Geschichtspolitische Entwicklungen - Justus-Liebig

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Justus-Liebig-Universität Gießen
Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften
Wissenschaftliche Hausarbeit
im Rahmen der Magisterprüfungsordnung
im Hauptfach Politikwissenschaft
eingereicht im
geisteswissenschaftlichen Prüfungsamt
der
Justus-Liebig-Universität Gießen
Thema:
Am Ende des Sonderwegs?
Geschichtspolitische Entwicklungen in Deutschland seit dem Amtsantritt der
Regierung Schröder.
Verfasser:
Gutachter:
Rolf Schleyer
Schiffenberger Weg 9
35394 Gießen
Tel.: 0641 / 77639
[email protected]
Prof. Dr. Klaus Fritzsche
Gießen, April 2002
Inhaltsverzeichnis
1
EINLEITUNG........................................................................................................................................ 1
2
GESCHICHTE – POLITIK.................................................................................................................. 3
3
DIE GESCHICHTSPOLITISCHEN DEBATTEN UNTER DER ROT-GRÜNEN
BUNDESREGIERUNG .................................................................................................................................. 9
3.1
RÜCKBLICK: DER WERDEGANG SEIT DER WIEDERVEREINIGUNG .................................................... 9
3.1.1
Die geistig-moralische Wende als Umschlagspunkt.................................................................. 9
3.1.2
Die Wiedervereinigung als Katalysator .................................................................................. 11
3.2
DIE WICHTIGSTEN SEIT DEM GEFÜHRTEN DEBATTEN .................................................................... 15
3.3
DAS GESCHICHTSBILD AM BEGINN DER NEUEN LEGISLATURPERIODE .......................................... 21
4
DIE GEFÜHLTE NATION ................................................................................................................ 23
5
DIE VERTRIEBENEN UND DIE NEUE BUNDESREGIERUNG ................................................ 27
5.1
VORGEBLICHER TABUBRUCH ........................................................................................................ 27
5.2
GESCHICHTLICHER ÜBERBLICK..................................................................................................... 32
5.3
DIE ROT-GRÜNE BUNDESREGIERUNG UND DIE VERTRIEBENENVERBÄNDE – OTTO SCHILY AUF DEM
„TAG DER HEIMAT“..................................................................................................................................... 35
6
7
5.4
DIE ÄUßERUNGEN DES TSCHECHISCHEN MINISTERPRÄSIDENTEN ................................................. 41
5.5
DIE BUNDESTAGSDEBATTE ........................................................................................................... 46
5.6
EIN ZENTRUM GEGEN VERTREIBUNGEN IN BERLIN? ..................................................................... 51
EXKURS: DIE RÜCKKEHR DES ANTISEMITISMUS ................................................................ 56
6.1
DER SALONFÄHIGE ANTISEMITISMUS............................................................................................ 56
6.2
KONFIGURATIONEN DES ANTISEMITISMUS .................................................................................... 60
DER KANZLER UND DER SCHRIFTSTELLER .......................................................................... 67
7.1
EINE SONNTAGSREDE ZUM AUFTAKT DER BERLINER REPUBLIK ................................................... 67
7.2
EIN GESPRÄCH IM WILLY-BRANDT-HAUS .................................................................................... 72
8
DAS KOLLEKTIVE „WIR“ .............................................................................................................. 78
9
VORSICHTIGER AUSBLICK .......................................................................................................... 79
10
VERZEICHNIS DER VERWENDETEN LITERATUR ................................................................ 83
10.1
DOKUMENTE DES DEUTSCHEN BUNDESTAGES .............................................................................. 83
10.2
LITERATUR.................................................................................................................................... 83
10.3
ARTIKEL........................................................................................................................................ 87
10.4
AUSGEDRUCKTE INTERNETSEITEN ................................................................................................ 92
1 Einleitung
So viel Geschichte wie in den letzten Jahren war nie. Fast kein politisches Thema, dass
nicht in irgendeiner Weise aus oder mit der Geschichte begründete wurde und wird. Spätestens seit dem Umzug der Bundesregierung nach Berlin scheint jede politische Handlung
ihre letzte Begründung in Geschichte zu suchen und zu finden. Selbst vordergründig lediglich städtebauliche Maßnahmen wie der Abriss des Palastes der Republik haben eine unzweifelhaft geschichtspolitische Dimension, wird doch mit dem zumindest teilweisen Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses ein Stück Geschichte revidiert – die Wahrzeichen
der untergegangenen DDR verschwinden in gleichem Maße aus dem Stadtbild wie die
Monumente preußischer Herrlichkeit wieder erstehen. 1
Wie kommt es zu einem solchen Boom geschichtspolitischer Debatten? Wie ist zu erklären, dass gerade unter einer rot-grünen Bundesregierung, die sich selbst als Erbin der Bewegung von 1968 und ihre Politik als in die Zukunft weisend begreift, in solchem Maße
auf die Geschichte rekurriert wird? Und natürlich: Welche Entwicklungslinien lassen sich
erkennen, welche Schlüsse aus den geschichtspolitischen Entwicklungen der letzten Jahre
ziehen?
Da allein eine skizzierte Darstellung aller geschichtspolitischen Debatten der letzten Jahre
den Rahmen der Arbeit bei weitem sprengen würde, soll sich im wesentlichen auf zwei
Aspekte beschränkt werden: Auf die zunehmend positive Bezugnahme auf die Vertriebenenverbände und das von ihnen vertretene Gesellschaftsmodell durch die rot-grüne Bundesregierung und die damit einhergehenden Folgen für Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik einerseits und die zunehmende öffentliche Wahrnehmbarkeit antisemitischer
Denkformen andererseits. Gleichwohl soll im Anschluss an eine Annäherung an den Begriff der Geschichtspolitik zunächst die Tendenz seit der deutschen Wiedervereinigung
nachgezeichnet werden, um daraufhin zu einer Einschätzung des gängigen Begriffs der
deutschen Nation unter Einbeziehung der deutschen Geschichte zu gelangen. Anhand der
Debatten um die Äußerungen des ehemaligen tschechischen Ministerpräsidenten Miloš
Zeman und ein geplantes „Zentrum gegen Vertreibungen“ sollen die zuvor gezogenen
Schlussfolgerungen exemplarisch beleuchtet werden.
In einem Exkurs wird versucht, der Schnittstelle zwischen dem in diesen Debatten deutlich
werdenden Geschichtsbild und der daraus resultierenden Auffassung von Gesellschaft und
dem sich immer stärker öffentlich äußernden Antisemitismus nachzuspüren, um anhand
dessen eine Erklärung für die positive Rezeption der Friedenspreisrede Martin Walsers
Vgl. Ripplinger, Stefan; It's Dynamite. Den Freunden des Berliner Stadtschlosses gebührt der Nobelpreis. in:
Jungle World; 13. Februar 2002
1
-1-
vom Herbst 1998 zu finden, die sich nicht zuletzt in dem ausgerechnet am 08. Mai 2002
stattgefundenen Gespräch zwischen Walser und Bundeskanzler Schröder ausdrückt.
Es soll also in erster Linie nicht darum gehen, die Debatten aufzugreifen, die darüber geführt wurden, ob Deutschland einen „Sonderweg“ in der normalen Entwicklung kapitalistischer Staaten eingeschlagen habe 2, vielmehr bezieht sich der Titel dieser Arbeit auf ein
Thesenpapier junger SPD-Abgeordneter, dass als programmatisch für die Ausrichtung der
Politik gelten kann:
Am 20.12.2001 erschien im Berliner TAGESSPIEGEL eine Meldung, nach der das Netzwerk
Berlin – ein Zusammenschluss von jungen SPD-Bundestagsabgeordneten 3 – ein Thesenpapier unter dem programmatischen Titel „Am Ende des Sonderweges“ vorgelegt habe. In
diesem wird ein radikaler Bruch mit der „68-Generation“ gefordert. Deutschland müsse
seiner europäischen Vormachtstellung gerecht werden und alte Selbstbeschränkungen aufgeben. Die Westbindung Konrad Adenauers und die Ostpolitik Willy Brandts müssten unter neuen weltpolitischen Bedingungen nun ergänzt werden durch „eine Politik der souveränen Normalisierung“. Unter anderem hieß es weiter: „Deutschland verfügt über alle
Rechte und Pflichten eines souveränen Staates.“
Militär ist ein Mittel der Außenpolitik – und zwar nicht nur als ultima-ratio-Instrument
für den Fall eines Krieges, sondern auch in vielen humanitären, logistischen, robustpolizeilichen und vertrauenschaffenden Missionen im Ausland.“ 4
Mit solchen Äußerungen einer jungen Politikergeneration wird die Befreiung Deutschlands
aus dem Kontext seiner Geschichte endgültig vollzogen, gründlicher als es Mitgliedern
einer konservativen Fraktion möglich gewesen wäre – diese hätten zumindest noch mit
Einsprüchen einer zu Recht kritischen Opposition zu rechnen gehabt. In diesem Fall waren
keine kritische Stimmen zu vernehmen. Nicht zuletzt wird eine höchst eigenwillige Umdeutung des Begriffes „Sonderweg“ vorgenommen: Nicht mehr wie bis dato der Weg
Deutschlands in den Nationalsozialismus wird hier als Sonderweg begriffen, sondern vielmehr die aufgrund des verlorenen Krieges über Jahrzehnte eingeschränkte staatliche Souveränität. 5
So nennt es denn auch die rechtsextreme Zeitung JUNGE FREIHEIT eine „Ironie“, dass die
Forderung der „Neuen Rechten“ nach einer konsequenten Interessenpolitik und dem end-
Zur Darstellung der Debatten um einen deutschen Sonderweg: s. Grebing, Helga; Der deutsche "Sonderweg" in
Europa 1806 – 1945. Eine Kritik; Stuttgart, 1986
3 Wie der SPD-Service verlautbarte, nahmen an der ersten Tagung des Netzwerkes 1999 im Willy-Brandt-Haus
250 Mandatsträger der SPD unter 40 Jahren teil – ein Hinweis darauf, dass diese Gruppierung in Zukunft noch
eine wichtige Rolle spielen könnte.
4 s.: Monath, Hans; Sackgasse Sonderweg. Junge Abgeordnete plädieren für eine neue Sicherheitspolitik; in: DER
TAGESSPIEGEL, 20. Dezember 2001
5 Zur Darstellung der Geschichte: Grebing, Sonderweg. Bezeichnender Weise wird so die Definition der „Neuen
Rechten aufgegriffen
2
-2-
gültigen Ende des „Sonderwegs“ ausgerechnet von einem sozialdemokratischen Kanzler
erfüllt wird. 6
Dementsprechend hieß das Schlüsselwort seit dem Regierungsantritt der neuen Bundesregierung „Normalität". In seiner Regierungserklärung vom 10. November 1998 hatte
Schröder den Machtwechsel als Übergang von der vergangenheitsfixierten 1945er zur zukunftsorientierten 1968er Generation interpretiert. Die neuen Verantwortungsträger seien
„im Aufbegehren gegen autoritäre Strukturen und im Ausprobieren neuer gesellschaftlicher und politischer Modelle" aufgewachsen und hätten damit, wie nahe gelegt wird, eine
verhängnisvolle Tradition deutscher Mentalitätsgeschichte überwunden. Ein assoziatives
Band zog sich von diesen „Biographien gelebter Demokratie" über das „Selbstbewusstsein
einer erwachsenen Nation“ bis hin zu Schröders Ankündigung, die „deutschen Interessen"
nachdrücklicher als bisher im EU-Rahmen vertreten zu wollen. 7
Die bereits erwähnte Fülle geschichtspolitischer Debatten brachte zahlreiche wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit diesem Thema mit sich. Im folgenden soll es zunächst um
eine kritische Auseinandersetzung mit gängigen Interpretationsmustern und den Entwurf
eines theoretischen Zugangs gehen.
2 Geschichte – Politik
Wenn der Begriff Geschichtspolitik verwendet wird, so wird meist die Instrumentalisierung von Erkenntnissen der Geschichtswissenschaft für die Politik darunter verstanden.
Diese Definition von Geschichtspolitik ermöglicht zum einen das Festhalten an der Vorstellung, dass die Geschichtswissenschaft selbst prinzipiell von politischen Einflüssen und
Interessen frei und es die Politik sei, die sich Erkenntnisse der historischen Forschung in
vereinfachter Form für ihre jeweiligen Interessen zunutze machte und zum anderen, dass
eine Kaste von politischen Akteuren genau dieses Geschäft betreibe. Dass allerdings Forschung, politisches Interesse und politisches Handeln in vielfacher Weise mit einander
verflochten sind, wird weitgehend ausgeblendet. 8
Einen häufig rezipierten Ansatz zur Definition von Geschichtspolitik legte der Historiker
Edgar Wolfrum vor, nach ihm wird in
pluralistischen Gesellschaften (...) ständig Geschichtspolitik betrieben, denn politische
Eliten – als gewichtiger Teil der Deutungseliten – gestalten und definieren das für ei-
Stein, Dieter; Der gehemmte Kanzler; in: JUNGE FREIHEIT 17. September 1999
s. Plenarprotokoll 14/3 10.11.1998; 60f.
8 Der Gestus des allein der historischen Wahrheit verpflichteten Wissenschaftlers wurde immer wieder gerade
von jenen beschworen, die sich um eine Neuinterpretation des Nationalsozialismus bemühten. Beispielhaft heißt
es in der Einleitung zu dem Sammelband „Schatten der Vergangenheit“, keiner der Beteiligten wolle sich am
Streit um die „Erringung kultureller Hegemonie“ beteiligen, vielmehr gehe es um einen rein wissenschaftlichen
Zugang.. s. Backes, Uwe / Jesse, Eckahard / Zitelmann, Rainer (Hrsg.); Die Schatten der Vergangenheit. Impulse
zur Historisierung des Nationalsozialismus. Um ein Nachwort erweiterte Ausgabe; Frankfurt a.M., 1992; S. 11
6
7
-3-
nen politischen Verband konstitutive Ensemble von grundlegenden Vorstellungen,
Normen, Werten und Symbolen. 9
Diese Prämisse wird von ihm durch die Darlegung von bestimmten Dimensionen von Geschichtspolitik erläutert: Danach sei Geschichtspolitik ein
Handlungs- und Politikfeld, auf dem verschiedene Akteure Geschichte mit ihren spezifischen Interessen befrachten und politisch zu nutzen suchen. Sie zielt auf die Öffentlichkeit und trachtet nach legitimierenden, mobilisierenden, politisierenden skandalisierenden, diffamierenden (...) Wirkungen. Bei den beteiligten Akteuren handelt es
sich (...) um konkurrierende Deutungseliten(...). 10
Sie sei eine „politisch-pädagogische Aufgabe“ der politischen Führung, die aufklärerisch
oder legitimatorisch-regressiv gelöst werden könne, darüber hinaus bestehe ein Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft einerseits und Politik andererseits. Während diese
über die Einhaltung objektiver Wissenschaftsstandards wache, arbeite jene mit notwendigen Vereinfachungen und Verkürzungen. 11
Auch Arbeiten, die sich durchaus kritisch auf Wolfrums Ansatz beziehen übernehmen in
weiten Teilen seine Definition. Klundt kritisiert an Wolfrum richtig, dass sich zum einen
Elemente der Totalitarismusdoktrin in seiner Definition finden 12, zum anderen durch das
Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Politik eine objektiv-neutrale wissenschaftliche
Fachöffentlichkeit impliziert werde, und macht sich in Abgrenzung davon Kühnls Definition zu eigen, nach der „gesellschaftliche Herrschaftsstrukturen, auch konkrete soziale und
politische Interessen“ den Rahmen festlegen, innerhalb dessen Forschung stattfindet, wodurch es unschicklich wird, bestimmte Begriffe zu verwenden, sowohl nach den Maßstäben der politischen Öffentlichkeit als auch der „scientific community“. 13 Durch diese Erweiterung des Begriffes entsteht nun allerdings eine Dichotomie, die die von ihm analysierten Debatten nach den Kriterien der Stützung von Herrschaftsinteressen und Kritik an
ihnen einteilt. Dies scheint insbesondere nach den Entwicklungen der letzten Jahre wenig
haltbar. 14
Wolfrum, Edgar; Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland: Der Weg zur bundesrepublikanischen
Erinnerung 1948 – 1990; Darmstadt, 1999; S. 5
10 ebd., S. 25f.
11 ebd., S. 29
12 Klundt, Michael; Geschichtspolitik. Die Kontroversen um Goldhagen, die Wehrmachtsausstellung und das
„Schwarzbuch des Kommunismus“; Köln, 2000; S. 12 kritisiert zu Recht, dass in der Sicht Wolfrums der NSStaat und die DDR den von ihm aufgestellten Ansprüchen an eine pluralistische Gesellschaft gleichermaßen
nicht genügen, wodurch es zu einer relativen Gleichsetzung komme.
13 ebd., S. 13
14 so werden die von ihm analysierten Zeitungsartikel eingeteilt in konservative Publikationen (FAZ und DIE
WELT), die für antiegalitäre und autoritär-hierarchische Strukturen in Staat und Gesellschaft eintreten, in sozialliberale (FR, SZ, ZEIT und SPIEGEL), und marxistische, die für egalitäre, demokratische Strukturen plädieren
(hier werden von ihm die JUNGE WELT, JUNGLE WORLD, KONKRET genannt). Diese schematische Einteilung führt in der Folge zu teilweise merkwürdigen Einschätzungen: So bleibt seine Bewertung des GoldhagenKritikers Norman Finkelstein unverständlich. Zwar ordnet er dessen Ausfälle richtig als antisemitische Verschwörungstheorie ein, betont aber andererseits, dass Finkelsteins Kritik nicht unberechtigt sei. S. 30ff.
9
-4-
Einen anderen Weg geht Wiegel: Vermittels der Hegemonietheorie Gramscis erweitert er
die Definition Wolfrums. Auch wenn in dessen Definition bereits hegemonietheoretische
Ansätze aufscheinen, bleibt sie doch weitgehend pluralismustheoretischen Ansätzen verhaftet, diesem Umstand versucht Wiegel durch die Verlagerung des Schwerpunktes auf die
Untersuchung der Vorstöße von rechter Seite, die auf die Erlangung der „kulturellen Hegemonie“ abzielen, auszuweichen. 15
Ausgangspunkt für Gramsci war die Überlegung, dass es den revolutionären Kräften in den
kapitalistischen Staaten des Westens trotz der tiefgreifenden gesellschaftlichen Krisen
nicht gelungen war, eine Revolution tatsächlich herbeizuführen und die bürgerliche Herrschaft zu beenden. Die Gründe suchte er in der „società civile“, einer Vermittlungsinstanz
zwischen der ökonomischen Basis und dem Regierungs- und Zwangsapparat des Staates. 16
Diese Vermittlungsinstanz – Kultur, Bildung, soziale Organisationen etc. – bilden gewissermaßen die ideologische Stütze des Staates, sie überdecken die Klassengegensätze, dem
Kampf in diesem Bereich kommt mithin eine zentrale Bedeutung zu, woraus sich eine tragende Rolle der Intellektuellen ergibt.
Bürgerliche Herrschaft lässt sich nach Gramsci also nicht allein als auf die Repressionsgewalt des Staates gestützt begreifen, vielmehr wird durch diese Vermittlung freiwillige Zustimmung zum System erzeugt. Dieser Aspekt der Klassenherrschaft wird von ihm mit
dem Begriff „Hegemonie“ bezeichnet. 17 Damit löste sich Gramsci einerseits von einer
ökonomistischen Sichtweise, wie sie zu jener Zeit weit verbreitet war. Es wäre ihm zufolge
primitiver Infantilismus (...) jede Fluktuation der Politik und Ideologie als unmittelbaren Ausdruck der ökonomischen Basis aufzufassen. 18
Dem liegt die Auffassung zu Grunde, dass die „Überbauten“ nicht als Reflexe der ökonomischen Verhältnisse, sonder vielmehr als „objektive und wirksame Realität“ 19 zu begreifen sind. Deshalb auch sein Hinweis, dass die von Marx im „Vorwort“ 20 formulierte These,
nach der die Menschen das Bewusstsein der fundamentalen Konflikte auf ideologischem Gebiet erlangen, nicht psychologisch oder moralistisch gemeint ist, sondern organisch erkenntnismäßig aufzufassen ist.21
15 Wiegel, Gerd; Die Zukunft der Vergangenheit. Konservativer Geschichtsdiskurs und kulturelle Hegemonie –
Vom Historikerstreit zur Walser-Bubis-Debatte; Köln, 2001; S. 24ff
16 Gramsci, Philosophie der Praxis, S. 412; in neuren Übersetzungen wird diese società civile meist mit "Zivilgesellschaft" übersetzt, ein Begriff, der meines Erachtens aufgrund der Konnotation mit der dieser Begriff belegt ist,
wenig passend erscheint. Bedeutet Zivilgesellschaft in der modernen Soziologie durchweg etwas positives, wird
es quasi gleichgesetzt mit Streitkultur und Demokratie, so liegt der Schwerpunkt in der Definition Gramscis eher
auf dem systemerhaltenden, Zustimmung erzeugenden Aspekt.
17 ebd., S. 345
18 ebd., S. 199f.
19 ebd., S. 279
20 Gramsci bezieht sich auf das Vorwort zu Kritik der politischen Ökonomie , in : Marx, Karl / Engels, Friedrich;
Werke (MEW); Berlin, 1971; Bd. 13; hier S.9
21 Gramsci, Philosophie, S. 316
-5-
Erst mit der Eroberung der kulturellen Hegemonie sei auch die Eroberung der politischen
Macht möglich, lautet dementsprechend seine Schlussfolgerung.
Andererseits stellt sich doch die Frage, so richtig und wichtig seine Einschätzung der relativen Autonomie ideologischer Prozesse war, ob nicht wesentliche Potentiale der Kritik der
politischen Ökonomie verschenkt werden, wird der enge Zusammenhang, der sich aus der
kapitalistischen Vergesellschaftung und den sich daraus ableitenden ideologischen Apparaturen ergibt, ausgeblendet.
Unter Rückgriff auf die Theorie Gramscis lassen sich die Versuche von rechter akademischer und publizistischer Seite adäquat beschreiben, die Prozesse die sich unterhalb einer
solchen Ebene bewegen, allerdings nicht. Die Pogrome von Rostock-Lichtenhagen und
Hoyerswerda oder die zahlreichen Anschläge auf Asylbewerberheime im Vorfeld der faktischen Abschaffung des Asylrechtes legen ein beredtes Zeugnis dafür ab, dass sich offensichtlich der von einer „Neuen Rechten“ betriebene Kampf um kulturelle Hegemonie in
Übereinstimmung mit dumpfen Gefühlen einer nicht unbeträchtlichen Zahl von Einwohnern der Bundesrepublik wissen kann. Erfolg versprechend kann ein solcher Kampf nur
sein, wenn er breite Resonanz findet, anknüpfen kann an bereits vorhandene Denkformen.
Keineswegs scheint er mit beliebigen Inhalten füllbar.
„Krieg den deutschen Zuständen!“ forderte Marx bereits in der Einleitung zur „Kritik der
Hegelschen Rechtsphilosophie“, da diese unter dem Niveau der Geschichte stünden, nachdem er zuvor festgestellt hatte:
Wir (...) haben die Restaurationen der modernen Völker geteilt, ohne ihre Revolutionen zu teilen. Wir wurden restauriert, erstens, weil andere Völker eine Revolution
wagten, und zweitens, weil andere Völker eine Konterrevolution litten, das eine Mal,
weil unsere Herren Furcht hatten, und das andere Mal, weil unsere Herren keine
Furcht hatten. Wir, unsere Herren an der Spitze, befanden uns immer nur einmal in der
Gesellschaft der Freiheit, am Tag ihrer Beerdigung. 22
Bereits in dieser frühen Bemerkung Marx´ klingt an, dass die Freiheit aller ohne die Freiheit des Einzelnen nicht denkbar sein kann, waren doch die angesprochenen Revolutionen
der modernen Völker bürgerliche, die das bürgerliche Subjekt in seiner Zwillingsgestalt als
Citoyen und Bourgeois zum Subjekt erhoben, somit die Voraussetzung für Freiheit schaffend.
Wenige Jahre später hieß es in der „Deutschen Ideologie“, dass die Geschichte von zwei
Seiten betrachtet werden könne, deren eine die Geschichte der Natur, - also Naturwissenschaft – sei, deren andere, die Geschichte der Menschen, besondere Aufmerksamkeit verdiene,
Marx, Karl; Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie; in: Marx, Karl / Engels, Friedrich; Werke (MEW),
Berlin, 1972; Bd. 1, S. 379f.; Hervorhebung im Original
22
-6-
da fast die ganze Ideologie sich entweder auf eine verdrehte Auffassung dieser Geschichte oder auf eine gänzliche Abstraktion von ihr reduziert. Die Ideologie selbst ist
nur eine der Seiten dieser Geschichte.23
Schließt man sich Marx in der Auffassung an, dass es letzten Endes die materielle Produktion, für kapitalistische Gesellschaften die spezifische Form der Vergesellschaftung ist, die
die herrschende Ideologie produziert, kommt man nicht umhin aus der Kritik der Ideologie
auf die Kritik der materiellen Produktion zu schließen. Mit diesen beiden Aussagen ist der
Rahmen einer möglichen Betrachtung von Geschichtspolitik in der Gegenwart der Bundesrepublik Deutschland skizziert:
Weder ist eine solche Betrachtung ablösbar von der spezifischen, deutschen Geschichte,
lässt sich eine allgemeine Aussage über die Verwendung von Geschichte in politischen
Zusammenhängen im Allgemeinen treffen, noch wäre eine Betrachtung die über die Gestalt der gegenwärtigen Ideologie hinausginge möglich.
Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien
Stücken, nicht unter selbstgewählten; sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie
ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.24
schrieb Marx im „achtzehnten Brumaire“. Gilt diese Definition prinzipiell für die Vorgeschichte der Menschheit, steht auch das Individuum als handelndes Subjekt immer auf dem
Boden der vorgefundenen Geschichte 25, so gilt dies um so mehr, soll Geschichte zum Ausgangspunkt einer positiven Identifikation gemacht werden.
Der Alp, der auf der bundesrepublikanischen Gegenwart lastet ist der Nationalsozialismus,
ist Auschwitz als Symbol für den Versuch der vollständigen Vernichtung der europäischen
Juden, ist der deutsche Volkssturm, der noch Tausende mobilisierte, als bereits eine Armee
von 2.000.000 vor Berlin stand und jeder Kampf bereits aussichtslos erscheinen musste,
sind die Todesmärsche, die die Opfer dieses Systems noch zum zu Tötenden bestimmte,
als jede Aussicht auf eine erfolgreiche Beendigung dieses Unterfangens bereits zum Scheitern verurteilt war. Das nationalsozialistische Deutschland trägt die Verantwortung für
jeden einzelnen Toten des Zweiten Weltkrieges, der Konzentrationslager und auch der Opfer unter der deutschen Bevölkerung.
Folglich musste von der politischen, publizistischen und akademischen Rechten seit dem
Bestehen der Bundesrepublik versucht werden, diesem Makel entgegenzuarbeiten, um eine
positive Identifikation mit den Begriffen „Nation“ und „Deutschland“ zu ermöglichen,
musste versucht werden, diesen historischen Kontext zu zerbrechen.
Marx, Karl / Engels, Friedrich; Die deutsche Ideologie; in: Marx, Karl / Engels, Friedrich; Werke (MEW),
Berlin, 1972, Bd.
24 Marx, Karl; Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte; in: MEW; Bd. 8, S. 115
25 vgl. Hobsbawm, Eric; Wieviel Geschichte braucht die Zukunft; München/Wien, 1998; S. 24ff.
23
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Dabei spielte es keine Rolle, ob seit Mitte der 70er Jahre von konservativer Seite eine
„Tendenzwende“ hin zu einer positiv besetzten nationalen Identität gefordert wurde 26 - auf
dem Historikertag in Mannheim 1976 forderte der rechtsextreme Erlanger Historiker
Hellmut Diwald von seinen Kollegen, der „Nation“ ein „einheitliches Geschichtsbild“ zu
liefern, dass durch seine „Geschlossenheit und Kontur“ den Desintegrationserscheinungen
der Gesellschaft entgegenwirken und sie konsensuell festigen sollte, was damals auf breiten Widerstand liberaler Historiker stieß, die sich zu einer Vielfalt konkurrierender Geschichtsdeutungen und wissenschaftlicher Pluralität bekannten 27 – oder ob versucht wird,
dem Nationalsozialismus modernisierende Elemente anzudichten, um ihn in eine allgemeine Geschichte der „Moderne“ einzugliedern. 28
Länger schon ist zu beobachten, dass diese Versuche systematisiert werden unter einem
Rückgriff auf Gramscis Begriff der „kulturellen Hegemonie“, die es zu erringen gelte und
Bündnispartner zu finden, die dieses Vorhaben vorantreiben können. 29
Aber auch die scheinbar einer Uminterpretation gegenteilige Absicht, die Geschichte loszuwerden anstatt sie in einen anderen Zusammenhang zu stellen, indem man den Blick in
die Zukunft zum Programm erhebt, wie dies Gerhard Schröder in seiner Regierungserklärung tat, muss angesichts dessen zum Scheitern verurteilt sein. Auch wenn dies möglicherweise ursprünglich nicht intendiert war, öffnet eine solche „Geschichtsvergessenheit“
den Hegemoniebestrebungen, die sich auf diese Form der Vergesellschaftung beziehen,
Tür und Tor.
Gerade in der kritischen Forschung ist die Annahme weit verbreitet, dass eine solche Auffassung von Geschichte, die auf die Herstellung einer aus der Geschichte ableitbaren Identität beruht, direkt ökonomischen Interessen nutze. Eine solche Auffassung scheint zumindest in diesem Absolutheitsanspruch nicht haltbar.
Im Gegenteil könnte man die These vertreten, dass sich gerade die spezifisch deutschen
Reste von ständischer Gesellschaftsordnung, die sich sowohl in der immer wieder auf die
Geschichte rekurrierenden Politik äußert als auch in den größten Teilen des Handwerks –
erstmals wurde dieser Begriff bei einer Tagung der Bayerischen Akademie der schönen Künste 1974 programmatisch benutzt, s. Podewils, Clemens Graf (Hrsg.); Tendenzwende. Zur geistigen Situation der Bundesrepublik.
Vorträge bei der Bayerischen Akademie der schönen Künste, November 1974 in München; Stuttgart, 1975
27 vgl. Wolfrum, Geschichtspolitik, S. 308
28 für einen solchen Versuch stehen die Arbeiten Rainer Zitelmanns, der immer wieder versuchte, „soziale Mobilität“, „egalitäre Tendenzen“ und „Sozialstaatlichkeit“ im Nationalsozialismus und insbesondere in den Vorstellungen Adolf Hitlers zu entdecken; s. z.B. Zitelmann, Rainer; Hitler. Selbstverständnis eines Revolutionärs; Stuttgart, 19892
29 Wagner, Bernd (Hg.); Handbuch Rechtsextremismus. Netzwerke, Parteien, Organisationen, Ideologiezentren;
Reinbek bei Hamburg, 1994; S. 25; der wichtigste Mittelsmann ist Alain de Benoist, dessen Buch "Kulturrevolution von Rechts. Gramsci und die Nouvelle Droite" auf Deutsch erschien.
26
-8-
mithin der mittelständischen Betriebe – eher als Hemmschuh erweist. Ähnliches gilt auch
für die Zuwanderung und das Staatsangehörigkeitsrecht.
3 Die geschichtspolitischen Debatten unter der rot-grünen Bundesregierung
3.1 Rückblick: Der Werdegang seit der Wiedervereinigung
3.1.1 Die geistig-moralische Wende als Umschlagspunkt
Will man einen Beginn der geschichtspolitischen Offensiven der letzten Jahrzehnte in der
Bundesrepublik suchen, bietet sich die 1982 von Helmut Kohl ausgerufene „geistigmoralische Wende“ als möglicher Einschnitt an. Zwar brach dieser Wechsel im geschichtlichen Verständnis der Bundesrepublik keineswegs unvermittelt herein, er hatte sich bereits
seit den frühen 70er Jahren angekündigt und fand in der „Preußen-Renaissance“ 30 von
1977 bis 1981 einen ersten Ausdruck, doch steigerten sich Frequenz und Qualität der geschichtspolitischen Vorstöße mit dem Antritt der konservativ-liberalen Regierung.
Seit dem Amtsantritt Kohls wurde systematisch versucht, deutsche Geschichte und Erinnerung an den Nationalsozialismus und den Holocaust so umzudeuten, dass aus ihrem Schatten herausgetreten und die Bundesrepublik mit der „Identität einer normalen Nation“ ausgestattet werden könnte. 31
Zu den wichtigsten Etappen auf diesem Wege gehörte Bitburg: Gegen den massiven Protest jüdischer und antifaschistischer Verbände besuchte Bundeskanzler Helmut Kohl mit
dem damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan 1985 den Soldatenfriedhof in Bitburg, auf
dem neben einfachen Soldaten auch Angehörige der Waffen-SS begraben liegen, im direkten Anschluss an einen Besuch der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen. Das Foto, das Kohl
und Reagan Hand in Hand über den Gräbern zeigt, ging um die Welt und steht sinnbildlich
für den Versuch unter dem Signet der Versöhnung die Täter-Opfer-Dimension verschwinden zu lassen. 32
Wolfrum, Geschichtspolitik, S.355
als programmatisch für dieses Ansinnen kann die Rede Alfred Dreggers „zur Lage der Nation“ im Deutschen
Bundestag gelten, in der er die politischen Ziele der neuen Bundesregierung darlegte. Er stellte fest, dass zwischen 1965 und 1975 ein Bruch mit der Mehrzahl der Traditionen stattgefunden habe, die zur „Substanz unserer
nationalen Identität gehört“ hätten und fährt fort: „Die Wende, die wir politisch erreicht haben und durchsetzen
wollen, wird ihre Bewährungsprobe nicht zuletzt darin zu bestehen haben, unser nationale Identität in der Identität unserer Werte wiederherzustellen (...) Ich lade ein, sich wieder mit dem Wurzelgrund unserer Kultur zu befassen.“ Plenarprotokoll 10/16, v. 23. Juni 1983, 1015
32 vgl. Evans, Richard J.; Im Schatten Hitlers? Historikerstreit und Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik; Frankfurt a.M., 1991; S. 30ff. Evans weist darauf hin, dass erst nach großem öffentlichen Druck in den
USA Reagan sich bereit erklärte, neben dem Besuch eines Soldatenfriedhofs auch den Besuch der KZGedenkstätte in das Programm mit aufzunehmen.
30
31
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In dem durch einen solchen Zugriff auf die Geschichte entstandenen geistigen Klima war
der Boden bereitet für einen groß angelegten Angriff, der im Historikerstreit 1986 eskalierte. Der Kanzlerberater Michael Stürmer und die nationalkonservativen Historiker Ernst
Nolte und Andreas Hillgruber gaben den Ton an, allerdings scheiterte dieser Versuch, die
deutschen Verbrechen und insbesondere den Holocaust zu relativieren, indem sie aus dem
Kontext der deutschen Geschichte gelöst, in „asiatische Taten“ 33 umdefiniert und in eine
Reihe von „Völkermorden“ gestellt wurden, zunächst am breiten Widerstand kritischer und
liberaler Historiker. 34
Allerdings stellte sich bereits wenige Jahre später heraus, dass die unter den Kritikern des
Revisionsversuchs verbreitete Siegesstimmung verfrüht war. Als Pferdefuß erwies sich das
von Habermas in die Diskussion eingebrachte Stichwort des „Verfassungspatriotismus“ als
einziger Form eines zulässigen Patriotismus:
Wer die Deutschen zu einer konventionellen Form ihrer nationalen Identität zurückrufen will, zerstört die einzig verläßliche Basis unserer Bindung an den Westen. 35
Waren die meisten der Kritiker Habermas in diesem Punkt gefolgt und machten sich den
Standpunkt eines Verfassungspatriotismus zu eigen 36, stellte sich schon bald heraus, dass
diese Konstruktion, die eher einen Konsens als entschiedene Gegenwehr zu bewerkstelligen suchte, letztlich die Tür zu einem tatsächlich breiten Konsens unter dem Vorzeichen
des Geschichtsrevisionismus öffnete. 37
Denn Verfassungspatriotismus in Deutschland kann sich nur auf das Grundgesetz beziehen, dass neben seinen Bestimmungen zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie auch die
Nolte, Ernst; Vergangenheit, die nicht vergehen will. Eine Rede, die geschrieben, aber nicht gehalten werden
konnte; in: FAZ, 6. Juni 1986; abgedr. in: „Historikerstreit“. Die Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung; München, 19874; S. 39 - 47
34 aus der umfangreichen Literatur, die zu diesem Thema erschien, seien die aktuellsten genannt: Assmann, Aleida
/ Frevert, Ute; Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945; Stuttgart, 1999; Wiegel, Gerd; Die Zukunft der Vergangenheit. Konservativer Geschichtsdiskurs
und kulturelle Hegemonie; Köln, 2001
35 Habermas, Jürgen; Eine Art Schadensabwicklung; in: DIE ZEIT; 11. Juli 1986
36 s. Elsässer, Jürgen; Antisemitismus. Das alte Gesicht des neuen Deutschland; Berlin, 1992; S. 23ff.
