Aktuelle Tendenzen und Reformvorhaben im Jugendstrafrecht I. Die aktuelle öffentliche Diskussion 1. Ein Prophet mußte man nicht sein, um für den Monat Mai, in dem der Bundesminister des Innern traditionell die Jahresstatistik der Polizeilichen Kriminalstatistik veröffentlicht, Schlagzeilen und Berichte verschiedenster Presseorgane zu prognostizieren, nach denen der Anstieg der Jugendkriminalität mit Sorge erfüllt, die Täter immer jünger werden, immer brutaler, immer bedrohlicher für Gesellschaft und Staat und daß man nun endlich Härte zeigen muß. Wie gesagt, ein Prophet mußte man nicht sein. Das Prognostizierte gehört seit langem zu den jährlich wiederkehrenden Ritualen bundesdeutscher Kriminalitätswirklichkeit. Alte Hüte sozusagen. Alte Hüte schon immer, seit es Menschen gibt. Ich will Sie nicht mit Belegen aus der Zeit Hammurabis oder des Sokrates, also lange vor Chistus, strapazieren oder aus christlicher Zeit, etwa der des Augustinus. Aber ich will Sie doch mit einem älteren literarischen Zeugnis konfrontieren, mit einem Zitat aus William Shakespeare’s „Wintermärchen“. Shakespeare ließ um 1611 einen alten Schäfer dort sagen: »Ich wollte, es gäbe gar kein Alter zwischen 13 und 23 oder die jungen Leute verschliefen die ganze Zeit, denn dazwischen ist nichts als den Mädchen Kinder machen, die Alten ärgern, stehlen und balgen.« Trotz dieser ein wenig verharmlosenden Sprache der Schlegel’schen Übersetzung: eine klassische Beschreibung von Jugendkriminalität. Im modernen Deutsch, insbesondere im Deutsch der heutigen Medien würde dies allerdings anders klingen: -2»Ich wollte, es gäbe keine Jugendlichen oder man sperrte sie vorbeugend in geschlossene Heime, Jugendarrest- und Jugendstrafanstalten, denn in dieser Altersphase begehen sie nichts weiter als Verbrechen wie Vergewaltigung von Frauen und Mädchen, Handtaschen- und Straßenraub, Laden- und Einbruchsdiebstahl, Körperverletzung und sonstige Gewalttätigkeiten.« Die Klage über die Jugendkriminalität ist nichts Neues. Jugendkriminalität ist seit jeher ein soziales Phänomen jeder Gesellschaft. Es ist um so größer, je offener eine Gesellschaft ist. Daran ist aber noch keine Gesellschaft, kein Staat gescheitert. Insofern ist die Dramatik der Berichterstattung über Jugendkriminalität ohne Rechtfertigung. Natürlich ist diese Feststellung kein Grund, Jugendkriminalität und ihre Folgen zu verharmlosen. Für die Opfer von Jugendkriminalität ist es kein Trost, daß ihr „Fall“ kein Einzelschicksal ist, und auch die Erkenntnis, daß die Erscheinungsformen von Jugendkriminalität häufig ein Seismograph für kriminalisierende Lebensbedingungen für viele junge Menschen sind, kann nicht beruhigend wirken. Aber Zorn und Hysterie sind keine guten Ratgeber und die ständige Klage über die Bedrohlichkeit der Jugendkriminalität kann den „Tatort Deutschland“, wie die Wochenzeitung „Die Zeit“ einmal überschrieb, auch herbeireden bis jedermann glaubt, daß es gefährlich ist, ins Freie zu gehen, weil hinter jeder Straßenecke ein brutaler jugendlicher Schläger lauere. 2. Beispiele für die sachlich nicht gerechtfertigte dramatisierende Berichterstattung gibt es viele. Eines sei zur Illustration erwähnt, das kürzlich im Bonner „Generalanzeiger“ nachzulesen war. Am 10. März berichtete er unter der Überschrift „Der Anstieg der Jugendkriminalität ist erschreckend“ über die neueste lokale Kriminalitätsstatistik. In der mit dickern Lettern gedruckten Überschrift kam aber lediglich die Aussage eines nachgeordneten Polizeioffiziers zu Wort. Daß der zuständige Polizeipräsident die Zahlen in dem Bericht ausdrücklich als „nicht beunruhigend“ bezeichnete, konnte man erst erfahren, wenn man den Artikel zu Ende las. Für den oberflächlichen Leser vermittelte sich der Eindruck einer be- -3drohlich steigenden Jugendkriminalität auch im Jahre 1998. Einer Landtagsabgeordneten und dem lokalen Vertreter des Bundes Deutscher Kriminalbeamter genügte diese Überschrift allerdings nicht. Am nächsten Tag war in der selben Zeitung zu lesen, daß sie den Polizeipräsidenten der Verharmlosung der Jugendkriminalität beschuldigten und daß der Bevölkerung Entwarnung signalisiert würde, obwohl Alarmstufe 1 herrsche. Keine sachverständige Erläuterung, kein Wort eines Kriminologen, kein aufklärender Kommentar eines Forschers, nichts dergleichen. Wie recht aber der Polizeipräsident hat, mag eine aktuelle Bewertung der Jugendkriminalität allgemein des Konstanzer Kriminologen, Prof. Dr. Wolfgang Heinz, zeigen: »Die massenmediale Darstellung zeichnet sich, wie sämtliche Untersuchungen belegen, durch Dramatisierung der Kriminalität aus, die vor allem durch Selektion und durch die Illustration durch extreme Einzelfälle erfolgt. Diese selektive Berichterstattung wird ergänzt durch die Art der Darstellung, sei es durch plastische Schilderungen extremer Einzelfälle, sei es durch „Kriminalitätsuhren“ usw., wodurch „Gewaltkriminalität“ als eine den einzelnen konkret bedrohende Gefahr suggeriert wird. Schlagzeilen überhöhen die Berichte dramaturgisch - „das Blutbad von Tonndorf“ - oder geben die kriminalpolitische Richtung vor und schreiben Verantwortung zu: „Justizschande - Deutschland wütend: Wacht endlich auf!