „Retro“ rückwärts, erklärt Professor Ralf Tönjes vom Paul-Ehrlich-Institut in Langen bei Frankfurt. O-Ton 3 - Ralf Tönjes: Das besondere an Retroviren ist nicht nur ihr Name, sondern ein Retro-Schritt, ein Schritt rückwärts. Autor: Normalerweise wird das Erbmolekül DNA im Zellkern zu RNA. Ein Informationsträger wird in einen anderen verwandelt. Aber Retroviren machen es andersherum als die Zellen - rückwärts: RNA wird zu DNA. Endogene Retroviren bauen sich nach diesem Retro-Schritt dauerhaft in das Erbmaterial ihres Opfers ein. Dann werden sie mit dessen DNA weiter vererbt. Aus ruhelosen Nomaden werden unscheinbare Nichtstuer. Ungefährlich schlummern sie im Erbgut ihres Wirtes, aber sie könnten irgendwann reaktiviert werden - wie tickende Zeitbomben. O-Ton 4 - Ralf Tönjes: Endogene Retroviren gibt es in zahlreichen Organismen. Vor allem Säugetiere sind für uns interessant. Mäuse sind sehr gut studiert. Das Mäusegenom ist ja inzwischen komplett durchsequenziert. Katzen sind befallen, aber auch andere Säugetiere. Zum Beispiel das Schwein. Autor: Endogene Retroviren sind keineswegs nur eine unwichtige biologische Spielerei. Sie machen einen großen Teil der Erbinformation vieler Organismen aus - auch bei Menschen. 3 O-Ton 5 - Alex Greenwood: The genes that make us us are between two or three per cent of our genome: And ten per cent are more like retroviruses. So we are much more retroviral like than we are human like. Übersetzung: Die Gene, die uns zu Menschen machen, machen gerade einmal zwei oder drei Prozent unseres Erbguts aus. Aber fast zehn Prozent ähneln bestimmten Viren. In gewisser Weise gleicht unser Erbmaterial eher diesen Viren als Menschen. Autor: Der Virologe Professor Alex Greenwood beschäftigt sich am Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung in Berlin mit solchen endogenen Viren. O-Ton 6 - Alex Greenwood: The transmission of those viruses are primarily by enheriting it from your mother and father … Übersetzung: Die Übertragung dieser Viren erfolgt auf dem Wege der Vererbung. Sie stammen von Mutter und Vater. Ganz anders als bei freien Retroviren wie HIV, die sich über Infektionen ausbreiten. Während einige wenige Viruspartikel von HIV ausreichen, um einen Menschen zu infizieren, stecken viele tausend Retroviren in unserem genetischen Erbe - und in dem Erbe vieler anderer Säugetiere. … endogenous retrovirus like elements in mammals. Autor: Wie endogene Retroviren das Leben ihrer Wirte beeinflussen, darüber wissen die Forscher nur wenig. Es ist aber unwahrscheinlich, dass so viel Erbmaterial völlig folgenlos im Erbgut von Mensch und Tier schlummert. Alex Greenwood vermutet, dass endogene Retroviren bei der Entstehung vieler Krankheiten mitmischen, ohne dass die meisten Experten das bisher bemerkt haben. Ein Beispiel sind die rätselhaften Prionen-Krankheiten. Zu ihnen zählt die Rinderseuche BSE, die Schafskrankheit Scrapie und die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit beim Menschen. O-Ton 7 - Alex Greenwood: No virus of any kind that we know … Übersetzung: Kein Virus, wie wir es kennen, das von außerhalb Zellen angreift, kommt für diese Infektionen in Frage. Das konnten wir zeigen, indem wir das verantwortliche infektiöse Material mit starker Strahlung oder extremer Hitze behandelt haben. Alle Viren wurden durch diese Behandlung zerstört. Aber das Material blieb infektiös. 