Der Begriff Verfassungspatriotismus stammt ursprünglich von Dolf Sternberger, dem es dabei hauptsächlich um
einen republikanischen Bezug auf das Vaterland ging. Bei Sternberger ist Verfassungspatriotismus ein Synonym für
die von ihm bereits früher reklamierte Staatsfreundschaft. In beiden Begriffen kommt bei Sternberger eine deutliche
Abgrenzung zum von ihm sog. Protest-Patriotismus der Linken zum Ausdruck. Wichtig ist ihm ein freundschaftliches
Verhalten zum Vaterland sowie Loyalität gegenüber dem Staat. Vgl. Sternberger, Dolf; Der Begriff des Vaterlandes, in: ders., Staatsfreundschaft, Schriften, Bd. IX, Frankfurt a.M. 1980, S. 9 ff. - Vgl. auch ders.: Verfassungspatriotismus, Schriften, Bd. X, Frankfurt a.M. 1990) - Bei Habermas erlangt der Begriff des Verfassungspatriotismus allerdings eine andere Bedeutung. Er löst den Patriotismus aus seinem nationalen Rahmen. Erst dadurch
lässt sich von einem abstrakten Verfassungspatriotismus sprechen. - Vgl. dazu allgemein Seifert, Jürgen; Verfassungspatriotismus im Licht der Hegelschen Verfassungstheorie, in: ders., Politik zwischen Destruktion und Gestaltung.
Studien zur Veränderung von Politik, Hannover 1997, S. 67ff. - Vgl. auch ders.: Kampf um Verfassungspositionen; Frankfurt a.M. 1974.
37 Der Kampf um eine deutsche „Identität“, wie er bspw. von Hagen Schulze propagiert wurde – er müsse von
den Historikern geführt werden, bevor es jemand anderes tue – machte einen nicht unwesentlichen Teil der
Debatte aus. Es war nicht zuletzt die unkritische Berufung auf das Grundgesetz, die einen Anschluss seitens der
Kritiker an eine solche „Identität“ ermöglichte. Vgl. Elsässer, Antisemitismus, S. 23ff.
33
- 10 -
Grundbegriffe einer völkischen Prämisse des Staates enthält und damit eben nicht den ursprünglich intendierten Anlehnungen an westliche Grundlagen entspricht. 38
3.1.2 Die Wiedervereinigung als Katalysator
Die deutsche Wiedervereinigung 1990 führte nicht nur zu einer tiefen Verunsicherung von
sich bis dato als links, kritisch und / oder liberal verstehenden Intellektuellen und damit zu
einer neuen Offenheit gegenüber nationalen Ideologemen, sie brachte damit einhergehend
auch neuen Schub für Versuche, eine positive Identifikation mit dem ideologischen Konstrukt Deutschland zu erzeugen und in diesem Zuge die Spezifika deutscher Geschichte
einebnen zu wollen und zu müssen.
Bereits mit der Wiedervereinigung wurde die Gleichsetzung von „NS-Staat und SEDStaat“ offensiv betrieben und setzte sich schließlich als amtliche Sprachregelung durch. In
ihrem Anschluss wechselten zahlreiche der ehemaligen Kritiker die Seiten, so dass Ernst
Nolte im Februar 1992 zufrieden feststellen konnte:
Kaum je hat eine Gruppe von Intellektuellen eine so eklatante Niederlage erlitten wie
diejenigen, die den „Verfassungspatriotismus“ an die Stelle des Nationalgefühls setzen
wollten. 39
Im März 1992 brachten alle im Bundestag vertretenen Fraktionen Anträge zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte durch die Einsetzung einer Enquete-Kommission ein. 40 Wurden
in diesen Anträgen noch direkte Bezugnahmen auf die Totalitarismustheorie vermieden, so
wurde in der der Enquete-Frage gewidmeten Bundestagsdebatte um so kräftiger davon
Gebrauch gemacht. 41
In den Experten-Anhörungen der Enquete-Kommission zeigte sich, dass ein Großteil der
ehemaligen Revisionismuskritiker mittlerweile bereit war, alte Bedenken fallen zu lassen
und einer totalitarismustheoretischen Variante der Deutung deutscher Geschichte zuzustimmen. Jürgen Kocka, vormals einer der dezidiertesten Kritiker Noltes im Historikerstreit, akzeptierte die Totalitarismuskonzeption grundsätzlich: Er betonte den „antiwestlivgl.: Dieter Oberndörfer spricht mit Blick auf den Art. 116, GG von einem „völkischen Kern des Grundgesetzes“; Oberndörfer, Dieter; Der Wahn des Nationalen. Die Alternative der offenen Republik; Freiburg i. Breisgau,
1993; S. 68ff.
39 Nolte, Ernst; Die fortwirkende Verblendung; in: FAZ, 22. Februar 1992
40 Detailliert nachgezeichnet wurde der Gang der Debatte von Roth, Karl Heinz; Geschichtsrevisionismus. Die
Wiedergeburt der Totalitarismustheorie; Hamburg, 1999; S. 75ff Die gesammten Materialien der EnqueteKommission „Aufarbeitung vn Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ wurden abgedruckt
in: Deutscher Bundestag (Hg.); Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen
der SED-Diktatur in Deutschland“; Neun Bände in 18 Teilbänden. Die Anträge der Fraktionen: ebd. Bd. I, S.
3ff.
41 Wolfgang Schäuble plädierte für eine „politische Abrechnung mit dem totalitären Sozialismus“, (ebd., Bd. I, S.
57) Günther Müller (CDU/CSU) setzte Nazis und Kommunisten der Weimarer Republik als „totalitäre Gruppierungen“ gleich(ebd. Bd. I, S. 118), Roswitha Wisniewski (CDU/CSU) gab ihrer Ansicht in einem zu Protokoll
gegebenen Beitrag Ausdruck, dass der „real existierende Sozialismus“ mit seinem Verbot der Verfügung über
Privateigentum gegen die anthropologischen Naturgesetze verstoßen und sich damit dem Nazismus „mit teilweise erschreckender Menschenvernichtung“ an die Seite gestellt habe. (ebd. Bd. I, S. 149f.)
38
- 11 -
chen Charakter“, den die NS-Diktatur und die DDR gemeinsam gehabt hätten, beide wurzelten in den „illiberalen Traditionen der deutschen politischen Kultur“. 42
Jürgen Habermas, der mit seiner engagierten Zurückweisung des Vorstoßes Noltes den
Historikerstreit ausgelöst hatte, zeigte bei diesen Anhörungen große Kompromissbereitschaft: Die Bundesrepublik sei die Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches, daran habe
sich auch durch den Beitritt der DDR nichts geändert, die Aufeinanderfolge der beiden
Diktaturen gehöre zu ihrem historischen Erbe. Sie könne
einer lehrreichen optischen Verstärkung der totalitären Gemeinsamkeiten dienen und
den Blick auf die strukturellen Enteignungen von Bürgern richten, die ihrer sozialen
und rechtlichen Autonomie mehr oder minder weitgehend beraubt worden 43
seien.
Den eindrucksvollsten Wandel aber hatte der Zeitgeschichtler Immanuel Geiss vorzuweisen. Hatte er noch 1988 den Deutschen aufgrund ihrer Geschichte das „nationale Selbstbestimmungsrecht“ abgesprochen, als er schrieb:
Die politischen Konsequenzen für uns Deutsche heute, (...) sollten auf der Hand liegen. (...) Durch ihre vollständige oder annähernde nationalstaatliche Einigung werden
die Deutschen automatisch zur Hegemonialmacht mit explosiven Folgen für jedes europäisches System katapultiert. Nachdem sie aber in unserem Jahrhundert gleich
zweimal diesen Mechanismus durchexerziert haben, der die Welt jedesmal in einen
Krieg stürzte, dürfen sie sich auf kein nationalstaatliches Abenteuer mehr einlassen.
Sie müssen die Forderung akzeptieren und sich zu eigen machen: keine Wiedervereinigung Deutschlands als neuer Nationalstaat, der als Viertes Reich nur eine neue Runde im Karussell deutscher Machtpolitik eröffnen würde – automatische Konstituierung
Deutschlands als neues Machtzentrum, Expansion (...), Krieg. 44
so äußerte er sich nun genau gegenteilig. Bei der letzten Anhörung attackierte er Habermas
trotz dessen grundsätzlicher Bereitschaft zum antitotalitären Konsens scharf. Nach einleitenden Bemerkungen über die wiedererstandene deutsche „Mittellage“ brachte er sein Erstaunen darüber zum Ausdruck, dass sich dieser plötzlich in antitotalitären Gemeinsamkeiten mit Leuten übe, denen derartiges im Historikerstreit noch als „Ausweis von neokonservativer bis neonazistischer Gesinnung“ angerechnet worden sei, und identifizierte Habermas in indirekter Anspielung als „Freiwilligen Mitarbeiter“ des Ministeriums für Staatssicherheit. 45
Natürlich konstatierte Kocka auch gravierende Unterschiede: Die DDR habe keine Massenmorde begangen,
keine Expansionskriege geführt, Rassismus, Antisemitismus und Sozialdarwinismus seien ihr fremd gewesen.
Diese Einwände spielten in der anschließenden Debatte allerdings keine Rolle mehr, vielmehr wurde von konservativer Seite gelobt, dass Kocka sich die Schlüsselaxiome der Totalitarismuskonzeption zu eigen gemacht habe.
ebd., Bd. IX, S. 588ff.
43 ebd. Bd. IX, S. 688
44 Geiss, Immanuel; Die Habermas-Kontroverse. Ein deutscher Streit, Berlin, 1988; S. 172; gleichwohl wird von
ihm bereits zu diesem Zeitpunkt der Wunsch nach „nationaler Identität“ im Gewand einer deutschen Kulturnation offen ausgesprochen.
45 Enquete-Kommission, Bd. IX, S. 761f.
42
- 12 -
Somit konnte schließlich im Bundestag die DDR mit überwältigender Mehrheit zum totalitären System erklärt werden, die Rede von den „zwei totalitären Systemen in Deutschland“
oder einfacher den „zwei Diktaturen in Deutschland“ wurde mit den Weihen sowohl der
Geschichtswissenschaft wie der Politik versehen. Damit war ein wesentlicher Meilenstein
auf dem Wege der Relativierung des Nationalsozialismus erreicht. 46
Dieser neu gewonnene breite Konsens erwies sich als haltbar: Wurde beim Erscheinen des
Buches „Hitlers willige Vollstrecker“ von Daniel Goldhagen 47 von der ZEIT noch ein
„neuer Historikerstreit“ 48 angekündigt, so stellte sich sehr schnell heraus, dass sich die
Debatte dadurch unterschied, dass es keine antagonistischen Lager gab, die sich gegenüberstanden, die Debatte entfallen musste, da es keine Kontrahenten gab. 49
Tatsächlich äußerte sich die politische Rechte kaum zu diesem Thema, vielmehr waren es
gerade diejenigen, die 1986 noch gegen Noltes „Nivellierungsthesen“ 50 Partei ergriffen
hatten, die die Thesen Goldhagens zurückwiesen. 51
Der türkische Schriftsteller Zafer Senocak schrieb als abschließenden Kommentar in der
SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG:
Das selbstzufriedene, demokratische Deutschland hat sich als unsicheres, schnell beleidigtes und in seinen Grundwerten keineswegs gefestigtes Konstrukt geoutet. (...)
Durch das Buch von Goldhagen ist der Verteidigungsfall eingetreten. Die Stunde der
Schicksalsgemeinschaft hat geschlagen.52
Neben der Abwehrfront der deutschen Historiker besonders auffällig ist, dass gewissermaßen als Fortsetzung der Einebnung der Spezifika des Nationalsozialismus der Holocaust
nun zum „ganz normalen Völkermord“ mutierte.
DIE WELT schrieb:
Der Pamphletist Goldhagen lädt bei den Deutschen ein Problem ab, das leider Gottes
menschliche Dimension hat 53
die FRANKFURTER RUNDSCHAU konstatierte „Für Babi Yar gibt es Srebrenica“ 54, DER
SPIEGEL: „Goldhagens Zeitgenossen können (...) auf die Vollstrecker des Willens von
46 s. Entschließungsantrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen; ebd. Bd. I, S. 779ff;
S. 783
47 Goldhagen, Daniel Jonah; Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust; Berlin,
1996; die Frage ist hier nicht, inwieweit das Buch Anlass zur Kritik bietet, sondern wie in Deutschland auf dieses
Buch reagiert wurde. Ein Beispiel für eine inhaltliche Kritik bietet die Aufnahme des Buches in Israel, insbesondere bei den Holocaust-Forschern der Gedenkstätte Yad Vashem; vgl. Wollin, Amos; Eher desinteressiert. Zur
aktuellen Goldhagen-Rezeption in Israel; in JUNGE WELT, 23. Dezember 1997
48 s.: Ullrich, Volker; Hitlers Henker, eine Debatte: Hitlers willige Mordgesellen; in: DIE ZEIT; Nr. 16 / 12. April
1996
49 Zur Goldhagen-Debatte siehe: Wiegel, Zukunft; S. 207ff., zur Rezeption durch die deutsche Linke: Küntzel,
Matthias / Thörner, Klaus u.a.; Goldhagen und die deutsche Linke oder Die Gegenwart des Holocaust; Berlin,
1997
50 Küntzel /Thörner, Goldhagen, S. 36
51 Jäckel, Wehler, Hans Mommsen
52 Senocak, Zafer; Das selbstzufriedene, demokratische Deutschland hat sich als unsicheres, schnell beleidigtes
Konstrukt geoutet; in: SÜDDEUTSCHE ZEITUNG; 19. August 1996
53 Nolte, Jost; Sisyphos ist Deutscher; in: DIE WELT; 16.April 1996
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Mao, Pol Pot, Idi Amin, Karadzic verweisen“ 55 und die ehemals alternative Tageszeitung
TAZ war sich sicher, dass nicht nur die These von der deutschen Kollektivschuld neu belebt würde, sondern Deutschland sich aus der Selbstzerknirschung befreien und die zur
„Flagellanten-Geste verkommene Selbstbezichtigungsrhetorik“ ablegen müsse:
Erst die Dämonisierung deutscher Innenansichten liefert das rechte Maß an Scham,
Schicksalsmacht und Zerknirschtheit, das hier offenbar noch immer gebraucht wird 56
In Richtung einer solchen Relativierung zielte auch die Neugestaltung der neuen Wache in
Berlin 1993, die seitdem den „Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft“ gewidmet ist. 57
Direkt nach der Wiedervereinigung wurde die Steinintarsie mit dem Staatswappen der
DDR von der Rückseite des Innenraumes des bisherigen DDR-Mahnmals gegen Militarismus und Faschismus entfernt, wurden die paradierenden NVA-Wachsoldaten durch Polizeibeamte ersetzt, die Funktion des Gebäudes als zentraler Gedenkstätte blieb gleichwohl
unberührt. Bundeskanzler Kohl, der sich bereits seit den frühen 80er Jahren die vor allem
von Kriegsopfer- und Vertriebenen-Verbänden forcierte Idee eines nationalen „Ehrenmals“
zu eigen gemacht hatte, nutzte seine Richtlinienkompetenz, um eine Nutzung als Zentraler
Gedenkstätte der wiedervereinigten Bundesrepublik durchzusetzen. 58 Gegen teilweise
massive Kritik – sowohl politischer wie auch ästhetischer Art – wurde von ihm mehr oder
minder angeordnet, dass anstelle des Glaskubus mit der ewigen Flamme eine gegenüber
ihrer ursprünglichen Dimension vielfach vergrößerte Skulptur von Käthe Kollwitz, „Mutter
mit totem Sohn“, aufgestellt wurde, vor der die Widmungsinschrift „Den Opfern von Krieg
und Gewaltherrschaft“ in den Boden eingelassen wurde. Die Gräber des Unbekannten Soldaten und des Unbekannten Widerstandskämpfers wurden belassen, da ihre Symbolik als
passend zur Botschaft des Gedächtnisortes betrachtet wurde: Schließlich sollte sowohl den
gefallenen Soldaten als auch den Opfern des Nationalsozialismus gedacht werden. Diese
prinzipielle Gleichsetzung, die sich bereits in der Symbolik zeigt, wurde zum einen durch
die Wahl des Datums, zum anderen durch die Erklärung, die der Bundeskanzler zur Einweihung abgab, bestätigt.
Die Einweihung fand auf eine Entscheidung Kohls hin ausgerechnet am Volkstrauertag
1993 statt, also jenem Tag also, an dem der deutschen Kriegsopfer, den Bombentoten und
den deutschen Soldaten gedacht wurde. 59 Der Eindruck, dass die Opfer des Nationalsozialismus hinter dieser Art des Gedenkens verschwänden, wurde zusätzlich bestätigt durch die
Arning, Matthias / Paasch, Rolf; Die provokanten Thesen des Mister Goldhagen; in: FRANKFURTER
RUNDSCHAU; 12. April, 1996
55 Meyer, Fritjof; Ein Volk von Dämonen?; in: DER SPIEGEL, Nr. 21 / 1996; S. 48 – 77; S. 52
56 Niroumand, Mariam; Little Historians; in: TAZ, 13.April 1996, S. 10
57 s. Moller, Sabine; Die Entkonkretisierung der NS-Herrschaft in der Aera Kohl. Die Neue Wache, das Denkmal
für die ermordeten Juden Europas, das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland; Hannover, 1998
58 Assman, Geschichtsvergessenheit, S. 273; Moller, Entkonkretisierung, S. 139
59 zur Geschichte des Volkstrauertages s. Wolfrum, Geschichtspolitik, S. 59ff.
54
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Erklärung, dass „die Erinnerung an den Tod von Millionen unschuldiger Menschen“ wach
gehalten werden sollte. 60
Deutete sich bereits zu diesem Zeitpunkt ein parteiübergreifender Konsens an, was die
Behandlung der Geschichte anging, einen Unterschied gab es, wie sich im Nachhinein herausstellte, doch: Für die Regierung Kohl stand die Westbindung der Bundesrepublik, eine
enge transatlantische Freundschaft nie in Zweifel, Momente, die einen Anlass für mögliche
Versöhnungsgesten boten, wurden von ihm, immer auch mit Blick auf das Ausland, wahrgenommen. Diese Sensibilität im Umgang mit den europäischen Nachbarn spielte, wie sich
bald herausstellte für die neu gewählte rot-grüne Bundesregierung keine Rolle mehr. An
dem ersten Termin nach der Bundestagswahl, der dem frisch gewählten Bundeskanzler
Schröder die Möglichkeit zu einer Versöhnungsgeste bot, die Feierlichkeiten zum 80. Jahrestag des Endes des Ersten Weltkriegs, nahm er „aufgrund anderer Termine“, nicht teil. 61
3.2 Die wichtigsten seit dem geführten Debatten
Dass nach dem Regierungsantritt der rot-grünen Koalitionen nicht allein geschichtspolitisch ein neuer Ton angeschlagen wurde, brachte Regierungssprecher Heye bereits kurz
nach der Wahl zum Ausdruck:
Unsere Nachbarn müssen sich daran gewöhnen, dass Deutschland sich nicht mehr mit
dem schlechten Gewissen traktieren lässt.62
Und einer der „Vorausdenker der Berliner Republik“ 63, der Soziologe Heinz Bude, glaubte
erkannt zu haben, dass die
Demokratiebegründung einer Berliner Republik nicht mehr vergangenheitspolitisch
funktionieren kann. Denn die vergrößerte Bundesrepublik hat seit 1989 eine neue
Vorgeschichte. Aus der Sicht der Berliner Republik stellt die Bonner Republik eine
Art Pufferstaat dar, der einen Abstand zum Nationalsozialismus herstellt. 64
Damit brachte er die Sache auf den Punkt: Schließlich war nach dem Regierungswechsel
eine Bundesregierung im Amt, die sich auf die 68er berief und von sich selbst annahm, mit
der Vergangenheit bereits gründlich abgerechnet zu haben. Beides, sowohl der Glaube,
dass vergangenheitspolitische Begründungen keine Rolle mehr spielen würden, als auch
die Annahme, dass die Vergangenheit von der neuen Politikergeneration gründlich aufgearbeitet sei, sollte sich jedoch allzu bald als Irrtum herausstellen.
zit.n.: Jeismann, Michael (Hg.); Mahnmal Mitte. Eine Kontroverse; Köln, 1999; S. 53
n. Wiegel, Gerd; Eine Rede und ihre Folgen; in: Klotz, Johannes / Wiegel, Gerd; Geistige Brandstiftung? Die
Walser-Bubis-Debatte; Köln, 1999; S. 17 – 64, S. 51
62 zit. n.: Mohr, Reinhard; Total normal?; in: DER SPIEGEL; Heft 49/1998 S. 41
63 so Rohloff, Joachim; Ich bin das Volk. Martin Walser, Auschwitz und die Berliner Republik; Hamburg, 1999;
S. 121
64 Nutt, Harry; Sich retten gilt nicht. Interview mit Heinz Bude; in: TAZ, 27. Oktober 1998, S. 15
60
61
- 15 -
Gleich nach dem Regierungswechsel beschloss die rot-grüne Bundesregierung unter den in
Anspruch genommenen Vorzeichen der Normalität die militärische Beteiligung deutscher
Bundeswehrsoldaten im NATO-Krieg gegen Jugoslawien und legitimierte dies rhetorisch,
indem sie Hitler mit Milosevic sowie Auschwitz mit den vorgeblich genozidalen Verbrechen an den Kosovo-Albanern relativierend gleichsetzte. 65
In keiner anderen europäischen Öffentlichkeit wurde die bisherige Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung in Frage gestellt, um die NATO-Intervention rechtfertigen zu können. Dass dies aber in der deutschen Öffentlichkeit geschehen ist, verweist
auf einen zweiten nur unterschwellig vorhandenen neuralgischen Punkt, der weniger mit
Serbien als viel mehr mit der deutschen Geschichte selbst zu tun hat.
Bestand in der deutschen Linken – SPD und Grüne mit eingerechnet – über Jahrzehnte der
Konsens, dass "Nie wieder Auschwitz" und "Nie wieder Krieg" in ihrem Selbstverständnis
unzertrennlich verankert waren, so wurden diese beiden Grundsätze nun gegeneinander
ausgespielt, sie wurden zur Bejahung eines Krieges im Namen der Humanität benutzt, um
die vermeintliche Wiederholung von Auschwitz irgendwo in der Welt mit Nachdruck und
Entschiedenheit zu verhindern. Offensichtlich ging es darum, einerseits die deutsche Öffentlichkeit im Sinne einer praktizierten Normalität von der Notwendigkeit eines militärischen Einsatzes der Bundeswehr zu überzeugen, andererseits ist in einer solchen Äußerung
eine Entlastungsfunktion angelegt, die anderen ähnliche Verbrechen unterstellt wie jene,
die man im Zuge einer zunehmenden Identifikation mit der Vergangenheit des eigenen
Landes nicht mehr als außergewöhnlich anzuerkennen bereit ist. Und offensichtlich kam
diese Botschaft gut an, nie waren die Proteste gegen eine militärische Betätigung der Bundesrepublik so schwach wie im Krieg gegen Jugoslawien. 66
Wahrte in diesem Punkt die rot-grüne Bundesregierung eine Kontinuität, die ihren Ausgang mit der Anerkennung Kroatiens durch Genscher nahm und faktisch nichts anderes als
die völkische Segregation eines Nationalstaates bedeutete, scheiterte sie nahezu zeitgleich
mit einem Projekt, dass diesen historischen Bruch konterkariert hätte.
Es wäre die historische Chance der rot-grünen Bundesregierung gewesen, das althergebrachte, völkische ius sanguinis durch ein tatsächlich modernes – sprich moderner Produktionsweise und zunehmender weltweiter Vergesellschaftung angemessenes – Staatsangehörigkeitsrecht zu ersetzen.
65 vgl.: Bejarano, Esther / Gingold, Peter / Goldstein Kurt u.a.; Offener Brief an die Minister Fischer und Scharping. Gegen eine neue Art der Auschwitz-Lüge; in: FRANKFURTER RUNDSCHAU, 13. April, 1999. Bezeichnend in
diesem Zusammenhang, dass sich die Unterzeichner des offenen Briefes genötigt sahen, den Abdruck in der
FRANKFURTER RUNDSCHAU als bezahlte Anzeige zu schalten, da sie sich anders nicht Gehör zu verschaffen
wussten.
66 s.: Gaserow, Vera / Vornbäumen, Axel; Vorfahrt für den Pragmatismus; in: FRANKFURTER RUNDSCHAU, 09.
April, 1999; dpa-Meldung in TAZ, 13.April 1999
- 16 -
Selten jedoch wurde von einer Regierung eine solches Vorhaben so abrupt gestoppt, wie
von der deutschen in der Frage der Reform des Staatsbürgerschaftsrechtes.
Am 7. Mai 1999 beschloss der Bundestag eine Änderung des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1913 und benannte es in „Staatsangehörigkeitsgesetz“ um. Nach dieser Gesetzesänderung erhalten ab dem 01. Januar 2002 auch Kinder ausländischer Eltern
mit der Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn mindestens ein Elternteil
seit acht Jahren seinen rechtmäßigen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat und eine
Aufenthaltsberechtigung oder seit drei Jahren eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis
besitzt. 67
Erwachsene Ausländer, die mindestens acht Jahre im Land gelebt haben, nicht von Sozialhilfe abhängig sind, über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügen und
sich zum Grundgesetz bekennen, können seit diesem Zeitpunkt auf Antrag eingebürgert
werden. 68
Trotzdem gelten auch weiterhin nach Artikel 116 des Grundgesetzes in erster Linie diejenigen Staatsbürger, die „deutscher Volkszugehörigkeit“ sind, als „Deutsche“.
In diesem Sinne konnte der damalige Fraktionschef der CDU/CSU-Fraktion Wolfgang
Schäuble im Deutschen Bundestag unwidersprochen erklären:
Wir schöpfen unsere Identität nicht aus dem Bekenntnis zu einer Idee, sondern aus der
Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk. 69
Dass die Reform nicht gelang – und aufgrund des breiten Widerstandes in der Bevölkerung, der sich in der von der CDU initiierten Unterschriftenkampagne während des hessischen Landtagswahlkampfes zeigte, der folgerichtig von der Union unter ihrem Spitzenkandidaten Roland Koch gewonnen wurde, der mit Hilfe der Unterschriftenaktion eine fast
beispiellose Aufholjagd startete, nicht gelingen konnte – dürfte nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, dass in weiten Teilen der Bevölkerung und der politischen Elite ein Unwillen zur Reform einer an Kultur, Sprache und schlimmstenfalls einer an dem völkischen
Prinzip der Schicksalsgemeinschaft orientierten Staatsangehörigkeit vorherrscht.
Nicht der kann Deutscher sein, der innerhalb der Grenzen der Bundesrepublik geboren
wird, sondern nur derjenige, der in einer offensiven Entscheidung für Deutschland und
gegen einen anderen Staat – in der Regel das Herkunftsland der Eltern – sich bekennt, und
Bundesgesetzblatt Nr. 38/1999, 23. Juli 1999, 1620, 11
Der genaue Wortlaut zu diesem Bekenntnis. „Ein Ausländer kann eingebürgert werden, wenn er sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennt und erklärt, dass er keine Bestrebungen verfolgt oder unterstützt hat, die gegen die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum
Ziel haben oder die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige
Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden(...) ebd.
69 Zit.n.: Andresen, Karen / Hildebrandt, Martina; Korsett aus Kreuth. Unterschrifenaktion gegen Doppelpaß,
kein Geld für den „Sozialismus in Ostdeutschland“, die CSU profiliert sich gegen die CDU als wahre Opposition;
in: DER SPIEGEL, Heft 2/99, S. 30f.
67
68
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nur wer sich so entscheidet ist berechtigt, einen deutschen Pass zu bekommen. Das autochthone Prinzip bleibt im Grunde gewahrt und mit einem aktiven Bekenntnis zum Deutschtum verbunden.
Dass es einen Unwillen zu einer Änderung des aus der Kohl-Ära übernommenen Geschichtsverständnisses bei den Teilen, die auf eine Fragmentierung der Geschichte zielen
und einen Willen zur Änderung bei den Teilen, die eine Einbindung des Holocaust und des
Nationalsozialismus in die öffentliche Erinnerung gab, wurde bereits während des Wahlkampfes und in der Zeit danach deutlich. Schließlich hatte Schröder bereits in seiner Regierungserklärung das „Selbstbewusstsein einer erwachsen gewordenen Nation“ proklamiert, während sich der erste bundesdeutsche Staatsminister für Kultur, Michael Naumann,
schon während des Wahlkampfes für den Neuaufbau des Berliner Stadtschlosses und gegen die Errichtung des Holocaustdenkmales aussprach. 70
Breit rezipiert wurde der Satz des neu gewählten Bundeskanzlers Gerhard Schröder „Ich
bin für ein Mahnmal, zu dem die Leute gerne gehen.“ 71 Damit brachte er fast programmatisch das Geschichtsverständnis der neuen Regierung auf den Punkt: Normalität wird postuliert, Geschichte wird als Altlast betrachtet, wird sie dennoch benötigt, muss sie zumindest konsensbildend wirken können und darf nicht stören.
In einem Gespräch mit der ZEIT brachte der Bundeskanzler seine ursprünglich im Rahmen
einer Fernsehsendung getroffenen Aussage noch einmal auf den Punkt und drückte seine
Haltung zum Umgang mit der deutschen Geschichte aus:
Ich hätte es auch für angemessen gehalten, wenn an den Orten des Grauens, wo die
Opfer gelitten haben, Stätten des Sicherinnerns wie der Auseinandersetzung geschaffen worden wären. Bergen-Belsen bietet dafür ein gutes Beispiel. So etwas hätte man
an allen Orten schaffen können. Denn das Grauen selber fand auch dezentral statt. 72
Dass dem Grauen auch eine zentrale Komponente innewohnte – Berlin war schließlich die
Hauptstadt des Dritten Reiches, hier wurde die Wannseekonferenz abgehalten, hier befand
sich das Reichssicherheitshauptamt und von hier nahm der administrative Vollzug der
Vernichtung der europäischen Juden seinen Ausgang – wird von Schröder unterschlagen.
Dass die ehemaligen Konzentrationslager alle weit von Berlin entfernt sind, wird so zum
Standortvorteil: In ihrer Abgeschiedenheit können sie ein Regieren, das unbelastet von der
Vergangenheit agieren möchte, nicht behindern.
S. Rensmann, Lars; Bausteine der Erinnerungspolitik. Die politische Textur der Bundestagsdebatte über ein
zentrales „Holocaust-Mahnmal“; in: Brumlik; Micha / Funke, Hajo / Rensmann, Lars; Umkämpftes Vergessen.
Walser-Debatte, Holocaust-Mahnmal und neuere deutsche Geschichtspolitik; Berlin, 1999; S. 135 – 167, hier: S.
137ff.; Zur Debatte um das Mahnmal: Cullen, Michael .S. (Hg.); Das Holocaust-Mahnmal. Dokumentation einer
Debatte; Zürich, 1999
71 Zitat nach: Hofmann / Löffler; Eine offene Republik. ZEIT-Gespräch mit Bundeskanzler Gerhard Schröder
über das geplante Holocaust-Mahnmal, die Folgen der Walser-Bubis-Debatte und den Wiederaufbau des Berliner
Schlosses; in: DIE ZEIT, Nr. 6/1999
72 ebd.
70
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Aus diesem Grunde, fährt Schröder fort, hätte er auch ohne ein Mahnmal in Berlin leben
können, allerdings sei dies vor dem Hintergrund der stattgefundenen Diskussion nicht
mehr möglich, ein Nein zum Mahnmal hätte fatale Folgen gehabt:
Das wäre die Einladung zu einem bewußten Mißverstehen gewesen. Im Ausland, aber
auch im Inland hätte es wieder geheißen: Das ist einer dieser jüngeren SchlußstrichPolitiker! Was ich nicht will, was mir auch ganz fernliegt. Aber eigentlich ist es schade, daß man von einem bestimmten Zeitpunkt an das Für und Wider nicht mehr diskutieren kann, weil es fast automatisch zu dieser Art des Mißverstehens kommt. Vielleicht liegt vor allen Dingen da der berechtigte Einwand der Walserschen Argumentation. 73
Nachdem der Kanzler klargestellt hat, dass er eigentlich gegen das Mahnmal ist, verdeutlicht er, dass es vor allem im Hinblick auf das Ausland nun doch nötig geworden sei, ein
solches zu bauen und es bedauerlich sei, dass er sein „Wider“ nicht mehr in die Diskussion
einbringen kann, was insbesondere nach der durch Walsers „berechtigtem Einwand“ losgetretenen Debatte nicht mehr möglich sei.
Entsprechend fiel die letztendliche Entscheidung im deutschen Bundestag aus: 439 von
559 Abgeordneten stimmten für das Mahnmal, von den 209 Parlamentariern, die sich gegen Eisenmanns Entwurf eines Stelen-Feldes aussprachen, stimmten 188 für die
Mahnmalsidee des Berliner Theologen Richard Schröder (SPD) obwohl von der jüdischen
Gemeinde Berlins Protest gegen eine Umsetzung dieser Idee angekündigt wurde. Dieser
Entwurf sah vor, mit den beiden Worten „Nicht morden!“ in hebräischer Sprache und „in
allen Sprachen, die Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung gesprochen haben“,
angebracht auf einer Stele, einem großen Granitquader oder in frei stehenden Bronzelettern
zum Gedenken aufzurufen und wandte sich also in erster Linie an die Opfer, die damit vom
Rechtsnachfolger des Dritten Reiches, der Bundesrepublik, ermahnt werden, nicht zu morden. Trotz dieser Geschmacklosigkeit sprach sich beispielsweise der Rat der EKD für diesen Entwurf aus 74 und wurde er von rund einem Drittel der Abgeordneten präferiert.
Auch eine weitere geschichtspolitische Debatte der Anfangszeit der rot-grünen Bundesregierung wurde von außen an die Bundesregierung herangetragen: Bereits während des
Wahlkampfes hatte der Kanzlerkandidat Schröder verkündet, er werde als Kanzler für einen Fonds zur Entschädigung von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern sorgen. Sowohl Bündnis 90/Die Grünen als auch die SPD hatten dafür die Beschlusslage in den Jahren der Opposition geschaffen und waren immer wieder an der Bundestagsmehrheit von
CDU/CSU und FDP gescheitert. Zudem war durch Sammelklagen in den USA und durch
73
74
ebd.
Vgl. Rohloff, Ich bin das Volk, S. 125
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Stellungnahmen israelischer und US-amerikanischer Politiker ein zusätzlicher Druck entstanden, in dieser Frage zu handeln. 75
Bereits in seiner ersten öffentlichen Stellungnahme bekundete der neugewählte Bundeskanzler – in der ersten von Spiegel-Chefredakteur Stefan Aust moderierten „Talk im
Turm“-Sendung am 02. November 1998 – , dass er natürlich im Interesse der deutschen
Konzerne und der deutschen Arbeiter in dieser Frage tätig werden würde.
Freiwillig geschah dieses ohnehin nur scheinbare Entgegenkommen den Opfern gegenüber
kaum. Nach dem faktisch als Friedensvertrag geltenden Zwei-plus-Vier-Vertrag war für
die noch lebenden Zwangsarbeiter erstmals die Möglichkeit entstanden, gegen deutsche
Firmen, die einen Firmensitz in den USA hatten, mit dem Mittel der Sammelklage vorzugehen. Diesen Klagen konnten sich ehemalige Zwangsarbeiter aus vielen Ländern anschließen, ohne den aussichtslosen und kostenintensiven Weg durch die rechtlichen Instanzen in Deutschland gehen zu müssen. Diese Klagen störten die deutsche Exportwirtschaft
empfindlich, noch dazu wurde gerade über die Fusion von Deutscher Bank und Bankers
Trust verhandelt. 76
Dementsprechend bestand der Zweck der Verhandlungen von vornherein in der Herstellung von Rechtssicherheit. So schrieb beispielsweise die Stiftungsinitiative in einem „Informationsblatt für Unternehmen“:
Das deutsche Gesetz zur Errichtung der Bundesstiftung geht davon aus, dass rechtliche Ansprüche nicht bestehen. Es enthält eine Regelung wonach – vereinfacht ausgedrückt – alle vermeintlichen Ansprüche gegen deutsche Unternehmen aus Zwangsarbeit uns sonstigem NS-Unrecht in Deutschland nicht mehr geltend gemacht werden
können. 77
War die Summe von 10 Milliarden DM ohnehin nur ein Almosen, dass den Opfern gnädig
gewährt wurde, tat sich die Wirtschaft dennoch schwer, wenigstens ihren Anteil von 5 Milliarden DM zusammenzubekommen, die überdies auch noch steuerlich abzugsfähig waren.
Angesichts des Verlaufs der Verhandlungen ist die Schlussfolgerung naheliegend, dass die
Entschädigungsbeschlüsse, in der Oppositionszeit gefasst, in der Schublade geblieben wären, wäre nicht durch den Druck aus dem Ausland auf eine Entschädigung hingearbeitet
worden, in der Rechtssicherheit ist die Forderung nach einem „Schlussstrich“ aufgehoben.
n. Kunstreich, Tjark; Zwangsarbeit ist keine Lohnarbeit. Warum die Unternehmen nicht zahlen; in: JUNGLE
WORLD, 25. November 1998
76 Rohloff, Joachim; Ich bin das Volk. Martin Walser, Auschwitz und die Berliner Republik; Hamburg, 1999; S.
123f.