“. Dramatisch und gefährlich an diesen Berichten ist indes allein die unbegründete Dramatisierung der Lage der „inneren Sicherheit“ und der dadurch mutmaßlich ausgelöste „politisch publizistische Verstärkerkreislauf“.« Die verzerrte Darstellung zur Jugendkriminalität findet Eingang in den politischen Diskurs, weil die Massenmedien auch für Kriminalpolitiker eine Hauptquelle der Berichterstattung über Kriminalität darstellen. Auf diese Weise wird Kriminalität ein Medienprodukt, ein virtuelles Produkt mehr oder weniger verantwortungsbewußter und kompetenter Journalisten. Da werden unzureichende Kenntnisse und persönliche Vorverständnisse massenmedial wirksam. Und so wird mancher Journalist zum Kriminalpolitiker. Die Kriminalpolitik selbst wird diffus und beliebig. Sie hat keine Konturen mehr und ist als vernunftgeleitete Konzeption nicht mehr erkennbar. Sie zerbröselt zur Einzelfallkonsequenz mit lokalen Be- -4zügen und in Unterwürfigkeit zur stimmungsmachenden Qualität einer gerade geschehenen Tat. Die Folgen kommen meist teuer zu stehen. Ausgelöst durch einen populismusgeneigten gesetzgeberischen Aktionismus werden Gesetze geschaffen bezw. eilig formuliert, die dem Problem nicht abhelfen, den Blick auf die eigentliche Problematik verstellen und die Lage eher verschlimmern. Beispiel für eine solche Gesetzgebung ist das im Jahre 1998 verabschiedete Gesetz gegen den sexuellen Mißbrauch: vorzeitige Entlassungen verurteilter Sexualtäter zur überwachten Erprobung gehen zurück; die Entlassung erfolgt ohne ausreichende Vorbereitung nach Ende der vollen Verbüßungszeit. Die Therapieplätze sind, weil wahllos regelmäßig in Anspruch genommen, längst nicht ausreichend. Die benötigte Zahl von Gutachtern steht nicht zur Verfügung. Das alles kostet sehr viel mehr Geld als sinnvoll gezielte Maßnahmen und verhindert nicht den nächsten schlimmen Fall, der nach allen Erfahrungen ganz sicher kommen wird. Dabei ist die statistische Lage besser als je zuvor gewesen; seit 1966 ist die Zahl der registrierten Sexualmorde stark rückläufig. 3. Und dies ist dann auch - mehr oder weniger deutlich formuliert - der kriminalpolitische Zustand der 90er Jahre im Bereich des Jugendstrafrechts (und wohl nicht nur dort!): kein kriminalpolitisches Konzept auf rationaler Basis. Ein von Medien weitgehend bestimmter beliebiger Aktionismus aufgrund spektakulärer Einzelfälle und aktueller Polizeistatistiken. Dagegen anzukämpfen ist außerordentlich schwer. Entweder man findet kein Gehör oder man wird als Verharmloser in eine wirklichkeitsfremde Ecke gestellt. Häufig bleibt den fachlich mit Jugendkriminalität Befaßten nur die Möglichkeit, den von den Medien verursachten Einfluß abzuwehren, der Versuch, das 1990 mit der Reformierung des Jugendgerichtsgesetzes Erreichte zu bewahren und die weiteren Reformkonzepte der aktuellen politischen Diskussion zu entziehen, so lange bis sich ein besseres kriminalpolitisches Klima darstellt. „Wintervorräte sammeln“, hat - Savingy zitierend - Schüler-Springorum diese Haltung einmal ein wenig resignierend bezeichnet. -5Die Folgen dieser Medienberichterstattung und der darauf beruhenden Konzeptionslosigkeit sind kriminalpolitisch und jugendpolitisch gesehen verheerend: - Blickverengung von Politik und Öffentlichkeit auf eine Medienkriminalität, die mit der Wirklichkeit wenig zu tun hat, - Furchtempfindung der Bevölkerung, Opfer einer Straftat zu werden, die jenseits der realen Gefahr liegt, - Forderungen in der Öffentlichkeit und an die Politik nach kurzem Prozeß und scharfen Strafen, jenseits wissenschaftlicher Erkenntnisse und ökonomischer Vernunft. - ein kriminalpolitisches und gesellschaftliches Klima, in dem Warnungen vor Dramatisierung und Überreaktion mit dem Etikett der Verharmlosung tatsächlich bestehender Gefahren versehen werden. Ein Klima für Scharfmacher, für eine neue Unerbittlichkeit und für gesellschaftliche Kälte. II. Jüngste Vergangenheit und künftige Entwicklung 1. In den letzten Jahrzehnten haben sich die empirischen Erkenntnisse der Kriminologie, der Erziehungswissenschaften, Psychologie, Jugendpsychiatrie und Soziologie zu Entstehungsbedingungen und Behandlung von jugendlicher Delinquenz erheblich ausgeweitet und verbessert. Deutlich wurde vor allem, daß unter Berücksichtigung des Dunkelfeldes - Jugendkriminalität zu großen Teilen keine „Einstiegskriminalität“ in eine kriminelle Karriere darstellt, sondern ein allgemein verbreitetes Phänomen ("ubiquitär") in der betroffenen Altersgruppe ist, das in einer bestimmten Entwicklungsphase auftritt und sich überwiegend auch ohne Eingreifen der staatlichen Kontrollinstanzen im Prozeß des Erwachsenwerdens von selbst verliert ("passager, episodenhaft"). Verschiedene Untersuchungen ergaben, daß ein frühes intensives Tätigwerden der Strafjustiz die Gefahr erneuter Straffälligkeit generell eher erhöht. Nicht zuletzt die schädlichen Nebenwirkungen eines Strafvollzugs für das spätere Leben junger Gefangener und ihr künftiges Legalverhalten sind seit langem bekannt. -6- Aufgrund der neuen Erkenntnisse und gewandelter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen veränderten sich auch die Anforderungen an das Jugendstrafrecht. Die Praxis der Jugendstrafrechtspflege in den 80iger Jahren trug dem bis in die 90iger Jahre hinein im Rahmen ihrer rechtlichen Möglichkeiten zunehmend durch eine "Reform von unten" Rechnung. Gleichzeitig mehrten sich aber auch die Forderungen nach einer gesetzlichen Neuorientierung. 