4 … the material remains infectious. Autor: Für Alex Greenwood steht damit fest: Die Viren befinden sich nicht im infektiösen Material. Sie warten bereits im Körper bevor ein Organismus erkrankt und werden dann durch die Infektion irgendwie aktiviert. O-Ton 8 - Alex Greenwood: We thought: Can retroviruses maybe in some way cause similar diseases … Übersetzung: Angeblich werden diese Prionen-Krankheiten durch infektiöse Eiweiße, so genannte Prionen, ausgelöst. Wir infizierten deshalb Zellkulturen von Mäusen mit Prionen und entdeckten, dass die Prionen die Aktivität der endogenen Retroviren erhöhten. … endogenous retroviral expression. Autor: Um den Zusammenhang besser kennen zu lernen, untersuchte Alex Greenwood gemeinsam mit Kollegen vom Primatenzentrum in Göttingen kleine Affen, die zuvor mit BSE infiziert worden waren. Als Ursache der Prionen-Erkrankungen konnten die Forscher die endogenen Retroviren allerdings nicht überführen. Aber die schlummernden Viren reagierten auf die Prioneninfektion. Sie schienen also eine Rolle im Krankheitsverlauf zu spielen. O-Ton 9 - Alex Greenwood: You get infected by an infectious prion … Übersetzung: Wenn Sie sich mit einem infektiösen Prion infizieren, dann wirkt es irgendwie auf die endogenen Retroviren. Und dadurch entsteht und verbreitet sich die Krankheit. … propagates the disease. Autor: Auch bei der Nervenerkrankung Multiple Sklerose vermuten Forscher einen Zusammenhang zwischen endogenen Retroviren und dem Krankheitsverlauf. Sie hoffen, dass sich durch die Bekämpfung der Viren das Fortschreiten der Krankheit aufhalten lässt. Mehr als eine Theorie ist das aber bisher nicht. Die Forschungen in diesem Bereich haben gerade erst begonnen. Noch ist unklar bei welchen Krankheiten, endogene Retroviren eine Rolle spielen. In der Fiktion - im Wissenschaftsthriller „Xenesis“ - sind die Folgen dramatisch. Musik 5 Sprecherin: Ein kleines Kind in einem heftigen epileptischen Anfall. Es zittert am ganzen Körper, den Rücken nach hinten durchgebogen. Es schlägt mit dem Kopf nach hinten auf die Matratze, die Augen sind nach oben weggedreht. Die Ärzte stehen vor einem Rätsel. Denn solche Bilder passen nicht zu einer herkömmlichen Grippe. Die üblichen Grippemedikamente haben bei den kranken Kindern versagt. Musik ENDE Autor: Viele Rätsel um die endogenen Retroviren sind nach wie vor nicht gelöst. So weiß man nicht, wodurch die schlummernden Viren aufgeweckt werden. Das untersucht die Virologin Professor Christine Leib-Mösch vom Helmholtz-Zentrum für Umwelt und Gesundheit in Neuherberg bei München. O-Ton 10 - Christine Leib-Mösch: Diese Retroviren können reaktiviert werden, und zwar durch Umwelteinflüsse der verschiedensten Art. Das kann radioaktive - oder UV-Strahlung sein, das können verschiedene Chemikalien sein, das können Infektionen durch andere Viren sein. Und es können auch Medikamente sein. Autor: Christine Leib-Mösch hat die Wirkung des Medikaments Valproinsäure untersucht. Es wird bei Epilepsie und verschiedenen psychischen Erkrankungen verschrieben. O-Ton 11 - Christine Leib-Mösch: Es gibt bestimmte Medikamente, wie zum Beispiel die Valproinsäure, die direkt in die Genregulation eingreifen. Die verändern das Chromatin und die DNA und aktivieren sie. Das führt dazu, dass plötzlich Gene abgelesen werden, die normalerweise nicht aktiv sind. Autor: Der Wirkstoff verändert die Verpackung des Erbmaterials in den Zellen und damit die Steuerung der Gene. Bestimmte aktive Gene werden ausgeschaltet und andere, inaktive Gene werden eingeschaltet. Und das geschieht auch mit den endogenen Retroviren. O-Ton 12 - Christine Leib-Mösch: Das kann durchaus eine negative Wirkung haben. Wir haben zum Beispiel in einer Tumorzelllinie gefunden, dass ein endogenes Retrovirus aktiviert wurde dadurch, dass das Chromatin verändert war. Und dieses endogene Retrovirus hat nun seinerseits ein Gen aktiviert, was in der Nachbarschaft lag. Autor: Die aktivierte Virus-DNA, bringt das feinabgestimmte System der Zelle durcheinander. Die Viren sind nicht der Auslöser von Krebs, spielen aber eine Rolle bei 6 Krebserkrankungen. Denn die endogenen Retroviren nehmen Einfluss auf