77 Stiftungsinitiative der deutsche Wirtschaft; Erinnerung, Verantwortung und Zukunft; Präambel
75
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3.3 Das Geschichtsbild am Beginn der neuen Legislaturperiode
Für die Zeit seit der geistig-moralischen Wende 1982 lassen sich zwei Tendenzen ausmachen: Zum einen wurde von Seiten der offiziellen Politik der Kohl-Regierung eine
„Entkonkretisierung“ 78 der NS-Herrschaft in den von ihm persönlich durchgesetzten Projekten der Neuen Wache und des Hauses der Geschichte betrieben: Zwar wurden die Einzelfakten festgehalten, aber aus einem bis zu diesem Zeitpunkt bestehenden Erkenntnisund Bewertungszusammenhang herausgelöst. Dies ging einher mit Versöhnungsgesten
gegenüber den Alliierten, wie sie sich an den Treffen mit Mitterand in Verdun und Reagan
in Bitburg zeigten.
Auf einer zweiten Ebene, unterhalb des gewissermaßen offiziellen Umgangs mit der deutschen Geschichte bahnte sich ein Prozess an, der weit darüber hinaus ging und schließlich
im Historikerstreit eskalierte, mit diesem aber keineswegs sein Ende fand. Hier wurde von
Seiten national-konservativer Historiker versucht, die NS-Herrschaft in einen neuen Zusammenhang zu stellen und sie in einer allgemeinen europäischen Katastrophengeschichte
des 20. Jahrhunderts einzuebnen. Zwar scheiterte dieser Versuch zunächst am Widerstand
kritischer und liberaler Historiker, doch konnte die Tendenz zu einer positiven Umdeutung
der deutschen Geschichte im Zuge der deutschen Wiedervereinigung auch unter diesen
Fuß fassen.
Mit der mit offiziellen Weihen versehenen Neuauflage der Totalitarismusdoktrin und der
Rede von den zwei Diktaturen in Deutschland verschwand das Spezifische des Nationalsozialismus endgültig, die Tür zu einer neuen Identitätsbildung, die es ermöglichte, auch in
„den Deutschen“ Opfer der Diktatur zu sehen, wurde geöffnet.
In den Jahren bis zur Regierungsübernahme durch die rot-grüne Bundesregierung vergrößerte sich die Akzeptanz dieser Annahme, wie sich exemplarisch in den Debatten um
Goldhagens Buch, um die Wehrmachtsausstellung und um das Holocaust-Mahnmal zeigte. 79
Die von rechter Seite betriebene Verfestigung der bis 1998 erreichten Ergebnisse führte
allerdings nicht dazu, dass nach dem Regierungswechsel an diesem Kurs grundsätzlich
etwas geändert wurde: Die neue Regierung, die sich selbst mit der 68er Generation identifiziert, wollte von Anfang an am liebsten unbehelligt von der deutschen Geschichte zu
Werke gehen und nahm für sich selbst in Anspruch, bereits die Vergangenheit aufgearbeitet zu haben.
Zu diesem Ergebnis kommt Moller, Entkonkretisierung, nach ihrer Analyse der offiziellen Geschichtspolitik
Kohls anhand der Neuen Wache und des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland
79 vgl. ausführlich Klundt, Geschichtspolitik
78
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Dass dies nicht funktionieren konnte und auch in Zukunft nicht funktionieren wird, hat
seinen Grund in der deutschen Geschichte selbst, die ja tatsächlich zu keinem Zeitpunkt
wirklich aufgearbeitet wurde. Jeder Versuch sich ihrer zu entledigen führt dazu, dass sie
sich um so vernehmlicher meldet.
Folgerichtig kam keine geschichtspolitische Initiative von der Regierungspolitik selber,
sondern wurden solche immer von außen an sie herangetragen und ihr förmlich aufgenötigt, wie in der Debatte um das Holocaustmahnmal und die Entschädigung der Zwangsarbeiter sichtbar wurde.
Die geschichts- und kulturpolitischen Hinterlassenschaften der Ära Kohl hat sich die neue
Bundesregierung scheinbar ohne Abstriche zu Eigen gemacht, selbst die lange Zeit umstrittene Ausgestaltung der „Neuen Wache Unter den Linden“ als zentrale Gedenkstätte der
Bundesrepublik Deutschland für alle Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft blieb unangetastet.
Dabei so zu tun, als hätte nie eine Vergangenheit existiert und nach vorne zu schauen, war
Programm und Ziel. Dass dies nicht funktionieren konnte und kann ist einer der unauflösbaren Widersprüche dieser Regierung: In weitaus stärkerem Maße als eine konservative
Regierung darauf angewiesen, einen breiten Konsens herbeizuführen, der im ständig beteuerten und nach vorn weisen müssenden Reformeifer sich seine Rechtfertigung sucht,
muss die Vergangenheit über Bord, die doch gleichzeitig sich nicht über Bord werfen lässt.
So bietet diese Regierung eine mehr als offene Flanke für eine Treibjagd von Rechts, die
sich immer in Übereinstimmung mit einem niemals genau zu bestimmenden Willen einer
ebenso diffusen Mehrheit wissen kann.
In dem Wahlkampf, der zur Wiederwahl der SPD/Bündnis 90- Regierung führte, wurde in
einem Maß mit bis zu diesem Zeitpunkt als Tabus geltenden Themen gehandelt, der zu
einem kaum reparablen Schaden führte.
Das Hochwasser der Elbe vom Sommer 2002 brachte eine neue Sensibilität für Umweltthemen mit sich und Stimmengewinne für die Grünen, einhergehend mit einem aus der
Kriegsrhetorik entlehnten gemeinschaftlichen Kampf gegen „die Flut“, mit seiner eindeutigen Stellungnahme und einem scharfen Konfrontationskurs gegen die USA konnte Schröder für die SPD in letzter Minute einen Stimmungsumschwung erreichen und die Wahl
knapp gewinnen.
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4 Die gefühlte Nation
Dass sich in der Rede von der „Normalität einer selbstbewussten Nation“
80
von Beginn
der rot-grünen Regierung an positiv auf eine der ersten programmatischen Schriften der
„Neuen Rechten“ bezogen wurde, hat seinen Grund genau in dieser Geschichtsvergessenheit.
Die Suche nach Normalität spielte in der Geschichte der Bundesrepublik immer eine Rolle
und war zu jeder Zeit mit anderen Bedeutungen aufgeladen. Darauf wies bereits Aleida
Assmann hin, als sie schrieb, dass Konrad Adenauer am ersten Gedenktag des Kriegsendes
der Bundesrepublik am 8. Mai 1955 eine Rede hielt, in der er die „Normalität“ der Bundesrepublik hervorhob und das Selbstbild der neuen Republik folgendermaßen beschrieb:
Die Bundesrepublik Deutschland hat jetzt die Souveränität und damit die Freiheit zurückgewonnen. Zehn Jahre nach dem Zusammenbruch ist für die Bundesrepublik die
Besatzungszeit zu Ende gegangen. Wir sind ein freier und unabhängiger Staat. 81
Blieb in der Folgezeit die „Normalität“ nicht zuletzt durch die deutsche Teilung eingeschränkt und bedeutete sie in den achtziger Jahren vor allem die erfolgreiche Überwindung
des „deutschen Sonderweges“ durch die Eingliederung in das westliche Staatensystem, so
änderte sich dies spätestens mit der deutschen Wiedervereinigung. Seit diesem Zeitpunkt
wurde der Begriff vornehmlich als „Renationalisierung“ 82 begriffen. Dass sich dies vor
allem im Rückgriff auf althergebrachte Vorstellungen von Nation ausdrückte kam bereits
in Willy Brandts berühmten Wort „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört“ zum
Ausdruck.
Im Unterschied zur Staatsauffassung der westlichen Nationen, die sich im wesentlichen auf
eine durch Geburt innerhalb eines abgegrenzten Territoriums begründet, wurde in Deutschland für die Konstitution einer Nation „Deutschland“ von anderen Kriterien ausgegangen,
die sich auf Abstammung, Sprache und Kultur gründen und eine sich daraus ergebende
„Identität“ konstruieren. 83
Es lassen sich zwei Typen eines nationalen Mythos innerhalb kapitalistischer Gesellschaftsformationen unterscheiden, die ihre Entsprechung im jus sanguinis und im jus solis
finden. In der ersten Form wird auf eine angebliche ursprüngliche Verwandtschaft der Gesellschaftsmitglieder rekurriert –dies findet sich früh und beispielhaft in Fichtes „Reden an
Schacht, Ulrich / Schwilk, Heimo (Hrsg.), Die selbstbewußte Nation. „Anschwellender Bocksgesang“ und
weitere Beiträge zu einer deutschen Debatte; Berlin / Frankfurt a.M., 1994
81 zit.n. Assmann, Geschichtsvergessenheit, S. 61
82 ebd., S. 63
83 vgl. Alter, Peter; Nationalismus; Frankfurt a.M., 1985; der bei aller Vielfalt der Erscheinungsformen zwei
„Grundtypen“ des Nationalismus unterschied, einen älteren bürgerlich-liberalen „Risorgimento-Nationalismus“
und einen jüngeren „integralen Nationalismus“, der die Nation absolut setze. (S. 43). Der auf völkische Prinzipien gegründete Nationalismus wird in dieser bewusst vereinfachenden Typologie der zweiten Form zugeordnet
und bildete nach Alter eine der Wurzeln des Nationalsozialismus
80
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die deutsch Nation“ von 1807/08, in der ein deutsches „Urvolk“ einem Programm der Nationalerziehung als Hintergrund dient. 84
Dass diese Definition Fichtes bis heute virulent ist, spiegelt sich in der Präsenz dieses Bildes in den von der „Neuen Rechten“ betriebenen Neuauflagen wieder, die Nation als „Herkunftsgemeinschaft“ sei „unhintergehbar“ 85.
In „Jargon der Eigentlichkeit“ beschrieb Adorno ein Syndrom, dass er zunächst an Heidegger festmachte, allerdings als weit darüber hinaus weisendes begriff: Dass es gerade in
Deutschland immer wieder das Phänomen gab, dass Ernst und Tiefe immer dann in besonders hohem Maße konstatiert würden, wenn nicht gesprochen, Diskussionen nicht geführt,
sondern geschwiegen wurde. (Adorno exerziert dies am Beispiel der Schwarzwälder Bauern durch, mit denen Heidegger oft und gerne zusammen saß: Schweigend wurde Pfeife
geraucht, doch sei laut Heidegger in diesem Schweigen mehr Wahrheit gewesen als in allen philosophischen Lektüren.)
Die in einem solchen Jargon gesprochenen Worte werden mit Gehalt aufgeladen, wo eigentlich keiner ist, sie klingen „wie wenn sic ein Höheres sagten, als was sie bedeuten“86
und verleihen so dem Sprecher eine nicht hinterfragbare Autorität.
Genau diese „signalhaft einschnappenden Wörter“ 87 begegnen uns bis heute wieder und
wieder, als Beispiel mag Wolfgang Schäuble gelten:
Wir werden an unseren Aufgaben wachsen: die Herausforderungen, denen wir heute
ausgesetzt sind, können helfen, den Prozeß der inneren Selbstfindung zu beschleunigen. Die Frage nach der Grundlage staatlicher Gemeinschaft hat immer mit dem
Schutz nach innen und außen, also mit Frieden und Sicherheit zu tun, und so werden
wir uns durch neue Herausforderungen und Gefährdungen, an denen wir auch wachsen können, unserer Schicksalsgemeinschaft wieder mehr bewusst – ob wir wollen
oder nicht. 88 (...)
Es hilft also nichts: Auch wenn wir Deutsche uns am Ende dieses Jahrhunderts schwer
tun, uns über unsere gemeinsamen Grundlagen zu verständigen: Wir müssen uns des
Gefühls nationaler Zusammengehörigkeit wieder sicherer und gewisser werden. Bei
allem Respekt für die Freiheits- und Rechtsordnung unseres wohlgelungenen und bewährten Grundgesetzes: Ein Verfassungstext allein kann nicht ausreichen, um nicht
nur im Verstand, sondern auch in den Herzen der Menschen jene Gemeinschaft zu
stiften, die notwendig ist, auch schwierige Zeiten zu meistern 89
Das Bild von Nation, dass Schäuble entwirft, orientiert sich an einer unmittelbaren Gewissheit der Zusammengehörigkeit, durch den Schutz, den die Schicksalsgemeinschaft den
ihr Angehörigen bietet, wachsen „wir“ gemeinsam, und es ist nicht zuletzt dieser Schutz,
der hilft, sich dieses Gefühls der Zusammengehörigkeit wieder sicherer zu werden. In dieFichte, Gottlieb Johann; Reden an die deutsche Nation 1807/08; in : Fichtes Werke Bd. VII; Berlin, 1971; S.
257 – 499, hier: S. 359ff.
85 Weißmann, Karlheinz; Rückruf in die Geschichte; Berlin/Frankfurt a.M., 1992, S. 95
86 Adorno, Theodor W.; Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie; Frankfurt a.M, 1964; S. 11
87 ebd., S. 9
88 Schäuble, Wolfgang; Und der Zukunft zugewandt; Berlin, 1994; S. 219
89 ebd. S. 221
84
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ser Schicksalsgemeinschaft haben individuelle Interessen keinen Platz, sie entsteht ohne
Zutun von menschlicher Tätigkeit, sie wird unabhängig von lebenden Menschen weiterexistieren, wenn es ihr gelingt, sich nach außen zu verteidigen, um den Schutz nach innen
aufrechtzuerhalten.
Entlarvt sich solche Rede von selbst als hohles Pathos, in Äußerungen rot-grüner Politiker
würde man es nicht unbedingt vermuten. Joseph Fischer, seines Zeichens Bundesminister
des Äußeren, beispielsweise würde solch einen Begriff der Nation, gerade aufgrund der
Geschichte, rundweg ablehnen. Die Vision, die er für die Zukunft einer europäischen Union entwarf, bezog doch gerade die Sicht deutscher Geschichte mit ein, für ihn kann das
„einzige Fundament der neuen Berliner Republik, für die deutsche Demokratie nur ,Niemehr-Auschwitz'“ sein, wie er im Interview bekundete 90. Ignatz Bubis nannte ihn neben
dem Innenminister Otto Schily den einzigen, auf den er zählen könne 91, gäbe es Wahlen
zum weltweit beliebtesten Politiker, würde er sicher einen der vorderen Ränge belegen.
Und dennoch bleibt auch sein Begriff der deutschen Nation in erster Linie deutschem
Liedgut verhaftet, wie er im Streitgespräch mit dem damaligen französischen Innenminister Jean-Pierre Chevènement darlegte:
Franzosen oder Polen können vielleicht nicht nachvollziehen, was es bedeutete, sich
nach 1945 mit der Idee der deutschen Nation auseinander zu setzen. Ich bin über diese
Auseinandersetzung zur Politik gekommen. Ich erinnere mich noch an meine ersten
Besuche in Paris Mitte der sechziger Jahre: die Selbstverständlichkeit, mit der die Generationen miteinander umgingen, die Fortexistenz von Volkskultur, zum Beispiel,
dass man gemeinsame Lieder hat. Bei uns war alles, was die Nazis angepackt hatten,
vergiftet. Die besten Traditionen unserer Nation waren von den Nazis entwertet und in
die Zerstörung der Nation umgesetzt worden. Schon damals hätten alle, die die deutsche Nation für einen positiven Wert halten, Hitler allein deshalb hassen müssen. Das
war aber in den fünfziger Jahren nicht so gewesen. Wer in dieser Ambivalenz aufgewachsen ist, dem wurde klar, dass der deutsche Nationalismus die größte Gefahr für
Deutschland ist. Und dass die Nation drohte, hinter dem Nationalismus verloren zu
gehen. 92
Das gnadenlose Diktum Adornos würde auch ihn treffen, schleicht sich doch auch hier ein
Jargon ein, der dass, was er sagen will, mit unfreiwilligem Pathos überhöht. Sicher scheint,
dass weder Franzosen noch Polen wohl kaum deutsche Befindlichkeiten nachvollziehen
müssten, wäre ihnen dass, was sich Deutsche seinerzeit als Nation vorstellten erspart geblieben. Die einfache Frage, ob die Nazis nicht vielleicht gerade durch eine Überhöhung
dessen, was die „deutsche Nation“ als Kulturgut hervorgebracht hatte Begeisterungsstürme
Levy, Bernard-Henry; Ein paar Versuche, in Deutschland spazierenzugehen(II). Reisen zwischen den Generationen: Besuche bei den Nachgeborenen und den Zeitgenossen der deutschen Katastrophe; in: FAZ, 18. Februar
1999
91 ebd.
92 Hénard, Jacqueline/Vernet, Daniel (Le Monde)/Weck, Roger de; Streitgespräch Joschka Fischer contra JeanPierre Chevènement; in: DIE ZEIT; Nr. 26 / 2000
90
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bei der übergroßen Mehrheit der sich aus solcher Kultur als Deutsche definierenden auslöste, kommt ihm offensichtlich nicht.
Auch Joseph Fischer rekurriert auf einen Begriff von Nation, der sich identifizieren möchte
mit der Vergangenheit. Hätten die Nazis nicht den Rückgriff auf alte deutsche Werte „vergiftet“, könnte man auch heute noch ohne schlechtes Gewissen die alten Lieder singen und
sich dabei geborgen fühlen. Es zeigt sich, dass auch Fischer von einer Vorstellung von
Geschichte überzeugt ist, in der der Nationalsozialismus zum Betriebsunfall einer ansonsten heimeligen Vergangenheit wird.
Die ideologischen Kontinuitäten, deren eine Seite Untertanengeist, nach außen gekehrter
Hass und Verachtung der anderen ist, und deren andere die bierselige Gemütlichkeit unter
der Linde vor dem Vaterhause, die von den Liedern, mit denen die deutschen Soldaten
begeistert in den Ersten Weltkrieg zogen bis zur begeisterten Teilnahme am Nationalsozialismus reichten, sie werden ausgeblendet.
Darüber hinaus spiegelt sich in seiner Äußerung eine Vorstellung von Nation, die als organisch gewachsenes Konstrukt betrachtet wird. Der „selbstverständliche Umgang der Generationen“, in dem die Werte und die Kultur bruchlos von einer Generation auf die nächste
übertragen werden, wird ihm zum Idealbild.
Immerhin bezeichnet er die Nation als „Idee“ und verweist damit auf das ideologische
Konstrukt, beteiligt sich aber gleich selber an der Produktion einer solchen Ideologie. Findet solche Ideologieproduktion statt, sollen auch für ihn „die Deutschen“ so zu Opfern des
Nationalsozialismus werden, deren eigentlich positive Geschichte durch die Nazis „vergiftet„ wurde, muss die Ursachenkette, die dem nationalsozialistischen Deutschland die „Primärverantwortung“ 93 für jeden einzelnen Toten des Regimes und des Zweiten Weltkrieges
zuweist, zerrissen werden. Daran arbeiten die Vertriebenenverbände seit ihrem Bestehen.
93
Giordano, Ralph; Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein; Hamburg/Zürich, 1987; S. 170
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5 Die Vertriebenen und die neue Bundesregierung
5.1 Vorgeblicher Tabubruch
Spätestens seit dem Erscheinen der Novelle Im Krebsgang von Günter Grass 94 im Februar
2002 beherrscht das Thema „Flucht und Vertreibung“ die Schlagzeilen der deutschen Öffentlichkeit, bereits vorher brachten ARD und ZDF jeweils eine Sendereihe, die ARD „Die
Vertriebenen. Hitlers letzte Opfer“, das ZDF „Die große Flucht“. Der Pressewirbel schlug
sich auch im Wahlprogramm der CDU nieder, in dem erklärt wurde, dass die „Vertreibungsdekrete und –gesetze“ Unrecht seien und die innerhalb der EU geltende Freizügigkeit
und Niederlassungsfreiheit als „ein Schritt hin zur Verwirklichung des Rechts auf die Heimat auch der deutschen Vertriebenen“ zu verstehen sei, dass das „Recht auf die Heimat“95
gelte. Die Beneš-Dekrete sollten „aus der Welt geschafft werden“, forderte keineswegs
mehr allein der Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft Johann Böhm. 96
Der bestimmte Artikel „die“ bei dem Verlangen nach dem „Recht auf die Heimat“ verrät
um was es geht: Keineswegs um irgendeine Heimat, nicht darum, dass jeder Mensch einen
Ort haben sollte, an dem er sich zu Hause fühlt; durch diesen Zusatz wird verdeutlicht,
dass es um eine bestimmte, geografisch und historisch genau festgelegte „Heimat“ geht,
die es zurückzugewinnen gelte.
Vor allem im Zuge des Jugoslawienkrieges gelang es den Vertriebenenverbände sich von
den Protagonisten der neuen Bundesregierung in der Vergangenheit eher belächelten, altmodischen Trachtenvereinen zu Experten in Sachen „Vertreibung“ aufzuspielen, denn
schließlich könne, wenn über Vertreibungen im Kosovo gesprochen werde, von der Vertreibung der Deutschen nicht länger geschwiegen werden. Über diese Konstruktion gelang
es ihnen, zu durchaus nicht nur ungern gesehenen Beratern der Politik in Fragen der
Volksgruppenrechte und eines „Europas der Regionen“ zu werden. 97
Und so konnte in der Abschlussrunde zur ZDF-Reihe „Die große Flucht“ der Historiker
Arnulf Baring 98 unter dem Beifall des Auditoriums sagen:
Grass, Günter; Im Krebsgang; Göttingen, 20027
CDU Deutschlands; Regierungsprogramm 2002/2006; Berlin, 2002; S. 65
96 n.: Wallraff, Lukas, Wahlkampf gegen die Tschechen; in: TAZ, 21. Mai 2002
97 vgl. Salzborn, Samuel; Ein neuer deutscher Opferdiskurs. Zur Bedeutung der Vertriebenenverbände und ihrer
Anliegen für politische Debatten der Gegenwart; in: Butterwegge, Christoph u.a. (Hg.); Themen der Rechten –
Themen der Mitte. Zuwanderung, demografischer Wandel und Nationalbewusstsein; Opladen, 2002; S. 147 –
166; S. 149
98 schon länger setzt sich Baring für eine deutsche Großmachtpolitik ein, vgl. z.B. Baring, Arnulf; Es lebe die
Republik, es lebe Deutschland! Stationen demokratischer Erneuerung 1949 – 1999; Stuttgart, 1999; zur Rolle
Barings als eines Mittlers zwischen „allgemein akzeptierten neokonservativen Vorstellungen und den Entwürfen
einer sich selbst so verstehenden, jedoch keineswegs einheitlichen ‘Neuen Rechten’“ s. Wiegel, Zukunft, S. 165ff
94
95
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Wenn man das tschechische Beispiel (nimmt), was ja in der Tat wahrscheinlich immer
noch das am wenigsten gelöste Problem ist, muss ich zwei historische Anmerkungen
machen:
Die eine Anmerkung muss die sein: Polen und Deutschen haben ja sehr viel mehr sich
gegenseitig angetan im Zweiten Weltkrieg als Tschechen und Deutsche. Die Tschechen sind insgesamt viel besser über den Zweiten Weltkrieg gekommen (...) und in sofern ist das Ausmaß des Hasses, der eigenen Verstocktheit die eigenen Verbrechen anzuerkennen. Ich meine, die Beneš-Dekrete sind doch deshalb so ärgerlich, weil Beneš
ja schon vor dem Zweiten Weltkrieg die Vertreibung der Deutschen geplant hat. (...)
Wenn wir über die Tschechen reden, muss die historische Wahrheit an das Tageslicht
kommen. Beneš war eine sehr problematische Figur, und unter uns gesagt, man muss
Beneš als einen Kriegsverbrecher betrachten. (...) Und der heutigen tschechischen Republik und einem ehrenwerten Mann wie Vaclav Havel bricht doch kein Stein aus der
Krone, (...) wenn man das anerkennt. 99
Es gehört schon ziemliche Chuzpe dazu, nach dem „Generalplan Ost“, den Vorkommnissen im Generalgouvernement davon zu reden, was „Polen und Deutsche (...) sich gegenseitig“ angetan hätten, wobei durch die Reihung, Polen zunächst zu nennen, den Deutschen
dann eher die Opferrolle zufiele, von deren Seite allerdings ein großzügiges Verzeihen
angeboten wird. Und ob angesichts der nahezu vollständigen Ermordung der tschechoslowakischen Juden tatsächlich von „besser über den Zweiten Weltkrieg gekommen“ gesprochen werden kann, scheint doch mehr als zweifelhaft.
Nun ließe sich natürlich einwenden, dass solche Töne bereits vor Jahren - beispielsweise
im Zusammenhang mit der Berichterstattung über die Wehrmachtsausstellung 100 – im
Fernsehen zu hören gewesen seien, dennoch: Dass mit der Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer und dem Bundesminister des Innern Otto Schily jeweils ein hochrangiger Vertreter von SPD und Bündnis 90/Die Grünen in der Diskussionsrunde saßen und diese Ausfälle mehr oder minder übergingen, dies gab es bislang noch nicht.
Mit diesem breiten Konsens in der Frage der Vertriebenen sei endlich ein „Tabubruch“
gelungen, der bereits überfällig gewesen sei, hieß es allenthalben. So schrieb Hans-Christof
zit.n. Mitschnitt: ZDF;20. Dezember 2001; Die große Flucht. Das Schicksal der Vertriebenen. Diskussion zum
Abschluss der Serie; live aus dem historischen Stadttheater in Aschaffenburg. Teilnehmer: Erika Steinbach (Präsidentin des Bundes der Vertriebenen), Antje Vollmer (Bundestagsvizepräsidentin), Otto Schily (Bundesminister
des Inneren), Janosch Reiter (ehemaliger polnischer Botschafter in Deutschland), Pavel Kohut (tschechischer
Schriftsteller), Arnulf Baring(Historiker), Guido Knopp (Gesprächsleitung)
Die Behauptung, Benes habe bereits vor dem Zweiten Weltkrieg die Vertreibung geplant, ist in dieser Form nicht
haltbar. Tatsächlich plante er aufgrund des Drucks seitens Hitlers und der Henlein-Anhänger einen Teil des
Grenzgebietes mit 1,4 Millionen deutschsprachigen Einwohnern, der vor der tschechoslowakischen Hauptbefestigungslinie lag, an Deutschland abzutreten und damit einhergehend einen Bevölkerungstausch vorzunehmen:
Ca. 600.000 deutschsprachige Bürger der ČSR sollten zusätzlich in das Abtretungsgebiet ziehen, tschechische,
jüdische und „demokratische deutschsprachige“ Staatsbürger in das verbliebene Staatsgebiet. Aus diesem verzweifelten Versuch, die tschechische Republik zu retten, ein Kriegsverbrechen zu konstruieren, ist ein rein politisch motiviertes Unterfangen. Vgl. Hoensch, Jörg K.; Geschichte der Tschechoslowakischen Republik 1918 –
1978; Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz, 19782; S. 73ff.
100 Zur Berichterstattung und den Diskussionen in den Fernsehanstalten: s. Grittmann, Elke / Pater, Monika;
Wider die Erinnerung. Der mediale Diskurs um die Ausstellung „Vernichtungskrieg“; in: Greven, Michael Th. /
Wrochem, Oliver v. (Hg.); Der Krieg in der Nachkriegszeit. Der zweite Weltkrieg in Politik und Gesellschaft der
Bundesrepublik; Opladen, 2000; S. 337 - 354
99
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Kraus in der FAZ, dass es jahrzehntelang verpönt gewesen sei, die Vertreibung der Deutschen öffentlich auch nur anzusprechen:
Selbst wenn man in Universitätsseminaren oder Gesprächsrunden darauf zu sprechen
kam, erwartete einen noch vor wenigen Jahren bestenfalls Stirnrunzeln oder abfälliges
Grinsen, schlimmstenfalls der empört vorgebrachte Vorwurf, deutsche Leiden gegen
vorangegangene NS-Verbrechen "aufrechnen" (und diese dadurch verharmlosen) zu
wollen. Und die wenigen Autoren, die sich an dieses brisante Thema wagten, etwa der
Genfer Völkerrechtler und Historiker Alfred de Zayas oder der kürzlich verstorbene
Freiburger Militärhistoriker Joachim Hoffmann, hatten scharfe Angriffe nicht nur aus
dem Kollegenkreis zu erdulden. Die Schweigespirale hat bestens funktioniert. 101
Von Seiten der Geschichtswissenschaft wurde nicht nur im Fernsehen assistiert: In einem
Spiegel-Interview äußerte sich der Historiker Hans-Ulrich Wehler dahingehend, dass es
eine tief sitzende Scheu gegeben habe, die Vertreibung nach dem Zusammenbruch des
Dritten Reiches „gleichgewichtig mit den anderen großen Fragen jener Zeit zu behandeln“ 102, aber dass der Gewinn einer Debatte darin bestehe, dass sie befreiend wirke, „ein
abgesunkenes Stück der kollektiven Leidensgeschichte des Zweiten Weltkrieges hochtransportiert“ würde und ruhig besprochen werden könne.
Es ist nun allerdings eine recht seltsame „Schweigespirale“, wenn sich seit Jahrzehnten
führende Politiker auf Vertriebenentreffen die Klinke in die Hand geben, wenn seit Gründung der Bundesrepublik eine enge Verbindung zwischen den Funktionären der Vertriebenenverbände und den politische Parteien besteht und diese Verbände über einen nicht unwesentlich zu nennenden Einfluss in den Massenmedien verfügen. 103
Tatsächlich wurde bereits in der Vergangenheit viel und oft über Flucht und Vertreibung
der Deutschen geschrieben. Bereits 1951 erschien das so genannte sudetendeutsche Weiß-
101 Kraus, Hans-Christof; Nicht alles blieb unerzählt. Die Vertreibung im Gedächtnis der Deutschen; in: FAZ
30.08.2002, Nr. 201, S. 36. Bezeichnend, dass der von ihm angeführte Alfred de Zayas zu den regelmäßigen Autoren des Ostpreußenblattes (das Ostpreußenblatt ist das Organ der Landsmannschaft Ostpreußen) gehört, ein
Blatt in dem seit seiner Gründung 1950 eine aggressive revanchistische Politik propagiert wird und die Verbrechen des Nationalsozialismus beschönigt werden und das für die Rückgewinnung der ehemaligen deutschen
Ostgebiete eintritt. S.: Mecklenburg, Jens; Handbuch Deutscher Rechtsextremismus; Berlin, 1996; S. 423. Joachim Hoffmann veröffentlichte als Direktor am Militärgeschichtlichen Forschungsamt Werke (z.B. Hoffmann,
Joachim; Stalins Vernichtungskrieg 1941 – 1945; München, 1995), in denen versucht wird, der Behauptung vom
Präventivkrieg der Wehrmacht gegen die Sowjetunion neue Nahrung zu geben, was ihm regelmäßig positive
Besprechungen in neofaschistischen Blättern einbrachte. (So z.B. Günter Deckert, in Deutsche Stimme 19/1995,
S. 9) Zur Kritik an der haltlosen Präventivkriegsthese s. Ueberschär, G.R.; Das „Unternehmen Barbarossa“ gegen
die Sowjetunion – ein Präventivkrieg? Zur Wiederbelebung der alten Rechtfertigungsversuche des deutschen
Überfalls auf die UdSSR 1941. in: Bailer-Galanda, B. / Benz, W. / Neugebauer, W. (Hrsg.); Wahrheit und
Auschwitzlüge. Zur Bekämpfung „revisionistischer Propaganda“; Wien, 1995, S. 163 - 182
102 Pieper, Dietmar / Wiegrefe, Klaus; „Die Debatte wirkt befreiend“ Der Historiker Hans-Ulrich Wehler über
die verspätete Aufarbeitung von Leid und Elend der Vertriebenen; in: DER SPIEGEL Heft 13/2002, S. 61 – 64; S.
61f. Auf die Frage, ob nicht Theodor Schieder – der akademische Ziehvater Wehlers - 1939 die Annexion von
Teilen Polens, die Ausweisung von 700.000 Polen und die „Entjudung Restpolens“ gefordert habe, entgegnete
Wehler, er habe nie mit ihm darüber gesprochen, weil Schieder nicht habe darüber sprechen wollen. (S. 62)
103 Zu Geschichte, Einfluss und Politik der Vertriebenenverbände s. Salzborn, Samuel, Grenzenlose Heimat.
Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Vertriebenenverbände; Berlin, 2000. Zur engen Verflechtung der verschiedenen Verbandsstrukturen s. Wambach, Manfred, Max; Verbändestaat und Parteienoligopol. Macht und
Ohnmacht der Vertriebenenverbände; Stuttgart, 1971
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buch 104, ihm folgte mit der achtbändigen Sammlung Dokumentation der Vertreibung der
Deutschen aus Ost-Mitteleuropa von 1954 – 1962 das „größte zeitgeschichtliche Forschungsvorhaben in den Anfangsjahren der Bundesrepublik“ 105, von den zahlreichen späteren Buchveröffentlichungen, Filmen und Zeitschriftenartikeln gar nicht zu reden. Tatsächlich dürfte dieser gesamte Komplex zu den am häufigsten thematisierten und mit am Besten erforschten Themen der deutschen Nachkriegsgeschichte gehören.
Das der Debatte aufgeklebte Etikett eines Tabubruchs mag also nicht so recht passen zu
diesem Gegenstand, was allerdings die Frage nahe legt, warum genau dieser wieder und
wieder behauptet wurde, warum diesem Thema über längere Zeit hinweg solche Pressereaktionen beschert waren.
Die Vermutung liegt nahe, dass auch in diesem Fall die deutschen Gegenwart die eigentliche Folie ist, vor deren Hintergrund versucht wird, geschichtspolitisch das Erinnern an
Flucht und „Vertreibung“ mit revisionistischen Ansprüchen zu verknüpfen, da die „Vertreibung“ der Deutschen aus Osteuropa nicht als eine legitime Entscheidung der Siegermächte anerkannt wurde und wird, was nicht zuletzt auf eine Eigentümlichkeit der deutschen Politik zurückzuführen ist, der es nicht um die Aufarbeitung individuellen Leids,
sondern um die Stilisierung einer Bevölkerungsgruppe zu Opfern und damit letztendlich
um die Befreiung Deutschlands vom Stigma des Täters geht.
Teil dieser Eigentümlichkeit ist auch, dass die Zahl der von den Vertriebenenverbänden als
solche bezeichneten „Vertriebenen“ bis heute steigt 106, anstatt, wie eigentlich anzunehmen
wäre, im Laufe der Zeit kleiner zu werden, so dass sich das Problem mit der Zeit auf natürliche Weise von selber löste. Dies hat seinen Grund in der juristischen Grundlage der Vertriebenenpolitik. Diese ist im wesentlichen das Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (Bundesvertriebenengesetz – BVFG) von 1953. In ihm sind die
104 Arbeitsgemeinschaft zur Wahrung sudetendeutscher Interessen (Hg.); Dokumente zur Austreibung der Sudetendeutschen; München, 1951
105 Matthias Beer, zit.n. Hahn, Eva und Hans Henning; Wie aus Flüchtlingen Vertriebene wurden; in: FR,
26.07.02, Nr. 171, S. 19. Interessanter Weise wurde diese Dokumentation erstellt unter der Mitarbeit des jungen
Hans-Ulrich Wehler, bearbeitet von seinem bereits erwähnten Lehrer Theodor Schieder. Ingo Haar wies darauf
hin, dass Schieder , um die Vertreibung der Deutschen als singulaeres Ereignis in der europaeischen Geschichte
darzustellen auf die Publikation der schon in Auftrag gegebenen Dokumentation der Vertreibungs- und Vernichtungsgeschichte der Juden und Polen verzichtete. Seine Forschergruppe handelte damit entgegen ihrer Auflage
durch ein unabhängiges Historikergremium. Der Grund war, dass das Ministerium unter Theodor Oberländer
nur deutsche Ansprüche im Zuge möglicher Friedensverhandlungen als gerechtfertigt erscheinen lassen wollte.
Für diesen Zweck verhinderte das Ministerium die Veröffentlichung von bereits erstellten Forschungen zur Vernichtungspolitik im Osten. Diese Aussparung durchzieht fast alle gängigen Standardwerke zur Geschichte sowohl
zur Außenpolitik des NS-Staates als auch zur Besetzung Polens. S. Haar, Ingo, Historiker im Nationalsozialismus.
Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten; Göttingen, 2000
106 Nach Angaben des Bundes der Vertriebenen beträgt die Zahl der Mitglieder der einzelnen Landsmannschaften insgesamt über 2 Millionen, damit wäre sie seit den 80er Jahren stabil geblieben). Die Zahl der „Vertriebenen“ wird mit „über 15 Millionen“ angegeben, 1949 waren es 7,7 Millionen, 1983 13,9 Millionen, Vergleichszahlen 80er Jahre: Rabe, Oggersheim, S. 13ff., aktuelle Zahlen: o.V.; „Tag der Heimat“. Verband für 15 Millionen
Deutsche; in: DER TAGESSPIEGEL, 04. September 2000
- 30 -
Bestimmungen für die unmittelbar von Umsiedlung und Flucht betroffenen Menschen, ihre
Familien und Nachkommen, sowie für Aussiedler und Spätaussiedler geregelt. Als „Vertriebener“ gilt demnach, wer als „deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger“ in den ehemaligen deutschen Ostgebieten oder in den Gebieten außerhalb der
Grenzen des Deutschen Reiches nach dem Gebietsstand vom 31. Dezember 1937 107 seinen
Wohnsitz hatte und diesen in Folge des Zweiten Weltkrieges durch Flucht und Vertreibung
verlor. 108
Darüber hinaus werden aber auch diejenigen erfasst, die zur Zeit der „Vertreibung“ noch
gar nicht geboren waren und die Flucht gar nicht selbst erlebt haben:
„Kinder, die nach der Vertreibung geboren sind, erwerben die Eigenschaft als Vertriebener (...) des Elternteils, dem im Zeitpunkt der Geburt oder Legitimation das Recht
der Personensorge zustand oder zusteht. Steht beiden Elternteilen das Recht der Personensorge zu, so erwirbt das Kind die Eigenschaft als Vertriebener (...) desjenigen
Elternteils, dem im Zeitpunkt der Geburt oder der Legitimation das Recht der gesetzlichen Vertretung zustand oder zusteht.“ 109
Wie der einschlägige Kommentar mitteilt, dienen diese Bestimmungen dazu, den bereits
bestehenden Vertriebenenstatus über die „Generation der unmittelbar Betroffenen hinaus
aufrechtzuerhalten“. 110
Bereits im Gesetzentwurf der Bundesregierung für das BVFG aus dem Jahr 1951 wird
ausgeführt, dass es "nicht angängig" sei, die "Vertriebenen- und Flüchtlingseigenschaft nur
Personen zuzuerkennen, die im Zeitpunkt der Vertreibung" gelebt hätten, ganz bewusst
wird der „Anspruch auf Rückkehr in die Heimat“ gerade nicht auf die Generation beschränkt, die „im Zeitpunkt der Vertreibung“ gelebt hätten. Es sei vielmehr gerade der
Sinn der Bestimmungen, „die Erhaltung der Vertriebenen- und Flüchtlingseigenschaft
durch Generationen (zu) gewährleisten“. 111
Diese gesetzlichen Bestimmungen erhärten die Vermutung, dass seit dem Bestehen der
Bundesrepublik die Belange der "Vertriebenen" als Faustpfand für eine bestimmte Regierungspolitik und als bewusst offen gehaltene Wunde unabhängig von den – gewiss oftmals
schwierigen – Integrationsprozessen genutzt wurden. Bereits in der Wortwahl wird diese
Instrumentalisierung deutlich: Wurden die Neuankömmlinge bei ihrer Ankunft zunächst
als "Flüchtlinge" bezeichnet, wobei unerheblich war, auf welchem Wege und aus welchem
Grunde sie ins Nachkriegsdeutschland gelangt waren, so wurde die Bezeichnung "Vertriebene" mit dem 1953 verabschiedeten Bundesvertriebenengesetz zur amtlichen Sprachrege107 Durch diese Definition werden die Sowjetunion, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Ungarn, die Tschechoslowakei Rumänien, Bulgarien und Jugoslawien mit erfasst
108 vgl. § 1 BVFG in der bis 31.12.1992 geltenden Fassung, § 1 BVFG in der ab 1.1.1993 geltenden Fassung
109 § 7 BVFG in der bis 31.12.1992 geltenden Fassung
110 n. Salzborn, Heimat, S. 17
111 Entwurf eines Gesetzes über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (Bundesvertriebenengesetz), Begründung, S. 25, BT-Drs. 2872 vom 26. November 1951, Anlage 1; zit. n. Salzborn, Heimat, S. 18
- 31 -
lung. Damit wurde dem Geschehen bereits ein Unrechtscharakter zugesprochen und einem
"Anti-Potsdam-Revisionismus" 112 die benötigte Legitimation verliehen. 113
5.2 Geschichtlicher Überblick
Werden allerdings am Beispiel der „Sudetendeutschen“ die historischen Fakten beleuchtet,
wird die Fragwürdigkeit dieses Vorgehen noch augenfälliger. So hat die ganz überwiegende Mehrheit der „Sudetendeutschen“ unter Politikern wie Konrad Henlein oder Karl Hermann Frank an der Zerschlagung der Tschechoslowakei mitgewirkt und ist in den folgenden Jahren an Untaten gegenüber den Tschechen beteiligt gewesen. 114 1933 gründete
Henlein die „Sudetendeutsche Heimatfront“, die 1935 in „Sudetendeutsche Partei“ umbenannt wurde. Diese Sudetendeutsche Partei (SdP) ging aus den tschechoslowakischen Parlamentswahlen im selben Jahr als zweitstärkste Partei hervor und konnte von sich behaupten etwa zwei Drittel der deutschen Bevölkerung zu vertreten. Dabei sind bereits die Begriffe „sudetendeutsch“ bzw. „Sudetenland“ reine „Kunstworte“ 115; Bezeichnungen, die
von den „Sudetendeutschen“ selbst als rein politische Kampfbegriffe gegen den tschechoslowakischen Staat erfunden wurden. Erreicht werden sollte eine Angliederung der „Sudetengebiete“ an das Deutsche Reich, womit sich der Angriff in erster Linie gegen das „antifeudale, nationalstaatsorientierte und emanzipatorische Streben“ 116 der Tschechoslowakei
richtete – und damit gleichzeitig auf eine Revision der Ergebnisse des Ersten Weltkrieges
abzielte. Dass die ca. 3,2 Millionen Deutschsprachigen im „Sudetenland“ dem 1918 gegründeten Staat Tschechoslowakei (ČSR) ablehnend bis feindlich gegenüber standen, ist in
erster Linie auf den Verlust der Privilegien zurückzuführen, die sie im untergegangenen
Habsburgerreich genossen hatten. Dass sie aufgrund dessen im besonderen Maße von der
Wirtschaftskrise seit 1929 betroffen waren, brachte sie noch mehr gegen die ČSR auf.
Der Wahlkampf der SdP wurde größtenteils von der NSDAP finanziert. In den Jahren bis
1938 stieg die Mitgliederzahl dieser Partei auf 1,3 Millionen an - welche starke Zustimmung dies zu diesem Zeitpunkt bereits bedeutete, wird durch die erwähnte Bevölkerungszahl anschaulich. Bei den Wahlen in der Tschechoslowakei 1938 wählten 98 Prozent der
abstimmenden Sudetendeutschen die Nationalsozialisten – was als wohl nahezu einstimmiges Votum für die antisemitischen, völkischen und großdeutschen Ziele der SdP gewerHahn, Eva und Hans Henning; Wie aus Flüchtlingen Vertriebene wurden; in: FR, 26.07.02, Nr. 171, S. 19
Zu Geschichte und politischer Ausrichtung der außenpolitischen Arbeit der Vertriebenenverbände s.
Salzborn, Samuel; Heimatrecht und Volkstumskampf. Außenpolitische Konzepte der Vertriebenenverbände und
ihre praktische Umsetzung; Hannover, 2001, zu der Zeit nach dem Potsdamer Abkommen: S. 15ff.
114 Diese Darstellung folgt im wesentlichen: Salzborn, Samuel; Grenzenlose Heimat. Geschichte, Gegenwart und
Zukunft der Vertriebenenverbände; Berlin, 2000
115 so Wippermann, Wolfgang; Umstrittene Vergangenheit. Fakten und Kontroversen zum Nationalsozialismus;
Berlin, 1998; S. 87
116 Salzborn, Heimat, S. 35
112
113
- 32 -
tet werden kann, der These, dass die überwältigende Mehrheit der „Sudetendeutschen“
antisemitische und antitschechische Nazis waren, wird angesichts dieser Zahlen kaum widersprochen werden können.
Bereitwillig folgten die „Sudetendeutschen“ einem ihrer führenden Politiker wie Karl
Hermann Frank bei der „Arisierung“ jüdischen Eigentums und der „Endlösung“ im „Protektorat“: Nach der deutschen Annektierung der restlichen Tschechoslowakei war er an
führender Stelle an der „Arisierung“ beteiligt – übrigens wurden bis heute keine Entschädigungen zugunsten der Überlebenden oder deren Erben des deutschen Raubzuges gezahlt. 117 Frank war es, der den Anstoß zur Einführung des „Judenstern“ im gesamten
Reichsgebiet gab, er leitete 1941 gemeinsam mit Heydrich in Prag eine Konferenz über die
„Endlösung“, er hatte die Leitung bei der Vernichtung des tschechischen Dorfes Lidice –
mit wohlwollender Unterstützung des allergrößten Teils der sich nach dem Krieg als Opfer
gerierenden selbstdefinierten Deutschen.
Die Grundlage für die Umsiedlung der deutschen Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg ist das Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945. Völkerrechtlich verbindlich –
und damit keinesfalls in irgendeiner Form interpretierbar 118 - regelt dieser zwischen den
USA, Großbritannien und der Sowjetunion geschlossene Vertrag
die Überführung deutscher Bevölkerung oder Bestandteile derselben, die in Polen, der
Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind, nach Deutschland... 119
Trotz dieser eindeutigen Setzung, wurde genau dieser Punkt immer wieder zum Ziel von
Attacken.
In der Adenauer- Ära wurde nicht nur die Charta der Vertriebenen verabschiedet, in der es
unter anderem heißt, dass die
Völker der Welt (...) ihre Mitverantwortung am Schicksal de Heimatvertriebenen als
der vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen120
empfinden sollten. Mit einer solchen Konstruktion wurde und wird nicht nur versucht, sich
selbst als Opfer der nationalsozialistischen Politik zu stilisieren, angesichts der aufgezählten Fakten eine grobe Geschichtsfälschung. In der ganzen Charta tauchen die Verbrechen
der Nationalsozialisten und die Verstrickung gerade der Deutschen in den Staaten Osteuropas nicht nur nicht auf, sie werden verschwiegen und das Unrecht setzt erst nach dem
117 dies soll sich mit dem 1998 beschlossenen deutsch-tschechischen Zukunftsfond ändern. Der DeutschTschechische Zukunftsfonds ist eine Partnerorganisation der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft"
118 zu dieser Einschätzung gelangt Salzborn, vgl. Salzborn, Heimat, S. 40f.
119 Historische Gedenkstätte des Potsdamer Abkommens (Hg.); Das Potsdamer Abkommen. Dokumentensammlung; Berlin, 1980; hier: Mitteilung über die Dreimächtekonferenz in Berlin, 2. August 1945, S. 215ff., S.
231
120 Abdruck der Charta der Vertriebenen: o.V.; „Tag der Heimat“. Keine Rache und Vergeltung, für ein geeintes
Europa - Die Charta von 1950 im vollständigen Wortlaut; in: DER TAGESSPIEGEL, 04. September 2000
- 33 -
Ende des Krieges ein. Mit diesem Dokument bieten nicht nur die Täter den Opfern großzügig Vergebung an, es wird gleichzeitig das Recht eingefordert, über europäische Politik
mit zu entscheiden und das Potsdamer Abkommen zu torpedieren. 121
In dieser Zeit gelang es den Vertriebenenverbänden, nicht nur sich zu etablieren, sondern
über eigene Parteien oder über Arbeitsgruppen in den großen Parteien eine Politik zu betreiben, deren Ziel es zunächst war, möglichst umfassende finanzielle Leistungen zu erhalten.
Nach der Phase der innenpolitischen Etablierung und finanziellen Konsolidierung folgte
eine Phase, in der sich die Vertriebenenverbände vor allem als „innenpolitische PressureGroup“ 122 betätigten und auch hier äußerst erfolgreich agieren konnten.
So äußerte beispielsweise Theodor Oberländer, Minister für Vertriebene, Flüchtlinge und
Kriegsgefangene 1956 auf dem Sudetendeutschen Tag:
Wenn die Sudetendeutschen in diesen Tagen das Heimatrecht erneut geltend machen
und damit der Weltöffentlichkeit in Erinnerung bringen, dass die politische Ordnung
in ihren Heimatländern nicht auf der Grundlage von Gewalt und Unrecht aufgebaut
werden darf, dann können sie versichert sein, dass die Bundesregierung und mit ihr
die deutsche Öffentlichkeit hinter ihrer Forderung stehen. 123
Und in der „Berliner Erklärung“ von 1965 hieß es: „Die wichtigste Aufgabe der deutschen
Außenpolitik ist (...) das Ringen um die Wiederherstellung des Rechts für Deutschland und
seine Menschen(...)“, womit gleichzeitig und untrennbar damit verbunden das „Recht auf
die Heimat“ aggressiv gegen die souveränen Staaten Tschechoslowakei und Polen einzufordern sei.
Die Versuche, mit Hilfe der Vertriebenen eine Revision des Potsdamer Abkommens und
damit der Ergebnisse des verlorenen zweiten Weltkrieges generell zu erreichen, ziehen sich
durch die gesamte Geschichte der Bundesrepublik und sind keineswegs neu.
Dass mit dem Ende des Realsozialismus 1989 sich für die Vertriebenenverbände in den
nun zugänglich gewordenen Ländern völlig neue Möglichkeiten entstanden, deutsches
„Kulturgut“ wieder zu beleben, stellte der BdV zufrieden fest. Diese neuen Möglichkeiten
wurden und werden von den Vertriebenenverbänden auch intensiv genutzt. Daran hat sich
auch unter der rot-grünen Bundesregierung wenig geändert. 124
121 zur Einschätzung der Charta: Kuhr, Holger; „Geist, Volkstum und Heimatrecht“. Zur Aktualität der „Charta
der deutschen Heimatvertriebenen“ vom 5. August 1950; Hamburg, 2000; s. auch: Giordano, Ralph; Die zweite
Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein; Hamburg, Zürich, 1987; S. 281ff.
122 Salzborn, Heimat, S. 65
123 zit.n. ebd.
124 Vgl. Facius, Gernot; Von Funkstille zwischen Bund der Vertriebenen und Rot-Grün kann keine Rede sein; in:
DIE WELT; 31..August 2001
- 34 -
5.3 Die rot-grüne Bundesregierung und die Vertriebenenverbände – Otto Schily auf dem „Tag der Heimat“
Dass die Bundesregierung verpflichtet sei,
das Kulturgut der Vertreibungsgebiete in dem Bewusstsein der Vertriebenen und
Flüchtlinge, des gesamten deutschen Volkes und des Auslandes zu erhalten 125
steht
bereits
im
Bundesvertriebenengesetz,
eine
der
Grundlagen
deutscher
Volkstumspolitik.
Wer glaubte, dass sich unter einer rot-grünen Bundesregierung grundsätzlich etwas an der
Haltung zu den Vertriebenenverbänden und diesen mehr als fragwürdigen gesetzlichen und
politischen Bestimmungen ändern würde, musste sich schnell eines Besseren belehren lassen.
War zwar zu Beginn der Legislaturperiode das Verhältnis noch aufgrund der in Frage gestellten weiteren Finanzierung der Vertriebenenverbände deutlich angespannt 126, so besserte sich dieses Verhältnis im Laufe der ersten Legislaturperiode zusehends. Da die Finanzierung der Kulturarbeit der Vertriebenenverbände unter der rot-grünen Bundesregierung in
das neu geschaffene Ressort des Beauftragten der Bundesregierung für Angelegenheiten
der Kultur und der Medien, Michael Naumann 127, fielen, und von diesem umfangreiche
Zusammenlegungen, Streichungen und Kürzungen angekündigt wurden, protestierte der
BdV in einer Presserklärung scharf gegen den neuen Kurs der Regierung. 128 Doch schon
bald sollte sich herausstellen, dass es nicht nur keine Kürzungen, sondern in weiten Bereichen sogar eine Erhöhnung der Mittel gab. 129
Drückt sich in den finanziellen Zuwendungen ein Zusammenrücken in einem Konsens, der
Kollektiv- und Sonderrechte für ethnische Minderheiten gegen individuelle Freiheitsrechte
ausspielt, aus, so deutete sich eine solche Tendenz gleichwohl schon länger an. Bereits in
einem interfraktionellen Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetztes im Januar 1994,
der von über 300 Bundestagsabgeordneten, unter ihnen fast die gesamte SPD-Fraktion,
§ 96 BVFG
So erklärte der Staatsminister für Kultur und Medien, Michael Naumann gegenüber der ZEIT, dass es im Bundeshaushalt Etatposten gebe, die sich „so niemals hätten entwickeln dürfen. Die Vertriebenenverbände werden
mit erheblichen Mitteln gefördert. Einigen ihrer Sprecher freilich wäre ein intensiver Nachhilfekurs in der ostpolitischen Versöhnungsgeschichte zu empfehlen.“; zit.n. Lau, Jörg; Lauter kleine Projekte; in: DIE ZEIT; Nr. 44;
22.Oktober 1998
127 bis Januar 2001, ihm folgte Julian Nida-Rümelin als Staatsminister beim Bundeskanzler nach.
128 s. Presseerklärung des BdV v. 29. September 1999
129 Wie hoch die Zuwendungen für die Vertriebenenverbände insgesamt sind, ist äußerst schwer festzustellen, da
sie nicht allein von der Bundesregierung Zuwendungen erhalten, sondern ebenso von Ländern und Gemeinden
Nach Salzborn, Heimat, S. 155 wurden folgende Mittel bereitgestellt: Die im Haushaltsplan des Bundesministeriums des Inneren stiegen von 1998 3,48 Millionen DM auf 1999 3,58 Millionen DM, die Projektgelder für „Maßnahmen zur Förderung der Integration von Spätaussiedlern und Vertriebenen“ stiegen von 21,82 Millionen DM
auf 38,42 Millionen DM
125
126
- 35 -
aber auch über die Hälfte der PDS-Gruppe eingebracht wurde, ist eine Tendenz erkennbar
die eindeutig in Richtung einer Revision der Individualrechte zielt. In dem Gesetzentwurf
heißt es unter anderem:
Wir stehen heute vor Problemen, die aus einem rücksichtlosen Gebrauch der Freiheitsrechte resultieren. (...) Es sind in unserer Zivilisation ein Übermaß an Egoismus, fortschreitender Entsolidarisierung, Atomisierung des gesellschaftlichen Gefüges sowie
ein Rückzug ins Private zu beklagen. (...) Überall wird das Fehlen menschlicher Wärme beklagt. (...) Der Vorrang des freiheitlichen Individuums, so erweist es sich, führt
nicht zwingend zu Gerechtigkeit und Verantwortungsfähigkeit des einzelnen in einer
humanen Gesellschaft. Insbesondere zeigt es sich, daß die innere Einheit Deutschlands
im Rahmen eines egoistischen Gebrauchs der Freiheitsrechte nicht gelingen kann. 130
Zwar scheiterte dieser Gesetzentwurf letztendlich, eine große Einheit der Demokraten in
der Ablehnung einer fortschrittlichen Staatsauffassung besteht dessen ungeachtet. Dass die
Konzepte eines ethnisch basierten Pluralismus in der SPD tief verwurzelt sind und waren,
dass sie mit der Wiedererlangung der deutschen Souveränität endgültig zu einer Hauptrichtung in der Partei wurden, lässt sich mit zahlreichen Beispielen belegen. 131
Ob Hans-Jochen Vogel seit der deutschen Wiedervereinigung vehement dagegen ankämpfte, dass „die nationalen Identitäten durch einen elektronischen Einheitsbrei überdeckt und
ausgehöhlt“ würden und statt dessen für den „Begriff des Nationalgefühls als bewusste
Bejahung dieser Gemeinschaft“
132
wirbt, oder der damalige SPD-Vorsitzende Rudolf
Scharping die Themen der Rechten besetzen wollte:
Offenkundig gibt es einen Mangel an Identität, und bisher sehe ich nur, dass der Versuch gemacht wird, ihn von der rechten Seite des politischen Spektrums her zu füllen.
(...) Es muß gelingen, dem etwas entgegenzusetzen, das den Menschen eine Heimat
gibt, einen Ort, an dem sie sich sicher fühlen133
oder die SPD-Bundestagsfraktion einen Gesetzentwurf für einen neuen Verfassungsartikel
einbrachte, in dem es hieß:
Der Staat achtet die Identität der ethnischen, kulturellen und sprachlichen Minderheiten. Er schützt und fördert Volksgruppen und nationale Minderheiten deutscher
Staatsangehörigkeit 134,
Bei all diesen Initiativen steht die Suche nach einer konstruierten kollektiven Identität im
Vordergrund.
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 2a), Bundestagsdrucksache 12/6708 v.
31.01.1994.
131 Vgl.: Kratz, Peter; Rechte Genossen. Neokonservatismus in der SPD; Berlin, 1995 zeichnet ein recht genaues
Bild von rechtem Gedankengut innerhalb der SPD, wobei er allerdings die Verbreitung einer völkischen Ideologie unter dem Primat eines aus der Ökonomie abgeleiteten Herrschaftsinteresses interpretiert und aus diesem
Grunde immer wieder auf angebliche Vorteile, die eine solche den großen Konzernen bringe, rekurriert.
132 ebd. S. 267
133 SPD - Anpassung oder Alternative? Eine Debatte; Moderation: Manfred Bissinger; Berlin, 1993, auch
Petersen, Olaf / Wirtgen, Klaus; „Auf den Wechsel hinarbeiten“; SPIEGEL-Gespräch mit Rudolf Scharping, in:
DER SPIEGEL, Nr. 43 / 1994, S. 24 - 27
134 Gemeinsame Kommission zur Verfassungsreform, s. Drs. 12/6708
130
- 36 -
Galten bis vor wenigen Jahren noch die Unions-Parteien als die Parteien der Bundesrepublik, die ein besonders inniges Verhältnis zu den Vertriebenenverbänden unterhielten, so hat
sich in den vier Jahren der rot-grünen Bundesregierung eine deutliche Entspannung eingestellt.
Obwohl die SPD zwei Vorsitzende der Vertriebenenverbände 135 stellte, blieb das Verhältnis mit Teilen der Partei immer schwierig.
Für die personellen Verbindungen zwischen der SPD und den Vertriebenenverbänden sei
beispielhaft Herbert Hupka genannt, der bis zum Abschluss der Ostverträge Mitglied der
Bundestagsfraktion der SPD war – mehrheitsfähig waren die Positionen der Vertriebenenverbände nie. Hupka galt als einer der Scharfmacher in den Reihen der Vertriebenen. Mit
Äußerungen wie:
„Ostdeutschland“ umfasst nicht nur Ostdeutschland jenseits von Oder und Neiße, also
den heute unter polnischer und sowjetischer Herrschaft stehenden Teil des Deutschen
Reiches, sondern auch das Sudetenland und die deutschen Siedlungsgebiete zwischen
Ostsee und Schwarzem Meer. 136
vertrat er eine Rechtsauffassung, die selbst in den Reihen der Berufsvertriebenen nicht
unumstritten war.
Denn andererseits gab es immer SPD-Politiker, die solche Ansinnen dezidiert zurückwiesen. Stellvertretend sei Lafontaine genannt, der als Kanzlerkandidat bei der Bundestagswahl 1990 eine Abschaffung des Vertriebenengesetzes forderte, da es keinen Vertreibungsdruck in Ost- und Südosteuropa mehr gebe und mit dieser Forderung nicht unerhebliche Teile der SPD hinter sich wissen konnte. 137
Annäherungen zwischen Vertriebenenverbänden und Spitzenpolitikern der SPD fanden
gleichwohl schon vor der Regierungsübernahme statt. So forderten 1995 mehrere Bundestagsabgeordnete der SPD-Fraktion – unter ihnen Fritz Rudolf Körper, der spätere Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesministerium des Innern – bei einem auf Einladung
der SPD stattfindenden Treffen mit Vertretern der Vertriebenenverbände einen „konstruktiven Dialog mit den ostdeutschen Landsmannschaften“. Kurz vor der Bundestagswahl –
im April 1998 – besuchte der damalige SPD-Bundesgeschäftsführer Franz Müntefering die
BDV-Bundesgeschäftsstelle und betonte bei den dort stattfindenden Gesprächen, dass dem
BDV
auch künftig eine wichtige Funktion als Brücke im Prozess der Verständigung mit den
osteuropäischen Nachbarn
Wenzel Jaksch und Reinhold Rehs von 1964 - 1970
Deutschland Union Dienst / Gesamtdeutsche Nachrichten und Kommentare vom 18.05.1983; zit.n.: Flach,
W./ Kouschil, C.; Kreuzritter in Trachten. Organisierter Revanchismus und seine Macher; Leipzig, Jena, Berlin,
1984; S. 24
137 zu den Reaktionen der Vertriebenenverbände auf dieses Ansinnen vgl. Lauer, Johann; Aussiedler oder Wirtschaftsflüchtlinge?; in: Deutschland Archiv; Nr. 9, 1990; S. 1374 - 1376
135
136
- 37 -
zukäme. 138
Dass sich von hier aus zumindest punktuell Überschneidungen zu den Vertriebenenverbänden ergeben, die eine Identität und eine Heimat anzubieten haben, liegt auf der Hand.
Bei den Grünen, die sich als relativ junge Partei aus verschiedenen Quellen speiste, aus den
neuen sozialen Bewegungen und den K-Gruppen, hat der Bezug auf Nation und Volk Vorläufer in Denkfiguren, die aufgrund dieser unterschiedlichen Wurzeln differierenden Akzentuierungen und Intentionen folgen. 139 Gerade für die Ökologiebewegung ließ sich eine
Tendenz zu einem Rekurs auf alte Werte wie Heimat, bäuerliche Traditionen und Kultur
ausmachen, die bewusst in einen Gegensatz zu einer westlichen und kapitalistischen, industriellen Zivilisation gestellt wurden. 140 Bei den K-Gruppen und Teilen der Friedensbewegung konnte diese Annäherung im Zuge einer forcierten Emanzipation Deutschlands
von einem US-amerikanische Imperialismus zu dem selben Ergebnis führen: In beiden
Fällen spielten der Nationalsozialismus und der Holocaust als geschichtliche Ausgangspunkte einer „Neuen Linken“ keine Rolle. 141
Als beispielhaft für diese Haltung kann die Reaktion der Grünen - und mit ihnen eines großen Teils der deutschen Linken – auf den Golfkrieg 1991 gewertet werden, der in der Bundesrepublik zu Großdemonstrationen führte, die in dieser Größenordnung sonst nirgendwo
in Europa zu beobachten waren 142. Teile der Grünen leisteten gemeinsam mit der PDS sogar massiven Widerstand gegen eine Lieferung von amerikanischen „Patriot“-Raketen zum
Schutz der israelischen Bevölkerung im Golfkrieg.
Die irakischen Raketenangriffe auf Israel sind die logische, fast zwingende Folge der
israelischen Politik 143
verstieg sich ausgerechnet der Vorstandssprecher der Grünen Christian Ströbele. Zwar trat
Ströbele kurze Zeit später von diesem Amt aufgrund öffentlichen Druckes zurück, innerhalb der Grünen hatte diese Entgleisung ansonsten keinerlei Folgen. Weder distanzierte
sich der Bundesvorstand der Partei von den Aussagen Ströbeles, geschweige denn wurde
ihm der Parteiaustritt nahe gelegt. 144
Angaben und Zitat n. Salzborn, Heimat, S. 155
zu Geschichte und Analyse der Partei Die Grünen: Raschke, Joachim; Die Grünen. Wie sie wurden, was sie
sind; Köln, 1993; zu den verschiedenen Ansätzen zu Volk und Nation: Ludwig, Andrea; Neue oder deutsche
Linke? Nation und Nationalismus im Denken von Linken und Grünen; Opladen, 1995
140 diese Tendenzen in der Ökologiebewegung wurden bereits sehr früh analysiert von: Stöss, Richard; Konservative Aspekte der Ökologie- bzw. Alternativbewegung; in: Ästhetik und Kommunikation. Beiträge zur politischen
Erziehung; Heft 36, 1979; S. 19-28; siehe auch: Markovits, Andrei S. / Gorski, Philip S.; Grün schlägt Rot; Hamburg, 1997; S. 236ff.
141 vgl. ausführlich: Ludwig, Neue oder deutsche Linke, S. 176ff.
142 vgl. Woeldike, Andrea; Deutsche Friedenswünsche; in: Osten-Sacken, Thomas v.d. / Fatah, Arras (Hrsg.);
Saddam Husseins letztes Gefecht? Der lange Weg in den III. Golfkrieg; Hamburg, 2002; S. 244 – 262
143 zit.n.: Broder, Henryk M.; Unser Kampf; in: DER SPIEGEL, Heft 18 / 1991; S. 255 – 268; S. 261
144 S.: Kloke, Martin; Zwischen Scham und Wahn. Israel und die deutsche Linke 1945 – 2000; in: Gremliza,
Hermann L. (Hg.); Hat Israel noch eine Chance? Palästina in der neuen Weltordnung; Hamburg, 2001, S. 207 –
138
139
- 38 -
Ludwig kam bereits 1995 zu dem Ergebnis, dass eine mögliche Entwicklung der Grünen
besonders problematische Folgen zeigen kann:
die Allianz der Geschichtslosen in Gestalt jener, denen das Einklagen der globalen
Priorität ihrer ökologisch-pazifistischen Prinzipien über die Auseinandersetzung mit
konkreten Situationen geht, mit jenen, deren schablonenhaft manichäischer Antiimperialismus dasselbe Resultat zeitigt.145
Dass diese beiden Richtungen nach wie vor virulent sind und die Befürchtungen Ludwigs
tatsächlich bis heute Relevanz für sich beanspruchen können, zeigt sich beispielhaft in der
positiven Zusammenarbeit zwischen den Grünen und dem in Flensburg ansässigen Europäischen Zentrum für Minderheitenfragen (EZM), dass 1996 von der Regierung Kohl gegründet wurde. Dieses Zentrum, dass seine wesentliche Aufgabe in einer Schiedsrichterfunktion bei einem Ausbruch ethnopolitischer Konflikte sieht, gehört mittlerweile zu den
Think-Tanks des Außenministeriums und erfüllt eine wichtige Scharnierfunktion zwischen
den Anliegen der Vertriebenenverbände und den Interessen deutscher Außenpolitik.
Seit seiner Gründung wird dieses Zentrum mit Mitteln des schleswig-holsteinischen Landeshaushaltes der rot-grünen Landesregierung gefördert, seit dem Amtsantritt der rotgrünen Bundesregierung auch aus Bundesmitteln 146. Die mit einer Rhetorik von „Volksgruppen“ und Minderheiten verknüpfte Strategie einer Einflussnahme auf die Gesetzgebung der Nachbarstaaten ist in der deutschen Tradition nichts Neues, unter der rotgrünen Bundesregierung bildet sie die Vorlage für deutsche Vorschläge zu einer Reform
des Völkerrechts, durch die sich durch eine Internationalisierung der Minderheitenfrage
Optionen für die Wahrnehmung deutscher Interessen und der Ansprüche der Vertriebenenverbände ergeben. 147
Thörner gelangt insgesamt zu der Einschätzung:
In der traditionellen Volksgruppenarbeit für ethnische Identität (Blut) und die Rückeroberung des Siedlungsgebiets (Boden) finden im EZM nicht nur die Volksparteien zueinander und stellen ihre sonstigen Unterschiede zurück, auch die Grünen SchleswigHolsteins wirken eifrig mit. Den Anknüpfungspunkt bildet das diffuse Rechtsempfinden, die Deutschen müssten den Schwachen und Armen, den Minderheiten und »un-
236. Zu Person und Funktion Ströbeles in der Partei zu dieser Zeit: Volmer, Ludger; Die Grünen und die Außenpolitik – ein schwieriges Verhältnis; Münster, 1998; S. 250ff
145 Ludwig, Neue oder deutsche Linke, S. 179
146 Minow, Hans-Rüdiger; Ethischer Imperialismus; in: KONKRET, Heft 5, Mai 1999; S. 55 – 57; S. 57
147 vgl. Thörner, Klaus; Wo ist das Volk? in: JUNGLE WORLD; 21. August 2002; der darauf hinweist, dass das
EZM versuche in der Zusammenarbeit mit anderen Staaten nach eigener Darstellung, »das jeweilige nationale
Verständnis des Minderheitenbegriffs zu erörtern«. Dabei trete es nach außen als europäische Institution auf,
wird jedoch aus Mitteln aus Dänemark von der revanchistischen Niermann-Stiftung und zu 23 Prozent aus dem
Haushalt der rot-grünen Landesregierung Schleswig-Holsteins finanziert. Die Hermann-Niermann-Stiftung, die
sich die Förderung des deutschen Volkstums im Ausland auf ihre Fahnen geschrieben hat, agiert am Rande des
Rechtsextremismus und unterstützte selbst militante Separatisten z.B. in Ostbelgien oder Südtirol. Zur Einschätzung dieses hochbrisanten Zusammenspiels vgl. ausführlich: Minow, Hans-Rüdiger / Goldendach, Walter v.;
Von Krieg zu Krieg. Die deutsche Außenpolitik und die ethnische Parzellierung Europas; Berlin, 19993; zum
EZM S. 129 - 157
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terdrückten Völkern« der Welt zu Hilfe kommen - den Iren und Basken, den Palästinensern, Albanern, Tibetern, Kurden oder Tschetschenen. 148
Es bleibt ein mehr als bitterer Nachgeschmack, wenn mit Unterstützung einer rot-grünen
Landes- und Bundesregierung Internetprojekte gefördert werden, bei denen auf einer Europakarte die einzelnen „Volksgruppen“ mit anklickbaren Fähnchen dargestellt werden,
hinter denen über Trachten, Sprachen und nicht zuletzt über die jeweiligen Sonderrechte
informiert wird. 149
Angesichts solcher Entwicklungen verwundert es kaum, dass sich eine grüne Spitzenpolitikerin wie Antje Vollmer sich seit 1995 darum bemüht, auf die Vertriebenenverbände dahingehend einzuwirken, dass sie doch bitte ihre Forderungen reduzieren und sich beispielsweise als „Kulturverein der Böhmen oder Schlesier“ begreifen mögen und beständig
versucht, Einladungen zu Vertriebenentreffen zu erhalten. 150 Auch wenn sich bei ihr persönlich mittlerweile Ernüchterung eingestellt hat, was die Vertriebenenverbände angeht, so
bleibt sie doch bei dieser grundsätzlichen Überzeugung:
Die Vertriebenen wollen doch vor allem, dass die Kulturen ihrer Herkunftsländer nicht
ausgelöscht werden. Das ist im Wesentlichen eine kulturelle Aufgabe. Es wäre so
wichtig, sich dann auch „Kulturverein der Böhmen oder Schlesier“ zu nennen.151
Und Otto Schily war als Minister für „harte Themen“ 152 der erste sozialdemokratische Minister, der es sich nicht nehmen ließ, persönlich auf Treffen der Vertriebenen zu erscheinen, so dass Erika Steinbach auf dem „Tag der Heimat“ Anfang September 2002 ihm ausdrücklich dankte „für eine wirklich vertrauensvolle Zusammenarbeit“:
Herr Minister, Sie haben 1999 der politischen Linken die Tore zu einem gesellschaftspolitischen Thema neu geöffnet, das erst sehr viel später von Günter Grass durchschritten wurde. 153
Damit spielte sie auf die Rede Schilys zum 50. Jahrestag der Gründung des BdV 1999 im
Berliner Dom an, in der Schily die Auffassung der Alliierten kritisiert hatte, dass ein dauerhafter Friede in Europa nur nach einem Transfer der deutschen Bevölkerung aus Osteuropa möglich werde. Dies sei das Konzept einer „Entmischung der Völker“ gewesen und
erinnere in fataler Weise an das Konzept der „ethnischen Säuberung“. 154
148 Ebd. Darüber hinaus weist er darauf hin, dass mittels eines internationalen »Selbstbestimmungs- bzw. Volksgruppenrechts« langfristig darauf hingewirkt werden könnte, eine territoriale Autonomie für »Volksdeutsche« in
Osteuropa zu erreichen, deren Zahl heute auf zwei Millionen geschätzt wird. (800 000 in Russland, 400 000 in
Polen und 350 000 in Kasachstan).
149 s.: http://www.minority2000.net; einges. 10.11. 2002; s. 10.4, Nr. 1
150 s. Zekri, Sonja; Tiefe Resignation. Interview mit Antje Vollmer zur Vertriebenenfrage; in: SÜDDEUTSCHE
ZEITUNG; 09. Februar 2002
151 ebd.
152 Steinbach über Schily; zit. n.: Thörner, Klaus; Oh du ferne Heimat mein; in: JUNGLE WORLD, 04. September
2002
153 ebd.
154 s. ebd.
- 40 -
Auch wenn es immer wieder zu vereinzelten Unstimmigkeiten kommt – so wurde Schily
auf dem Schlesiertreffen im Juli 2001 in Nürnberg ausgebuht, als er auf den Zusammenhang zwischen den „Vertreibungen“, dem von Deutschland verschuldeten Zweiten Weltkrieg, dem mörderischen nationalsozialistischen Regime und dem Holocaust hinwies 155 insgesamt scheint das Verhältnis jedoch entspannt. So konnte sich Erika Steinbach in ihrer
Festrede bei Schily persönlich bedanken, dass „glücklicherweise“ die Abwicklung der
Bundesfinanzierung in seiner Hand liege. So hätte sie ihn auch gerne auf dem „Tag der
Heimat“ am 03. September 2000 als „ihren neuen Freund“ begrüßt, allerdings fehlte Schily
an diesem Tag, da sein Flugzeug nicht starten konnte. Anwesend war aber dafür Bundeskanzler Gerhard Schröder, der als erster sozialdemokratischer Bundeskanzler auf dem
„Tag der Heimat“ sprach. 156
Nachdem er das Leiden der Vertriebenen in eine Reihe mit dem Leiden der Vertriebenen
der heutigen Zeit gestellt hatte, von Ruanda bis zum Kosovo, wobei er bemerkte, dass der
Militäreinsatz für diese Vertriebenen ihm die schwerste Entscheidung seiner politischen
Laufbahn abgenötigt habe, stellte er fest:
Polen, Tschechien und Ungarn werden bald Mitglieder der EU sein. Dann können sich
die Nachkommen der Vertriebenen im Rahmen der Freizügigkeit an den Orten ihrer
Vorfahren niederlassen.157
Damit dies in Polen, Tschechien und Ungarn nicht zu Irritationen führte, legte er den Vertriebenen einen neuen, „modernen Begriff von Heimat“ nahe - sie sollten Heimat nicht als
Ort, von dem man herkommt, sondern als jenen „von dem aus wir die Welt betrachten“
begreifen. 158
Dass es bei diesen Versuchen, Heimat als identitätsstiftendes Moment in einem breiten
Konsens zu etablieren, früher oder später zu Spannungen mit den osteuropäischen Nachbarn kommen musste, sollte sich alsbald zeigen.