2. Einen ersten Schritt hat der Gesetzgeber mit dem Ersten Gesetz zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes (1.JGGÄndG) unternommen, das von einem breiten Konsens aller im Bundestag vertretenen Parteien getragen wurde und am 1. Dezember 1990 in Kraft getreten ist. Hauptziele dieses Gesetzes waren es, den Erziehungsgedanken im Jugendstrafrecht besser zum Tragen zu bringen und die ambulanten Reaktionsmöglichkeiten zu Lasten der freiheitsentziehenden Sanktionen des Jugendgerichtsgesetzes zu stärken. Das Änderungsgesetz beschänkte sich dabei auf die für dringend notwendig erachteten ersten Maßnahmen bei einzelnen Regelungen, verzichtete aber noch auf grundlegende inhaltliche und strukturelle Veränderungen. Die Reformforderungen aus der einschlägigen Wissenschaft, der Praxis und den betroffenen Fachverbänden gingen und gehen teilweise noch deutlich weiter. Dies gilt auch für die grundsätzlich umfassenderen Reformüberlegungen im Bundesministerium der Justiz. Auf künftigen zusätzlichen Reformbedarf wies bereits der Regierungsentwurf des ersten Gesetzes zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes (BT-Drs. 11/5829, S. 14 f.) bereits ausdrücklich hin. In einer Entschließung vom 20. Juni 1990 hat der Deutsche Bundestag dies aufgegriffen und die Bundesregierung aufgefordert, zu den folgenden Problembereichen im Jugendkriminalrecht Lösungsvorschläge für die weitere Reform zu erarbeiten (vgl. BT-Drs. 11/7421, S. 3 = Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses). Sie betreffen: 1. die strafrechtliche Behandlung Heranwachsender, 2. das Verhältnis zwischen Erziehungsmaßregeln und Zuchtmitteln, 3. die Voraussetzungen für die Verhängung von Jugendstrafe, 4. die vermehrte Mitwirkung von Verteidigern im Jugendstrafverfahren, -75. die Gefahr der Überbetreuung Jugendlicher (Erziehungsgedanke/Grundsatz der Verhältnismäßigkeit), 6. Straftaxendenken und Aufschaukelungstendenzen in der Sanktionspraxis der Jugendgerichtsbarkeit 7. die Stellung und die Aufgaben der Jugendgerichtshilfe im Jugendstrafverfahren, 8. das Ermittlungs- und das Rechtsmittelverfahren, 9. die Aus- und Fortbildung von Richtern, Staatsanwälten und Rechtsanwälten in bezug auf jugendstrafrechtliche Besonderheiten, 10. die verstärkt notwendige Berücksichtigung von Belangen junger Frauen bei jugendrichterlicher Sanktionen, 11. die Aufwertung des Täter-Opfer-Ausgleichs. 3. Seitdem ist die Diskussion weiter fortgeschritten. Während die bisherige Richtung der Reformdiskussion von fachlicher Seite nach wie vor beibehalten wird, haben sich in der allgemeinen rechtspolitischen Diskussion seit etwa Sommer 1993 gegenläufige Tendenzen verstärkt Ausdruck verschafft. Auf dem Hintergrund gravierender fremdenfeindlicher Straftaten und dem durch entsprechende Medienberichterstattung gestützten Eindruck zunehmender Jugendgewalt wurden verstärkt Forderungen nach Verschärfungen des Jugendstrafrechts erhoben, die nicht nur der bisherigen Reformdiskussion, sondern auch den vorliegenden empirischen Erkenntnissen zuwiderlaufen. Die reformorientierte Seite ist seitdem vornehmlich auf die Abwehr von Rückschritten im Jugendkriminalrecht beschränkt gewesen. Damit einher gingen seit Anfang der 90iger Jahre jährliche Steigerungsraten in der Polizeilichen Kriminalstatistik überwiegend im Bereich des Ladendiebstahls, des Raubes und der Körperverletzungsdelikte. Inwieweit diese Steigerungsraten der realen Entwicklung entsprechen, ist unter Fachleuten umstritten; es herrscht überwiegend Einigkeit darüber, daß die Polizeiliche Kriminalstatistik die Wirklichkeit nicht real, sondern überspitzt widerspiegelt, weil zahlreiche verzerrende Einflüsse eine große Rolle spielen bzw. weil eine erhöhte Sensibilität in der Bevölkerung und eine daraus resultierende größere Anzeigebereitschaft die Grenze zwischen Dunkel- und Hellfeld verschieben, der immer schon vorhandene „Eisberg“ also lediglich sichtbarer geworden ist. Gleichwohl wird man von gewissen echten Steigerungsraten ausgehen müssen, die an- -8gesichts der sich eher verschlechternden gesellschaftlichen Lebensbedingungen für junge Menschen auch plausibel erscheinen; sie sind allerdings weit geringer, als die Statistik glauben macht. Auch das subjektive Empfinden in der Bevölkerung über die Bedrohung