SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 WISSEN - Manuskriptdienst „Viren

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SÜDWESTRUNDFUNK
SWR2 WISSEN - Manuskriptdienst
„Viren im Erbgut Gefährliche Helfer der Evolution“
Autor und Sprecher: Michael Lange
Redaktion: Sonja Striegl
Sendung: Mittwoch, 10. September 2014, 08.30 Uhr, SWR2
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1
Atmo: Labor
Autor:
Wie Raumfahrer sehen die Virus-Forscher aus, wenn sie das Hochsicherheitslabor der
Universität Marburg betreten.
O-Ton 1 - Marburg Sicherheitslabor 1:
(Funkgerät knarz piep) … an Technik und Set up. Ich betrete jetzt Labor über Dusche
eins.
Autor:
Jeder Arbeitsschritt muss sitzen. Doktor Markus Eickmann ist hier für die Sicherheit
verantwortlich.
O-Ton 2 - Markus Eickmann (Marburg):
Die tragen Vollschutzanzüge, haben also ihre eigene Atmosphäre. Das ist in unserem
Falle ein gelber Anzug, der über eine eigene Luftversorgung verfügt. Und die Mitarbeiter
bekommen dann die Luft von außen. Unsere Mitarbeiter sind so zu jeder Zeit geschützt,
und wir können sicherstellen, dass keine Erreger das Labor verlassen.
Autor:
Der große Aufwand soll vor gefährlichen Viren schützen, wie Ebola, Lassa oder auch
neuartigen Grippeviren.
Viren sind die Piraten der Biologie. Sie kapern lebende Zellen von Menschen, Tieren,
Pflanzen oder Bakterien. Viren tauchen oft unerwartet auf, sind hoch ansteckend und
schlagen erbarmungslos zu. Es gibt aber auch Viren, die sich mit ihrem Wirt arrangiert
haben. Diese Viren sind nicht mehr infektiös, und sie sind sogar zu einem Teil ihres
Wirts geworden.
Sprecherin:
„Viren im Erbgut - Gefährliche Helfer der Evolution“. Eine Sendung von Michael
Lange.
Autor:
Ob Viren Lebewesen sind, ist unter Biologen umstritten. Das hängt von der Definition
ab. Wenn ein eigener Stoffwechsel verlangt wird, sind Viren keine Lebewesen. Eindeutig
steht aber fest: Viren gehören zur Natur. Sie prägen das Leben im Boden, im Meer, in
Gewässern und in der Luft. Nahrung oder einen eigenen Stoffwechsel brauchen sie
nicht. Sie bestehen lediglich aus ein wenig Erbmaterial, meist geschützt von einer Hülle
aus Proteinen. Wenn ein Virus auf eine Zelle trifft, dringt es in sie ein, und die Zelle
übernimmt unfreiwillig die Vermehrung der Viren. Der Wirtsorganismus erkrankt. Zum
Beispiel an Grippe, Masern, Hepatitis oder Aids.
Einige Viren jedoch geben ihre Tätigkeit als Piraten auf. Sie bauen ihr Erbmaterial in das
des Wirtes ein und setzen sich im Wirt zur Ruhe. Fachleute sprechen von endogenen
2
Retroviren. In einem Roman des Schweizer Autors Beat Glogger mit dem Titel „Xenesis“
spielen sie eine Hauptrolle.
Musik
Sprecherin:
„Die endogenen Retroviren sind perfekt getarnt. Sie schlummern im Erbgut des Wirtes
bis sie wieder aktiv werden. Diese Inaktivität kann unter Umständen Jahre dauern.
Retroviren sind perfekte Zeitbomben.“ „Darum kann es bei Aids und Krebs so lange
dauern, bis die Krankheit ausbricht,“ warf Narcy ein. „Das sind raffinierte Kerle“, nickte
Alvaro.