die gesamte Biologie der Zelle. O-Ton 13 - Christine Leib-Mösch: Wir wissen zum Beispiel von bioinformatischen Untersuchungen, dass heute etwa 5,9 Prozent unserer Gene durch endogene Retroviren kontrolliert werden. Das heißt: Diese endogenen Retroviren sind dafür verantwortlich, zu welchem Zeitpunkt, an welchem Ort, in welchem Zelltyp, in welcher Menge ein Genprodukt hergestellt wird. Autor: Andere Forscher haben im Tierversuch und in Zellkulturen untersucht, ob die Viren wieder infektiös werden können. Ralf Tönjes vom Paul-Ehrlich-Institut fasst den aktuellen Forschungsstand zusammen. O-Ton 14 - Ralf Tönjes: Diese endogenen Retroviren können auch wieder aus der Zelle herauskommen als Retrovirus. Und je nachdem, ob es Defekte gibt, sind sie dann funktional, sind sie infektiös, oder auch nicht. Bei Katzen und Mäusen ist das beschrieben. Es gibt Katzenund Mäuse-Leukämieviren. Die rufen entsprechende Blutkrebserkrankungen hervor, Leukämien. Autor: Einer Arbeitsgruppe in London ist das bei immungeschwächten Mäusen im Versuch gelungen. Das Virus im Erbgut der Mäuse wurde wieder aktiv und bildete eine Virushülle. Zwei Drittel der Mäuse erkrankten daraufhin. Beim Menschen wurde das bislang nicht beobachtet. Die Schilderung im Roman „Xenesis“ von Beat Glogger ist also reine Fiktion. Musik Sprecherin: Dass Mutter so schnell gestorben war, gab David zu denken. Es war kein sanfter Tod gewesen. Das Fieber sei unaufhaltsam gestiegen habe die Heimleiterin gesagt, dann habe Mutter über Empfindungsstörungen in Armen und Beinen geklagt, sei von Krämpfen geschüttelt worden, und schließlich sei sie einer epileptischen Attacke erlegen. David lief ein Schauer den Rücken hinunter. Musik ENDE Autor: Die Angst, die im Roman für Spannung sorgt, ist unbegründet. Denn die schlummernden Retroviren im menschlichen Körper haben - soweit die Wissenschaftler heute wissen - ihre krankmachenden Fähigkeiten eingebüßt. 7 Die jüngsten beim Menschen entdeckten endogenen Retroviren sind über eine Million Jahre alt. In dieser langen Zeit haben sich viele Fehler in ihrem Erbmaterial angehäuft. Die Viren wurden dadurch entschärft. Dazu ein Zitat von Professor Barbara Schnierle vom Paul-Ehrlich-Institut in Langen bei Frankfurt. O-Ton 15 - Barbara Schnierle: Die endogenen Retroviren, die im Moment noch in uns sind, sind alle nicht replikationsfähig. Das heißt: Die können sich nicht mehr vermehren. Autor: Die schlummernden Viren lassen sich medizinisch sogar nutzen. An einem solchen Konzept arbeitet die Virologin. O-Ton 16 - Barbara Schnierle: Endogene Retroviren werden normalerweise nicht hergestellt vom Körper, sondern nur in Tumorzellen. Und deshalb wäre es eigentlich ideal, die Proteine von endogenen Retroviren als Zielstrukturen für eine Immuntherapie zu benutzen. Autor: Die Idee dahinter: Ein Patient erhält endogene Retroviren. Sein körpereigenes Immunsystem erkennt die Virusstrukturen als fremd und greift sie an. Da die Viren stets in Tumorzellen auftreten, bekämpft das Immunsystem gleichzeitig die Tumorzellen. Das ist das Prinzip einer Impfung. Barbara Schnierle und ihr Team haben das Verfahren bei Mäusen getestet. Zunächst bei kranken Mäusen mit Tumoren - und dann prophylaktisch bei gesunden Mäusen ohne Tumoren. O-Ton 17 - Barbara Schnierle: Therapeutisch haben wir einen sehr starken Rückgang der Tumoren gesehen, konnten die Mäuse aber nicht komplett heilen. Dafür müssten wir vielleicht höhere Dosen der Impfvektoren geben oder ein bisschen die Impfstrategie ändern. Bei der prophylaktischen Gabe haben wir kein Anwachsen der Tumorzellen gesehen. Das hat viel besser funktioniert. Autor: Das wäre eine Revolution in der Medizin - eine vorbeugende Impfung gegen Krebs, wie sie sich viele Ärzte wünschen. Dennoch denken die Forscher vorerst