durch Jugendkriminalität ist durch die Realität überwiegend nicht gerechtfertigt; ein Abbau dieser überhöhten Furcht der Bevölkerung durch verstärkte Aufklärung (etwa durch jährliche Berichte und Bewertungen kriminologischer Forschungsinstitute) und durch offensive Öffentlichkeitsarbeit der Justiz ist nötig und muß Bestandteil einer neuen Kriminalpolitik werden. In jüngster Vergangenheit, insbesondere in den Wahlkampfzeiten 1994 und 1998 kam es zu einem „politisch-publizistischen“ Verstärkerkreislauf, der - um mit den Worten des Hamburger Kriminologen Scheerer zu sprechen - „die Kriminalität der Jugendlichen zum umfassenden Problem und zur ubiquitären Bedrohung werden läßt und dem scheinbar nur mit repressiven Gesetzen beizukommen ist.“ Ihren jüngsten Höhepunkt erfuhr die öffentliche Diskussion in der Forderung nach Sicherungsverwahrung für Jugendliche. 4. Die Reform des Jugendstrafrechts ist in der Regierungserklärung des Kabinetts Schröder nicht erwähnt. Auch im Koalitionsvertrag und im Positionspapier der SPD zur inneren Sicherheit findet sich keine entsprechende Forderung. Allerdings muß die Reform im Kontext mit den Bestrebungen zur Prävention und zur Eindämmung von Jugenddelinquenz insgesamt (z.B. AntiGewalttraining, 100 000-Arbeitsplätze-Programm) gesehen werden. Das Jugendstrafrecht ist im Verhältnis zum Erwachsenenrecht bereits heute durch seine eindeutige Folgenorientierung auf den „rechtschaffenen Lebenswandel“, also das Leben ohne Straftaten, das gegenüber dem Erwachsenenstrafrecht mit seinen wenig hilfreichen in erster Linie repressiven Möglichkeiten präventiv weitaus bessere Recht. Eine Optimierung ist aber möglich und im Sinne umfassender Präventionbemühungen, wie sie in der Regierungserklärung gefordert werden, auch nötig. Auch in der allgemeinen Diskussion der vergangenen Jahre haben trotz der Verschärfungseuphorie allmählich auch wieder fortschrittlichere Ansätze, etwa der Gedanke der Prävention oder des Täter-Opfer-Ausgleichs, zunehmend positive Aufnahme gefunden. Inzwischen gibt es in der Fachdiskussion (vgl. -9Forderungen des Letzten Jugendgerichtstages vom September 1998) eine Tendenz weg von der Bewahrung des durch das 1. JGGÄndG Erreichte hin zur Fortsetzung der Reform und zur Rückgewinnung der Meinungsführerschaft in der kriminalpolitischen Diskussion zur Jugendkriminalität. Zusammen mit der Erklärung der Bundesregierung zur Bekämpfung der Kriminalität und deren Ursachen sind dies Ansatzpunkte, um einer weiteren Reform des Jugendkriminalrechts auch gegenüber den auf einen mutmaßlich besseren Schutz der Allgemeinheit abzielenden Verschärfungsforderungen zur Durchsetzung zu verhelfen. III. Grundzüge der Reform Im gegenwärtigen Stadium der Reformüberlegungen kann noch keine abschließende Konzeption mit Vorschlägen zu Einzelregelungen dargestellt werden. Die Spannbreite möglicher Reformregelungen ist sehr groß und umfaßt neben den jugendgemäßen Besonderheiten des Jugendhilfe- und Vormundschaftsrechts sowie des Jugendstrafrechts auch materielles und formelles Strafrecht. Die diskutierten Reformforderungen betreffen überwiegend jeweils spezifische Regelungsgegenstände oder besondere Bereiche und bedürfen noch einer abgestimmten Einordnung in das Gesamtsystem des Jugendkriminalrechts. So kann z.B. über die Ausgestaltung des Rechtsfolgenkatalogs nicht ohne Klärung des Verhältnisses von Jugendgericht, Jugendgerichtshilfe und allgemeiner Jugendhilfe und deren jeweiligen Kompetenzen entschieden werden und umgekehrt. Veränderungen des Anwendungsbereichs der Jugendstrafe, Einschränkungen, Umgestaltungen oder eine Abschaffung des Jugendarrests können nicht ohne Rücksicht auf die zur Verfügung stehenden Alternativen erfolgen. Wegen dieser und anderer Wechselbezüge kann hier nur eine allgemeine Richtungsweisung gegeben werden. Auch die jeweiligen Überlegungen zu Einzelbereichen stehen unter dem Vorbehalt späterer Anpassung an die Regelungen in anderen Bereichen und der abschließenden Abstimmung. Dies vorangeschickt werden die folgenden Überlegungen vorgetragen: a. Das Jugendstrafrecht, besser: das Jugendkriminalrecht, ist in erster Linie Präventionsrecht und nicht Repressionsrecht. Sein vorrangiges Ziel ist es, nicht durch harte Strafen, die die Rückfallgefahr eher erhöhen können, sondern -10durch jugendgemäßes Reagieren auf Verfehlungen junger Menschen und gegebenenfalls durch geeignete "erzieherische" Maßnahmen einer künftigen Straffälligkeit entgegenzuwirken. Als wesentliche Grundentscheidung ist deshalb an der Ausrichtung des Gesetzes an einem - allerdings „reformulierten“ - Erziehungsgedanken festzuhalten. Dies und die spezifische Zielrichtung des Erziehungsgedankens im Jugendkriminalrecht (Vermeidung künftiger Straffälligkeit durch folgenorientierte und jugendgemäße Verfahrensgestaltung und Rechtsfolgenauswahl und -gestaltung) sollten in einer allgemeinen Aufgabennorm am Anfang des JGG klargestellt werden. Im einzelnen wird zu prüfen sein, ob hier noch weitere