Musik ENDE
Autor:
„Endogen“ bedeutet „innen“, und „Retro“ rückwärts, erklärt Professor Ralf Tönjes vom
Paul-Ehrlich-Institut in Langen bei Frankfurt.
O-Ton 3 - Ralf Tönjes:
Das besondere an Retroviren ist nicht nur ihr Name, sondern ein Retro-Schritt, ein
Schritt rückwärts.
Autor:
Normalerweise wird das Erbmolekül DNA im Zellkern zu RNA. Ein Informationsträger
wird in einen anderen verwandelt. Aber Retroviren machen es andersherum als die
Zellen - rückwärts: RNA wird zu DNA.
Endogene Retroviren bauen sich nach diesem Retro-Schritt dauerhaft in das
Erbmaterial ihres Opfers ein. Dann werden sie mit dessen DNA weiter vererbt. Aus
ruhelosen Nomaden werden unscheinbare Nichtstuer. Ungefährlich schlummern sie im
Erbgut ihres Wirtes, aber sie könnten irgendwann reaktiviert werden - wie tickende
Zeitbomben.
O-Ton 4 - Ralf Tönjes:
Endogene Retroviren gibt es in zahlreichen Organismen. Vor allem Säugetiere sind für
uns interessant. Mäuse sind sehr gut studiert. Das Mäusegenom ist ja inzwischen
komplett durchsequenziert. Katzen sind befallen, aber auch andere Säugetiere. Zum
Beispiel das Schwein.
Autor:
Endogene Retroviren sind keineswegs nur eine unwichtige biologische Spielerei. Sie
machen einen großen Teil der Erbinformation vieler Organismen aus - auch bei
Menschen.
3
O-Ton 5 - Alex Greenwood:
The genes that make us us are between two or three per cent of our genome: And ten
per cent are more like retroviruses. So we are much more retroviral like than we are
human like.
Übersetzung:
Die Gene, die uns zu Menschen machen, machen gerade einmal zwei oder drei Prozent
unseres Erbguts aus. Aber fast zehn Prozent ähneln bestimmten Viren. In gewisser
Weise gleicht unser Erbmaterial eher diesen Viren als Menschen.
Autor:
Der Virologe Professor Alex Greenwood beschäftigt sich am Leibniz-Institut für Zoo- und
Wildtierforschung in Berlin mit solchen endogenen Viren.
O-Ton 6 - Alex Greenwood:
The transmission of those viruses are primarily by enheriting it from your mother and
father …
Übersetzung:
Die Übertragung dieser Viren erfolgt auf dem Wege der Vererbung. Sie stammen von
Mutter und Vater. Ganz anders als bei freien Retroviren wie HIV, die sich über
Infektionen ausbreiten. Während einige wenige Viruspartikel von HIV ausreichen, um
einen Menschen zu infizieren, stecken viele tausend Retroviren in unserem genetischen
Erbe - und in dem Erbe vieler anderer Säugetiere.
… endogenous retrovirus like elements in mammals.
Autor:
Wie endogene Retroviren das Leben ihrer Wirte beeinflussen, darüber wissen die
Forscher nur wenig. Es ist aber unwahrscheinlich, dass so viel Erbmaterial völlig
folgenlos im Erbgut von Mensch und Tier schlummert. Alex Greenwood vermutet, dass
endogene Retroviren bei der Entstehung vieler Krankheiten mitmischen, ohne dass die
meisten Experten das bisher bemerkt haben.
Ein Beispiel sind die rätselhaften Prionen-Krankheiten. Zu ihnen zählt die Rinderseuche
BSE, die Schafskrankheit Scrapie und die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit beim Menschen.
O-Ton 7 - Alex Greenwood:
No virus of any kind that we know …
Übersetzung:
Kein Virus, wie wir es kennen, das von außerhalb Zellen angreift, kommt für diese
Infektionen in Frage. Das konnten wir zeigen, indem wir das verantwortliche infektiöse
Material mit starker Strahlung oder extremer Hitze behandelt haben. Alle Viren wurden
durch diese Behandlung zerstört. Aber das Material blieb infektiös.