5.4 Die Äußerungen des tschechischen Ministerpräsidenten
Ein Interview, dass der damalige tschechische Premierminister Miloš Zeman der österreichischen Zeitschrift PROFIL Ende Januar 2002 gab 159, löste eine heftige Reaktion sowohl in
der deutschen Presselandschaft als auch unter den Politikern aus und führte zu nicht uners.: Müller, Reinhard; Die Pfiffe von Nürnberg. Das wechselhafte Verhältnis von rot-grüner Bundesregierung
und den Vertriebenen; in: FAZ; 19. Juli 2001
156 Kröter, Thomas; Der Kanzler und die Präsidentin: Versuch einer Annäherung mit moderaten Tönen; in: DER
TAGESSPIEGEL, 04. September 2000
157 Heuwagen, Marianne; „Vertriebene sollen sich für Europa einsetzen“; in: SÜDDEUTSCHE ZEITUNG; 04. September 2000
158 n. Kröter, Der Kanzler
159 Lahodynsky, Otmar; "Populistischer Pro-Nazi-Politiker". Interview: Der tschechische Premierminister Milos
Zeman über das Veto-Volksbegehren, Jörg Haider und die FPÖ, die Benes-Dekrete und die Vertreibung der
Sudetendeutschen. In: Profil, 21.01.2002
155
- 41 -
heblichen diplomatischen Verstimmungen zwischen Berlin und Prag, die so weit gingen,
dass Bundeskanzler Schröder eine geplante Reise nach Tschechien verschob. 160 Für diese
Verstimmungen verantwortlich waren weniger die Passagen des Gespräches, in denen es
um das tschechische Atomkraftwerk Temelin ging, als vielmehr jene, in denen das Thema
Vertreibung behandelt wurde. Die wichtigste Passage des Interviews hier noch einmal im
Wortlaut, um eine Einordnung der Äußerungen und der Reaktionen darauf zu ermöglichen.
Die Passage des Interviews, die solche Irritationen hervorzurufen im Stande war, begann
mit der Frage, ob historische Altlasten schuld daran seien, dass es immer wieder zu Spannungen zwischen Österreich und Teschechien komme, worauf Zeman antwortete:
Ich habe mich immer für gute Beziehungen zwischen unseren Ländern eingesetzt, gerade auch im wirtschaftlichen Bereich. So habe ich die Privatisierung der tschechischen Sporitelna-Bank an die Erste Bank unterstützt. Österreich ist der viertgrößte Investor in Tschechien nach den Niederlanden, Deutschland und den USA.
PROFIL: Davon profitieren doch beide Länder.
Zeman: Genau. Darum sage ich: Die Haiders kommen und gehen so wie die Hitlers.
Aber ich glaube an die Freundschaft zwischen unseren beiden Völkern. Aber es gibt
von österreichischer Seite immer wieder Provokationen. Dazu zähle ich die jüngste
Forderung der österreichischen sudetendeutschen Verbände nach Aufstellung von
zweisprachigen Ortstafeln in Tschechien. Ich halte mich dabei an das Wort eines
tschechischen Journalisten der Zwischenkriegszeit, der erklärt hat, Forderungen, die
kompletten Unsinn darstellen, kann man nur ignorieren. Also sage ich dazu weiter
nichts.
PROFIL: Könnten die guten Wirtschaftsbeziehungen zwischen Österreich und Tschechien durch das Ergebnis des Volksbegehrens negativ beeinflusst werden?
Zeman: Natürlich könnten die wirtschaftlichen Beziehungen darunter leiden. Politik
und Wirtschaft sind immer vernetzt. Und weil ich der meistprovokante Politiker Europas bin, möchte ich noch etwas sagen: Österreich war nicht das erste Opfer HitlerDeutschlands, sondern der erste Verbündete. Außerdem darf man nicht vergessen,
dass die Sudetendeutschen die fünfte Kolonne Hitlers waren, um die Tschechoslowakei als einzige Insel der Demokratie in Mitteleuropa zu zerstören. Kann man jetzt
wirklich Versöhnung für Verräter fordern?
PROFIL: Das ist jetzt eine bedenkliche Zuweisung von Kollektivschuld. Nach dem
Zweiten Weltkrieg wurden in der Tschechoslowakei viele unschuldige Sudetendeutsche umgebracht oder verfolgt, die mit dem Nazi-System nichts oder nicht viel zu tun
hatten. Es gab viele Gräueltaten tschechischer Bürger an Sudetendeutschen.
Zeman: Ja, das stimmt. Ich war auch der erste tschechische Politiker, der solche Verbrechen verurteilt hat. Aber vergessen Sie auch nicht, dass diese Sudetendeutschen vor
dem Überfall Hitlers tschechoslowakische Staatsbürger waren. Nach dem tschechischen Recht haben viele von ihnen Landesverrat begangen, ein Verbrechen, das nach
dem damaligen Recht durch die Todesstrafe geahndet wurde. Auch in Friedenszeiten.
Wenn sie also vertrieben oder transferiert worden sind, war das milder als die Todesstrafe.
PROFIL: Das ist ganz schön zynisch. Damit heißen Sie doch auch die Ermordung und
Misshandlung zehntausender Sudetendeutscher gut.
160 Brössler, Daniel; Schröder fährt im Wahljahr nicht mehr nach Prag. SZ-Gespräch mit Staatsminister Christoph Zöpel; in: SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 23. März 2002
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Zeman: Nein, ich habe diese Exzesse stets verurteilt. Aber das ändert nichts daran,
dass Sudetendeutsche den Genozid am tschechischen Volk befürwortet haben. Lidice
steht für das Schicksal der Tschechen nach dem Sieg von Hitlers Drittem Reich. Und
ich wiederhole: Die Österreicher waren die ersten Verbündeten Hitlers, auch wenn sie
sich gerne als Opfer dargestellt haben.
Besonderen Anstoß erregte die Aussage, dass Österreich der „erste Verbündete“ des Nationalsozialistischen Deutschland gewesen sei. Doch scheint diese Aussage von der neueren
Forschung belegt: Nach Bukey war die Begeisterung tatsächlich allgemein, überall wurde
die Wehrmacht von jubelnden Menschenmengen begrüßt, bei den sofort einsetzenden Pogromen gegen die österreichischen Juden wurde von den deutschen Nazis sogar versucht
mäßigend auf die Raserei, die sich beispielsweise darin äußerte, dass bereits am Abend des
Einmarsches 80 – 100.000 Österreicher im Wiener Judenviertel plünderten, vergewaltigten
und mordeten, einzuwirken. Dies geschah natürlich nicht aus Gründen der Humanität, sondern weil die Vermögen der österreichischen Juden bereits fest eingeplant waren. 161
Auch in den Teilen der Tschechoslowakei, die von der Wehrmacht besetzt wurden, dürfte
die Begeisterung ähnlich gewesen sein. In einem Artikel des Deutschen Allgemeinen
Sonntagsblattes wird ein Zeitzeuge zitiert, der sich daran erinnerte, als Kind erlebt zu haben, wie die deutsche Wehrmacht im Grenzort Bayerisch Eisenstadt in das Sudetenland
einrückte, wobei die Sudetendeutschen über Kilometer an der Landstraße Spalier standen
und den Truppen "Heil unserem Führer!" entgegenriefen. 162 Ungeachtet dessen beharrt der
Interviewer der Zeitschrift PROFIL darauf, dass es keineswegs nur Jubel gegeben habe und
doch immerhin die mächtige Armee Hitlers in Österreich einmarschiert sei.
Zeman: Das mag schon sein, aber 1968 ist die mächtige sowjetische Armee in der
Tschechoslowakei einmarschiert, aber damals hat es keinen Jubel der Massen auf den
Straßen der Tschechoslowakei gegeben. Aber es gab sehr wohl massenhaft jubelnde
Österreicher, die die Invasion der Deutschen Wehrmacht bejubelt haben.
PROFIL: Ich möchte schon daran erinnern, dass es Tschechen waren, welche die sowjetische Armee zum Einmarsch eingeladen haben, nämlich ein Teil der damals regierenden tschechischen Kommunisten.
Zeman: Ja, aber ich habe vom Gefühl der tschechischen Bevölkerung gesprochen und
nicht von jenem einer Partei.
PROFIL: Österreich hat nach dem Einmarsch der Sowjets in der CSSR sehr viele
Flüchtlinge aus Ihrem Land aufgenommen.
Zeman: Ja, das erkenne ich sehr hoch an. Daher sage ich auch jetzt: Wenn wir Tschechen in der Lage waren, mit Gerhard Schröder die Vergangenheitsbewältigung abzuschließen, sollte das auch mit Österreich möglich sein. Wir können die Vergangenheit
nicht mehr ändern, aber wir können die Gegenwart und Zukunft beeinflussen.
PROFIL: Was halten Sie dann von der Forderung aus Österreich, Tschechien sollte die
Beneš-Dekrete, welche die Enteignung und Vertreibung der Sudetendeutschen legitimierten, für totes Unrecht erklären.
161
162
S. Bukey, Evan Burr; Hitlers Österreich. Eine Bewegung und ein Volk; Hamburg/Wien, 2001
Käppner, Joachim; Die Sache mit dem Leid; in: DEUTSCHES ALLGEMEINES SONNTAGSBLATT; 16. Juni 2000
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Zeman: Das haben wir im März 1999 schon gegenüber Gerhard Schröder geklärt. Ich
habe erklärt, die Beneš-Dekrete, die Bestandteil der Gesetze der Tschechoslowakei
nach dem Zweiten Weltkrieg darstellten, hätten ihre Wirkung in der Gegenwart verloren. Kanzler Schröder sagte darauf, dass die Vergangenheit abgeschlossen sei einschließlich der Frage der Eigentumsansprüche. Manche Leute, die diese Frage ständig
aufwärmen, haben nur die Restitution von Eigentum im Sinn, und das kann sehr gefährlich sein. Ich betone, die Vergangenheit ist abgeschlossen, es gab Gewinner, Verlierer und auch Opfer. Für mich ist wichtig, dass das totalitäre System zerstört wurde,
was zehntausende Opfer auf tschechischer Seite gefordert hat. Es ist also ein sehr generöser Akt von uns, wenn wir Österreich anbieten: Lasst uns die Vergangenheit vergessen. Lassen wir die Vergangenheit von Historikern und nicht von Politikern untersuchen. Wenn ihr Österreicher die Vergangenheit auf der politischen Ebene aufrollen
wollt, dann erkläre ich nun bereits zum dritten Mal in diesem Interview: Sie waren
nicht das erste Opfer, sondern der erste Unterstützer des meistverbrecherischen Systems in der Geschichte der Menschheit. Bitte denken Sie zuerst darüber nach.
PROFIL: Sie schließen also eine von österreichischen Politikern geforderte Erklärung
des Bedauerns über die Verbrechen, die von tschechischer Seite an den Sudetendeutschen verübt wurden, aus?
Zeman: Es besteht keine Notwendigkeit für irgendwelche neue Erklärungen. Alles,
was getan werden musste, wurde mit der gemeinsamen Erklärung von Gerhard Schröder und mir getan. Ich bin jetzt 58 Jahre alt. Das Spital, in dem ich geboren wurde,
wurde von anglo-amerikanischen Flugzeugen bombardiert. Aber deshalb habe ich
nichts gegen Amerikaner und Briten. Ich habe aber etwas gegen jede Form von Totalitarismus, egal, ob er von den Nazis oder Kommunisten ausging.
Natürlich kann man sich am Gestus Zemans, sich als provozierender Politiker zu gerieren,
stoßen, bedenkt man jedoch die Tatsache, dass kurz darauf Wahlen zum Parlament stattfanden 163, relativiert sich diese Aussage. Zudem legt die Auslassung, er sei der „meistprovokante Politiker Europas“ in dem von ihm geäußerten Zusammenhang noch eine andere
Interpretation nahe: Er provoziert dadurch, dass er sich weigert, die von einem Beitrittskandidaten zur EU zu erwartende Unterwürfigkeit gegenüber einflussreichen europäischen
Staaten – insbesondere Deutschland und Österreich - an den Tag zu legen und statt dessen
auf der Feststellung historischer Tatsachen zu beharren.
Besonderen Anstoß erregte die Bezeichnung der Sudetendeutschen als „fünfte Kolonne
Hitlers“. Wie bereits gezeigt wurde, ist diese Bezeichnung keineswegs so strikt von der
Hand zu weisen, wie dies in der anschließenden Bundestagsdebatte geschah. Wurde diese
163 In der politischen Umbruchphase ab 1990 erhielt Zeman eine Anstellung am Institut für Wirtschaftsanalyse
der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften und zog als Aktivist des Bürgerforums ins tschechoslowakische Bundesparlament ein. 1993 wurde er zum Vorsitzenden der wiedererstandenen Tschechischen Sozialdemokratischen Partei (ČSSD) gewählt. Durch seine konsequente Opposition gegen den liberalistischen Wirtschaftskurs der Regierung Václav Klaus wandelte er innerhalb von fünf Jahren die ČSSD von einer Splitterpartei
zur stärksten politischen Kraft in der Tschechischen Republik um: Aus den vorgezogenen Neuwahlen vom Juni
1998 ging seine Partei mit über 32% der Stimmen als stärkste Kraft hervor, und Zeman wurde mit der Regierungsbildung beauftragt. Es gelang ihm allerdings nicht, eine mehrheitsfähige Regierungskoalition zustande zu
bringen, er vereinbarte stattdessen für seine ČSSD-Minderheitsregierung eine Tolerierung durch die Demokratische Bürgerpartei (ODS) von Václav Klaus. Im April 2001 gab er, wie schon Monate zuvor vereinbart, den Parteivorsitz an seinen stellvertretenden Ministerpräsidenten und Arbeitsminister Vladimir Spidla ab. Zudem kündigte er im Vorfeld der Parlamentswahlen vom Juni 2002 seinen Rückzug auch vom Amt des Ministerpräsidenten
an; auch hier wurde – nach einem neuerlichen Wahlsieg der ČSSD – Spidla sein Nachfolger. Vgl.: o.V.; Spidlas
Regierungsmehrheit; in: DEUTSCH-TSCHECHISCHE NACHRICHTEN; Nr. 41/42, August 2002; S. 2
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Bezeichnung doch beispielsweise von dem Historiker Klaus-Dietmar Henke (bis 1992
Mitarbeiter des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, danach der Gauck-Behörde) verwendet. Henke schrieb:
Zur Fünften Kolonne wurde die mitgliedsstarke Sudetendeutsche Partei, hinter der
mittlerweile der Großteil der deutschen Wähler stand, aber erst Ende 1937, als ihr
Führer Konrad Henlein sie dem deutschen Reichskanzler als Werkzeug zum Aufbrechen der Ersten Tschechoslowakischen Republik in die Hand gab. 164
In den Tagen nach dem Interview äußerte sich die deutsche Presse zu diesem Thema, ein
Unterschied zwischen üblicherweise eher links oder rechts einzuordnenden Presseorganen
war kaum auszumachen.
So schrieb die FRANKFURTER RUNDSCHAU in ihrem Kommentar:
Zeman zeigt sich zur Versöhnung unfähig, weil er die kollektive Vertreibung der Sudetendeutschen aus seinem Land nach dem Zweiten Weltkrieg immer noch rechtfertigt. Er leugnet mit der Brandmarkung der früheren Mitbürger als Landesverräter (...)
den Widerstand auch sudetendeutscher Genossen gegen die Nazis 165
Und selbst die JUNGE WELT, bis zu diesem Zeitpunkt kaum als Sympathisantin der Vertriebenen bekannt, bezeichnete Zeman als „Geschichtsfälscher“ 166.
Wie immer man die Äußerungen des tschechischen Ministerpräsidenten Zeman beurteilen
mag, eines ist jedoch sicher: Sie trafen ganz offensichtlich den Kern der Sache. Ansonsten
wäre die durchgängige Ablehnung, die sich bei der anschließenden Bundestagsdebatte
zeigte kaum zu erklären.
Henke, Klaus Dietmar; Der Weg nach Potsdam. Die Alliierten und die Vertreibung; in Benz, Wolfgang
(Hrsg.): Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Ursachen, Ereignisse, Folgen; Frankfurt am Main 1995,
S. 71
165 Glauber, Ulrich; Unversöhnte Nachbarn; in: FRANKFURTER RUNDSCHAU; 21.Januar 2002
166 Pirker, Werner; Geschichtsfälscher. Milos Zeman stellt Vergleiche an; in: JUNGE WELT; 20. Februar 2002
164
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5.5 Die Bundestagsdebatte
Bereits am 23. Januar – also lediglich zwei Tage nach der Veröffentlichung - fand auf Antrag der CDU/CSU-Fraktion eine aktuelle Stunde im Deutschen Bundestag zum Thema
„Äußerungen des tschechischen Ministerpräsidenten Zeman zu den Sudetendeutschen“ 167
statt.
Der erste Redner, Hartmut Koschyk, von 1987 bis 1991 Generalsekretär des Bundes der
Vertriebenen, von der CDU/CSU-Fraktion stellte zunächst fest:
Wir alle sind empört über die Äußerungen des tschechischen Ministerpräsidentin Zeman in einem österreichischen Magazin. Ich darf für meine Fraktion feststellen, dass
aus unserer Sicht diese Aussagen gegenüber den sudetendeutschen Opfern der Vertreibung herablassend, beleidigend und ehrverletzend sind und auch in keiner Weise
der historischen Wahrheit entsprechen. (...)
Sie stehen zudem aber auch in einem krassen Widerspruch zum Geist des europäischen Einigungsprozesses und auch zu den Bemühungen der Tschechischen Republik,
Mitglied der Europäischen Union zu werden. 168
Dass mit „Wir“ tatsächlich alle Redner in dieser aktuellen Stunde gemeint sein können,
konnte Koschyk zu diesem Zeitpunkt zwar nicht wissen, trotzdem verhielt es sich so. Es
gab keinen Redner, der die Aussagen Zeman auch nur ansatzweise goutierte.
Es bleibt auch im weiteren Verlauf der Einlassungen Koschyks ein Geheimnis, an welcher
Stelle des Interviews Zemans etwas geäußert wurde, dass der historischen Wahrheit widerspricht, sicher ist jedoch, dass hier eine von ihm kaum verhüllte Drohung gegen die tschechische Republik durchklingt, die für den Fall eines Wahlsieges der Union mit Schwierigkeiten bei einem Beitritt zur Europäischen Union zu rechnen gehabt hätte. In der Rede
Koschyks sind die Sudetendeutschen Opfer, die aber im deutsch-tschechischen Dialog „eine wichtige, nach vorne weisende Rolle spielen“ 169. Eine solche Rolle spielen sie tatsächlich, allerdings als ständige Forderer nach einer Aufhebung der Beneš-Dekrete und einer
Wiedergutmachung für die Vertriebenen.
Der folgende Redner – Gert Weiskirchen (SPD) hatte das Interview offensichtlich nicht
gelesen:
Der Kollege Zeman hat in der Tat etwas gesagt, was ich – ich sage das in aller Klarheit – nicht teile.
(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Mehr fällt Ihnen dazu nicht ein?)
Ich muss den Text noch einmal genau nachlesen. (...) Wenn ich das richtig erinnere,
steht darin etwas, das an eine Kollektivschuld erinnert. 170
Plenarprotokoll 14/211 v. 23.01.02 / 20887ff.
ebd.
169 Plenarprotokoll 14/211 23.01.02. 20888
170 Plenarprotokoll 14/211 23.01.02, 20889
167
168
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Der Redner Weisskirchen gibt zwar zu, dass er das Interview noch einmal nachlesen müsse, allerdings glaubt er sich genau genug zu erinnern, dass etwas darin stehe, das an eine
Kollektivschuld erinnere. Auf jeden Fall erinnert er sich genau genug, um in aller Klarheit
die Aussagen Zemans nicht zu teilen. Hätte er das Interview gelesen, wäre ihm vielleicht
aufgegangen, dass Zeman gerade nicht von einer Kollektivschuld sprach, sondern zum
einen einräumte, dass es zu Exzessen bei den Umsiedlungen gekommen sei, zum anderen,
dass nicht alle, die vertrieben wurden, persönlich schuldig geworden sind.
Ulrich Irmer von der FDP möchte die Diskussion gerne „tiefer hängen“ 171, hat aber trotzdem Ratschläge für die Tschechen und speziell ihren Ministerpräsidenten parat:
Bei dem Beitritt der Tschechischen Republik zur Europäischen Union geht es darum,
dass wir auch die Gespenster der Vergangenheit bannen und dass wir uns in einem
von uns allen gewollten, den Menschenrechten verpflichteten Europa gemeinsam wiederfinden. Da passt es natürlich nicht ins Bild, wenn irgendjemand – es war leider
nicht irgendjemand – sagt, die Sudetendeutschen seien Kriegsverbrecher gewesen, sie
seien die fünfte Kolonne von Hitler gewesen. (...) Er (Zeman, R.S.) hat sich schwer
vergriffen; er sollte sich dafür entschuldigen. 172
Einen Einwand gegen die bisherige Richtung der Einlassungen brachte Antje Vollmer vor:
Sie sagen, dass bei uns großes Entsetzen in den Reihen der Sudetendeutschen entstanden ist, weil Herr Zeman ein Äußerung gemacht hat. Sie wissen aber genauso, dass
immer und immer wieder in der Tschechischen Republik großes Entsetzen und große
Ängste entstanden sind, wenn es Äußerungen auf den sudetendeutschen Tagen gegeben hat (...) Die Angst, die dahintersteckt, hat für die Sudetendeutschen letztendlich
keine Folgen, während die Tschechen immer wieder Angst haben müssen, dass es ein
Veto gegen ihren Beitritt in die EU geben könnte.
(Christian Schmidt [CDU/CSU]: Entschuldigung, das ist doch absoluter Quatsch! Sie
haben doch keine Ahnung! Erzählen Sie keinen Schafscheiß!) 173
Diesem Aufruf zur Mäßigung war offensichtlich kein Erfolg beschieden, wobei auch in
dem Redebeitrag Vollmers weder Henlein, noch die SdP, Lidice und der Freiwillige
Schutzdienst genannt wurden. Wer indes erwartet hatte, dass solches vom Redner der PDS
thematisiert würde, sah sich enttäuscht. Wolfgang Gehrcke von der PDS schlug im Prinzip
in die gleich Kerbe: Nötig sei Gelassenheit, man solle die Sache nicht unnötig hochspielen,
„um sozusagen eine Schnitte zu machen“ 174, sondern vielmehr politische Vernunft walten
lassen. Immerhin wird von ihm der Faschismus als Ursache angeführt und Zeman zugebilligt, er habe ihn als solchen genannt, aber auch Gehrke scheinen Zweifel an der Befähigung Zemans angebracht:
Sicherlich ist das Interview von Zeman in vielen Fragen nicht besonders durchdacht
und nicht besonders solide formuliert, um es milde auszudrücken. Daran kann es
überhaupt keinen Zweifel geben.175
Plenarprotokoll 14/211 23.01.02. 20889
Plenarprotokoll 14/211 23.01.02. 20890
173 Plenarprotokoll 14/211 23.01.02. 20891
174 Plenarprotokoll 14/211 23.01.02. 20892
175 Plenarprotokoll 14/211 23.01.02. 20892
171
172
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Erika Steinbach fand wieder einmal Gelegenheit, sich als Antirassistin zu profilieren:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als ich am Sonntag Abend das Interview mit dem
tschechischen Ministerpräsidenten in meinen Händen hielt, habe ich es drei Mal
durchgelesen.
Ich konnte und wollte nicht glauben, dass ein europäischer Regierungschef, der Ministerpräsident eines Landes, das Mitglied der Europäischen Union werden möchte (...)
gegenüber der sudetendeutschen Volksgruppe solche rassistischen Töne anschlägt. (...)
Diese Äußerungen haben eines plastisch deutlich gemacht: Bis zum heutigen Tage
entschuldigt Zeman die Rassenpolitik Edvard Beneš´ gegenüber den tschechoslowakischen Staatsbürgern deutscher Volkszugehörigkeit; denn das waren die Sudetendeutschen 1945. (...)
Es ist ein Skandal, dass bis zum heutigen Tage in der Tschechischen Republik Mörder
von Sudetendeutschen mit Billigung des tschechischen Gesetzgebers frei und ungestraft herumlaufen dürfen. 176
In ihrer Rede wird nochmals deutlich was eigentlich gemeint ist: Der Antirassismus der
Vertriebenenverbände ist nicht zu verstehen als Recht von Individuen auf Schutz vor Benachteiligung – es geht vielmehr um kollektive Rechte, um Volksgruppenrechte. Auch
wenn sich nach dreimaligem Lesen noch immer keine Textstelle in dem Interview finden
lässt, die den Vorwurf des Rassismus zu erfüllen im Stande wäre, so muss dieser doch herhalten, um dem Ansinnen der Vertriebenenverbände Nachdruck zu verleihen. Besonders
bitter ist es, davon lesen zu müssen, dass Mörder von Sudetendeutschen frei herumliefen –
die einfache Frage, wer in der Bundesrepublik alles frei herumlaufen durfte und darf mit
Billigung des deutschen Gesetzgebers – und dies nicht zuletzt in den Reihen der Vertriebenenverbände – kam keinem der Abgeordneten in den Sinn.
Auch nicht dem deutschen Außenminister Joseph Fischer, der ebenfalls als Redner antrat
und noch einmal den Unrechtscharakter der Vertreibung in den Mittelpunkt seiner Ausführungen rückte:
Meine Eltern waren in den Dreißigern, meine Schwestern waren vier bzw. neun Jahre
alt – ich war noch nicht auf der Welt – als es 1946 nach 200 Jahren plötzlich hieß, die
Heimat in Ungarn zu verlassen und in eine ungewisse Zukunft aufzubrechen. 177
Es entbehrt nicht einer unfreiwilligen Komik, wenn Eltern, wohl etwas über 30 Jahre alt,
nach 200 Jahren plötzlich die Heimat verlassen müssen. Die Anbiederung an die Vertriebenenverbände seitens eines grünen Bundesministers des Äußeren ist allerdings mehr als
befremdlich. Im weiteren Verlauf seiner Rede beschwört Fischer den Geist der deutschtschechischen Erklärung, aus der er umfangreich zitiert, um allerdings im Anschluss klarzustellen, dass auch er den Begriff der Kollektivschuld ablehnt:
Auf dieser Grundlage (gemeint ist die Deutsch-Tschechische Erklärung, R.S.) kann
die Bundesregierung nicht den Vorwurf oder die These von der Kollektivschuld ak-
176
177
Plenarprotokoll 14/211 23.01.02. 20894
Plenarprotokoll 14/211 23.01.02. 20897
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zeptieren. Wo es keine Kollektivschuld gibt, kann es auch keine Kollektivstrafen geben. Vertreibung und Enteignung wurden von uns immer als Unrecht begriffen.178
Wo genau von Kollektivschuld die Rede war, ist zwar nach wie vor unklar, aber klargestellt werden muss wohl, dass man eine solche nicht gelten lassen will, auch wenn niemand
davon gesprochen hat.
Pädagogisch äußerte sich Christian Schmidt von der CDU/CSU-Fraktion:
Wenn es irgendjemand gewesen wäre, hätte man es damit abtun können. Wenn es aber
der Ministerpräsident dieses Landes ist, dann muss er sich schon gefallen lassen, dass
man ihm (...) bei diesen Fragen sagt: Mein Lieber, sehr verehrte Exzellenz, so bist du
für Europa nicht reif! 179
Nach dieser unverhohlenen Drohung gegen Tschechien und einer Aufklärung darüber, wie
Dienstherren mit ihren Untergebenen zu sprechen pflegen, brachte es der Abgeordnete
Zöpel – seines Zeichens Staatsminister beim Bundesminister des Auswärtigen - noch einmal auf den Punkt:
Im Vorfeld (...) sollten wir unsere gemeinsamen Bemühungen beschleunigen und intensivieren und sollten danach streben, nachdem Deutschland (...) in einem weiteren
Schritt, seine Täterrolle aufzuarbeiten, entschieden hat, Zwangsarbeitern Genugtuung
zukommen zu lassen (...) Deutschen, denen von Tschechen Unrecht angetan wurde,
über das Wort hinaus (...) Genugtuung zukommen zu lassen.
Damit ist klar: Deutschland hat vorgemacht, wie man „seine Täterrolle“ aufarbeitet, jetzt
sind die Tschechen dran, wobei Worte nicht ausreichen, um den deutschen Opfern Genugtuung zukommen zu lassen. Hier wird materielle Entschädigung gefordert, die doch die
zuvor vom Bundesaußenminister wortreich beschworene Deutsch-Tschechische Erklärung
ausdrücklich ausschließt. 180 Ganz offensichtlich liegt die Interpretationshoheit also bei den
jeweils geltenden deutschen Interessen, wenn Beitrittskandidaten auf solche Erklärungen
pochen.
Der letzte Redner, Karl Lamers von der CDU/CSU-Fraktion, machte noch einmal unmissverständlich deutlich:
Herr Minister, dazu kann auch die Bundesregierung Entscheidendes beitragen. Sie
muss klar machen, dass so etwas auch von der deutschen Regierung nicht toleriert
wird. Dann werden Sie die Diskussion in Tschechien in die richtige Richtung bewegen. 181
Nicht eine Stimme fand sich in der Bundestagsdebatte, die sich zu Gunsten Zemans geäußert hätte. Verurteilt wurde er von allen Rednern, es gab nur zwei Positionen: Eine, die
Plenarprotokoll 14/211 23.01.02. 20898
Plenarprotokoll 14/211 23.01.02. 20899
180 In der deutsch-tschechischen Erklärung heißt es: „Gerade deshalb, weil sie sich der tragischen Kapitel ihrer
Geschichte bewusst bleiben, sind sie entschlossen, in der Gestaltung ihrer Beziehungen weiterhin der Verständigung und dem gegenseitigen Einvernehmen Vorrang einzuräumen, wobei jede Seite ihrer Rechtsordnung verpflichtet bleibt und respektiert, dass die andere Seite eine andere Rechtsauffassung hat.“ Bundestagsdrucksache
13/6787, 21.01.1997; Deutsch-tschechische Erklärung über die gegenseitigen Beziehungen und deren künftige
Entwicklung"
181 Ebd. 20901
178
179
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versuchte, zu beschwichtigen und eine, die unmissverständliche Drohungen in Richtung
Tschechische Republik ausstieß.
Die an der tschechischen Bevölkerung begangenen Gräueltaten, die Raubzüge und Enteignungen staatlichen und privaten Eigentums und die nahezu vollständige Ermordung der
tschechoslowakischen Juden wurden nicht nur nicht erwähnt, vielmehr wurden sie auf die
Austreibung des Großteils der Deutschen projiziert, die durchweg nur noch als Opfer in
Erscheinung treten.
Von den meisten Rednern wurde die Kollektivschuldthese ausdrücklich zurückgewiesen,
obwohl Zeman sie nicht geäußert hatte. Günter Anders schrieb einst über das Gerücht von
der Kollektivschuld, es sei nur deshalb in der Welt, damit es von den Deutschen zurückgewiesen werden könne, gäbe es das Wort nicht, so würde es erfunden, um es bekämpfen
zu können. 182 Tatsächlich kommt in diesem Vorwurf der Wunsch nach Entlastung zum
Ausdruck: Wer sich selbst als Opfer sehen will, muss den Vorwurf, eigentlich zu den Tätern zu gehören, vehement zurückweisen, auch wenn er historisch gerechtfertigt erscheint,
das völkische Kollektiv wird ex negativo konstruiert, wird ein Teil angegriffen, werden
alle angegriffen.
Weil man sich identifiziert, sich identifizieren will, muss man, sobald jemand – und noch
dazu, wenn es sich bei diesem um den Ministerpräsidenten eines Beitrittslandes zur EU
handelt – die Verbrechen, die von einer überwältigenden Mehrheit der sich selbst als
deutsch definierenden, wenn auch nicht persönlich begangen, so doch geduldet und vom
überwiegenden Teil sogar begrüßt wurden, beim Namen nennt, dies als Angriff auf die
eigene herzustellende Identität empfinden. Dass diesem Vorgehen eine nicht angemessene
Exkulpation deutscher Täter innewohnt – kein Redner in dieser Debatte rückte dies auch
nur ansatzweise in den Fokus seiner Ausführungen.
Bestanden bisher noch Zweifel daran, dass die einst belächelte Sudetendeutsche Landsmannschaft zur Stichwortgeberin der Neuen Mitte aufgestiegen ist, gegen deren Revisionismus sich kaum noch eine Stimme regt, nach Debatten wie dieser sind sie verschwunden.
Folgerichtig konnte die FAZ am 9. Februar zufrieden kommentieren:
Es geht um die Gründungsmythen eines Staates, der kurz davor steht, Mitglied der Europäischen Union zu werden. Wenn die sich weiter als Wertegemeinschaft verstehen
will, wird sie prüfen müssen, ob sie ein Rechts- und Zivilisationsverständnis einlassen
kann, das nicht mit dem eigenen übereinstimmt.
Zum Wertekanon der EU gehörte bisher jedenfalls nicht, daß Vertreibung und Massenmord legitime Mittel der Politik seien (...). Den Tschechen sollte zu denken geben,
daß selbst in der deutschen Linken der Mythos verblaßt, sie sei eine gerechte Strafe
für das Hitlerregime gewesen. 183
182
183
Anders, Günther; Wir Eichmannsöhne. Offener Brief an Klaus Eichmann; München, 1988; S. 83
o.V.; Noch einmal Zeman; in: FAZ, 09. Februar 2002
- 50 -
Und auch in der Führung der Sudetendeutschen Landsmannschaft wurde „mit Genugtuung
registriert“, dass die Bundesregierung offenbar den tschechischen Ministerpräsidenten zu
einer Distanzierung von seinen Äußerungen veranlassen wollte.
Zufrieden äußerte sich der Bundesvorsitzende der SL Bernd Posselt gegenüber der WELT:
Wir erleben eine Solidarisierung, die über den üblichen Kreis der Unterstützer unserer
Petitionen weit hinausgeht.184
5.6 Ein Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin?
Konnten die Vertriebenenverbände die breite Anerkennung als Opfer bereits als Erfolg
verbuchen, finden ihre Themen im Bundestag breite Zustimmung, so überrascht es nicht,
dass sie bei einem ihrer neueren Lieblingsprojekte ebenfalls erfolgreich agieren konnten.
Das „Zentrum gegen Vertreibungen“, dass 1999 beim Tag der deutschen Heimatvertriebenen in Berlin erstmals öffentlich Erwähnung fand 185, wird auf jeden Fall entstehen – fraglich ist lediglich noch wann und wo.
Seit dieser ersten Erwähnung wurde von Seiten der Vertriebenenverbände die Werbetrommel gerührt.
Der Schicksalsweg der deutschen Vertriebenen soll bei dem geplanten Zentrum im
Vordergrund stehen 186
erklärte die Präsidentin des BdV Erika Steinbach Anfang Juni 2000. Denn gerade dieses
Thema gehe „den Menschen ans Gemüt“, mit einer Dauerausstellung in der Gedenkstätte
werde man den „deutschen Opfern“ die Ehre erweisen. Darüber hinaus sollten in einem
solchen Zentrum Tagungen und Kongresse stattfinden, auf denen erörtert werden solle, wie
künftige Vertreibungen zu verhindern seien.
Zwar stand der Ort zu diesem Zeitpunkt (und steht auch bis heute nicht) fest, auf jeden Fall
sollte er im Stadtzentrum sein, „in geschichtlicher und räumlicher Nähe“ 187 zum Holocaust-Mahnmal. Auch ein Zeitplan wurde vorgelegt: Innerhalb von fünf Jahren solle das
Projekt realisiert werden, größtenteils finanziert aus den öffentlichen Haushalten. 160 Millionen Mark sollten die Länder für eine noch zu gründende Stiftung auf den Tisch legen, in
fünf Raten zu je 32 Millionen Mark, drei Millionen DM wolle der BdV aus eigener Tasche
zahlen.
Diese Ankündigung ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Nicht nur dass die
„räumliche und geschichtliche“ Nähe zum Holocaust-Mahnmal gesucht wird, zeigt die
o.V.; Sudetendeutsche begrüßen Berlins Abmahnung an Prag; in: DIE WELT; 25.Januar 2002
vgl Salzborn, Samuel; Deutsches Opferzentrum; in: Blätter für deutsche und internationale Politik; Heft
7/2002; S. 792 - 795
186 Erika Steinbach, zit.n. Banzac, Eric; Neue Heimat. Gedenkstätte für Vertriebene; in: Jungle World 25/2000; S.
8
187 ebd.
184
185
- 51 -
eingeschlagene Richtung an, auch dass die veranschlagte Summe die des HolocaustMahnmals um mehr als das Doppelte übertrifft 188 verdeutlicht das eigentliche Anliegen.
Mit diesem geschichtspolitischen Vorstoß sollte ganz offensichtlich versucht werden, die
Vertriebenen auf eine Stufe mit den ermordeten Juden und Jüdinnen zu stellen.
Im Grunde genommen ergänzen sich die Themen Juden und Vertriebene miteinander.