nicht daran. Das wäre zu riskant. O-Ton 18 - Barbara Schnierle: Über das Risiko wissen wir im Moment einfach viel zu wenig. Man würde keinen gesunden Menschen mit so einem Ansatz impfen, weil man einfach keine Daten über Nebenwirkungen hat. 8 Autor: Es ist unwahrscheinlich, dass endogene Retroviren schon bald kranke Menschen heilen. Nur wenige Forscher beschäftigen sich mit neuen Therapien. Meist stehen die Risiken im Vordergrund - auch bei Barbara Schnierles Kollegen Professor Ralf Tönjes. O-Ton 19 - Ralf Tönjes: Bei Menschen ist bisher kein einziges, natürlich vorkommendes endogenes Retrovirus, ein humanes endogenes Retrovirus, beschrieben worden, welches infektiös ist und menschliche Zellen wieder infizieren könnte. Beim Schwein ist das anders. Das Schwein könnte für den Menschen wichtig werden, wenn Xenotransplantation möglich würde. Momentan ist das nicht möglich, und deshalb sind endogene Retroviren des Schweins für den Menschen auch nicht gefährlich. Autor: In Deutschland herrscht Organmangel. Zu wenig freiwillige Spender stehen für eine Organtransplantation zur Verfügung. Forscher arbeiten deshalb an neuen Verfahren, um Organe zu züchten - zum Beispiel in Schweinen. Das ist die Idee hinter der so genannten Xenotransplantation. Herzen, Nieren, andere Organe oder Gewebe werden von einer Art in eine andere verpflanzt. O-Ton 20 - Ralf Tönjes: Was bereits in der Klinik ist, in Argentinien und Neuseeland, sind Schweine-Inselzellen, um Diabetiker, also Zuckerpatienten, so zu behandeln, dass sie zumindest weniger Insulin täglich spritzen müssen. Autor: Wissenschaftler aus England konnten zeigen, dass die endogenen Retroviren vom Schwein tatsächlich wieder aktiviert werden können. Die schlummernden Schweineviren werden wieder selbstständig und verlassen die Schweinezellen. In einer Zellkultur, in der Schweinezellen und Menschenzellen nebeneinander wachsen, können die Schweineviren die Menschenzellen befallen. O-Ton 21 - Ralf Tönjes: Im Labor, in der Kulturschale ist das mehrfach wiederholt worden. Daran gibt es überhaupt keinen Zweifel. Prinzipiell existiert dieses Risiko, dass aus Schweinezellen Retroviren funktionell infektiös austreten können und menschliche Zellen infiziert werden können. Autor: Die Frage, ob die Viren ein Risiko bei der Xenotransplantation darstellen, ist damit allerdings nicht beantwortet. Um das zu untersuchen hat Ralf Tönjes versucht, die Organverpflanzung zwischen Tieren und Menschen in der Zellkultur möglichst realistisch zu simulieren. 9 O-Ton 22 - Ralf Tönjes: Identisch können wir das nicht durchführen, also wie es im Patienten später stattfinden sollte oder könnte. Das können wir nicht nachempfinden. Aber in der Kulturschale haben wir ein Modell entwickelt, um zu der Aussage zu kommen: Nein, es werden keine infektiösen PERV aus diesen möglichen Spenderschweinen und deren Lymphozyten freigesetzt. Autor: PERV lautet die englische Abkürzung für die endogenen Retroviren beim Schwein. // Ralf Tönjes konnte zeigen, dass diese Viren zwar in menschliche Blutzellen eindringen können, sich dort aber nicht vermehren. Dennoch fordert er verschiedene Kontrollen bevor tatsächlich Schweinezellen oder Schweineorgane in Menschen verpflanzt werden. O-Ton 23 - Ralf Tönjes: Wir haben eine Reihe von Schweinen untersucht - es waren an die zehn. Aber vielleicht kommt ja das elfte Schwein, welches ebenfalls als Spenderorganismus genutzt wird, für ein Herz, eine Niere oder auch Schweine-Inselzellen, zur Behandlung von Diabetes, und könnte infektiöse Viren freisetzen, nachdem zwei defekte endogene Retroviren in der Erbsubstanz des Schweines miteinander rekombiniert haben und dann die Zelle verlassen. Autor: Verschiedene Viren könnten sich also zusammentun, und es entstünde ein neues, ein infektiöses Virus, das verschiedene Krankheiten auslösen könnte. Dieses Szenario beschreibt Beat Glogger in seinem Roman „Xenesis“. Musik Sprecherin: „Die Sequenz ist retroviral“, er machte eine theatralische Pause, „und sie ist im Erbgut jedes Schweins enthalten. Das heißt es ist ein so genanntes endogenes Retrovirus. … Ich kann nur vermuten, dass ein einziges krankes Schwein genügt hat. Von dort kam die Krankheit irgendwie auf den Menschen.