4
… the material remains infectious.
Autor:
Für Alex Greenwood steht damit fest: Die Viren befinden sich nicht im infektiösen
Material. Sie warten bereits im Körper bevor ein Organismus erkrankt und werden dann
durch die Infektion irgendwie aktiviert.
O-Ton 8 - Alex Greenwood:
We thought: Can retroviruses maybe in some way cause similar diseases …
Übersetzung:
Angeblich werden diese Prionen-Krankheiten durch infektiöse Eiweiße, so genannte
Prionen, ausgelöst. Wir infizierten deshalb Zellkulturen von Mäusen mit Prionen und
entdeckten, dass die Prionen die Aktivität der endogenen Retroviren erhöhten.
… endogenous retroviral expression.
Autor:
Um den Zusammenhang besser kennen zu lernen, untersuchte Alex Greenwood
gemeinsam mit Kollegen vom Primatenzentrum in Göttingen kleine Affen, die zuvor mit
BSE infiziert worden waren.
Als Ursache der Prionen-Erkrankungen konnten die Forscher die endogenen Retroviren
allerdings nicht überführen. Aber die schlummernden Viren reagierten auf die
Prioneninfektion. Sie schienen also eine Rolle im Krankheitsverlauf zu spielen.
O-Ton 9 - Alex Greenwood:
You get infected by an infectious prion …
Übersetzung:
Wenn Sie sich mit einem infektiösen Prion infizieren, dann wirkt es irgendwie auf die
endogenen Retroviren. Und dadurch entsteht und verbreitet sich die Krankheit.
… propagates the disease.
Autor:
Auch bei der Nervenerkrankung Multiple Sklerose vermuten Forscher einen
Zusammenhang zwischen endogenen Retroviren und dem Krankheitsverlauf. Sie
hoffen, dass sich durch die Bekämpfung der Viren das Fortschreiten der Krankheit
aufhalten lässt. Mehr als eine Theorie ist das aber bisher nicht. Die Forschungen in
diesem Bereich haben gerade erst begonnen.
Noch ist unklar bei welchen Krankheiten, endogene Retroviren eine Rolle spielen. In der
Fiktion - im Wissenschaftsthriller „Xenesis“ - sind die Folgen dramatisch.
Musik
5
Sprecherin:
Ein kleines Kind in einem heftigen epileptischen Anfall. Es zittert am ganzen Körper, den
Rücken nach hinten durchgebogen. Es schlägt mit dem Kopf nach hinten auf die
Matratze, die Augen sind nach oben weggedreht. Die Ärzte stehen vor einem Rätsel.
Denn solche Bilder passen nicht zu einer herkömmlichen Grippe. Die üblichen
Grippemedikamente haben bei den kranken Kindern versagt.
Musik ENDE
Autor:
Viele Rätsel um die endogenen Retroviren sind nach wie vor nicht gelöst. So weiß man
nicht, wodurch die schlummernden Viren aufgeweckt werden. Das untersucht die
Virologin Professor Christine Leib-Mösch vom Helmholtz-Zentrum für Umwelt und
Gesundheit in Neuherberg bei München.
O-Ton 10 - Christine Leib-Mösch:
Diese Retroviren können reaktiviert werden, und zwar durch Umwelteinflüsse der
verschiedensten Art. Das kann radioaktive - oder UV-Strahlung sein, das können
verschiedene Chemikalien sein, das können Infektionen durch andere Viren sein. Und
es können auch Medikamente sein.
Autor:
Christine Leib-Mösch hat die Wirkung des Medikaments Valproinsäure untersucht. Es
wird bei Epilepsie und verschiedenen psychischen Erkrankungen verschrieben.
O-Ton 11 - Christine Leib-Mösch:
Es gibt bestimmte Medikamente, wie zum Beispiel die Valproinsäure, die direkt in die
Genregulation eingreifen. Die verändern das Chromatin und die DNA und aktivieren sie.