Sanktionszwecke (Normverdeutlichung, auch im Sinne positiver Generalprävention; Schuldausgleich) zu berücksichtigen sind. Eine negative Generalprävention /Abschreckung sollte weiterhin als eigenständiger Sanktionszweck im Jugendkriminalrecht unzulässig sein. Etwas konkreter heißt dies: Für den größten Teil (etwa 70%) der Jugendkriminalität, der gemeinlästige Kleinkriminalität darstellt (Diebstahl, Sachbeschädigung, Leistungserschleichung, leichte Körperverletzung und leichte Verkehrsdelinquenz sowie als Fall besonderer Art Konsum illegaler Drogen), bedarf es des Aufwandes eines förmlichen Strafverfahrens nicht. Aus ökonomischen, kriminologischen und erzieherischen/präventiven Gründen sind informelle Erledigungen (Absehen von der Verfolgung durch den Staatsanwalt/Einstellung durch den Richter nach Anklageerhebung) ohne oder mit Auflagen als sinnvolle Reaktionen geboten. Das Problem ist die derzeitige politische/kriminalpolitische Stimmungslage, die ungebrochen nach harten Reaktionen ruft - eine verhängnisvolle Forderung. Darüber hinaus sollte geprüft werden, inwieweit zur Entlastung der Staatsanwaltschaft sowie zur schnelleren und unbürokratischen Bearbeitung auf einen Teil dieser Kriminalität nach Schadensersatzleistung von der Polizei im Wege der „Polizeidiversion“ eigenverantwortlich reagiert werden sollte (vgl. auch unten S.12). -11Erörtert werden sollte auch, ob und inwieweit bei Minima-Delikten ganz junge Jugendliche (etwa unter 16 Jahren) überhaupt strafbar sein sollten, wenn nicht besondere Umstände des Einzelfalles strafrechtliches Eingreifen erfordern (minima non curat praetor). In Österreich hat sich eine solche Regelung bewährt, in der Schweiz ist sie geplant. Auch sie läuft zwar dem Zeitgeist zuwider, sie wird aber von Fachleuten aus erzieherischen Gründen (stigmatisierende Wirkung der Strafverfolgung) empfohlen; sie erscheint auch deshalb angezeigt, weil die besondere Appellationskraft des Strafrechts bei der Verfolgung von Bagatelldelikten und geringer Schuld (Jugendlichkeit) mit dem sozialethischen Unwerturteil der Strafe verlorengeht. b. Gleichzeitig mit der Beibehaltung des Erziehungsgedankens ist einer stärkeren Trennung von Jugendstrafrechtspflege und Jugendhilfe entgegenzutreten. Sie würde zu einer Zurückdrängung des justitiellen Instrumentariums auf die "klassischen", eher punitiv ausgerichteten Sanktionen führen. Gerade für das wichtige Kernstück der ambulanten sozial-pädagogischen Maßnahmen ist die Jugendhilfe in einem erzieherisch orientierten Jugendkriminalrecht unverzichtbar. Anzustreben ist zwar auch ein weiterer Ausbau der Diversionsmöglichkeiten unter Verantwortungsverlagerung auf die Jugendhilfe. Im übrigen gilt es aber vornehmlich, die Kooperation von Justiz und Jugendhilfe zu verbessern, z.B. durch verstärkte Beteiligungserfordernisse im justitiellen Verfahren. Dem Ziel einer jugendgemäßen Reaktion auf delinquentes Verhalten, einer künftigen Straffälligkeit unter den jeweiligen Voraussetzungen bestmöglich entgegenzuwirken, dient nicht eine strikte Aufgabentrennung, sondern eine effiziente Aufgabenteilung, bei der jede Seite ihre spezifischen Kenntnisse und Mittel einbringt. Es ist dabei wünschenswert, als wichtiges Bindeglied die Jugendgerichtshilfe beizubehalten, die als besondere Aufgabe der Jugendhilfe zugewiesen ist. Eine Übertragung ihrer Ermittlungs- und Kontrollaufgaben auf eigene soziale Dienste der Justiz und die Beschränkung der Jugendhilfe auf rein betreuende Aufgaben sind abzulehnen. Andererseits wird man den Sparzwängen der Kommunen Rechnung tragen müssen, die die Aufgaben der Jugendgerichtshilfe dem allgemeinen Sozialen Dienst der Jugendämter zuweisen wollen bzw. dies schon getan haben. Anzustreben ist aber jedenfalls trotz zu erwartender Reserviertheit der Justiz eine Stärkung der Rolle der Jugend(gerichts)hilfe im Strafverfahren. -12- c. Neben Präventions-und Erziehungsorientierung sind die Interessen der Opfer von Straftaten ein weiterer wichtiger Leitgedanke. Sie sind ihrerseits bereits im geltenden Jugendgerichtsgesetz, insbesondere über die Ansatzpunkte für Täter-Opfer-Ausgleich, Schadenswiedergutmachung und Entschuldigung berücksichtigt. Ihre Bedeutung sollte künftig noch verstärkt werden. Es sollte darüber hinaus geprüft werden, inwieweit Opferbelange durch Aufnahme in eine Art programmatischer Aufgabenzuweisungsnorm des Gesetzes gestärkt werden können. Dies würde insoweit zwar neben Schuldausgleich, Erziehung und Resozialisierung eine neue Zielsetzung eines materiellen Strafgesetzes etablieren, würde aber der Zielsetzung des Opferschutzes entsprechen und würde gesellschaftspolitisch eine Weiterentwicklung hin zu mehr Gerechtigkeit bedeuten. Im Hinblick auf die Notwendigkeit der Stärkung des Wiedergutmachungsgedankens in unserer „Konfliktgesellschaft“ und der Vermeidung von Strafverfahren entsprechend etwa der Bereinigung und Befriedung strafrechtlich relevanter Konflikte durch das soziale Umfeld in früheren Zeiten (z.B. bei und nach Wirtshausschlägereien, Beleidigungen oder Sachbeschädigungen) sollte erwogen werden, die Wiedergutmachung als eine Art Strafbarkeitsaufhebung (persönlicher Strafausschließungsgrund) zu etablieren. Das würde bedeuten, daß eine Straftat eines Jugendlichen grundsätzlich nicht strafbar ist, wenn dieser die Folgen der Tat vor Einleitung eines Strafverfahrens wiedergutgemacht hat und wenn nicht überwiegende Belange der Allgemeinheit oder spezialpräventive Notwendigkeiten des Einzelfalles entgegenstehen. d. Zur Normverdeutlichung und Ahndung reicht das vorhandene Instrumentarium - informelle Erledigungen, Erziehungsmaßregeln, Auflagen, Arrest und Jugendstrafe bis zu zehn Jahren - auch bei schwererer Kriminalität grundsätzlich aus. Härtere Strafen können auch nicht auf Abschreckungsgesichtspunkte, die im geltenden Jugendstrafrecht ohnehin nicht herangezogen werden dürfen, gestützt werden. Denn noch mehr als bei erwachsenen Tätern müssen nach den vorliegenden empirischen Erkenntnissen abschreckende Wirkungen der -13drohenden Strafen, insbesondere ein Einfluß der Strafhöhe, gegenüber jungen Menschen bezweifelt werden. Man wird allerdings prüfen müssen, insbesondere wenn die Altersgruppe der Heranwachsenden vollständig in den Anwendungsbereich des Jugendstrafrechts einbezogen werden sollte (vgl. unten, S. 13), ob zur Ahndung oder zur Sicherung bei besonders schweren Straftaten die Möglichkeiten des Freiheitsentzuges nicht erweitert werden müssen, etwa auf 15 Jahre, wie es derzeit von Bayern für die nur ausnahmsweise Anwendung von Jugendrecht auf Heranwachsende gefordert wird. Im Bereich der förmlichen Rechtsfolgen sollte deshalb eine weitere Verbesserung der ambulanten Reaktionsmöglichkeiten zu Lasten der stationären Sanktionen angestrebt werden. Für alle jugendstrafrechtlichen Rechtsfolgen ist klarzustellen, daß sie das Maß der Schuld nicht überschreiten bzw. nicht außer Verhältnis zur Schuld (oder der vorgeworfenen Tat) stehen dürfen und daß sie sich gerade wegen der weiten Ermessensräume im Jugendstrafrecht an dem Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit messen lassen müssen; Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhälnismäßigkeit im engeren Sinne in Bezug auf das erzieherische Ziel des Jugendstrafrechts, der künftigen Straflosigkeit des Delinquenten, sind regelmäßig für jede angeordnete Maßnahme oder verhängte Sanktion zu prüfen. In diesem Lichte werden sich in erster Linie die stationären Sanktionen gegenüber ambulanten Reaktionen auf den Prüfstand der Effektivität und Effizienz stellen lassen müssen. 1) Eine besondere Rolle spielt dabei auch hier der Täter-Opfer-Ausgleich, dessen Anwendungsmöglichkeiten verstärkt werden sollten. Es erscheint sinnvoll, seine Voraussetzungen näher zu regeln und ihm einen eigenständigen verfahrensrechtlichen Rahmen zu geben. 2) Die Aufteilung der unterhalb der Jugendstrafe möglichen Maßnahmen in Erziehungsmaßregeln und Zuchtmittel, die ein nicht zutreffendes Stufenverhältnis nahelegt, sollte - jedenfalls in der bestehenden Form - aufgehoben werden. Der Katalog und die Voraussetzungen der einzelnen Maßnahmen sind zu überprüfen. Dies gilt insbesondere für den Jugendarrest, -14dessen Abschaffung von zahlreichen Experten gefordert wird. Für bestimmte ambulante Maßnahmen könnte anstelle einer gerichtlichen Anordnung auch die Möglichkeit einer - formalisierten - Vereinbarung zwischen Jugendlichem und Gericht vorgesehen werden. Soweit nur bestimmte erzieherische Maßnahmen in Betracht kommen, sollte es möglich sein, das justitielle Verfahren nach Schuldfeststellung zu beenden und die Entscheidung über diese Maßnahmen bzw. über das weitere Vorgehen der Jugendhilfe zu übertragen. 3) Die Voraussetzungen der Jugendstrafe sollten genauer oder aber gänzlich neu gefaßt werden. Zu prüfen ist insbesondere, ob die Jugendstrafe wegen „schädlicher Neigungen" abgeschafft werden sollte. Gänzlich wird man aber auf die Jugendstrafe auch unterhalb der Schwelle der „schweren Schuld", wie sie de lege lata gezogen wird, nicht verzichten können. Auch im Hinblick auf die jüngste Diskussion zur Sicherungsverwahrung wird man die Frage der „schädlichen Neigungen“ und der „Schwere der Schuld“ in anderen Kontexten als nur der „reinen Erziehung“ diskutieren müssen. Bei der Dauer der Jugendstrafe werden die Untergrenze (derzeit 6 Monate) und die Obergrenze (derzeit 10 Jahre) von verschiedenen Seiten problematisiert. Auch dieser Frage wird näher nachzugehen sein. e. Im Gerichtsverfassungsrecht des Jugendgerichtsgesetzes wird es notwendige Änderungen im Rahmen der Justizreform geben müssen. Da bereits heute das Amtsgericht (Jugendschöffengericht) die gesamte Sanktionspalette einschließlich 10 Jahre Jugendstrafe (im allgemeinen Strafrecht 4 Jahre) ausschöpfen kann und von Rechtsmitteln relativ selten ( 1997: gegen Urteile des AG: Berufungen 7261 = ca. 3%; Revisionen 178 = 0,08%; 1670 Revisionen gegen Urteile des LG zum BGH, Quote gering, leider