“ Musik ENDE Autor: Ralf Tönjes hat den Thriller von Beat Glogger in einer Nacht verschlungen. Die theoretischen Gefahren seien im Roman überzeugend dargestellt und fachlich habe der Autor gut recherchiert, sagt er - und dennoch sei das theoretische Risiko kein Anlass für schlaflose Nächte. „Xenesis“ ist nun einmal Fiktion. Im medizinischen Alltag spielen endogene Retroviren eine untergeordnete Rolle. Bedeutsam scheint hingegen ihr Einfluss auf die Evolution vieler Lebewesen. Allein die Menge der Retroviren im Erbgut des Menschen beeindruckt Privatdozent Doktor Norbert Bannert. Er arbeitet als Spezialist für Retroviren am Robert-Koch-Institut in Berlin. 10 O-Ton 24 - Norbert Bannert: Wenn man sich das mal vor Augen hält: Ungefähr acht Prozent unseres Genoms, etwa 300.000 endogene Retroviren oder die Reste dieser Retroviren haben wir in unserem Genom. Das ist weit mehr als die Anzahl unserer Gene, die wir haben. Autor: Es könnte sein, dass die zahlreichen Viren im Erbgut als Rohstoff für die Entwicklung neuer Gene dienen. So gibt es ein Beispiel, bei dem das nachgewiesen werden konnte: Das Gen für ein Eiweiß namens Syncytin. Ursprünglich stammt es aus einem Retrovirus und war am Aufbau von dessen Hülle beteiligt. In vielen Säugetieren spielt es eine Schlüsselrolle für die Arbeit der Plazenta. Die auch Mutterkuchen genannte Plazenta versorgt während der Schwangerschaft den Fötus mit Nahrung. Ohne Syncytin und ohne Retroviren wäre das Heranwachsen eines Embryos in der Gebärmutter der Säugetiere nicht möglich. O-Ton 25 - Norbert Bannert: Es gibt sogar den Witz, dass wir ohne diesen Retrovirus heutzutage noch Eier legen würden. Aber es stimmt tatsächlich. Das ist nicht nur bei Menschen, sondern man hat entsprechende Gene, die auf endogene Retroviren zurückzuführen sind, auch bei Mäusen und bei Ziegen und Schafen gefunden. Und da kann man natürlich manipulieren. Und wenn man die Bildung der entsprechenden Proteine unterdrückt, dann kommt es tatsächlich zu Aborten. Autor: Andere ehemalige Retroviren sind heute wichtige Schaltelemente im menschlichen Erbgut. Diese Elemente sind viel kleiner als Gene. Aber sie sind ebenso bedeutsam, denn ohne sie würde das Zusammenspiel der Erbanlagen nicht funktionieren. O-Ton 26 - Norbert Bannert: Sie sind ein Treiber der Evolution, dadurch, dass sie eine Vielzahl von regulatorischen Einheiten in das Genom eingebracht haben und damit der Evolution Material bieten, um für eine gewisse Durchmischung und Neuorganisation der Genome zu sorgen. Autor: Die Entwicklung der Säugetiere wäre ohne Retroviren ganz anders verlaufen, meint Norbert Bannert. Vielleicht hätte sie gar nicht stattgefunden. Das gleiche gilt auch für die Entstehung des Menschen. Die Evolutionsforscher müssen das bei ihren Gedankenspielen berücksichtigen. O-Ton 27 - Norbert Bannert: Es ist alles nicht so schön geordnet, wie man sich das vielleicht vorgestellt hätte. Die Plastizität entsteht aus einem gewissen Grad an Unordnung und Zufälligkeiten. Letztendlich ist das eine der treibenden Kräfte der Evolution, die es uns möglich macht, sich auf die sich wandelnden Bedingungen einzustellen seit vielen Tausenden Millionen von Jahren. 