Dieser entmenschte Rassenwahn hier wie dort, der soll auch Thema in unserem Zentrum sein. 189
Im September 2000 wurde die gemeinnützige Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“
gegründet, dem, als sei es notwendig den parteiübergreifenden Konsens herauszustellen,
als gleichberechtigter Vorsitzender neben Erika Steinbach auch der ehemalige Bundesgeschäftsführer der SPD Peter Glotz angehört. 190
Dass sich die Unionsfraktion sehr schnell positiv auf dieses Zentrum bezog, vermag nicht
zu überraschen. So äußerte Kanzlerkandidat Stoiber wenige Tage vor der Abstimmung im
Deutschen Bundestag in einer Rede bei der Landsmannschaft Ostpreußen noch einmal,
dass das „Zentrum gegen Vertreibungen“ als nationale Gedenkstätte in seinem Regierungsprogramm stehe und auch umgehend umgesetzt werden solle. 191
Und so übernimmt auch der Antrag der CDU/CSU-Fraktion 192 nahezu im Wortlaut die
Forderungen der Vertriebenenverbände, was wenig verwundert, gehört doch Erika Steinbach zu den namentlichen Antragstellerinnen.
Wer jedoch erwartet hatte, dass von der Regierungskoalition ein solches Ansinnen in
Bausch und Bogen abgelehnt würde, der sah sich getäuscht:
In dem von der SPD und Bündnis90/Die Grünen eingebrachten Antrag 193 wird zwar das
Thema Vertreibung und Umsiedlung von Deutschen in einen europäischen Kontext gestellt, so heißt es in dem Antrag:
Ein solches Projekt ist eine europäische Aufgabe und braucht zu Verwirklichung europäische Partner, die auch in die Trägerschaft einbezogen werden 194
Für das Holocaust-Mahnmal ist eine Summe von ca. 50 Millionen DM veranschlagt worden, das „Zentrum
gegen Vertreibungen“ soll 160 Millionen DM kosten, n. Salzborn, Samuel; Ein neuer deutscher Opferdiskurs.
Zur Bedeutung der Vertriebenenverbände und ihrer Anliegen für politische Debatten der Gegenwart; in:
Butterwegge, Christoph u.a. (Hg.); Themen der Rechten – Themen der Mitte. Zuwanderung, demografischer
Wandel und Nationalbewusstsein; Opladen, 2002; S. 147 – 166; S. 151
189 Erika Steinbach, zit.n. Wonka, Dieter; Vertriebene für Gedenkstätte neben Holocaust-Mahnmal; in:
LEIPZIGER VOLKSZEITUNG; 29.Mai. 2000. In dieser Äußerung Steinbachs werden Ursachen und Folgen wieder
gegeneinander ausgespielt: Der „entmenschte Rassenwahn“ richtete sich gegen die Tschechen und Polen, vor
allem die jüdische Bevölkerung, die „Vertreibung“ war eine Folge dessen und sollte das Konfliktpotential in
Osteuropa verringern.
190 o.V.; Ein Groschen für jeden Bissendorfer; in: NEUE OSNABRÜCKER ZEITUNG, 26.06.2001
191 nach: o.V.; Bundestag will „europäisches“ Zentrum gegen Vertreibungen; in: DEUTSCH TSCHECHISCHE
NACHRICHTEN; Nr. 41/42; 02.08.2002;, S. 4
192 Bundestagsdrucksache 14/8594 (neu), 19.03.2002
193 Bundestagsdrucksache 14/9033, 04.07.2002
194 ebd
188
- 52 -
und die Frage nach dem Ort eines solchen Zentrums wurde offen gehalten, doch findet sich
zu den weitreichenden Plänen des BdV und dem damit verbundenen Versuch zur Uminterpretation der Geschichte kein Wort der Kritik und keinerlei Distanzierung. Und dass ein
solches Zentrum nicht doch in „geschichtlicher und räumlicher Nähe“ zum Holocaustmahnmal entsteht ist mit diesem Antrag keineswegs letztendlich ausgeschlossen.
Die weitreichenden Ziele der Vertriebenenverbände wurden von Hans Joachim Otto (FDP)
in seiner zu Protokoll gegebenen Rede unverblümt herausgestellt:
Selbst im Falle von verbrecherischen Regimen darf das Grundrecht auf Heimat nicht
gestrichen werden. 195
Es wird also nicht mehr und nicht weniger angestrebt als die Etablierung eines „Rechtes
auf die Heimat“ im Internationalen Staatsrecht, wobei ein solches Recht den umgesiedelten
Deutschen Ansprüche in ihren Herkunftsgebieten in Osteuropa verschaffen und weit gehende Sonderrechte – „Volksgruppenrechte“ – für die noch im Osten lebenden deutschsprachigen Minderheiten bedeuten würde. 196.
Die Abstimmung verlief wie erwartet: SPD und Bündnis 90/Die Grünen stimmten für ihren
eigenen und gegen die Anträge von CDU/CSU und FDP, die jeweils für ihre eigenen Anträge stimmten, die PDS stimmte gegen die Anträge der Opposition und enthielt sich bei
dem Antrag der Regierungskoalition mehrheitlich, acht Abgeordnete stimmten dagegen. 197
Ein schönes Beispiel für das Denken der „Neuen Mitte“ lieferte Antje Vollmer bei der
Diskussion um das Zentrum gegen Vertreibungen am 16. Mai 2002 im Bundestag.
Die Rede begann konsensheischend mit der Feststellung, dass „wir“ – wer immer das sein
mag - uns alle einig seien, dass man die Ursachen begreifen müsse, um den Ungeist bekämpfen zu können. Der Ungeist sind die Vertreibungen, und sie gehörten zu dem was
Europa immer bedroht habe:
Wir alle haben das Erschrecken geteilt, wir, die wir nach all den bitteren Erfahrungen
so vieler Völker gedacht haben, dass es Vertreibung nicht mehr geben könnte. 198
Der Ungeist ist also keineswegs der völkische Wahn des Nationalsozialismus gewesen, der
Ungeist war nicht Auschwitz, der Ungeist war die Vertreibung.
Nachdem es schwer fällt, diese Lektion zu lernen, nun zu den Ursachen:
Ich glaube, die Ursachen (Hervorhebung im Protokoll, R.S.) reichen sehr weit zurück.
Ich denke – das wird viele erstaunen – dass sie schon bei den Wirkungen der Französischen Revolution liegen, die Europa einerseits Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gebracht hat, andererseits aber zum ersten Mal die Völker, und zwar die politisch
ungebildeten Völker zum Subjekt von Politik gemacht hat. Schon seit dieser Zeit gibt
Plenarprotokoll 14/248; 04.07.2002; S. 25240
zu den Versuchen der Vertriebenenverbände in dieser Richtung vgl. Salzborn, Heimatrecht, S.219ff.
197 Plenarprotokoll 14/248; S. 25240; diese acht Abgeordneten gaben ihre Einwände zu Protokoll, eines der wenigen Beispiele in der bisherigen Diskussion, in denen offen Widerspruch geäußert und explizit auf die deutsche
Vergangenheit Bezug genommen wurde.
198 Plenarprotokoll 14/236, 16.05.2002, 23592
195
196
- 53 -
es die andere, die dunkle Kehrseite, nämlich die des Populismus und des Nationalismus. 199
Bereits an diesem Punkt ihrer Rede ist klar, dass Demokratie wohl eine sehr schlechte
Staatsform sein muss, erhebt sie doch den Demos zum Souverän, mithin zum Subjekt von
Politik. Dass allerdings die französische Revolution „die politisch ungebildeten Völker“
zum Subjekt erhoben hätte, davon dürfte bisher noch niemand gehört haben, was wohl
daran liegen dürfte, dass dies nicht geschah – wurde doch von der Französischen Revolution erstmals der Citoyen, das bürgerliche Individuum, als handelndes Subjekt auf den
Schild gehoben. 200 Es gibt allerdings noch eine zweite Ursache:
Infolgedessen gab es (...) das Auseinanderbrechen der früheren europäischen Großreiche, die alle multikulturelle, multiethnische Großreiche und im Kleinen Vorbilder dieses Europas der vielen Völker und der vielen Sprachen gewesen sind. Aus diesen zusammenbrechenden Großreichen und mit diesem Geist von Populismus und radikalem
Nationalismus kam eine Wahnidee auf, von der ich glaube, dass sie die
zerstörerischste Wahnidee war, die Europa je hatte, nämlich die von ethnischhomogenen Nationalstaaten, sodass diese nicht mehr in der Lage waren mit anderen
Kulturen und anderen Ethnien zusammenzuleben. 201
Ist die Demokratie eine gefährliche Staatsform, weil sie die „ungebildeten Völker“ zum
Subjekt erhebt, dann rettet „uns“ nur eine Habsburger Monarchie mit all ihren Vorzügen?
Müssen „wir“ uns tatsächlich an den Gedanken gewöhnen, dass das Heilige Römische
Reich Deutscher Nationen gewissermaßen das Vorbild für die zukünftige EU war, mit seinen vielen Sprachen und vielen Völkern? Es scheint so aus, denn schließlich wurde der
Nationalismus auch in anderen Ländern gepflegt:
Diese Wahnidee (...) wurde sogar von großen Europäern geteilt. Das war der Grund,
warum im Münchner Abkommen gesagt wurde, wenn die Deutschen nicht mehr mit
den Tschechen zusammenleben können, dann sollen sie doch wählen können und wieder mit ihren Landsleuten zusammengeschlossen werden. Das waren Menschen wie
Präsident Wilson, Chamberlain, Churchill, später Stalin, die diese Wahnidee vertreten
haben und gemeint haben, sie könnten damit stabilere Staaten und somit einen friedlicheren Zustand in Europa erreichen. Das Gegenteil war der Fall.
Wilson, Chamberlain, Churchill waren der Idee von ethnisch reinen Staaten verfallen?
Fehlt nicht bei der Erwähnung des Münchner Abkommens ein Staatsmann? So absurd einerseits die Idee von ethnisch reinen Staaten sowohl für das britische Empire als auch für
die Vereinigten Staaten erscheint, Hitler, seine Expansionspolitik und sein Wahn werden
andererseits mit keiner Silbe erwähnt.
Wieder einmal sind es die anderen gewesen, die sich dadurch, dass sie die „Wahnidee“
vertraten, schuldig gemacht haben.
ebd., 23593
zum Staats- und Nationsverständnis des revolutionären Frankreich s. Hobsbawm, Eric J.; Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780; Frankfurt a.M., 1991; S. 31ff.
201 Plenarprotokoll 14/236, 16.05.2002, 23593
199
200
- 54 -
Die historischen Tatsachen belegen jedoch anderes: Das Münchener Abkommen vom
30.09.1938 stellte den bis dahin größten außenpolitischen Erfolg des Dritten Reiches dar,
der nicht zuletzt durch den konsequenten Kurs der Henlein-Anhänger ermöglicht wurde.
Dieses Abkommen, dass die Zerschlagung der ČSR bedeutete, die, ohne selbst an der Konferenz teilzunehmen, weite Gebiete und ihre Grenzbefestigungen und damit ihre Verteidigungsfähigkeit gegenüber Deutschland verlor, stellte den Höhepunkt der AppeasementPolitik dar, mit der ständigen Kriegsdrohung von deutscher Seite wurden die Westmächte
zur Annahme gezwungen. 202 Es ist möglich zu sagen, dass diese Übereinkunft ein fataler
Fehler der Westmächte war, eine solche Verdrehung der geschichtlichen Tatsachen, wie
sie von Frau Vollmer hier vorgenommen wird, ist hingegen infam.
Wenn Frau Vollmer etwas mit ihrer Rede deutlich gemacht hat, dann dass in ihrem Denken
jeder Nationalismus gleich wiegt, egal ob sich ein Nationalstaat zunächst auf das Territorium bezieht oder sich als Volksgemeinschaft begreift – für sie alles Anzeichen des selben
„Wahns“. Dass sie angesichts dessen darüber hinaus die Rede von den „vielen Völkern“
als konstituierendes Element der europäischen Nationenbildung für bare Münze nimmt,
vermag kaum noch zu überraschen.
Mit Hilfe dieser Konstruktion wird wieder einmal schweres Geschütz gegen das Potsdamer
Abkommen aufgefahren: Warum kamen die Alliierten denn auf die Idee, sie könnten durch
die Umsiedlung der deutschstämmigen Bevölkerung aus den Ländern des Ostens einen
friedlicheren Zustand erreichen? Doch wohl aus dem Grund, dass gerade die sich als deutsche begreifende Bevölkerung mit Hilfe dieser völkischer Konstruktionen immer wieder
als Hebel gegen diese Länder eingesetzt werden konnte und dies in ihrer übergroßen
Mehrheit nicht nur hinnahm, sondern vielmehr sogar begeistert unterstützte.
Dass Frau Vollmer aus ihrer Argumentation die Forderung nach einem „europäischen
Zentrum“ ableitet, dass nur in einem solchen Kontext klargemacht werden könnte, dass ein
Europa der vielen „Völker“ und „Sprachen“ die Forderung der Stunde sei, dies macht einmal mehr deutlich, dass der völkische Kern, der auch ihren Ausführungen zu Grunde liegt,
in keiner Weise in Frage gestellt wird.
Für ihre Ausführungen bekam sie Beifall sowohl von Bündnis 90/Die Grünen, der SPD, als
auch von CDU und FDP.
Dass nicht sofort in der Tschechischen Republik und in Polen die Alarmglocken schrillen,
wird solches von ihnen gefordert – nämlich sich von Deutschen über das Unrecht der Vertreibungen und das Recht der Völker belehren zu lassen -, ist nur in dem Kontext der un-
202
s. zum Münchener Abkommen: Celovsky, Boris; Das Münchener Abkommen; Stuttgart, 1958
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bedingten Notwendigkeit eines Anschlusses an die Europäische Union aus wirtschaftlichen
Gründen zu erklären.
Es besteht allerdings angesichts solch couragierter Politiker wie Miloš Zeman noch Anlass
zur Hoffnung, dass sich ein nach deutschen Kriterien geordnetes Europa nicht ohne weiteres wird durchsetzen lassen können.
6 Exkurs: Die Rückkehr des Antisemitismus
6.1 Der salonfähige Antisemitismus
Wenn Deutschland sich mit einem Wiedererstehen eines auf kulturelle und ethnische Prinzipien sich beziehenden deutschen Nationsbegriffs normalisiert, fallen auch Tabus, sich
öffentlich antisemitisch zu äußern. Artikuliert sich als Grundlage dieser Form von Staatlichkeit das völkische, mithin autochthone und damit Blut und Boden – Prinzip, dann darf
der Zwillingsbruder, der Antisemitismus, nicht fehlen.
Dass sich solcherlei in den letzten Jahren verstärkt Gehör zu verschaffen mag, ist evident.
So hat der Zentralrat der Juden des Öfteren darauf hingewiesen, dass er zwar schon immer
Unmengen antisemitischer Post bekam, diese in letzter Zeit jedoch im Gegensatz zu früheren Jahren häufig mit vollem Namen und Adresse gekennzeichnet würde. 203
Zwar wurde die Debatte der letzten Jahre festgemacht an bestimmten Personen: An Martin
Walser, der mit seiner Friedenspreisrede zum Auftakt der Berliner Republik die erste Debatte über Antisemitismus auslöste und mit seinem Roman vom „Ehrl-König“ 204 zum Ende
der ersten Legislaturperiode gewissermaßen eine Klammer der letzten vier Jahre bildete.
An Jürgen W. Möllemann und Jamal Karsli, die mit ihrer als befreiendem Tabubruch dargestellten „Israelkritik“ einen Beitrag leisteten, antisemitische Stereotypen in die öffentliche Auseinandersetzung zurückkehren zu lassen. An Norbert Blüm, der in die gleiche Kerbe schlug mit seinen Äußerungen vom „Vernichtungskrieg Israels gegen die Palästinenser“ 205 und damit die Entlastungsfunktion, die solchen Äußerungen innewohnt, unterstrich.
Denn wenn die Opfer von gestern die Täter von heute sind, sind die Deutschen keinen
Deut schuldiger als andere „Völker“ und können sich die Juden nicht länger auf ihren Opferstatus berufen
203 n. Wehrhahn, Sebastian; „Lasst uns endlich in Ruhe!“ Das Jüdische Museum Berlin zeigt in der Ausstellung
»Ich bin kein Antisemit« Schmähbriefe an Henryk M. Broder und die Jüdische Allgemeine Wochenzeitung; in:
JUNGLE WORLD, 09. Oktober 2002
204 Walser; Martin; Tod eines Kritikers; Frankfurt a.M., 2002
205 o.V.; Blüm verurteilt israelischen „Vernichtungskrieg“; in : DIE WELT, 18. Juni 2002
- 56 -
Zwar käme niemand ernsthaft auf die Idee, die Gesellschaft des Nationalsozialismus mit
der der heutigen Bundesrepublik gleichzusetzen, stellte dies doch eine furchtbare Verharmlosung der deutschen Schreckensherrschaft zwischen 1933 und 1945 dar.
Zwar wird noch heute fast jede Stellungnahme zum Thema Juden – dass sich meist über
den Umweg einer Israelkritik äußert – mit der Versicherung eingeleitet, kein Antisemit zu
sein aber...
Dennoch lässt sich feststellen, dass in den Debatten ein neuer Ton zu hören ist. Manchmal
allerdings ist auch kein Ton zu hören: Keiner großen deutschen Zeitung war der folgende
Vorfall einen Bericht wert, obwohl er sich zu einer Zeit ereignete, als Rudolf Scharping
noch im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stand.
Die NEW YORK TIMES meldete am 19.09.2002, dass Rudolf Scharping während eines Treffens mit einer 30-köpfigen Gruppe von Amerikanern am 27.08.2002 im Axel-SpringerHaus auf die Frage warum Deutschland so lautstark gegen die Irak-Politik des Weißen
Hauses opponiere folgendermaßen geantwortet hatte:
Er habe sich zu dieser Frage bereits auf einer Kabinettsitzung mit Bundeskanzler Schröder
geäußert: Dies sei alles wegen der Juden. Bushs Motivation den Sturz Saddams zu betreiben, sei durch das Angewiesensein auf die Gunst dessen, was Scharping eine „machtvolle
– vielleicht zu machtvolle - jüdische Lobby“ in den kommenden US-Wahlen nannte, herbeigeführt. Jeb Bush sei auf ihre Stimmen ebenso angewiesen bei den Wahlen in Florida
wie George Pataki in New York, jüdische Stimmen seien zentral für die Kontrolle des
Kongresses. Deutschland, habe der Minister seiner verwirrten Zuhörerschaft nicht ohne
Stolz gesagt, habe einen solchen Verkoppelungsversuch deutlich zurückgewiesen. 206
Dass Deutschland sich den Interessen einer machtvollen „vielleicht zu machtvollen“ jüdischen Lobby entgegenstellt – solche Töne sind leider beileibe nicht neu. Neu ist allerdings,
dass sie von einem sozialdemokratischen Minister in der Öffentlichkeit geäußert werden.
Dass die Denkform des Antisemitismus immer weiter um sich greift, oder vielmehr in der
Öffentlichkeit immer deutlicher wahrnehmbar wird, immer stärker an die Oberfläche
dringt, äußert sich nicht nur auf der Ebene der Spitzenpolitik und in den Zeitungsspalten,
auch empirische Untersuchungen kommen zu diesem Ergebnis.
In der zur Zeit aktuellsten Studie der Universität Leipzig ergibt sich für den Bereich des
Antisemitismus im Vergleich zu den Befragungen von 1994 und 1998 ein erschreckender
Anstieg: "Auch heute noch ist der Einfluß der Juden zu groß" fanden 1994 im Osten nur
Safire, William; The German Problem; in: THE NEW YORK TIMES; 19.September 2002; S.3; lediglich die Süddeutsche Zeitung berichtete am 21.09.2002 über den Vorfall, bezog sich allerdings nur kurz auf den Artikel der
NYT. S.: Koydl, Wolfgang; Who the hell is Herta? Washington ist verwundert über neue Namen und neue Töne
aus Berlin; in: SÜDDEUTSCHE ZEITUNG; 21. September 2002
206
- 57 -
7%, im Westen 17%. 1998 waren im Osten 12% und im Westen 14% dieser Ansicht. Heute dagegen sind es im Osten 14% und im Westen 31% der Befragten, eine „dramatische
Veränderung in Westdeutschland“ wie die Studie deutlich betont. Der Aussage „Die Juden
haben einfach etwas Besonderes und Eigentümliches an sich und passen nicht so recht zu
uns“ stimmen in Ostdeutschland 8%, in Westdeutschland 22% voll zu.
Ähnliche Ergebnisse zeigen sich auch in Bezug auf die Verharmlosung des Nationalsozialismus. Der Aussage „Ohne Judenvernichtung würde man Hitler heute als großen Staatsmann ansehen“ stimmen beispielsweise im Osten 8% im Westen dagegen 19% der Befragten zu. 1998 waren es im Vergleich dazu im Osten 9% und im Westen nur 10%. 207
Dass solche – selbstverständlich ungeheuer wichtige - empirische Forschung allerdings
nicht den Antisemitismus in allen seinen Spielarten zu erfassen in der Lage sein kann, darauf wies bereits Gremliza hin, als er schrieb, dass diese Zahlen ja nur die halbe Wahrheit
seien,
denn die 36 Prozent sind ja nur diejenigen, die sich gegenüber einem unbekannten
Dritten offen zu krudesten Ansichten über „die Juden“ bekennen. Martin Walser und
Jürgen Möllemann gingen in die Ergebnisse solcher Studien als philosemitische Mustermänner ein. 208
Offensichtlich besteht bis heute, trotz alliierter Demokratisierungsauflagen vor 1989, die
dazu beitrugen, den Antisemitismus in den Hintergrund zu drängen, eine antisemitische
Tiefenströmung in der bundesrepublikanischen Gesellschaft fort.
Dass mittlerweile niemand mehr ein Blatt vor den Mund nehmen muss, wenn er sich antisemitisch äußert, wird schlaglichtartig durch einen Vorfall in Berlin, der von der BERLINER
ZEITUNG vom 02. November gemeldet wurde, beleuchtet. 209
Seit mittlerweile 17 Jahren wurde von der Spandauer FDP mit Unterstützung der Jüdischen
Gemeinde versucht, die Kinkelstraße im Berliner Bezirk Spandau wieder umzubenennen in
Jüdenstraße. Die Straße trug diesen Namen, da sie 400 Jahre lang durch das Judenviertel
führte, bis sie von der nationalsozialistischen Bezirksverwaltung 1938 in Kinkelstraße umbenannt wurde. Seit ebenfalls 17 Jahren setzt sich eine von Anwohnern getragene „Bürgeraktion Kinkelstraße“ für den Erhalt des Namens Kinkelstraße ein – man wolle, so die Bürgeraktion, dass der Bruch der Geschichte sichtbar bleibe und durch Ausstellungen oder
Gedenktafeln an das einstige jüdische Leben erinnern. 210
Dem Fraktionsvorsitzenden der FDP im Bezirksparlament Karl-Heinz Bannasch wurde
von Anwohnern immer wieder vorgeworfen, sich mit der hauptsächlich von ihm betrieben.: o.V.; Antisemitismus in Westdeutschland stärker verbreitet als im Osten. Studie des Freud-Instituts und
der Universität Leipzig:; in: FRANKFURTER RUNDSCHAU, 15. Juni 2002
208 Gremliza, Hermann L.; Standortfaktor Antisemitismus; in: KONKRET, Heft 7 / 2002; S. 9
209 Gäding, Marcel; Festakt nach „Juden raus“-Rufen beendet; in: BERLINER ZEITUNG, 02. November 2002
210 so Siegfried Schmidt von der „Bürgeraktion“, ebd.
207
- 58 -
nen Umbenennung persönlich profilieren zu wollen, er erhielt nach eigenen Angaben in
den letzten Monaten immer wieder Briefe, deren Inhalt er als „unterschwellig antisemitisch“ bezeichnete.
Als nun der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Berlin, Alexander Brenner, bei dem
anlässlich der Umbenennung stattfindenden Festakt eine Rede halten wollte, erntete er
Buhrufe, Pfiffe und antisemitische Beschimpfungen. „Juden raus“, „Sie sind gottlos“, „Ihr
Juden seid an allem schuld!“ wurde aus dem Kreis der Anwohner skandiert. Mit den Worten „Sie stellen sich, ob Sie wollen oder nicht, in eine Reihe mit Neonazis“ brach Brenner
seine Rede entsetzt ab. 211
Natürlich sind die Anwohner der früheren Kinkelstraße keine stiefeltragenden Neonazis,
sondern Angehörige des deutschen Mittelstandes, denen es unzumutbar erscheint, in einer
„Jüdenstraße“ zu wohnen. Die Wahlergebnisse dieses Bezirks entsprechen denen des deutschen Mittelstandes, bei der letzten Bundestagswahl gewann der Kandidat der SPD, die
Republikaner, die 1994 und 1998 zur Wahl antraten, kamen nie über einen Stimmanteil
von 1,6 bzw. 2,6 Prozent hinaus. 212
Es erscheint nahe liegend, dass der Prozentsatz an Antisemiten auch in der „Bürgeraktion
Kinkelstraße“ nicht von dem empirisch ermittelten Prozentsatz abweichen dürfte.
Ebd.
s. Statistisches Bundesamt Wiesbaden (Hg.); Der Bundeswahlleiter: Wahl zum 15. Deutschen Bundestag am
22. September 2002; Heft 3 / 09. Oktober 2002: Endgültige Ergebnisse nach Wahlkreisen; S. 58ff.
211
212
- 59 -
6.2 Konfigurationen des Antisemitismus
Der Antisemit attackiere einen Popanz, wie Adorno schrieb, „ohne sich sonderlich um den
Realitätsgehalt dieser Bilder zu kümmern“ 213. Dieses Diktum trifft auch auf die Anwohner
der Jüdenstraße zu. Es gibt schlichtweg keinen rationalen Grund, warum die Straße nicht
ihren ursprünglichen Namen zurückerhalten sollte 214, der dem antisemitischen Irrsinn der
Nationalsozialisten zum Opfer fiel. Dass die Abwehrhaltung - zunächst noch bemäntelt als
Sichtbarmachung des Bruches der Geschichte - so schnell umschlagen kann in antisemitische Äußerungen, in denen bereits die Möglichkeit des Pogroms anklingt, erscheint gerade
im Hinblick auf die deutsche Geschichte mehr als bedenklich.
Bereits in der „Dialektik der Aufklärung“ vertraten Horkheimer und Adorno die Auffassung, dass ohne den Antisemitismus die kapitalistische Gesellschaft nicht zu verstehen sei,
dass sich erst in ihm das Wesen der „solcher Ordnung“ offenbare. 215
Ihre Erklärung, die den Ursachen des Triumphzuges des Antisemitismus im Kontext einer
fortgeschrittenen gesellschaftlichen Dialektik nachspüren sollte, blieb allerdings Fragment,
stellte jedoch einen Versuch dar, den Antisemitismus in eine gesellschaftliche Totalität zu
integrieren, der bislang den weitesten Horizont zu öffnen in der Lage scheint. In gewisser
Weise an diese Fragmente anknüpfend und wohl einer der letzten Versuche, den Holocaust
mit Hilfe einer an der Kritik der politischen Ökonomie orientierten Theorie zu erklären und
in einen Gesamtzusammenhang kapitalistisch verfasster Gesellschaften zu integrieren,
dürfte der von Moishe Postone 216 sein.
Er nähert sich dem Problem dadurch, dass er zunächst fragt, was die Charakteristika des
Holocaust seien: Hier wird von ihm der verhältnismäßig geringe Anteil an Emotion und
unmittelbarem Hass, dafür aber ein Selbstverständnis ideologischer Mission, genannt. Das
wichtigste aber ist für ihn, dass der Holocaust seiner Ansicht nach keine funktionale Bedeutung hatte. 217 Das Argumentationsmuster ist nicht neu: Es lasse sich keine funktionalistische Erklärung des Massenmordes finden, insbesondere gegen Ende des Krieges werde es
Adorno, Theodor W.; Antisemitismus und faschistische Propaganda; in: Simmel, Ernst (Hg.); Antisemitismus;
Frankfurt a.M., 1993; S. 148 – 161; S. 152
214 von einigen Geschäftsleuten wurde vorgebracht, dass sie nun ihre Visitenkarten und Anzeigen neu drucken
lassen müssten, weshalb sie prinzipiell gegen eine Umbenennung seien, bei den zahlreichen Umbenennungen von
Straßen in Berlin seit der Wiedervereinigung wurden solche Vorbehalte bis jetzt nicht bekannt
215 Adorno, Theodor W. / Horkheimer, Max; Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente; Frankfurt
a.M., 1988; S. 177f.
216 Postone, Moishe; Nationalsozialismus und Antisemitismus. Ein theoretischer Versuch; in: Werz, Michael
(Hrsg.); Antisemitismus und Gesellschaft. Zur Diskussion um Auschwitz, Kulturindustrie und Gewalt; Frankfurt
a.M., 1995; S. 29 - 43
217 Ebd. S.29f.
213
- 60 -
schwer zu begründen, warum Kapazitäten für den Transport in die Gaskammern genutzt
wurden, die für militärische Zwecke eigentlich unbedingt notwendig gewesen wären. 218
Allen Formen des Rassismus wohne eine Zuschreibung von potentieller Macht, die dem
anderen unterstellt wird, inne – sei es materielle oder sexuelle - , im Fall des modernen
Antisemitismus sei diese aber von anderer Qualität: sie wird mit Begriffen wie Unfassbarkeit, Abstraktheit und Allgemeinheit umschrieben 219, was diesen von anderen Formen des
Rassismus oder des Vorurteils unterscheide:
Die Juden stehen für eine ungeheuer machtvolle, unfassbare internationale Verschwörung. 220
Ziel seines Aufsatzes ist es, die inneren Beziehungen zwischen einer sozio-ökonomischen
Analyse des Nazismus und dem Antisemitismus herauszuarbeiten, eine Erklärung des Antisemitismus zu finden, die beides vermittelt. 221
Für diesen Vermittlungsversuch greift er zurück auf Marx´ Begriff des Fetisch, der sich aus
dessen Analyse der Ware, des Geldes und des Kapitals als Formen gesellschaftlicher Verhältnisse und nicht als bloße ökonomische Bestimmungen ableitet:
Gesellschaftliche Beziehungen erscheinen in ihrer kapitalistischen Form nicht als solche,
sondern drücken sich vergegenständlicht aus. Die Ware ist nicht bloß Gebrauchsgegenstand, in welcher sich konkrete Arbeit vergegenständlicht, sondern auch Vermittlung abstrakter Arbeit und damit auch Verkörperung gesellschaftlicher Verhältnisse. Der Doppelcharakter Wert und Gebrauchswert ist ihr zu eigen, sie drückt soziale Verhältnisse aus und
verschleiert sie gleichzeitig.
Dadurch, dass diese Verhältnisse keine andere, adäquate Ausdrucksform als nur die Ware
haben können, gewinnen sie ein Eigenleben, sie bilden eine zweite Natur, ein System von
Herrschaft und Zwängen, das, obwohl gesellschaftlich „unpersönlich, sachlich und objektiv ist und deshalb natürlich zu sein scheint.“ 222
218 Gerade um diese Frage drehten sich kontrovers geführte Debatten. So wurde bereits von Kurt Pätzold versucht, die Judenvernichtung auf direkte ökonomische Motive zurückzuführen; s. Pätzold, Kurt; Von der Vertreibung zum Genozid. Zu den Ursachen, Triebkräften und Bedingungen der antijüdischen Politik im faschistischen
deutschen Imperialismus; in: Eichholtz, Dietrich / Gossweiler, Kurt; Faschismustheorien; Berlin, 1975; S. 181 208. Ein besonders weitgehender Versuch, der darauf abzielte, direkten ökonomischen Nutzen von Auschwitz zu
„beweisen“: Kaiser, Peter, M.; Monopolprofit und Massenmord im Faschismus. Zur ökonomischen Funktion der
Konzentrations- und Vernichtungslager im faschistischen Deutschland; in: Blätter für deutsche und internationale Politik; Heft 20, 1975; S. 552 – 577
219 Postone, S. 31
220 Ebd.
221 Das Problem der Theorien, die wie Horkheimers, sich darauf beschränken, die Juden mit dem Geld zu identifizieren, bestünde darin, dass sie nicht in der Lage seien, die antisemitische Vorstellung einzufangen, Juden stünden hinter Sozialdemokratie und Kommunismus; das Problem der Theorien, die den modernen Antisemitismus
als Revolte gegen die Moderne interpretieren (wie George L. Mosse) bestünde darin, dass das Industriekapital
von antisemitischen Angriffe ausgeschlossen war. Das ganze Konzept der „Moderne“ erlaube keine Unterscheidung zwischen Wesen und Erscheinung. Ebd., S. 33
222 Ebd. S. 33
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Der Fetisch verweist auf die Denkweisen, die in den Erscheinungsformen der gesellschaftlichen Verhältnisse befangen bleiben, auf deren Wahrnehmungen und Erkenntnissen basierend.
Postone stellt fest, dass die dem Antisemitismus zugeschriebenen Faktoren Abstraktheit,
Unfassbarkeit, Universalität und Mobilität den Charakteristika der von Marx analysierten
Formen entspricht, sie nehmen die Form des stofflichen Trägers, der Ware, an.
Es ist nun gerade die dialektische Einheit von Wert und Gebrauchswert, die erfordert, dass
sich diese in der Wertform entäußert, in der der Wert „doppelt“ erscheint: als Geld (die
Erscheinungsform des Wertes) und als Ware (die Erscheinungsform des Gebrauchswerts).
Die Ware erscheint nun als rein stofflich und dinglich – die gesellschaftliche Dimension
der Ware ist nicht zu erkennen, das Geld stellt sich als einziger Ort des Wertes dar,
als Manifestation des ganz und gar Abstrakten anstatt als entäußerte Erscheinungsform
der Wertseite der Ware selbst.223
Es ergibt sich also als ein Aspekt des Fetischs, dass im Kapitalismus die gesellschaftlichen
Beziehungen nicht als solche in Erscheinung treten, sondern sich vielmehr antinomisch,
„als Gegensatz von Abstraktem und Konkretem darstellen“ 224: Die abstrakte Seite erscheint in der Form „objektiver“ Naturgesetze, die konkrete Seite als rein stoffliche Natur,
eine Antinomie die sich im Gegensatz positivistischer und romantischer Denkweisen wiederhole. 225
Innerhalb dieser Antinomie verbleiben auch diejenigen Formen des Antikapitalismus, die
den Kapitalismus nur unter der Form der Erscheinungen der abstrakten Seite wahrnehmen,
innerhalb dieser Denkformen erscheint das Geld als Wurzel allen Übels, dem konkrete
Arbeit als nichtkapitalistisches Moment entgegengesetzt ist.
Dass konkrete Arbeit selbst kapitalistische gesellschaftliche Beziehungen verkörpert
und von ihnen materiell geformt ist, wird nicht gesehen. 226
Im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung wird das mechanische Weltbild des 17. und
18. Jahrhundert mehr und mehr durch die Vorstellung von organischen Prozessen abgelöst,
Gesellschaft wie historischer Prozess werden zunehmend biologisch begriffen. (...) So
kann das industrielle Kapital als direkter Nachfolger ‘natürlicher’ handwerklicher Arbeit auftreten und, im Gegensatz zum ‘parasitären’ Finanzkapital, als ‘organisch’ verwurzelt. 227
Ebd., S. 34
Ebd.
225 In diesem Zusammenhang weist Postone darauf hin, dass sich die Mehrzahl der Untersuchungen fetischistischer Denkformen auf die abstrakte Seite bezögen, ihm ginge es im Gegensatz dazu um jenen Strang, der sich in
den Formen von Romantizismus und Revolte, die ihrem Selbstverständnis nach antibürgerlich seien, durch ihre
Hypostasierung des Konkreten jedoch in der Antinomie der kapitalistischen gesellschaftlichen Beziehungen
verharrten, ebd. S. 35
226 Ebd.
227 Ebd., S. 36
223
224
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So finden sich am Ende sowohl die „biologistische Ideologie“ als auch die konkrete Dimension dieses verkürzten Kapitalismusbegriffes auf der selben, dinglichen Seite der Antinomie: „In fetischistischem ‘Antikapitalismus’ dieser Art wird beides, Blut wie Maschine,
als konkretes Gegenprinzip zum Abstrakten gesehen.“ 228 Als – wenngleich atavistisch,
anachronistisch und rückwärtsgewandt erscheinende – Denkform geht diese Spielart des
„Antikapitalismus“ Hand in Hand mit dem Übergang vom liberalen zum organisierten industriellen Kapitalismus. 229
Dieser „antikapitalistische“ Angriff auf das Abstrakte 230 begnügt sich nicht mit der reinen
Attacke, wie das Konkrete wird auch das Abstrakte naturalisiert und biologisiert, indem es
in Gestalt des Juden wahrgenommen wird. Folgerichtig werden die Juden nicht nur mit
dem Geld – also der Zirkulationssphäre – in eins gesetzt sondern mit dem Kapitalismus in
Gestalt seiner abstrakten Wertseite überhaupt. So wurden die Juden nicht allein als Repräsentanten des Geldes gesehen, sondern als Repräsentanten des Kapitals insgesamt, sie
wurden zur „Personifikation der unfassbaren, zerstörerischen, unendlich mächtigen internationalen Herrschaft des Kapitals.“ 231
Für Postone ist dies der Grund, warum die Revolte gegen den Kapitalismus zur Revolte
gegen die Juden geriet und die Überwindung des Kapitalismus unter Einschluss seiner negativen Auswirkungen mit der Überwindung der Juden gleichgesetzt wurde.