nicht genau feststellbar) Gebrauch gemacht wird, dürfte die Einführung der Dreistufigkeit unproblematischer als im allgemeinen Recht sein. Überdies müßte im Gerichtsverfassungsrecht geprüft werden, ob zur Verbesserung der fachlichen Qualität von Richtern und Staatsanwälten über den Weg einer organisatorischen Verselbständigung der Jugendgerichte Fortschritte erreichbar sein könnten (vgl. unten S.14). -15- f. Im Verfahrensrecht sollte geprüft werden, inwieweit Massendelikten schnell, unbürokratisch und wirksam entgegengetreten werden kann (vgl. auch oben, S 6,7). Im Jahre 1996 wurden 68% aller Ermittlungsverfahren im Jugendbereich informell erledigt. Grundsätzlich ist diese Erledigungsart kriminalpolitisch zu begrüßen; sie ist einfach, schnell, wenig stigmatisierend, kostensparend und im Hinblick auf die Legalbewährung den förmlichen Sanktionen nicht unterlegen. Die in jüngster Zeit artikulierte Kritik hat sich an einzelnen Handhabungen in der Hamburger Praxis festgemacht. Sie ist insgesamt gesehen nicht gerechtfertigt. Da informelle Erledigungen mit Weisungen und Auflagen verbunden werden können, sind Unzuträglichkeiten weniger ein rechtliches als vielmehr ein den Ländern obliegendes Problem der nicht ausreichenden Infrastruktur. Gleichwohl sind Verbesserungen auch im Gesetz sinnvoll und möglich, auch zur Förderung einer einheitlicheren Anwendung des Diversionsverfahrens. Allerdings darf die Schnelligkeit des Verfahrens nicht zum Fetisch gemacht werden, wie dies zum Teil geschieht. Gerade in der Zeit zwischen Tat und Aburteilung sind jugendliche Delinquenten meist besonders sensibilisiert und hochmotiviert. Nach Aussagen von Praktikern kann diese Zeit häufig zu hilfreichen Präventionsmaßnahmen genutzt werden. Rechtsgrundlage dafür ist § 71 JGG, nach dem vorläufige Anordnungen über die Erziehung bis zur Rechtskraft des Urteils getroffen werden können. Zu denken wäre neben der strikteren Fassung des § 45 JGG a) an eine „Polizeidiversion“, die es der Polizei ermöglichte, von der Einleitung eines Verfahrens mit oder ohne vorrangige oder begleitende Maßnahme (etwa Wiedergutmachung, nicht jedoch Verwarnungs- oder Strafgeld) abzusehen (in den Niederlanden gilt das vergleichbare „Haltprogramm“). Da dies eine Durchbrechung des Legalitätsprinzips darstellen würde, dürfte ein solcher Vorschlag sehr kontrovers diskutiert werden. Außerdem ist die Polizei wohl nicht „begierig“, eine solche Kompetenz zu erhalten, wie man gelegentlich, allerdings nicht auf offiziellem Wege, hört. Abteilung R ist nach einer ersten vorläufigen Kontaktaufnahme nicht abgeneigt, einem solchen Verfahren im Jugendstrafrecht als einer Art Experimentierregelung zuzu- -16stimmen. Man könnte zudem überlegen, ob man eine solche Regelung zunächst für zwei, drei Jahre befristet trifft und nach den dann vorliegenden Erfahrungen über das weitere Schicksal entscheidet. b) Das vereinfachte Verfahren wird trotz der Sanktionsmacht zu allen Reaktionen unterhalb der Jugendstrafe verhältnismäßig wenig angewendet. Geprüft werden sollte, ob dies durch eine Änderung der gesetzlichen Regelung verbessert werden kann. c) Die Frage der Rechtsmittelüberprüfung steht in engem Zusammenhang mit der Justizreform im allgemeinen und der erforderlichen Rechtsmittelreform der StPO. Die ursprüngliche Reformabsicht im JGG ging dahin, die Benachteiligungen für Jugendliche gegenüber Erwachsenen durch die eingeschränkten Möglichkeiten des Wahlrechtsmittels aufzuheben. Nunmehr bietet sich an, die geplanten Regelungen des allgemeinen Rechts zu übernehmen. d) Seit langem besteht gegenüber dem Erwachsenenrecht ein Mitwirkungsdefizit von Verteidigern in jugendgerichtlichen Verfahren, obwohl Jugendiche in der Regel geringere Verteidigungsmacht haben. Notwendige Verteidigung sollte deshalb mindestens dann gegeben sein, wenn Jugendstrafe zu erwarten ist oder wenn Anklage vor dem Schöffengericht erhoben wird. Eine noch weitergende, generelle Verteidigungspflicht bei förmlichen Verfahren mit Anklageerhebung könnte zudem als Hürde für unnötige Anklageerhebungen wirken, wie dies in Bagatellverfahren nicht selten zu beobachten ist. Die Zustimmungsbereitschaft der Länder dürfte allerdings nicht groß sein. e) Die Stellung der Jugendgerichtshilfe im Verfahren sollte verbessert werden. Ein allgemeines Fragerecht, das Recht zur Stellung- nahme im gesamten Verfahren sowie das Recht auf Akteneinsicht werden seitens der Jugendgerichtshilfe als unbedingt notwendige Verbesse- rungen betrachtet. Zeugnisverweigerungsrecht, Rechtsmittelberechtigung dert, dies dürfte aber zu weit gehen. Beweisantragsrecht und werden zwar auch gefor- -17- g. An dem Strafmündigkeitsalter von 14 Jahren wird gegenüber Forderungen nach dessen Herab- oder Heraufsetzung festgehalten. Zu prüfen ist aber, ob etwa § 3 JGG im Sinne einer Entstigmatisierung bei jugendlicher Delinquenz ohne erhebliches kriminelles Unrecht erweitert bzw. modifiziert werden kann (etwa wie in Österreich bei Minima-Delikten noch