Das führt dazu, dass plötzlich Gene abgelesen werden, die normalerweise nicht aktiv
sind.
Autor:
Der Wirkstoff verändert die Verpackung des Erbmaterials in den Zellen und damit die
Steuerung der Gene. Bestimmte aktive Gene werden ausgeschaltet und andere,
inaktive Gene werden eingeschaltet. Und das geschieht auch mit den endogenen
Retroviren.
O-Ton 12 - Christine Leib-Mösch:
Das kann durchaus eine negative Wirkung haben. Wir haben zum Beispiel in einer
Tumorzelllinie gefunden, dass ein endogenes Retrovirus aktiviert wurde dadurch, dass
das Chromatin verändert war. Und dieses endogene Retrovirus hat nun seinerseits ein
Gen aktiviert, was in der Nachbarschaft lag.
Autor:
Die aktivierte Virus-DNA, bringt das feinabgestimmte System der Zelle durcheinander.
Die Viren sind nicht der Auslöser von Krebs, spielen aber eine Rolle bei
6
Krebserkrankungen. Denn die endogenen Retroviren nehmen Einfluss auf die gesamte
Biologie der Zelle.
O-Ton 13 - Christine Leib-Mösch:
Wir wissen zum Beispiel von bioinformatischen Untersuchungen, dass heute etwa 5,9
Prozent unserer Gene durch endogene Retroviren kontrolliert werden. Das heißt: Diese
endogenen Retroviren sind dafür verantwortlich, zu welchem Zeitpunkt, an welchem Ort,
in welchem Zelltyp, in welcher Menge ein Genprodukt hergestellt wird.
Autor:
Andere Forscher haben im Tierversuch und in Zellkulturen untersucht, ob die Viren
wieder infektiös werden können. Ralf Tönjes vom Paul-Ehrlich-Institut fasst den
aktuellen Forschungsstand zusammen.
O-Ton 14 - Ralf Tönjes:
Diese endogenen Retroviren können auch wieder aus der Zelle herauskommen als
Retrovirus. Und je nachdem, ob es Defekte gibt, sind sie dann funktional, sind sie
infektiös, oder auch nicht. Bei Katzen und Mäusen ist das beschrieben. Es gibt Katzenund Mäuse-Leukämieviren. Die rufen entsprechende Blutkrebserkrankungen hervor,
Leukämien.
Autor:
Einer Arbeitsgruppe in London ist das bei immungeschwächten Mäusen im Versuch
gelungen. Das Virus im Erbgut der Mäuse wurde wieder aktiv und bildete eine
Virushülle. Zwei Drittel der Mäuse erkrankten daraufhin.
Beim Menschen wurde das bislang nicht beobachtet. Die Schilderung im Roman
„Xenesis“ von Beat Glogger ist also reine Fiktion.
Musik
Sprecherin:
Dass Mutter so schnell gestorben war, gab David zu denken. Es war kein sanfter Tod
gewesen. Das Fieber sei unaufhaltsam gestiegen habe die Heimleiterin gesagt, dann
habe Mutter über Empfindungsstörungen in Armen und Beinen geklagt, sei von
Krämpfen geschüttelt worden, und schließlich sei sie einer epileptischen Attacke
erlegen. David lief ein Schauer den Rücken hinunter.
Musik ENDE
Autor:
Die Angst, die im Roman für Spannung sorgt, ist unbegründet. Denn die
schlummernden Retroviren im menschlichen Körper haben - soweit die Wissenschaftler
heute wissen - ihre krankmachenden Fähigkeiten eingebüßt.
7
Die jüngsten beim Menschen entdeckten endogenen Retroviren sind über eine Million
Jahre alt. In dieser langen Zeit haben sich viele Fehler in ihrem Erbmaterial angehäuft.
Die Viren wurden dadurch entschärft. Dazu ein Zitat von Professor Barbara Schnierle
vom Paul-Ehrlich-Institut in Langen bei Frankfurt.