11 Autor: Für die Evolution sind die Viren im Erbgut eine riesige Spielwiese. Wenn auf einen Organismus unerwartete Herausforderungen zukommen - wie zum Beispiel ein neuer Lebensraum oder ein unbekannter Erreger - dann könnte dieses zusätzliche genetische Material Hilfe bieten. Aus ruhenden Viren entstehen durch Mutation und Selektion Gene. Das Risiko oder die Krankheit eines Individuums wird so zur Hoffnung für das Überleben der Art. Kein Trost für die Betroffenen, aber dennoch Diskussionsstoff im Roman „Xenesis“ von Beat Glogger. Musik Sprecherin: „Das ist doch unmöglich“, sagte Narcy mehr zu sich selbst. „Unmöglich ist nichts in der Biologie“ widersprach Alvaro. „Zufälle gibt es immer. Die Natur lebt vom Zufall. Ohne zufällige Veränderung in der Genetik gäbe es keine Evolution.“ Musik ENDE Autor: Neben der Mutation, der zufälligen Änderung von Erbinformation, gibt es den genetischen Schub durch Virusinfektionen. Der englische Mediziner und Autor Frank Ryan nennt diese Form der Evolution durch Infektion „Virolution“. O-Ton 28 - Frank Ryan: This is about an interaction between two utterly different life forms … Übersetzung: Hier geht es um das Zusammenwirken zweier völlig unterschiedlicher Lebensformen. Viren und zelluläres Leben. Zwei verschiedene Konzepte der Biologie kommen zusammen und bilden ein gemeinsames Genom. … single genome. Autor: Frank Ryan ist Mediziner, hält Vorträge über Evolutionsbiologie und gibt Seminare an der Universität Sheffield. Er hat mehrere populärwissenschaftliche Sachbücher geschrieben mit Titeln wie „Virus X“ oder „Virolution“. Frank Ryan ist eine Art Privatgelehrter, der sich ohne die Verpflichtungen eines angestellten Wissenschaftlers Gedanken über die Evolution macht. So ähnlich wie Charles Darwin vor 150 Jahren. Sein Hauptthema ist das Zusammenleben von Menschen und Viren. Frank Ryan wählt dafür den Begriff „aggressive Symbiose“. Denn Viren sind aggressiv. Sie greifen andere Lebewesen an. Aber sie haben auch eine positive Seite. In der Evolution - wenn man sie über Jahrtausende und Jahrmillionen betrachtet - ergänzen sich Zellen und Viren wie in einer Symbiose - zwischen Säugetieren und Viren. Das gilt auch beim Menschen. Viren 12 und Menschen leben zusammen zum Nutzen beider. Schließlich besitzen sie ein gemeinsames Erbgut. O-Ton 29 - Frank Ryan: I call this a holobiontic genome … Übersetzung: Ich nenne das ein holobiontisches Genom. Die Selektion zwingt die beiden Partner zur Zusammenarbeit. Es entsteht ein Lebewesen aus zwei Ursprüngen: Der Holobiont. Das virale Erbgut arbeitet auf sehr umfassende Weise mit dem menschlichen Erbgut zusammen. … in a very profound level with the human one. Autor: Eine zunächst unfreundliche Aktion führte letztlich zu etwas Neuem. Wer hier wen beherrscht oder wer wen ausnutzt, ist Ansichtssache. O-Ton 30 - Frank Ryan: One of the things that viruses do: they play around with our immune system … Übersetzung: Viren spielen mit unserem Immunsystem herum. Sie täuschen oder manipulieren es. Das ist typisch für Viren. Aber nun sind Viren zu einem Teil von uns Menschen geworden. Unser Immunsystem wird von Viren kontrolliert, die in unseren Chromosomen sitzen. … actually sitting there among our chromosomes. Autor: Die Genetiker müssen umdenken, fordert Frank Ryan. Denn mittlerweile stehe außer Zweifel, dass der Mensch und alle anderen höheren Lebensformen ein Produkt der Viren seien. Ohne Viren gäbe es uns Menschen nicht. Denn mit den Viren fing laut Frank Ryan alles an. O-Ton 31 - Frank Ryan: We don´t need cellular life … Übersetzung: Wir brauchen kein zelluläres Leben. Es reichten ein paar Viren, die sich gegenseitig befallen, und das Leben konnte beginnen. Viren waren die Basis, auf der dann zelluläres Leben entstehen konnte. Indem sie die Zellen befielen, brachten sie das Leben voran. Und das tun sie bis heute. … and they doing it until today. 13 Musik ******************** 14