Als Begründung, warum es gerade die Juden waren, die für die biologische Interpretation
der abstrakten Seite des Kapitals herhalten mussten, wird von ihm zum einen auf die lange
Geschichte des Antisemitismus in Europa mit der damit verbundenen Assoziation „Juden=Geld“ 232 und zum anderen auf die gesellschaftliche Emanzipation, die den Juden in
der bürgerlichen Gesellschaft Stellungen gerade in den Berufen, die mit der neuen Gesellschaftsformation einhergingen, verwiesen. Darüber hinaus wird von ihm hervorgehoben,
dass in der bourgeoisen Gesellschaft neben dem „Doppelcharakter“ der Ware auch die Gesellschaft durch den „Doppelcharakter“ von politischem Staat und bürgerlicher Gesellschaft – im Individuum ausgedrückt durch die Trennung von abstraktem Staatsbürger und
konkreter Privatperson – gekennzeichnet ist. Auch hier konnten die Juden nach ihrer politischen Emanzipation mit der „Bestimmung von Staatsbürgerschaft als rein politischer Abstraktion“ 233 identifiziert werden.
Ebd. S. 37
Ebd.
230 Wobei Postone die entgegengesetzte Position des Liberalismus, in welcher die Herrschaft des Abstrakten
unhinterfragt bleibt, als in komplementärer Weise entgegengesetzt begreift, ebd.
231 Ebd. S. 38
232 Ebd.
233 Ebd.
228
229
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Aus dieser Sicht wird der Antisemitismus zu einer besonders gefährlichen Spielart des Warenfetischismus, zudem wirkt es verkürzt, wird der Nationalsozialismus als „eine Massenbewegung mit antikapitalistischen Obertönen“ 234 gedeutet, die nach dem Röhm-Putsch
einfach verschwunden wären. Vielmehr wurde Postone zufolge der Versuch unternommen,
mit den europäischen Juden die gesamte abstrakte Kapitalseite zu vernichten.
Misst man der theoretischen Erklärung Postones Wahrheitsgehalt zu, bleibt die Frage, warum gerade in Deutschland der Antisemitismus bis zu dem Unterfangen eskalierte, möglichst aller Juden weltweit habhaft zu werden und sie zu vernichten. Postone selber räumt
ein, diese Frage im Rahmen des Aufsatzes nicht beantworten zu können und verweist statt
dessen auf die deutsche Geschichte, anhand derer dies genauer untersucht werden müsste.
Es scheint so, als sei der Optimismus, den Marx und Engels im Kommunistischen Manifest
äußerten, als sie schrieben, dass der Kapitalismus überall „chinesische Mauern“ einreiße,
mithin über nationalstaatliche Organisation hinaustreibe, alles „Ständische und Stehende“
verdampfe und die Menschen schließlich zwinge, „ihre gegenseitigen Beziehungen mit
nüchternen Augen“ zu sehen, also letzten Endes auf eine Weltgesellschaft hinwirke, der
das Potential zu einer Emanzipation innewohne, durch den Verlauf dieser Geschichte konterkariert worden. 235
Die These, dass auch kapitalistische Vergesellschaftungsformen denkbar sind, die sich
gewissermaßen von einer solchen allgemeinen Vergesellschaftung abkoppeln, die identitätsstiftend wirken gerade außerhalb des Bereiches der Zirkulation und in der Bearbeitung
des Bodens das nächstliegende Beispiel gemeinschaftlicher Produktion auch dann noch zu
erblicken versuchen, wenn die realen Verhältnisse längst schon über diesen Punkt hinaus
getrieben sind, scheint zumindest nicht abwegig. 236
Und tatsächlich scheint es so, als wohnten gerade der deutschen Form kapitalistischer Vergesellschaftung in weit höherem Maße als den westlichen Staaten (England, Frankreich,
USA) noch ursprünglich dem Feudalismus verhaftete Denkformen inne. 237
In gewisser Weise eine Gegenposition zu Postone vertritt Enderwitz, demzufolge der moderne Antisemitismus aus einer Trennung von Staat und Gesellschaft erklärt werden müsse. Dieser habe im Zuge des entstehenden Kapitalismus ein Eigenleben entwickelt, wodurch sich im Laufe des 19. Jahrhunderts insbesondere sein Verhältnis zum Kapital entEbd., S. 40
vgl.: Marx/Engels: Manifest der kommunistischen Partei; in: MEW Bd. 4, S. 465
236 zu diesem Komplex vgl.: Claussen, Detlev; Grenzen der Aufklärung. Zur gesellschaftlichen Geschichte des
modernen Antisemitismus; Frankfurt a.M., 1987; S. 119ff.
237 Allerdings scheinen die bisherigen Versuche, dies in direkter Form nachzuweisen, wenig befriedigend. Vgl.
z.B. Schatz, Holger / Woeldike, Andrea; Nationalisierung der Arbeit, Antisemitismus und Vernichtung; in: Arbeitskreis Kritik des deutschen Antisemitismus (Hg.); Antisemitismus – die deutsche Normalität. Geschichte und
Wirkungsweise des Vernichtungswahns; Freiburg, 2001; S.
234
235
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scheidend verändert habe. Das Kapital sah sich in einem rein bürgerlichen Klassenstaat
seinem eigenen Untergang entgegentreiben, sei es in Form seiner revolutionären Aufhebung durch das Proletariat, sei es in der Auflösung der Gesellschaft im Krieg aller gegen
alle, eine Gefahr der der Staat nur durch eine Emanzipation von der engen Bindung an seine ursprüngliche Klassenklientel begegnen konnte. Eine solche Entwicklung habe in allen
europäischen Staaten stattgefunden, kam jedoch in Deutschland zu ihrer idealen Verwirklichung. Aus der Not der Rückständigkeit eine Tugend machend, übernimmt hier der absolutistische Staat anstelle der nur rudimentär vorhandenen Bourgeoisie
die politische Vormundschaft für das in den Anfängen seiner ökonomischen Entwicklung stehende industrielle Kapital.238
Als dieser Vormund habe der preußisch-deutsche Staat von Anfang an die Widersprüchlichkeit kapitalistischer Entwicklung reguliert, die ihn in anderen Ländern erst auf den Plan
gerufen habe – mit weitreichenden Konsequenzen. Das Bürgertum musste im Gegenzug
dafür, dass der Staat die Ordnung der Geschäfte garantierte auf weitreichende liberale Zugeständnisse verzichten, in Folge dessen betrachtete es sich von Anfang an als Staatbürgertum. Andererseits seien durch den Staat gleichzeitig die Reproduktionsbedingungen der
Arbeiter gesichert worden, aus diesem Grunde sei der Staat in zunehmendem Maße auch
von diesen als Verbündeter begriffen worden. Durch diesen Vorgang sei es zu einer „Verstaatlichung“ gekommen, die antagonistischen Klassen hätten sich freiwillig der politischen Herrschaft unterworfen. Der preußisch-deutsche Staat habe sich in den „Volksstaat“
verwandelt. In der existentiellen Krise, ausgelöst durch den Ersten Weltkrieg und schließlich kulminierend in der Weltwirtschaftskrise sei so der „Volksgemeinschaftsstaat“ entstanden, der von sich annahm, die Klassengegensätze nicht allein ausgeglichen, sondern
zum Verschwinden gebracht zu haben.
Denkt man diese beiden Ansätze zusammen, lassen sich Erklärungen für die antisemitische
Raserei entdecken, ist es doch gerade die abstrakte Kapitalseite, die sich gegen eine Vereinnahmung in der Volksgemeinschaft verwehrt und verwehren muss, wird sie mit den
Juden identifiziert, ist es nur noch eine Frage der Steigerung, die schließlich im Vernichtungsprojekt eskalierte.
Nationalismus geht nach Adorno fast immer mit Antisemitismus einher. 239 Misst man den
angeführten Theorien Erklärungswert zu, kommt man zu dem Schluss, dass dies für den
deutschen in stärkerem Maße gilt als in anderen Ländern. Unter solch einem Blickwinkel
scheint jeder Rekurs auf eine deutsche Identität, egal ob sie sich aus kulturellen oder ethni238 Enderwitz; Antisemitismus und Volksstaat. Zur Pathologie kapitalistischer Krisenbewältigung, Freiburg 1991;
S. 89
239 Adorno, Theodor W.; Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute; in: Adorno; Theodor W.; Gesammelte
Schriften; Bd. 20.1, Frankfurt a.M., 1986; S. 360 – 383; S. 361
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schen Grundannahmen speist nicht nur problematisch sondern brandgefährlich, ruft sie
doch mit den Geistern der Vergangenheit auch die skizzierten Grundlagen der Vergesellschaftung wieder an die Oberfläche.
Natürlich ist der Antisemitismus keine deutsche Spezialität, weltweit ist eine Zunahme des
antisemitischer Ideologien und Gewalttaten zu beobachten. Gerade in Deutschland tritt
aber den skizzierten Mustern noch ein weiteres hinzu und bleibt unlösbar davon:
Gerade durch den Nationalsozialismus und sein Projekt der Vernichtung der europäischen
Juden ist den Deutschen der Weg zu einer leichten und bequemen Identifikation mit einem
Nationsbegriff, der sich an nichts anderem als der Geschichte orientieren kann, versperrt.
Das Muster, dass es die Juden ganz gut verstünden, den Holocaust zu ihrem Vorteil auszunutzen und „die Deutschen“ dafür zahlen zu lassen, begegnet jedem Zeitungsleser und
Fernsehzuschauer nahezu täglich und drückt sich noch in dem Statement aus, dass jetzt
endlich ein Schlussstrich gezogen werden müssen – genug sei genug. 240 Und dieses Muster
scheint tatsächlich bei jedem Rekurs auf die Geschichte mit Leichtigkeit reaktivierbar, wofür die Anwohner der eventuell zukünftigen „Jüdenstraße“ ein beredtes Beispiel bilden.
In dem Satz „Die Deutschen werden den Juden Auschwitz niemals verzeihen“ 241 drückt
sich genau dieses Denken aus und findet sich wieder bei Dichtern und Denkern wie Martin
Walser.
240 nach einer an der Essener Universität durchgeführten Studie sind mittlerweile 36% der Studierenden der Ansicht, dass endlich ein Schlussstrich gezogen werden müsse. Vgl: Ahlheim, Klaus / Heger, Bardo; Die Unbequeme Vergangenheit. NS-Vergangenheit, Holocaust und die Schwierigkeiten des Erinnerns. Schwalbach/Ts. 2002
Als zusätzlicher Beleg mag daneben auch die positive Rezeption des Buches „Holocaust-Industrie“ von Norman
G. Finkelstein (Finkelstein, Norman G.; Die Holocaust-Industrie: wie das Leiden der Juden ausgebeutet wird;
München, 2002) gelten, s. Schobert, Alfred; Die Kronzeugenregelung; in: JUNGLE WORLD, 07. Februar 2001
241 Broder, Henryk M.; Der ewige Antisemit. Über Sinn und Funktion eines beständigen Gefühls, Frankfurt a.M.,
1986; der sich seinerseits auf den israelischen Psychoanalytiker Zwi Rex bezieht.
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7 Der Kanzler und der Schriftsteller
7.1 Eine Sonntagsrede zum Auftakt der Berliner Republik
Die von Martin Walser aus Anlass der Verleihung des Friedenspreises des deutschen
Buchhandels am 11. Oktober 1998 in der Paulskirche gehaltene Rede löste einen heftigen
Streit aus, in dessen Zentrum die Frage stand, welche Stellung dem Nationalsozialismus
und seinen Verbrechen in der zukünftigen Berliner Republik beigemessen werden würde.
Dabei war die Debatte um diese Rede aus mehreren Gründen symbolisch aufgeladen: Die
zeitliche Nähe zur Bundestagswahl und zum bevorstehenden Umzug des Bundestages nach
Berlin legen die Deutung als einer Auftaktdebatte für die Berliner Republik nahe, die
gleichzeitig stattfindenden Verhandlungen über die Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter
gaben der Auseinandersetzung noch zusätzliche Brisanz. 242
In seiner Friedenspreisrede hatte Walser zwölfhundert ausgesuchten Honoratioren aus Politik und Kultur offensichtlich mit seiner Rede unter dem unverdächtigen Titel „Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede“ 243 so aus der Seele gesprochen, dass sie ihm stehende Ovationen entgegenbrachten, allein drei der Anwesenden blieben demonstrativ sitzen: der damalige Vorsitzende des Zentralrates der Juden Ignatz Bubis, seine Ehefrau und
der Theologe und Publizist Friedrich Schorlemmer.
Und so blieb es auch Bubis überlassen, mit dem Wort von der „geistigen Brandstiftung“ 244
Einspruch gegen die Rede Walsers zu formulieren und damit eine Debatte auszulösen, die
angesichts der breiten Zustimmung der in der Paulskirche anwesenden Elite ansonsten
wohl kaum stattgefunden hätte.
vgl. Rensmann, Lars; Enthauptung der Medusa. Zur diskurstheoretischen Rekonstruktion der Walser-Debatte
im Licht politischer Psychologie; in: Brumlik u.a., Umkämpftes Vergessen, S. 28 – 126, S. 28f.
Am Rande sei bemerkt, dass die gesamte rechtsradikale Publizistik sich geradezu dankbar auf die Walser-BubisDebatte gestürzt hat. Knapp eine Woche nach der Rede titelte die JUNGE FREIHEIT am 16. Oktober erleichtert:
„Ein ganz normales Volk“. Der Aufmacher bestand ausschließlich aus Walser-Zitaten, im Innenteil wurde die
Rede vollständig dokumentiert. „Durch Walser sind die Fronten in Bewegung geraten. Die intellektuelle rechte
Presse stellt die aktuelle Kontroverse in einen zeitgeschichtlichen Kontext. Die JUNGE FREIHEIT nennt es die
‘Sehnsucht nach dem Bruch’, die Vertreter jeglicher politischer Couleur vereine. ‘Ein ganz normales Volk’ wird
so zum programmatischen Ausruf einer nicht mehr erinnerungsgetrübten Erleichterung.“ Wehnelt, Joachim;
„Ein ganz normales Volk“; in: DIE WOCHE; 18. Dezember 1998
243 Walser, Martin; Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede; in: FAZ, 12. Oktober 1998; als provozierende Überschrift wurde der aus dem Redetext entnommene Titel „Von der Banalität des Guten“ gewählt, der in
der Umkehr der „Banalität des Bösen“ Hannah Arendts bereits die Aussage der Rede unterstreicht: War es
Arendt in der kritischen Berichterstattung über den in Jerusalem stattfindenden Prozess gegen Eichmann darum
gegangen, diesen als gedankenlosen Vollzugsbeamten einer verwaltungsmäßig vollzogenen Vernichtung darzustellen (wofür sie seinerzeit heftig kritisiert wurde; vgl.: Krummacher, Friedrich Arnold; (Hg.); Die Kontroverse.
Hannah Arendt, Eichmann und die Juden; München, 1964), wird durch diese Überschrift im Kontext der Rede
nahe gelegt, dass jene, die sich mit dem Geschäft der Erinnerung abgäben und beständig mit der „Moralkeule“
drohten auf einer ähnlichen Ebene bewegten.
244 s. o.V.; Walser ein „geistiger Brandstifter“? Scharfe Reaktionen auf Frankfurter Rede des Friedenspreisträgers;
in: TAZ, 13. Oktober 1998
242
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In dem solcherart ausgelösten Streit meldeten nahezu alle Angehörigen der schreibenden
Zunft sich zu Wort 245, andererseits konnte aber auch von einem „dröhnenden Schweigen
der Politik“ 246 gesprochen werden.
In der Rede und der anschließenden Debatte kamen in zugespitzter Form alle oben beschriebenen Momente zum Ausdruck.
Schon in seiner Rede hatte Walser das „Wir“ gegen die Zersetzungsarbeit der Intellektuellen in Stellung gebracht, eine der zentralen Passagen der Rede lautete:
Jeder kennt unsere geschichtliche Last, die unvergängliche Schande, kein Tag, an dem
sie uns nicht vorgehalten wird. Könnte es sein, dass die Intellektuellen, die sie uns
vorhalten, dadurch, dass sie uns die Schande vorhalten, eine Sekunde lang der Illusion
verfallen, sie hätten sich, weil sie wieder im grausamen Erinnerungsdienst gearbeitet
haben, ein wenig entschuldigt, seien für einen Augenblick näher bei den Opfern als
bei den Tätern? 247
So sah Detlev Claussen im „Antiintellektualismus“ einen der Hauptinhalte der Rede Walsers, die vorgenommene negative Konstruktion des nationalen Kollektivs über den Begriff
der gemeinsamen „Schande“ wurde von ihm als „Nationalisierung des Holocaust“ bezeichnet, fast allen Beiträgen der Debatte sei „eine gnadenlose ‘Wir’-Rhetorik“ gemeinsam. Die leere Vokabel von der nationalen Identität wecke das Bedürfnis nach Inhalt, der
in einer ziellosen Gesellschaft nur aus der Vergangenheit begründet werden könne, wobei
den Juden die Rolle zufalle, den nichtjüdischen Deutschen das „Wir-Gefühl“ zu geben,
indem sie ebenfalls als Kollektiv wahrgenommen würden. 248
Und tatsächlich findet sich in der Rede der Versuch, einerseits das Gewissen zu personalisieren und zur Privatsache zu erklären und auf der anderen Seite dieses auf ein vorgestelltes nationales Kollektiv zu übertragen.
Für Moshe Zuckermann stand die „eingeklagte Normalität des deutschen Volkes“ 249 im
Zentrum der Debatte und damit sei sie kennzeichnend für den heutigen Zeitgeist. Im Redetext tauchte die Forderung nach Normalität als rhetorische Frage verkleidet auf:
Das fällt mir ein, weil ich jetzt wieder vor Kühnheit zittere, wenn ich sage: Auschwitz
eignet sich nicht, dafür Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung. Was durch Ritualisierung
zustande kommt, ist von der Qualität des Lippengebets. Aber in welchen Verdacht ge-
Rensmann, Medusa, S. 28, weist darauf hin, dass er allein bis zum Jahresende 1998 über 400 Artikel. Aufsätze
und Essays ausgewertet habe
246 Sigrid Löffler in der ZEIT, zit. n. Wiegel, Gerd; Eine Rede und ihre Folgen; in: Klotz, Johannes / Wiegel,
Gerd (Hrsg.); Geistige Brandstiftung? Die Walser-Bubis-Debatte; Köln, 1999; S. 17 – 64; S. 50
247 zit.n. Walser, Erfahrungen, FAZ; die Wortwahl ist bezeichnend: Durchgängig wird der Holocaust als „unsere
Schande“ bezeichnet. „Schande“ ist laut Duden etwas, dass jemandes Ansehen in hohem Maße zum Schaden
gereicht. Geht man davon aus, dass Walser dieses Wort bewusst im Gegensatz zu Schuld gewählt hat, findet mit
dieser Wortwahl eine Umdeutung statt. Der Holocaust gereicht unserem Ansehen in hohem Maße zu Schaden,
das Menschheitsverbrechen wird dem Ansehen des Täters untergeordnet.
248 Claussen, Detlev; Neue deutsche Versöhnung; in: FREITAG, 08. Januar 1999
249 Zuckermann, Moshe; Von Erinnerungsnot und Ideologie; in: DER TAGESSPIEGEL; 28. November 1998
245
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rät man, wenn man sagt, die Deutschen seien jetzt ein ganz normales Volk, eine ganz
gewöhnliche Gesellschaft?
Durch die enge Verbindung die zwischen einerseits der Forderung nach einem persönlichen Zugang, dem allein echtes Gedenken innewohnen könne, da es nur so nicht zur
„Drohroutine“ zu werden droht und andererseits einer Instanz, die den unter Verdacht
stellt, der sagt, dass die Deutschen „jetzt ein ganz normales Volk“ seien, kommt der
Wunsch zum Ausdruck, dass eben jene Instanz, die die „Moralkeule“ einsetze, verschwinden möge, um den Weg zum Empfinden als normales Volk zu öffnen.
Und wieder sind es „die Denker“, die sich einem solchen Ansinnen entgegenstellen. Er
könne, sagte er, der Beobachtung von „brennenden Würstchenbuden vor brennenden Asylantenheimen“ nicht „zustimmen“ 250, die Denker, die solche Botschaft überbringen, sind
verantwortlich zu machen dafür, dass sich die geforderte Normalität nicht einstellen will:
Die, die mit solchen Sätzen auftreten, wollen uns wehtun, weil sie finden, wir haben
das verdient. Wahrscheinlich wollen sie auch sich selber verletzen. Aber uns auch. Alle. Eine Einschränkung: Alle Deutschen. Denn das ist schon klar: In keiner anderen
Sprache könnte im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts so von einem Volk, von einer
Bevölkerung, einer Gesellschaft gesprochen werden.251
Wie gesagt: Diese Botschaft kam bei ca. 99,75% der Anwesenden so gut an, dass sie den
Redner mit stehenden Ovationen bedachten – zum Zittern bestand mithin kaum Anlass.
Das Wort Adornos:
Die sich einer Stimmung anpassen, die zwar durch offizielle Tabus in Schach gehalten
wird, darum aber nur um so mehr Virulenz besitzt, qualifizieren sich gleichzeitig als
dazugehörig und als unabhängige Männer. 252
trifft auf die Rede Walser voll und ganz zu.
Als ein Beispiel für viele, die sich im Schatten der Rede als ebenso unabhängig und dazugehörig qualifizierten, mag der Kommentar des kürzlich verstorbenen SPIEGELHerausgebers Rudolf Augstein gelten, von dem Rohloff schrieb, er sei
eines der übelsten antisemitischen Pamphlete, die nach 1945 in deutscher Sprache außerhalb der „Nationalzeitung“ gedruckt wurden. 253
Augstein schloss sich der Rede Walsers zustimmend an: Die „Philippika“ Walsers habe die
Debatte vielleicht zur rechten Zeit angestoßen, der Vorwurf der „geistigen Brandstiftung“
von Bubis sei durch die Rede nicht gerechtfertigt, ganz im Gegenteil:
in dem rhetorischen Kniff, der Beobachtung nicht zustimmen zu können, kommt das Ansinnen des Dichters
zum Ausdruck: Beobachtungen kann man durch andere Beobachtungen widersprechen, was in diesem Falle nicht
funktioniert, da diese durch Fotos belegt sind, der Zustimmung bedürfen sie nicht. Weil solche Beobachtung sich
aber der gewünschten Normalität entgegenstellt, müssen die Beobachter schuld am Beobachteten sein. Wie fast
durchgängig werden Täter, in diesem Fall die Pogromisten und ihre Würstchenlieferanten, entlastet und diejenigen, die solches öffentlich machen, als Nestbeschmutzer diffamiert.
251 Walser, Banalität
252 Adorno, Theodor W.; Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit; in: Eingriffe. Neun kritische Modelle;
Frankfurt a.M., 19748; S. 125 – 146; S. 129
253 Rohloff, Volk, S. 92
250
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Damit bringt sich der gestandene, als gemäßigt anerkannte frühere Frankfurter Baulöwe in ein gesellschaftliches Abseits; er gibt einen gehörigen Mangel an Urteilsvermögen zu erkennen. 254
In welchem Zusammenhang die aktuelle Äußerung des Vorsitzenden des Zentralrates der
Juden mit seiner früheren Tätigkeit als „gestandener Frankfurter Baulöwe“ steht, bleibt das
Geheimnis Augsteins, der Verdacht, dass hier auf das Bild des jüdischen Spekulanten angespielt werden soll, drängt sich auf und findet im weiteren Verlauf des Kommentars seine
Bestätigung:
Nun soll in der Mitte der wiedergewonnenen Hauptstadt Berlin ein Mahnmal an unsere fortwährende Schande erinnern. Anderen Nationen wäre ein solcher Umgang mit
ihrer Vergangenheit fremd. Man ahnt, daß dieses Schandmal gegen die Hauptstadt und
das in Berlin sich neu formierende Deutschland gerichtet ist. Man wird es aber nicht
wagen, so sehr die Muskeln auch schwellen, mit Rücksicht auf die New Yorker Presse
und die Haifische im Anwaltsgewand, die Mitte Berlins freizuhalten von solch einer
Monstrosität. 255
Darüber, wer die New Yorker Presse in der Hand habe und von wem solche „Stimmungsmache“ zu befürchten sei, wird der Leser nicht im Zweifel gelassen, zitiert Augstein doch
im Anschluss Adenauers Wort „Das Weltjudentum ist eine jroße Macht“. 256
Geprügelt werden „wir“ – gemeint sind die Deutschen – von dieser Macht so oder so und
die Juden sind selber schuld am Antisemitismus, da sie „uns“ mit solcher Prügel nötigen,
Dinge zu tun, die „wir“ ansonsten unterließen:
Ließen wir den von Eisenmann vorgelegten Entwurf fallen, wie es vernünftig wäre, so
kriegten wir nur einmal Prügel in der Weltpresse. Verwirklichen wir ihn, wie zu fürchten ist, so schaffen wir Antisemiten, die vielleicht sonst keine wären und beziehen
Prügel in der Weltpresse jedes Jahr und lebenslang, und das bis ins siebte Glied.257
Äußerte sich solcherart der Herausgeber des „Sturmgeschützes der Demokratie“ 258, meldeten sich in der ganzen Auseinandersetzung auffallend wenige der politischen Elite.
Klaus von Dohnanyi, der ehemalige SPD-Bürgermeister Hamburgs war der erste Vertreter
der politischen Riege, der sich mit einem offenen Brief an Bubis in der FAZ zu Wort meldete und Walser gegen die Angriffe Bubis in Schutz nahm. 259
(...)Walsers Rede war die Rede eines Deutschen – allerdings eines nicht-jüdischen
Deutschen – über den allzuhäufigen Versuch anderer, aus unserem Gewissen eigene
Vorteile zu schlagen. Es zu missbrauchen, ja zu manipulieren. Wer in unseren Tagen
zu diesem Land in seiner Tragik und mit seiner Geschichte wirklich gehört werden
will, wer sein Deutschsein wirklich ernst und aufrichtig versteht, der muß sagen können: Wir haben den Rassismus zum Völkermord gemacht; wir haben den Holocaust
begangen; wir haben den Vernichtungskrieg geführt. 260
Augstein, Rudolf; „Wir sind alle verletzbar“; in: DER SPIEGEL; Heft 49, 1998; S. 32f.
ebd.
256 ebd., S. 33
257 ebd.
258 Rudolf Augstein über den SPIEGEL, vgl. Kremp, Herbert; Ein letzter Salut; in: DIE WELT, 08. November 2002
259 Dohnanyi, Klaus von; Eine Friedensrede; in: FAZ, 14. November 1998
260 ebd.
254
255
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„Ernstes“ und „aufrichtiges“ Deutschsein verbunden mit einem Bekenntnis zu Holocaust
und Vernichtungskrieg: da können diejenigen, die zu Opfern dessen wurden, nicht dazu
gehören. Wird so gewissermaßen ein nationales Kollektiv von seiner negativen Seite her
konstruiert, müssen sich die Juden trotzdem fragen lassen,
ob sie sich so sehr viel tapferer als die meisten anderen Deutschen verhalten hätten,
wenn nach 1933 „nur“ die Behinderten, die Homosexuellen oder die Roma in die Vernichtungslager geschleppt worden wären. Ein jeder sollte versuchen, diese Frage für
sich selbst ehrlich zu beantworten. 261
Dieses Ansinnen Dohnanyis – die Juden sollten doch einsehen, dass sie keineswegs besser
seien, wären sie nicht selber Opfer geworden, hätten sie auch nicht anders gehandelt, wurde von Bubis als „bösartig“ zurückgewiesen, worauf Dohnanyi unter der Überschrift „Wer
das Wir zerbricht“ konterte:
Daß Sie nun die jüdischen Deutschen von diesem „wir alle“ wie selbstverständlich
ausnehmen (...) scheint mir das Problem ihrer Antworten auf meine Texte zu sein. 262
Dass er selber wenige Tage zuvor die jüdischen Deutschen ausgeschlossen hatte, kümmert
in diesem Zusammenhang nicht. Nun äußerte sich Dohnanyi allerdings in erster Linie als
Sohn des kurz vor Kriegsende von der SS hingerichteten Oppositionellen Hans von Dohnanyi, von den „aktiven“ Politikern äußerte sich lediglich Bundespräsident Roman Herzog.
Ihm blieb auch nichts anderes übrig, hatte er doch bei der Gedenkveranstaltung des Zentralrates der Juden zum 09. November im Anschluss an Bubis zu reden, der seine Kritik an
Walser erneuerte und untermauerte. Für ihn sei Normalität, dass Juden glaubten, wieder in
Deutschland leben zu können, dass sie sich am politischen Leben der Republik engagierten
und es eine Demokratie gebe, die es zuvor nicht gegeben habe. Keinesfalls könne Normalität bedeuten, dass die Erinnerung verdrängt werde und mit neuen Antisemiten, einem neuen Rassismus gelebt werden könne, wie er bei den rechtsextremen Parteien zum Tragen
komme.
In seiner Erwiderung näherte sich Herzog der Position Walsers deutlich an:
Die Erinnerung dient der moralischen und politischen Selbstprüfung –nicht der moralischen Instrumentalisierung in gegenwärtigen Konflikten. Es ist deshalb eine nochmalige Entwürdigung der Opfer, wenn Worte wie „Auschwitz“, „Holocaust“ oder „Faschismus“ leichtfertig benutzte Vokabeln in sehr vordergründigen politischen Debatten werden. Hüten wir uns davor, das Entsetzen in billige Münze umzuwechseln!263
Ob es wirklich nötig war, an diesem Datum, an diesem Ort davon zu sprechen, dass man
sich davor hüten solle, das Entsetzen in billige Münze umzuwechseln? Sollte Herzog gemeint haben, dass mit der Erinnerung nicht leichtfertig, sondern ernsthaft umgegangen
werden sollte, ist ihm beizupflichten, da allerdings zeitgleich die Verhandlungen um die
ebd.
zit.n. Kunstreich, Tjark; Subjekt, Opfer, Prädikat; in: KONKRET; Heft 1 / 1999;S. 12 – 14; S. 13
263 zit.n. Rohloff, Volk, S. 84f.
261
262
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Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter liefen, bekommt der Ausdruck aufgrund der Wortwahl einen bedenklichen Beigeschmack.
Auch über die richtige Dosierung werden wir noch sprechen müssen. Wer mich kennt,
der weiß, dass ich alles eher wünsche als ein Verschweigen. Aber auch Abstumpfung
ist für die junge Generation eine Gefahr, die wir nicht geringschätzen dürfen. 264
Abstumpfung durch eine Überdosierung – dies legt die Deutung nahe, dass Bubis und der
Zentralrat doch bitte etwas leiser auftreten sollten, wollten sie solches vermeiden. An dem
Gedenktag zur Reichspogromnacht in der Berliner Synagoge Rykestraße gesprochen, geraten solche Worte in gefährliche Nähe zum offenen Affront.
Ansonsten sah sich kein Politiker aus der ersten Reihe genötigt, Stellung zu beziehen.
Berühmt wurde das Wort Schröders aus der bereits erwähnten Talk-im-Turm-Sendung:
Ich denke, ein Schriftsteller muß das sagen dürfen, der Bundeskanzler nicht.265
bei dem die Bedeutung im Dunkeln bleibt und nicht herauszufinden ist, ob er es bedauert,
dies nicht sagen zu dürfen oder nicht.
7.2 Ein Gespräch im Willy-Brandt-Haus
Hatte sich Schröder - wie bereits erwähnt – durchaus nicht negativ auf die Rede Walsers
bezogen, musste eine Veranstaltung, die auf Einladung der SPD ausgerechnet am 08. Mai
2002, dem Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus, in Berlin im Willy-Brandt-Haus
stattfand, als deutliche Sympathiebekundung wirken.
Bereits der Text der Einladung, die unter dem Titel „Nation. Patriotismus. Demokratische
Kultur.“ stattfand lässt keinen Zweifel. Wird bereits durch den Titel suggeriert, dass es
einen engen Zusammenhang zwischen den drei Begriffen gäbe, als sei ohne die Nation und
den zugehörigen Patriotismus keine „demokratische Kultur“ denkbar, wird dies durch den
Text der Einladung unter der Überschrift „Wir in Deutschland.“ noch verstärkt:
Die Demokratie ist lebendiger geworden und die Zivilgesellschaft stärker. Dialog- und
Kompromissfähigkeit dominieren. Es gibt wieder eine politische Kultur der Offenheit
und der Toleranz in Deutschland. Wir in Deutschland - das sagen wir heute mit Stolz
auf unser Land, selbstkritisch aber auch selbstbewusst patriotisch. Wir wollen erneuern und wir wollen zusammenhalten. Und wir wollen unserer veränderter Rolle in Europa und der Welt gerecht werden. Als eine normale Nation. 266
Der „Stolz auf unser Land“, der hier zwar selbstkritisch, aber auch selbstbewusst patriotisch beschworen werden soll wird programmatisch untermauert durch das Ansinnen erneuern und zusammenhalten zu wollen als eine „normale Nation“.
ebd.
zit.n. Wiegel, Brandstiftung, S. 51
266 Einladung der SPD zur Veranstaltung, http://www.spd.de/servlet/PB/menu/1015933/index.html; eingesehen 12.11.2002; s. 10.4, Nr. 2
264
265
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Und wie so oft wird auch hier wieder auf eine Ausformulierung dessen, was eine „normale
Nation“ sein soll, insbesondere im Angesicht der deutschen Geschichte – und um diese
sollte es ja nicht zuletzt gehen an diesem Abend – verzichtet.
Von den großen Zeitungen wurden lediglich von der FRANKFURTER RUNDSCHAU 267 und
von der ZEIT Einwände formuliert.
In der ZEIT war es Michael Naumann, der die Kritik äußerte, die SPD habe die Veranstaltung anberaumt, um die konservative Wählerschaft anzusprechen und vor Walser warnte:
Inzwischen hat der Autor (...) einen neuen Topos entdeckt: der Versailler Vertrag, der
über Hitler zu Auschwitz geführt habe. Die Entente, die Sieger des Ersten Weltkrieges
seien zumindest mitschuldig, wenn nicht gar Stifter deutschen Unheils. 268
Die TAZ begrüßte hingegen die Einladung Walsers:
(...) warum empört sein über das Podium mit dem Poeten des neuen Patriotismus? Hat
der Kanzler die anderen nicht alle längst getroffen, die Freimut Duves und Walter
Jensens dieser Republik? Am 8. Mai springt Schröder ins kalte Wasser, statt einmal
mehr im rot-grünen Kräutertee zu baden. Für die entscheidende Frage kann das nur
gut sein: Welche Idee hat die Regierung eigentlich für dieses Land? 269
Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG verwahrte sich gegen eine vom Zentralrat der Juden angeblich
geforderte „Gesinnungshygiene“ und konstatierte, dass es zur Demokratie gehöre und
Friedmann es ertragen müsse, dass Walser seine Auftritte habe. 270
Aufgrund des Medienechos wurde rasch noch der Vorsitzende des Zentralrates der Juden,
Paul Spiegel eingeladen, der allerdings absagte, auch die Reihenfolge der Reden wurde
geändert: Sollte Schröder zunächst nach Walser referieren, so sprach er nun als erster. 271
Entsprechend ist das Podium besetzt: Es referierten nicht nur der Bundeskanzler und der
Schriftsteller, moderiert wurde die Veranstaltung ausgerechnet von dem ZEIT-Redakteur
Christoph Dieckmann, der mit seinem Artikel „Gottesvolk und Kriegstrompeten“ im November 2001 einen eigenen Auftritt in der Antisemitismusdebatte hatte.
Ausgerechnet zum 9. November hatte er einen Artikel mit Reflexionen über Auschwitz
veröffentlicht, in dem er nach einer romantisch verklärten Beschreibung eines Besuchs des
KZ´ („Links des Tores versinkt die Sonne in einem Glast von Kobalt und Zinnober, und
hoch oben schneidet ein Flugzeug mit lohweißem Schweif den Himmel auf.“) Sätze formulierte wie:
o.V.; Abschied von damals; in: FRANKFURTER RUNDSCHAU, 7. Mai 2002
Naumann, Michael; Wie fühlt die Nation? Der Bundeskanzler gegen den Heimatdichter: Ein patriotisches
Verwirrspiel; in: DIE ZEIT, Nr. 20, 14. Mai 2002
269 Schwarz, Patrik; Ein Kanzler auf Ideensuche; in: TAZ; 8.Mai 2002; S. 12
270 Steinfeld, Thomas; Hygiene. Die Entrüstung über Walser und den Kanzler; in: SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 8.
Mai 2002. Interessant in diesem Zusammenhang auch die Reaktion eines Leserbriefschreibers: Unter dem Titel
„Inakzeptable Vorschrift“ schrieb er: “Thomas Steinfelds Artikel war dringend notwendig. Es kann doch wohl
nicht sein, dass der Zentralrat der Juden in Deutschland bestimmt, was ein deutscher Staatsangehöriger wann,
wie und weshalb sagen darf.“ S. SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, Leserbriefe; 25. Mai 2002
271 vgl. Speck, Ulrich; Lehrstunden des Gefühls. Begegnung im Willy-Brandt-Haus: Martin Walser und Gerhard
Schröder im öffentlichen Selbstgespräch; in FRANKFURTER RUNDSCHAU, 10. Mai 2002
267
268
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War nicht das Volk Israel, dem Gott seine Gebote offenbarte, unterwegs nach einem
verheißenen Land, in dem aber längst andere Menschen lebten? Hält nicht Israel bis
heute fremde Erde und büßt dafür mit Tod und tötet jeden Tag? Wir registrieren das
ohne deutschen Kommentar, als gebiete unsere Geschichte uns zu schweigen, als
rechtfertige Auschwitz Israels Palästinapolitik. Israels Erwählungshybris ist ein Fluch.