O-Ton 15 - Barbara Schnierle:
Die endogenen Retroviren, die im Moment noch in uns sind, sind alle nicht
replikationsfähig. Das heißt: Die können sich nicht mehr vermehren.
Autor:
Die schlummernden Viren lassen sich medizinisch sogar nutzen. An einem solchen
Konzept arbeitet die Virologin.
O-Ton 16 - Barbara Schnierle:
Endogene Retroviren werden normalerweise nicht hergestellt vom Körper, sondern nur
in Tumorzellen. Und deshalb wäre es eigentlich ideal, die Proteine von endogenen
Retroviren als Zielstrukturen für eine Immuntherapie zu benutzen.
Autor:
Die Idee dahinter: Ein Patient erhält endogene Retroviren. Sein körpereigenes
Immunsystem erkennt die Virusstrukturen als fremd und greift sie an. Da die Viren stets
in Tumorzellen auftreten, bekämpft das Immunsystem gleichzeitig die Tumorzellen. Das
ist das Prinzip einer Impfung.
Barbara Schnierle und ihr Team haben das Verfahren bei Mäusen getestet. Zunächst
bei kranken Mäusen mit Tumoren - und dann prophylaktisch bei gesunden Mäusen
ohne Tumoren.
O-Ton 17 - Barbara Schnierle:
Therapeutisch haben wir einen sehr starken Rückgang der Tumoren gesehen, konnten
die Mäuse aber nicht komplett heilen. Dafür müssten wir vielleicht höhere Dosen der
Impfvektoren geben oder ein bisschen die Impfstrategie ändern. Bei der
prophylaktischen Gabe haben wir kein Anwachsen der Tumorzellen gesehen. Das hat
viel besser funktioniert.
Autor:
Das wäre eine Revolution in der Medizin - eine vorbeugende Impfung gegen Krebs, wie
sie sich viele Ärzte wünschen. Dennoch denken die Forscher vorerst nicht daran. Das
wäre zu riskant.
O-Ton 18 - Barbara Schnierle:
Über das Risiko wissen wir im Moment einfach viel zu wenig. Man würde keinen
gesunden Menschen mit so einem Ansatz impfen, weil man einfach keine Daten über
Nebenwirkungen hat.
8
Autor:
Es ist unwahrscheinlich, dass endogene Retroviren schon bald kranke Menschen heilen.
Nur wenige Forscher beschäftigen sich mit neuen Therapien. Meist stehen die Risiken
im Vordergrund - auch bei Barbara Schnierles Kollegen Professor Ralf Tönjes.
O-Ton 19 - Ralf Tönjes:
Bei Menschen ist bisher kein einziges, natürlich vorkommendes endogenes Retrovirus,
ein humanes endogenes Retrovirus, beschrieben worden, welches infektiös ist und
menschliche Zellen wieder infizieren könnte. Beim Schwein ist das anders. Das Schwein
könnte für den Menschen wichtig werden, wenn Xenotransplantation möglich würde.
Momentan ist das nicht möglich, und deshalb sind endogene Retroviren des Schweins
für den Menschen auch nicht gefährlich.
Autor:
In Deutschland herrscht Organmangel. Zu wenig freiwillige Spender stehen für eine
Organtransplantation zur Verfügung. Forscher arbeiten deshalb an neuen Verfahren, um
Organe zu züchten - zum Beispiel in Schweinen. Das ist die Idee hinter der so
genannten Xenotransplantation. Herzen, Nieren, andere Organe oder Gewebe werden
von einer Art in eine andere verpflanzt.
O-Ton 20 - Ralf Tönjes:
Was bereits in der Klinik ist, in Argentinien und Neuseeland, sind Schweine-Inselzellen,
um Diabetiker, also Zuckerpatienten, so zu behandeln, dass sie zumindest weniger
Insulin täglich spritzen müssen.