nicht 16jähriger oder wie in der Schweiz geplant bei Minima-Delikten schlechthin). Eine generell heraufgesetzte Bestrafungsmündigkeit für freiheitsentziehende Sanktionen wird abgelehnt; allerdings sollten für den Freiheitsentzug bei unter 16jährigen zusätzliche Voraussetzungen aufgestellt werden. h. Es sollte angestrebt werden, Heranwachsende trotz gegenteiliger kriminalpolitischer Forderungen generell, d.h. ohne Prüfung nach § 105 JGG, in das Jugendstrafrecht einzubeziehen. Dies kann aber - schon wegen der Volljährigkeit im Hinblick auf erzieherische Maßnahmen - keine vollständige Gleichstellung mit den Jugendlichen bedeuten. Die Verweisung auf die anzuwendenden Vorschriften mit eventuellen Sonderregelungen, wie sie der bisherigen Systematik der §§ 105 ff. JGG entspricht, ist beizubehalten. Bei genereller Einbeziehung ist darüber hinaus die Notwendigkeit zusätzlicher Sonderregelungen - etwa im Bereich der Jugendstrafe oder auch für bestimmte Verfahrensarten ( z.B. Strafbefehlsverfahren bzw. jugendrichterlicher Bescheid)- zu überprüfen. Generell sowie im einzelnen ist außerdem die verfassungsrechtliche Zulässigkeit zu klären. Eine Erstreckung des Anwendungsbereichs auf die Altersgruppe der Jungerwachsenen ( 21 bis etwa 27 Jahre ), ein sogenanntes Jungtäterrecht, dürfte kaum in Betracht kommen. Abgesehen von der politischen Durchsetzbarkeit würden wahrscheinlich zu viele Sonderregelungen erforderlich. Man wird allerdings in taktischer Hinsicht auch bedenken müssen, daß die privilegierenden Regelungen für ganz junge Täter weniger Akzeptanz haben werden, je älter die einbezogenen Altersgruppen sind. i. § 37 JGG bestimmt, daß Jugendrichter und Jugendstaatsanwälte erzieherisch befähigt und in der Jugenderziehung erfahren sein sollen. Trotz die- -18dieser Bestimmung sieht die Praxis anders aus und wird vielfältig beklagt. Es sollte geprüft werden, ob und wie eine entsprechende Aus- und Fortbildung für Jugendrichter und Jugendstaatsanwälte gewährleistet werden kann. Von Expertenseite wird eine eigenständige Gerichtsbarkeit gefordert, jedenfalls aber eine organisatorische Verselbständigung, damit bei der Einstellung von Richtern und Staatsanwälten gezielt die geforderte fachliche Qualifikation als Auswahlkriterium dienen kann. Als Vorbild wird Österreich genannt (Jugendgerichtshof Wien). Ob dies für Deutschland praktikabel ist, wird hier eher skeptisch gesehen, könnte aber im Rahmen der Justizreform geprüft werden. j. Schließlich muß die Erforderlichkeit von Sonderregelungen für Mädchen und junge Frauen sowie für junge Ausländer ohne festen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland in der Anordnung und Durchführung von Maßnahmen und Sanktionen erwogen werden. k. Über die genannten Bereiche hinaus bedürfen zahlreiche Einzelregelungen von Gerichtsverfassung, Verfahren, Vollstreckung und Vollzug der Überprüfung. Notwendig ist insbesondere auch eine bereichsspezifische Regelung des Datenschutzes, die aber auf den vorrangig zu schaffenden Regelungen des Datenschutzes im allgemeinen Strafverfahrensrecht aufbauen sollte. Prüfungswürdig sind z.B. auch die Kostenregelung des § 74 JGG, die Kostenlast bei Erziehungsmaßregeln, die unentgeltliche Beiordnung eines Opferanwalts bei minderjährigen Opfern, die es im Jugendrecht nicht gibt, die Abgrenzung der Vollstreckungskompetenzen zwischen Jugendrichter und der Vollstreckungskammer, die Konkretisierung der erzieherischen Gestaltung des Jugendarrestes und des Jugendvollzuges und manches mehr. Eine so orientierte Reform des Jugendkriminalrechts ist nicht von heute auf morgen zu schaffen. Sie wird auch nicht in der laufenden Legislaturperiode zu Ende gebracht werden können, vielleicht nicht einmal während der Regierungszeit der derzeitigen Administration, aber wir sollten sie endlich beginnen. Wir sollten nicht mir vorschnellen Entwürfen anfangen, die in der dann folgenden Diskussion zerredet werden, weil sie nicht genügend vordiskutiert worden sind. Wir sollten mit einer sachlichen Diskussion beginnen, uns von den dramatisie- -19renden Aufgeregtheiten der Mediendiskussion lösen und uns an den ganz pragmatischen Erfolgen der vergangenen „Reform durch die Praxis“, den Erkenntnissen der kriminologischen Wissenschaft, den Einsichten des Reformgesetzgebers von 1990 und Denkanstößen jüngster Entwicklung im europäischen Raum etwa zu konfliktschlichtenden und opferbezogenen Reaktionsmöglichkeiten sowie zu den gesellschaftlichen (individuellen und kollektiven) Ursachen jugendlicher Delinquenz orientieren. Wir müssen die kriminalpolitische Eiszeit benden, der Verlockung populistischer Schnellschüsse entsagen und endlich eine vernunftgeleitete Jugendkriminalpolitik betreiben. Wir werden sonst in amerikanische Zustände abgleiten, in denen mehr für Gefängnisse als für die Bildung der Jugend ausgegeben wird und in denen die Wissenden und Besitzenden sich durch Privatarmeen ein scheinbar friedvolles Leben erkaufen. Wir sind schon auf dem Weg dahin.