Ein deutscher Verfluchtheitsanspruch wäre hybrid (...). 272
Sein eigener Artikel widerlegt, dass es keinen Kommentar von deutscher Seite zur israelischen Politik gebe – macht er doch selbst einen. In dem Bild vom Halten „fremder Erde“
taucht darüber hinaus genau jenes Bild wieder auf, dass ein „Volk“ als mit dem Boden
verwachsene Wesenheit vorstellt – mithin ein sehr deutsches Imago von Staatlichkeit und
Nation. Neben dem Auftauchen solch typisch antisemitischer Stereotype wird aber zugleich auch die Entlastungsfunktion deutlich, die sich ausgerechnet bei einem KZ-Besuch
an der Politik Israels abarbeitet.
Was ihn allerdings als Moderator für diese Veranstaltung qualifizierte dürften eher Statements wie diese sein:
Warum lassen Linke, Liberale, Christen, Pazifisten das deutsche Feld so völlig brach?
Die linke Nationalverachtung und das neoliberale Flexibilitätsdiktat treffen sich bei
der Vernichtung von Geschichte. Wenn die Nation bröckelt, zerfällt auch das deutsche
Gedächtnis. 273
Nach der Begrüßungsansprache von Generalsekretär Müntefering, in der er betonte, dass
„wir“ 57 Jahre nach dem 8. Mai 1945 und zwölf Jahre nach der deutschen Einheit „ein
normales europäisches Land“ 274 geworden seien, sprach zunächst der Kanzler. Eingangs
seiner Rede gedachte er „der Toten, die Krieg und Diktatur gefordert haben“, um direkt im
Anschluss auch die deutschen Opfer in das Gedenken mit einzubeziehen.
Wir gedenken auch des unsäglichen Leids, das dieser verbrecherische Krieg über unser eigenes Volk gebracht hat. 275
Sodann macht Schröder eine Zweiteilung in der Auseinandersetzung mit dem „deutschen
Patriotismus“ aus: Auf der einen Seite habe es immer einen freiheitlichen Patriotismus
gegeben, auf der anderen ein formales, territoriales Verständnis von Deutschland. Die
SPD, hier beruft er sich auf Wels, Brandt und Bebel, habe immer „die Idee einer demokratischen Nation verfochten“, womit er nochmals verdeutlicht, dass es längst nicht mehr um
die Frage geht, ob die Propagierung eines deutschen Patriotismus prinzipiell zur Diskussion steht, in Frage zu stellen ist allein die Form die dieser annimmt. Dem „formalen, territorialen Verständnis“ wird eine Absage erteilt:
Dieckmann, Christoph; Gottesvolk und Kriegstrompeten, in: DIE ZEIT, Nr. 46, 13. November 2001
ebd.
274 zit.n. Schmidt, Christian Y.; Gefühle am Mittwoch; in: KONKRET, Nr. 6, Juni 2002, S. 26 – 28, die Veranstaltung wurde live von Phoenix übertragen, die Rede des Bundeskanzlers findet sich im Internet unter:
http://www.spd.de/servlet/PB/-s/do9f5b1yhlrlmekauxg1g21eoe8c224l/menu/1016067/index.html; einges.
12.11.02; s. 10.4, Nr. 3
275 Zitate nach dem im Internet veröffentlichten Manuskript.
272
273
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Dagegen steht die Idee eines freien, demokratischen Deutschland. Eines Deutschland
der Menschen, die in diesem Land leben.
Der enge Konnex, der zwischen einer Nation, die eben nicht nach formalen Kriterien organisiert ist und einem freien, demokratischen Staat, ist bedenklich, wird doch bestritten, dass
es eine andere Auffassung von Nation geben könnte, als jene, die zu propagieren der Bundeskanzler sich anschickt.
Und es seien immer schon die Sozialdemokraten gewesen, die für einen solchen freiheitlichen Patriotismus eingetreten seien. Sodann wechselt er unvermittelt vom Selbstverständnis der Sozialdemokraten zu dem bereits so oft erwähnten „Wir“:
Meine Damen und Herren, unser Selbstbewusstsein als das einer aufgeklärten Nation
im Herzen Europas ist Voraussetzung dafür, dass wir in innerem Frieden leben und
nach außen für Frieden wirken können.
Gesellschaftliche Interessengegensätze, politische Kontroversen und Kämpfe um Deutungshegemonien: Dies alles verschwindet unter dem Siegel des nationalen Selbstbewusstseins, dass als Selbstverständlichkeit dargestellt wird.
Wie weit die Identifikation von Land, Menschen und den Anforderungen der Loyalität mit
einem politischen System geht, zeigt sich in den folgenden Aussagen:
Wir wollen uns nicht nur vergewissern, wer wir sind, woher wir kommen und wohin
wir gehen- sondern auch, mit wem wir gehen, wohin wir gehören. (...) Die Menschen
wissen - und manchmal spüren und erfahren sie es mehr, als dass sie es wissen -, dass
der souveräne Nationalstaat an Bedeutung verliert: zugunsten internationaler Zusammenschlüsse, aber auch als Preis einer immer mehr vernetzten Weltwirtschaft. Der
Wunsch, in dieser unübersichtlichen Welt Zusammengehörigkeit zu organisieren und
zu erleben, ist nicht nur verständlich. Er ist womöglich überlebenswichtig.
Gerade deshalb ist es so notwendig, sich auf Gemeinsamkeiten zu verständigen. Als
bloße Hülse taugt die „Nation“ dabei so wenig wie die „Kultur“. Gemeinsamkeit der
Menschen entsteht aus gemeinsamen Interessen und gemeinsam geteilten Werten.
Hier werden die Themen und Ideologeme der „Neuen Rechten“ durchgängig aufgegriffen:
„Kultur“ taugt als bloße Hülse nicht, vielmehr muss sie gemeinsam gewissermaßen erfühlt
werden und ist mit dem Nationsbegriff eng verkoppelt. Die Kultur wird zum Kitt, reale
Interessengegensätze werden ausgeblendet und durch gemeinsam erfühlte Werte ersetzt.
Will man ein Fazit der Kanzlerrede ziehen, ergibt sich folgendes: demokratischer Nationalismus ist eine Selbstverständlichkeit, an der nicht mehr gerüttelt werden kann. Die deutsche Geschichte wird eingemeindet: Wir haben gelernt. Unter der Hand wird genau das
Bild eines deutschen Nationalismus propagiert, der als Gegenmodell zu einem westlichen,
in der Tradition der Aufklärung stehenden, funktioniert. Aber das Wichtigste ist, dass es
einen Nutzen der Vergangenheitsbewältigung für die Gegenwart gibt.
Dies erweist sich als durchaus anschlussfähig zur Rede Martin Walsers, der seine Rede mit
dem programmatischen Titel „Über ein Geschichtsgefühl“ überschrieben hatte.
Eingangs seiner Rede erteilt er jedem intellektuellen Zugang eine Absage:
- 75 -
Eine Zugehörigkeit muss man erleben, nicht definieren. Auch die Zugehörigkeit zu einem Geschichtlichen hat man nicht zuerst als Erkenntnis parat, sondern als Empfindung, als Gefühl. So kommt es –wenigstens bei mir – zu einem Geschichtsgefühl.
Frage sich jeder selbst, ob er, wenn er versucht, das Wort Nation zu definieren, nach
dem Definieren mehr weiß, als er vorher durch Empfindung wusste.276
Damit ist die Absage an die Ratio bereits hinreichend deutlich, trotzdem wird den „intellektuellen Intellektuellen“, die einen Unterschied zwischen „Denken und Fühlen“ machen
noch eine explizite Ablehnung zu Teil.
Selbstbewusstsein sei das wichtigste Erlebnis bei der Bildung einer Nation, fährt er fort,
um sein Verständnis Deutschlands schließlich folgendermaßen auf den Punkt zu bringen:
Und lange vor unserer Staatlichkeit waren wir eine deutsche Nation, und, bitte, nicht
nur eine Kulturnation, sondern eine politisch tendierende Schicksalsgenossenschaft. 277
Diese habe es lange vor der Staatlichkeit der Deutschen gegeben. Auschwitz wird zu einer
Episode in dieser langen Geschichte, allerdings sind dafür „die Deutschen“ keineswegs
verantwortlich zu machen:
Das wichtigste Glied in der historischen Kette bleibt: ohne Versailles kein Hitler. (...)
Wer nicht begreift, dass dieses Verbrechen nur möglich war unter den Bedingungen
dieses Krieges, der wird nie begreifen, wie Auschwitz überhaupt möglich war. Und
dieser Krieg war der allerletzte Krieg, den diese Nation angezettelt hat. Aber die
Anzettelung hat nicht im Januar 1933 begonnen, sondern viel früher. Unter anderem
eben durch die Mutterkatastrophe des Ersten Weltkriegs. 278
Damit ist die direkte Linie von der „Mutterkatastrophe“ – wobei allein die Verwendung
dieses Wortes bereits aussagekräftig ist, schließlich gibt es für eine Katastrophe, ein unvorhersehbares Ereignis, ein schweres Unglück 279 niemanden, der dafür direkt zur Verantwortung zu ziehen wäre – über Versailles bis nach Auschwitz gezogen und tatsächlich genau das eingetreten, wovor Naumann in seinem Artikel gewarnt hatte, dass nämlich den
Siegern des Ersten Weltkrieges zumindest eine Mitschuld an Auschwitz zugesprochen
werden kann.
In der anschließenden Diskussion fragt Dieckmann 280, ob nicht die von ihm gezogene Verbindungsgerade zwischen Versailles und Auschwitz auf Geschichtsrevisionismus ziele,
worauf Walser empört entgegnet, dass, wenn er ihm nicht erkläre, was daran revisionistisch sei, er gar nicht weitersprechen könne, um sich im direkten Anschluss über die „Verdächtigungsbereitschaft“ auszulassen, die sich auch in Naumanns Artikel in der ZEIT äußezit.n.: Walser, Martin; Über ein Geschichtsgefühl. Vom 8. Mai 1945 zum 9. November 1989: Die Läuterungsstrecke unserer Nation führt nach Europa; in: FAZ, 10. Mai 2002
277 ebd., S. 6
278 ebd.
279 Definition lt. Duden
280 In seinem Eingangsstatement entschuldigt sich Dieckmann für seinen Satz „Israels Erwählungshybris ist ein
Fluch.“, dieser sei dumm und falsch gewesen, sein Zorn über Sharons Palästinenserpolitik habe ihn dazu verleitet. Die anderen Sätze hält er einer Entschuldigung nicht für nötig, der Gedanke, warum bei ihm ausgerechnet
bei einem Besuch von Auschwitz-Birkenau Zorn über die Politik des israelischen Ministerpräsidenten ausgelöst
wird, kommt ihm nicht. Zitate der Diskussion nach: Kasakow, Ewgeniy; Deutschland – jetzt noch normaler!; in:
30S – Zeitung des AStA Uni Bremen; S. 4 – 7
276
- 76 -
re um auf die Auseinandersetzungen nach der Friedenspreisrede zu sprechen zu kommen,
in denen er „so und so behandelt“ worden sei.
Der Bundeskanzler distanziert sich sachte von den Aussagen Walsers, er wolle den Begriff
„Schicksalsgemeinschaft“ nicht benutzen, da er „auch immer vermute“, dass sich hinter
solchen „Begrifflichkeiten“ Dinge verbergen, die ihm rational nicht zugänglich seien, was
ihn misstrauisch mache.
Dass er damit auch Aussagen, die er selbst wenige Minuten vorher getroffen hat, zumindest teilweise wieder revidiert, schließlich sprach er selbst davon, dass formale Kriterien
allein zur Definition nicht taugten, stört in diesem Zusammenhang nicht.
Im Verlauf der Diskussion gab Dieckmann gleich zweimal den skandalträchtigen Satz von
sich:
Im protestantischen Milieu der DDR wurde Auschwitz als Sühne für die Schuld der
Deutschen empfunden. 281
Was er damit gemeint haben könnte, bleibt im Dunkeln, es ist allerdings zu hoffen, dass er
meinte, die deutsche Teilung sei als Sühne für Auschwitz empfunden worden.
Wer erwartet hätte, dass die Reden und die Diskussion einen Skandal auslösen würden,
musste sich getäuscht sehen: Der Skandal blieb aus.
Die TAZ resümierte, dass Walser „Subtexte“ zwar in der Tat unangenehm seien, der Skandal jedoch nicht stattgefunden habe und Koketterie das Wort für dieses Treffen sei. 282 Die
FAZ schrieb, es sei nach der Paulskirchenrede Walsers ein Klima der Missverständnisse,
Unterstellungen und Diffamierungen entstanden, das dem öffentlichen Redner Martin Walser gegolten habe, und in dem der Schriftsteller Martin Walser zu ersticken drohte, doch
nunmehr sei der Protest gegen diese Veranstaltung zu einer „Selbstparodie“ geworden. 283
Die allgemeine Einschätzung lautete: Alles nicht so schlimm. Es wurde Entwarnung gegeben.
Es blieb allein dem Zentralrat der Juden vorbehalten, deutliche Kritik zu üben.
Martin Walser hat die Diskussion um ihn noch mit neuen, unsäglichen Theorien bekräftigt, indem er unter anderem den Vertrag von Versailles als eine der Ursachen für
den Aufstieg des NS-Regimes bezeichnete. (...) Der Antisemitismus hat eine neue
Qualität bekommen. Die Hemmschwelle für Äußerungen antijüdischer Gefühle ist
sehr niedrig, wenn sie überhaupt noch da ist. Wer antisemitisch denkt, sagt dies frecher, unverhohlener und offener als früher. 284
zit.n. Schmidt, Gefühle, S. 28
Reinecke, Stefan; Ganz normal kokett; in: TAZ, 10. Mai 2002
283 Spiegel, Hubert; Deutschland, am 8. Mai. Zur Mechanik einer öffentlichen Vorverurteilung: Martin Walser
diskutiert mit Gerhard Schröder, in: FAZ, 10. Mai 2002
284 Emmerich, Marlies; "Das hat es seit 1945 nicht gegeben". Paul Spiegel über Antisemitismus in Deutschland,
Martin Walser und die Kritik an Israel; in: BERLINER ZEITUNG, 10. Mai 2002
281
282
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Als Fazit der Veranstaltung bleibt, dass Walser sich so verhielt, wie es von ihm zu erwarten war, der Kanzler sich ihm annäherte, in dem er Zugeständnisse an die gefühlte Nation
machte.
8 Das kollektive „Wir“
Sowohl die Friedenspreisrede Walsers als auch sein Vortrag bei der SPD-Veranstaltung
hatten eindeutig die Befreiung eines von Walser so empfundenen nationalen Kollektivs
von der Last der NS-Vergangenheit zum Ziel. Während er sein Gewissen privatisiert, wird
das seinen Ausführungen zugrunde liegende Gefühl, um ein heimeliges Idyll betrogen
worden zu sein, auf dieses Kollektiv übertragen, wie bereits Hajo Funke und Lars
Rensmann in ihrem Kommentar zur Friedenspreisrede herausstellten:
Während er das Gewissen für die jeweils ganz eigene Sache eines jeden Menschen erklärt, verlagert er seine Gewissensproblematik auf das nationale Kollektiv und wird
sich, wie er sagt, doch unbescholten wünschen dürfen, Teil eines „ganz normalen
Volkes“ sein zu können. Damit bekundet er, daß er einen atemberaubenden Vorgang
inszeniert: um das Gewissen zu entlasten, beschwört er den „Volksgeist“ des WirKollektivs und weist jene ab, die anders fühlen. Wer ihn darauf hin kritisiert, wie der
Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis es getan hat, verläßt den in dieser Weise konstruierten nationalen Konsens. 285
Dieses „Wir“ ist aber längst nicht mehr nur ein Bekenntnis des schriftstellernden Biedermannes, sondern Allgemeingut einer sich auf ihre kulturellen Werte besinnenden Gesellschaft geworden.
In ihrem Wahlkampf zu der Bundestagswahl 2002 wurden von der SPD Plakate geklebt,
auf denen groß zu lesen stand: „Wir in Deutschland.“ Auf wen zielt dieses „Wir“? Dass
damit kaum die Sozialdemokraten selbst gemeint sein können, liegt auf der Hand, sollen
im Wahlkampf schließlich möglichst viele Wähler gewonnen werden. Einfacher war die
Sache noch, als die SPD im hessischen Landtagswahlkampf 1999 Plakate mit dem Slogan
„Wir haben verstanden.“ kleben ließ, bezog sich diese Aussage doch auf die allgemein als
Fehlstart eingeschätzte Anfangsphase der rot-grünen Bundesregierung und sollte mithin
eine selbstkritische Reflexion der Sozialdemokraten signalisieren.
„Wir gehen unseren deutschen Weg“, lautete die Wahlkampfparole der SPD, die Generalsekretär Franz Müntefering ausgegeben hat 286, und dies ausgerechnet in einer Situation als
der Bundeskanzler mit seinem „Nein“ zu einer deutschen Beteiligung an einem Krieg gegen den Irak antiamerikanischen Ressentiments bei weiten Teilen der Bevölkerung ein
Ventil schuf und im Einklang mit dem gemeinschaftlichen Kampf gegen die Flut so seine
Wiederwahl sicherte.
285
Funke, Hajo / Rensmann, Lars; Friedensrede als Brandstiftung?; in: DER TAGESSPIEGEL, 13. Dezember 1998
Konrad; Der alte Weg; in: DIE WELT; 07. August 2002
286Adam,
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Das „Wir“, das auf den Wahlplakaten der SPD beschworen wird, dass in den Bundestagsdebatten auftaucht, und mit seinem ständigen „Wir alle sind empört...“ im Sinne eines Jargons der Eigentlichkeit auf mehr verweist als bloße Überzeugung eines Abgeordneten einer anderen Fraktion, das von der Präsidentin des BdV Erika Steinbach in Abgrenzung
gegen die anderen benutzt wird, denen damit gleichzeitig ein Rassismus gegen „die Deutschen“ unterstellt wird, entspricht dem „Wir“, von dem Horkheimer einst schrieb, es sei
genau jenes „Wir“, das gegen das Individuum angewendet wird, das „dem Volksgenossen
angemessen ist“ 287.
Und es ist genau diese „Wir“, das nicht nur keine ernsthafte Erinnerung zulässt, in seiner
„Unfähigkeit zu trauern“ (Mitscherlich/Mitscherlich) vielmehr zu einer Abwehr von Erinnerung führt.
Der von Adorno im Anschluss an Freud als Phänomen eines regredierten Massenbewusstseins näher bestimmte sozialpsychologische Mechanismus des kollektiven Narzissmus,
nach dem eine kollektivierte Selbst- und Gruppenliebe die beschädigten, gekränkten und
ohnmächtigen Einzelnen, denen die „verhärtete Welt immer weniger Befriedigung verspricht“, funktioniert bis heute. 288
In der „nationalen Eitelkeit“ im besonderen im deutschen Nationalismus, der mit Auschwitz für immer desavouiert sein sollte, findet der kollektive Narzissmus seine gefährlichste
Konkretisierung und wurde mit dem 1945 erfolgten Zusammenbruch deutscher
Allmachtsphantasien auf das Schwerste beschädigt. Dieser kollektive Narzissmus drängt
jedoch im kaum gebrochenen Wunsch, sich erneut mit der deutschen Nation ungebrochen
positiv zu identifizieren, auf Reparation, um somit erneut kollektiv-narzistische Gratifikation in Form der Unterwerfung unters nationale Ideal erfahren zu können. Dieser Erneuerung des nationalen Selbstbildes ist jedoch Auschwitz im Wege, oder diejenigen, die es als
Geschichte des Terrors ins Gedächtnis rufen.
Natürlich sind im Laufe der letzten Jahrzehnte Teile des Bürgertums zu einer demokratisch-republikanischen, am Westen orientierten, liberalen Auffassung gelangt. Natürlich ist
die bundesrepublikanische Gegenwart weit entfernt von einer vollständigen Rekonstruktion der Volksgemeinschaft wie sie von Enderwitz in Antisemitismus und Volksstaat beschrieben wurde. Allerdings scheinen Elemente dieser Ideologie ungebrochen bis heute
fortzubestehen, leicht reaktivierbar und sich zunehmend lauter Gehör verschaffen könnend.
9 Vorsichtiger Ausblick
287 Horkheimer, Max; Über die deutschen Juden; in: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Aus den Vorträgen
und Aufzeichnungen seit Kriegsende; hrsg. v. Schmidt, Alfred; Frankfurt a.M., 1967; S. 302 – 316; S. 304
288 Adorno, Theodor W.; Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit; in: Eingriffe. Neun kritische Modelle;
Frankfurt a.M., 19748; S. 125 – 146; S. 136f.
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Im Augenblick der Niederschrift scheint einigermaßen Ruhe auf dem Gebiet der Geschichtspolitik eingekehrt zu sein. Die Spitzenpolitiker der wieder gewählten Bundesregierung bemühen sich, den Schaden, der durch die antiamerikanischen Töne während des
Wahlkampfes entstanden waren, zu kitten, Jürgen W. Möllemann wurde die Schuld für die
weniger als erwartet hohen Stimmenzuwächse der FDP bei der Bundestagswahl zugeschoben und er scheint vorübergehend nur mehr mit unklaren Herkunft der Gelder für sein antisemitisches Faltblatt beschäftigt, die Entschädigung der Zwangsarbeiter ist mittlerweile
angelaufen, mit dem Bau des Holocaust-Mahnmals wurde begonnen.
Natürlich ist alles nicht so offensichtlich, wie es in den 50er Jahren war: Die FDP zieht
nicht mehr unter schwarz-weiß-rotem Gepränge auf ihre Parteitage, es gibt keine Fackelzüge mehr, bei denen der Vertreibung gedacht wird, es gibt nach wie vor ein breites Meinungsspektrum, dass sich auch in der veröffentlichten Meinung widerspiegelt. Die NaziGrößen, die ihre Karriere in allen Bereichen der deutschen Nachkriegsgesellschaft bis auf
wenige Ausnahmen nahezu ungebrochen fortsetzen konnten, sind mittlerweile verstorben
oder führen ein Pensionärsdasein. Die heutige Bundesrepublik ist weder mit der der 50er
Jahre, noch mit der Weimarer Republik zu vergleichen.
Aber dennoch ist diese Entspannung nur eine scheinbare. In „den Deutschen“ in erster Linie Opfer des Nationalsozialismus zu sehen, dies scheint mittlerweile Konsens von links
bis rechts.
Selbst die PDS entdeckte ihre „Liebe zu Deutschland“ 289, man könne den Nationenbegriff
nicht nur in Bezug auf andere Völker zulassen und mit „nationalen Befreiungsbewegungen“ in aller Welt sympathisieren, den Begriff in Deutschland aber aussparen. Mit dieser
Haltung könne man keine Politik machen, weil man an einen Großteil der Menschen nicht
herankomme, erklärte die Parteivorsitzende Gabi Zimmer.
Und damit macht sie deutlich, dass es schon längst keinen Sinn mehr macht, auf diese Fragen die klassische Einteilung von „links“ und „rechts“ anzuwenden. Längst schon ist eine
Tageszeitung wie die „Junge Welt“ – in den Anfangsjahren des wiedervereinigten
Deutschland als ambitioniertes Projekt einer wiedervereinigten deutschen Linken gestartet
auf dem harten Boden der deutschen Realität aufgeschlagen und bedient von links antisemitische Ressentiments und völkische Ideologie und nimmt doch für sich in Anspruch, für
eine bessere Zukunft einzutreten. Gleichzeitig hält die Bildzeitung – über Jahrzehnte das
reaktionäre Kampfblatt einer ewiggestrigen Rechten – die Fahne der Westbindung hoch
und arbeitet gleichzeitig an einer Ausformulierung der deutschen Identität. Kaum eine der
289 o.V.; Die Linke muß auch einen Kampf um die Herzen der Leute führen. Interview mit Gabi Zimmer; in:
FRANKFURTER RUNDSCHAU; 27. Dezember 2000
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großen Zeitungen präsentiert sich als monolithischer Block, immer wieder melden sich
auch kritische Stimmen gegen den deutschen Konsens zu Wort.
Trotzdem ist festzustellen, dass die Themen, die von der „Neuen Rechten“ keineswegs
zufällig ins Gespräch bis in die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen hinein gebracht
wurden, nicht nur keinen öffentlichen Skandal mehr auszulösen im Stande sind, sondern
bis in die Politik hinein breite Anerkennung finden. Deutschland normalisiert sich und – so
wird von der Politik vorgegeben – ist zu einer „normalen“ europäischen Macht geworden.
Die wichtigsten Hindernisse zu einem solchen Bekenntnis – Nationalsozialismus und Holocaust – sind eingereiht in den geschichtlichen Ablauf und bestenfalls noch ein Betriebsunfall, die Deutschen selbst Opfer des Nationalsozialismus und die aus dem verlorenen
Krieg sich ergebenden Konsequenzen in eine europäische Leidensgeschichte integriert,
wenn nicht, wie für die Vertriebenenverbände, die deutsche Geschichte gleich erst 1945
beginnt.
Der Geschichtspolitik kommt so zentrale Bedeutung zu: War bereits die deutsche Beteiligung am Krieg gegen Jugoslawien und das Almosen an die ehemaligen Zwangsarbeiter mit
der im Gegenzug erpressten Rechtssicherheit für deutsche Unternehmen gewissermaßen
Geschichtspolitik mit der Abrissbirne, so wendet sich solche vereinnahmte Geschichte
mehr und mehr nach außen. Man muss kein Prophet sein um zu dem Schluss zu gelangen,
dass in den nächsten Jahren noch zahlreiche unterdrückte Ethnien in aller Welt aus dem
Hut gezaubert werden dürften, der Separatismus und die Segregation von Nationalstaaten
gerade unter Berufung auf die deutsche Geschichte noch stärkere Förderung als bisher bereits erfahren werden. Dass im Zuge dessen das, was wir bisher an Antisemitismus erleben
mussten, nur als ein Vorgeplänkel erscheinen wird, ist ebenso nahe liegend wie erschreckend.
Offensichtlich existiert eine Kluft zwischen dem Institutionengefüge der Bundesrepublik
Deutschland und den bis heute virulenten gesellschaftlichen Bewusstseinsformen. Die
Lernprozesse und Tabuisierungen, die im Zuge der alliierten Demokratisierungsauflagen
bis 1989 stattfanden und die Ideologiesegmente einer "deutschen" nationalen Identität in
unbewusstere Schichten und aus dem öffentlichen Raum gedrängt haben, erstehen im Zuge
der nationalen Restauration neu.
Die Büchse der Pandora mit Namen deutsche Ideologie ist geöffnet, die gesellschaftlichen
Kräfte, die sich einem breiten Konsens, den diese zu stiften im Stande ist, entgegenstellen,
sind nur wenige. Ob sich allerdings das Schlimmste daraus entwickelt – diese Frage ist
zunächst offen und wird sich erst in den nächsten Jahren klären.
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Man muß nicht germanophob sein, um sich verwundert zu fragen, was eigentlich so
normal daran sei, daß eine Nation, die solches Grauen verursacht hat, sobald wieder
dermaßen erstarkt ist 290
schrieb Moshe Zuckermann in seinem Beitrag zur Walser-Bubis-Debatte. Und tatsächlich
wäre die Verhinderung jedes weiteren „Griff nach der Weltmacht“ (Fritz Fischer) von Seiten Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg möglich gewesen, fand aber aufgrund des
Kalten Krieges nicht statt.
Der kategorische Imperativ Adornos, die Verhältnisse so einzurichten, dass Auschwitz sich
nicht wiederhole, muss Leitmotiv in jeder kritischen Auseinandersetzung mit dem
Wiedererstaken des deutschen Nationalismus sein. Von der Einrichtung solcher Verhältnisse sind wir leider weit entfernt, denn tatsächlich macht Deutschland als keineswegs geläuterte Nation Europa sich ähnlich.
290
Zuckermann, Moshe; Von Erinnerungsnot und Ideologie; in: DER TAGESSPIEGEL, 28. November 1998
- 82 -
10 Verzeichnis der verwendeten Literatur
10.1 Dokumente des Deutschen Bundestages
Plenarprotokoll 10/16
Bundestagsdrucksache 12/6708
23.06.1983
31.01.1994
Bundestagsdrucksache 13/6787
21.01.1997
Plenarprotokoll 14/3
Plenarprotokoll 14/211
10.11.1998
23.01.2002
Bundestagsdrucksache 14/8594(neu)
19.03.2002
Plenarprotokoll 14/236
Bundestagsdrucksache 14/9033
16.05.2002
04.07.2002
Plenarprotokoll 14/248
04.07.2002
Alfred Dregger
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 2a)
Deutsch-tschechische Erklärung über
die gegenseitigen Beziehungen und
deren künftige Entwicklung
Schröder, Gerhard
Fischer, Joseph
Gehrcke, Wolfgang
Irmer, Ulrich
Koschyk, Hartmut
Lamers, Karl
Schmidt, Christian
Steinbach, Erika
Vollmer, Antje
Weiskirchen, Gert
Zöpel, Christoph
Antrag der CDU/CSU-Fraktion:
Zentrum gegen Vertreibungen
Vollmer, Antje
Antrag der SPD-Fraktion und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen:
Für ein europäisch ausgerichtetes
Zentrum gegen Vertreibungen
Otto, Hans Joachim
10.2 Literatur
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Adorno, Theodor W. / Horkheimer, Max; Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente; Frankfurt a.M., 1988
Adorno, Theodor W.; Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie; Frankfurt a.M,
1964
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kritische Modelle; Frankfurt a.M., 19748; S. 125 – 146
Adorno; Theodor W.; Gesammelte Schriften; Bd. 20.1, Frankfurt a.M., 1986
Ahlheim, Klaus / Heger, Bardo; Die Unbequeme Vergangenheit. NS-Vergangenheit, Holocaust und die Schwierigkeiten des Erinnerns; Schwalbach/Ts. 2002
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Alter, Peter; Nationalismus; Frankfurt a.M., 1985
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Zur Bekämpfung „revisionistischer Propaganda“; Wien, 1995
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Fischer contra Jean-Pierre Chevènement; in: DIE ZEIT; Nr. 26 / 2000
Heuwagen, Marianne; „Vertriebene sollen sich für Europa einsetzen“; in: SÜDDEUTSCHE
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Koydl, Wolfgang; Who the hell is Herta? Washington ist verwundert über neue Namen
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Levy, Bernard-Henry; Ein paar Versuche, in Deutschland spazierenzugehen(II). Reisen
zwischen den Generationen: Besuche bei den Nachgeborenen und den Zeitgenossen der
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Bundesregierung und den Vertriebenen; in: FAZ; 19. Juli 2001
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Ein patriotisches Verwirrspiel; in: DIE ZEIT, Nr. 20, 14. Mai 2002
Niroumand, Mariam; Little Historians; in: TAZ, 13.April 1996, S. 10
Nolte, Ernst; Die fortwirkende Verblendung; in: FAZ, 22. Februar 1992
Nolte, Jost; Sisyphos ist Deutscher; in: DIE WELT; 16.April 1996
Nutt, Harry; Sich retten gilt nicht. Interview mit Heinz Bude; in: TAZ, 2710.98, S. 15
o.V.; Die Linke muß auch einen Kampf um die Herzen der Leute führen. Interview mit
Gabi Zimmer; in: FRANKFURTER RUNDSCHAU; 27. Dezember 2000
o.V.; „Tag der Heimat“. Keine Rache und Vergeltung, für ein geeintes Europa - Die Charta
von 1950 im vollständigen Wortlaut; in: DER TAGESSPIEGEL, 04. September 2000
o.V.; „Tag der Heimat“. Verband für 15 Millionen Deutsche; in: DER TAGESSPIEGEL, 04.
September 2000
o.V.; Abschied von damals; in: FRANKFURTER RUNDSCHAU, 7. Mai 2002
o.V.; Antisemitismus in Westdeutschland stärker verbreitet als im Osten. Studie des FreudInstituts und der Universität Leipzig:; in: FRANKFURTER RUNDSCHAU, 15. Juni 2002
o.V.; Blüm verurteilt israelischen „Vernichtungskrieg“; in : DIE WELT, 18. Juni 2002
o.V.; Ein Groschen für jeden Bissendorfer; in: NEUE OSNABRÜCKER ZEITUNG, 26.06.2001
o.V.; Noch einmal Zeman; in: FAZ, 09. Februar 2002
o.V.; Spidlas Regierungsmehrheit; in: Deutsch-Tschechische Nachrichten; Nr. 41/42, August 2002; S. 2
o.V.; Sudetendeutsche begrüßen Berlins Abmahnung an Prag; in: DIE WELT; 25.Januar
2002
o.V.; Walser ein „geistiger Brandstifter“? Scharfe Reaktionen auf Frankfurter Rede des
Friedenspreisträgers; in: TAZ, 13. Oktober 1998
Petersen, Olaf / Wirtgen, Klaus; „Auf den Wechsel hinarbeiten“; SPIEGEL-Gespräch mit
Rudolf Scharping, in: DER SPIEGEL, Nr. 43 / 1994, S. 24 - 27
Pieper, Dietmar / Wiegrefe, Klaus; „Die Debatte wirkt befreiend“ Der Historiker HansUlrich Wehler über die verspätete Aufarbeitung von Leid und Elend der Vertriebenen; in:
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Pirker, Werner; Geschichtsfälscher. Miloš Zeman stellt Vergleiche an; in: JUNGE WELT;
20.02.2002; S. 3
Reinecke, Stefan; Ganz normal kokett; in: TAZ, 10. Mai 2002
Ripplinger, Stefan; It's Dynamite. Den Freunden des Berliner Stadtschlosses gebührt der
Nobelpreis. in: Jungle World; 13. Februar 2002
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INTERNATIONALE POLITIK;
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DEUTSCHE
UND
Heft 7/2002; S. 792 – 795
Schirrmacher, Frank; Luftkampf. Deutschlands Anteil am Krieg; in: FAZ, 17. April, 1999
Schmidt, Christian Y.; Gefühle am Mittwoch; in: KONKRET, Nr. 6, Juni 2002, S. 26 – 28
Schwarz, Patrik; Ein Kanzler auf Ideensuche; in: TAZ Nr. 6744; 8.5.2002; S. 12
Senocak, Zafer; Das selbstzufriedene, demokratische Deutschland hat sich als unsicheres,
schnell beleidigtes Konstrukt geoutet; in: SÜDDEUTSCHE ZEITUNG; 19. August 1996
Speck, Ulrich; Lehrstunden des Gefühls. Begegnung im Willy-Brandt-Haus: Martin Walser und Gerhard Schröder im öffentlichen Selbstgespräch; in FRANKFURTER RUNDSCHAU,
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Spiegel, Hubert; Deutschland, am 8. Mai. Zur Mechanik einer öffentlichen Vorverurteilung: Martin Walser diskutiert mit Gerhard Schröder, in: FAZ, 10. Mai 2002
Stein, Dieter; Der gehemmte Kanzler; in: JUNGE FREIHEIT 17. September 1999
Steinfeld, Thomas; Hygiene. Die Entrüstung über Walser und den Kanzler; in:
SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 8. Mai 2002
Thörner, Klaus; Oh du ferne Heimat mein; in: JUNGLE WORLD, 04. September 2002
Thörner, Klaus; Wo ist das Volk? in: JUNGLE WORLD; 21. August 2002
Ullrich, Volker; Hitlers Henker, eine Debatte: Hitlers willige Mordgesellen; in: DIE ZEIT;
Nr. 16 / 12. April 1996
Wallraff, Lukas, Wahlkampf gegen die Tschechen; in: TAZ, 21. Mai 2002
Wallraff, Lukas, Wahlkampf gegen die Tschechen; in: TAZ, 21.05.2002, S. 7
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Läuterungsstrecke unserer Nation führt nach Europa; in: FAZ, 10. Mai 2002
Wehnelt, Joachim; „Ein ganz normales Volk“; in: DIE WOCHE; 18. Dezember 1998
Wollin, Amos; Eher desinteressiert. Zur aktuellen Goldhagen-Rezeption in Israel; in JUNGE
WELT, 23. Dezember 1997
Wonka, Dieter; Vertriebene für Gedenkstätte neben Holocaust-Mahnmal; in: LEIPZIGER
VOLKSZEITUNG; 29.05.2000
Wehrhahn, Sebastian; „Lasst uns endlich in Ruhe!“ Das Jüdische Museum Berlin zeigt in
der Ausstellung »Ich bin kein Antisemit« Schmähbriefe an Henryk M. Broder und die Jüdische Allgemeine Wochenzeitung; in: JUNGLE WORLD, 09. Oktober 2002
Zekri, Sonja; Tiefe Resignation. Interview mit Antje Vollmer zur Vertriebenenfrage; in:
SÜDDEUTSCHE ZEITUNG; 09. Februar 2002
Zuckermann, Moshe; Von Erinnerungsnot und Ideologie; in: DER TAGESSPIEGEL; 28. November 1998
- 91 -
10.4 Ausgedruckte Internetseiten
Nr.1: http://www.minority2000.net; einges. 10.11. 2002
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Nr.2:
Einladung der SPD zur Veranstaltung,
http://www.spd.de/servlet/PB/menu/1015933/index.html; eingesehen 12.11.2002
- 93 -
Nr.3:
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einges. 12.11.02
- 94 -
- 95 -
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