Autor:
Wissenschaftler aus England konnten zeigen, dass die endogenen Retroviren vom
Schwein tatsächlich wieder aktiviert werden können. Die schlummernden Schweineviren
werden wieder selbstständig und verlassen die Schweinezellen. In einer Zellkultur, in
der Schweinezellen und Menschenzellen nebeneinander wachsen, können die
Schweineviren die Menschenzellen befallen.
O-Ton 21 - Ralf Tönjes:
Im Labor, in der Kulturschale ist das mehrfach wiederholt worden. Daran gibt es
überhaupt keinen Zweifel. Prinzipiell existiert dieses Risiko, dass aus Schweinezellen
Retroviren funktionell infektiös austreten können und menschliche Zellen infiziert werden
können.
Autor:
Die Frage, ob die Viren ein Risiko bei der Xenotransplantation darstellen, ist damit
allerdings nicht beantwortet. Um das zu untersuchen hat Ralf Tönjes versucht, die
Organverpflanzung zwischen Tieren und Menschen in der Zellkultur möglichst realistisch
zu simulieren.
9
O-Ton 22 - Ralf Tönjes:
Identisch können wir das nicht durchführen, also wie es im Patienten später stattfinden
sollte oder könnte. Das können wir nicht nachempfinden. Aber in der Kulturschale haben
wir ein Modell entwickelt, um zu der Aussage zu kommen: Nein, es werden keine
infektiösen PERV aus diesen möglichen Spenderschweinen und deren Lymphozyten
freigesetzt.
Autor:
PERV lautet die englische Abkürzung für die endogenen Retroviren beim Schwein. //
Ralf Tönjes konnte zeigen, dass diese Viren zwar in menschliche Blutzellen eindringen
können, sich dort aber nicht vermehren. Dennoch fordert er verschiedene Kontrollen
bevor tatsächlich Schweinezellen oder Schweineorgane in Menschen verpflanzt werden.
O-Ton 23 - Ralf Tönjes:
Wir haben eine Reihe von Schweinen untersucht - es waren an die zehn. Aber vielleicht
kommt ja das elfte Schwein, welches ebenfalls als Spenderorganismus genutzt wird, für
ein Herz, eine Niere oder auch Schweine-Inselzellen, zur Behandlung von Diabetes, und
könnte infektiöse Viren freisetzen, nachdem zwei defekte endogene Retroviren in der
Erbsubstanz des Schweines miteinander rekombiniert haben und dann die Zelle
verlassen.
Autor:
Verschiedene Viren könnten sich also zusammentun, und es entstünde ein neues, ein
infektiöses Virus, das verschiedene Krankheiten auslösen könnte. Dieses Szenario
beschreibt Beat Glogger in seinem Roman „Xenesis“.
Musik
Sprecherin:
„Die Sequenz ist retroviral“, er machte eine theatralische Pause, „und sie ist im Erbgut
jedes Schweins enthalten. Das heißt es ist ein so genanntes endogenes Retrovirus. …
Ich kann nur vermuten, dass ein einziges krankes Schwein genügt hat. Von dort kam die
Krankheit irgendwie auf den Menschen.“
Musik ENDE
Autor:
Ralf Tönjes hat den Thriller von Beat Glogger in einer Nacht verschlungen. Die
theoretischen Gefahren seien im Roman überzeugend dargestellt und fachlich habe der
Autor gut recherchiert, sagt er - und dennoch sei das theoretische Risiko kein Anlass für
schlaflose Nächte. „Xenesis“ ist nun einmal Fiktion.
Im medizinischen Alltag spielen endogene Retroviren eine untergeordnete Rolle.
Bedeutsam scheint hingegen ihr Einfluss auf die Evolution vieler Lebewesen. Allein die
Menge der Retroviren im Erbgut des Menschen beeindruckt Privatdozent Doktor Norbert
Bannert. Er arbeitet als Spezialist für Retroviren am Robert-Koch-Institut in Berlin.
10
O-Ton 24 - Norbert Bannert:
Wenn man sich das mal vor Augen hält: Ungefähr acht Prozent unseres Genoms, etwa
300.000 endogene Retroviren oder die Reste dieser Retroviren haben wir in unserem
Genom. Das ist weit mehr als die Anzahl unserer Gene, die wir haben.
Autor:
Es könnte sein, dass die zahlreichen Viren im Erbgut als Rohstoff für die Entwicklung
neuer Gene dienen. So gibt es ein Beispiel, bei dem das nachgewiesen werden konnte:
Das Gen für ein Eiweiß namens Syncytin. Ursprünglich stammt es aus einem Retrovirus
und war am Aufbau von dessen Hülle beteiligt. In vielen Säugetieren spielt es eine
Schlüsselrolle für die Arbeit der Plazenta. Die auch Mutterkuchen genannte Plazenta
versorgt während der Schwangerschaft den Fötus mit Nahrung. Ohne Syncytin und
ohne Retroviren wäre das Heranwachsen eines Embryos in der Gebärmutter der
Säugetiere nicht möglich.
O-Ton 25 - Norbert Bannert:
Es gibt sogar den Witz, dass wir ohne diesen Retrovirus heutzutage noch Eier legen
würden. Aber es stimmt tatsächlich. Das ist nicht nur bei Menschen, sondern man hat
entsprechende Gene, die auf endogene Retroviren zurückzuführen sind, auch bei
Mäusen und bei Ziegen und Schafen gefunden. Und da kann man natürlich
manipulieren. Und wenn man die Bildung der entsprechenden Proteine unterdrückt,
dann kommt es tatsächlich zu Aborten.
Autor:
Andere ehemalige Retroviren sind heute wichtige Schaltelemente im menschlichen
Erbgut. Diese Elemente sind viel kleiner als Gene. Aber sie sind ebenso bedeutsam,
denn ohne sie würde das Zusammenspiel der Erbanlagen nicht funktionieren.
O-Ton 26 - Norbert Bannert:
Sie sind ein Treiber der Evolution, dadurch, dass sie eine Vielzahl von regulatorischen
Einheiten in das Genom eingebracht haben und damit der Evolution Material bieten, um
für eine gewisse Durchmischung und Neuorganisation der Genome zu sorgen.
Autor:
Die Entwicklung der Säugetiere wäre ohne Retroviren ganz anders verlaufen, meint
Norbert Bannert. Vielleicht hätte sie gar nicht stattgefunden. Das gleiche gilt auch für die
Entstehung des Menschen. Die Evolutionsforscher müssen das bei ihren
Gedankenspielen berücksichtigen.
O-Ton 27 - Norbert Bannert:
Es ist alles nicht so schön geordnet, wie man sich das vielleicht vorgestellt hätte. Die
Plastizität entsteht aus einem gewissen Grad an Unordnung und Zufälligkeiten.
Letztendlich ist das eine der treibenden Kräfte der Evolution, die es uns möglich macht,
sich auf die sich wandelnden Bedingungen einzustellen seit vielen Tausenden Millionen
von Jahren.
11
Autor:
Für die Evolution sind die Viren im Erbgut eine riesige Spielwiese. Wenn auf einen
Organismus unerwartete Herausforderungen zukommen - wie zum Beispiel ein neuer
Lebensraum oder ein unbekannter Erreger - dann könnte dieses zusätzliche genetische
Material Hilfe bieten. Aus ruhenden Viren entstehen durch Mutation und Selektion Gene.
Das Risiko oder die Krankheit eines Individuums wird so zur Hoffnung für das Überleben
der Art. Kein Trost für die Betroffenen, aber dennoch Diskussionsstoff im Roman
„Xenesis“ von Beat Glogger.
Musik
Sprecherin:
„Das ist doch unmöglich“, sagte Narcy mehr zu sich selbst. „Unmöglich ist nichts in der
Biologie“ widersprach Alvaro. „Zufälle gibt es immer. Die Natur lebt vom Zufall. Ohne
zufällige Veränderung in der Genetik gäbe es keine Evolution.“
Musik ENDE
Autor:
Neben der Mutation, der zufälligen Änderung von Erbinformation, gibt es den
genetischen Schub durch Virusinfektionen. Der englische Mediziner und Autor Frank
Ryan nennt diese Form der Evolution durch Infektion „Virolution“.
O-Ton 28 - Frank Ryan:
This is about an interaction between two utterly different life forms …
Übersetzung:
Hier geht es um das Zusammenwirken zweier völlig unterschiedlicher Lebensformen.
Viren und zelluläres Leben. Zwei verschiedene Konzepte der Biologie kommen
zusammen und bilden ein gemeinsames Genom.
… single genome.
Autor:
Frank Ryan ist Mediziner, hält Vorträge über Evolutionsbiologie und gibt Seminare an
der Universität Sheffield. Er hat mehrere populärwissenschaftliche Sachbücher
geschrieben mit Titeln wie „Virus X“ oder „Virolution“. Frank Ryan ist eine Art
Privatgelehrter, der sich ohne die Verpflichtungen eines angestellten Wissenschaftlers
Gedanken über die Evolution macht. So ähnlich wie Charles Darwin vor 150 Jahren.
Sein Hauptthema ist das Zusammenleben von Menschen und Viren. Frank Ryan wählt
dafür den Begriff „aggressive Symbiose“. Denn Viren sind aggressiv. Sie greifen andere
Lebewesen an. Aber sie haben auch eine positive Seite. In der Evolution - wenn man sie
über Jahrtausende und Jahrmillionen betrachtet - ergänzen sich Zellen und Viren wie in
einer Symbiose - zwischen Säugetieren und Viren. Das gilt auch beim Menschen. Viren
12
und Menschen leben zusammen zum Nutzen beider. Schließlich besitzen sie ein
gemeinsames Erbgut.
O-Ton 29 - Frank Ryan:
I call this a holobiontic genome …
Übersetzung:
Ich nenne das ein holobiontisches Genom. Die Selektion zwingt die beiden Partner zur
Zusammenarbeit. Es entsteht ein Lebewesen aus zwei Ursprüngen: Der Holobiont. Das
virale Erbgut arbeitet auf sehr umfassende Weise mit dem menschlichen Erbgut
zusammen.
… in a very profound level with the human one.
Autor:
Eine zunächst unfreundliche Aktion führte letztlich zu etwas Neuem. Wer hier wen
beherrscht oder wer wen ausnutzt, ist Ansichtssache.
O-Ton 30 - Frank Ryan:
One of the things that viruses do: they play around with our immune system …
Übersetzung:
Viren spielen mit unserem Immunsystem herum. Sie täuschen oder manipulieren es.
Das ist typisch für Viren. Aber nun sind Viren zu einem Teil von uns Menschen
geworden. Unser Immunsystem wird von Viren kontrolliert, die in unseren
Chromosomen sitzen.
… actually sitting there among our chromosomes.
Autor:
Die Genetiker müssen umdenken, fordert Frank Ryan. Denn mittlerweile stehe außer
Zweifel, dass der Mensch und alle anderen höheren Lebensformen ein Produkt der
Viren seien. Ohne Viren gäbe es uns Menschen nicht. Denn mit den Viren fing laut
Frank Ryan alles an.
O-Ton 31 - Frank Ryan:
We don´t need cellular life …
Übersetzung:
Wir brauchen kein zelluläres Leben. Es reichten ein paar Viren, die sich gegenseitig
befallen, und das Leben konnte beginnen. Viren waren die Basis, auf der dann
zelluläres Leben entstehen konnte. Indem sie die Zellen befielen, brachten sie das
Leben voran. Und das tun sie bis heute.
… and they doing it until today.
13
Musik
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