Demographischer Wandel "Älter werden wir später 23. Dezember 2004 Die Deutschen müssen sich von der Frühverrentung langsam verabschieden. Die Auswirkungen einer immer älter werdenden Bevölkerung auf die Finanzierung der Sozialversicherungssysteme werden in Deutschland seit Jahren diskutiert. Doch welche Anforderungen ergeben sich für Arbeitgeber und Arbeitnehmer? Der Trend geht in Richtung längerer Lebensarbeitszeit, lebenslanges Lernen und präventive Gesundheitsförderung. Heute leben in Deutschland rund 82 Millionen Menschen. Bis 2030 wird die Bevölkerung um rund 5 Millionen Menschen schrumpfen. Weit prekärer werden sich nach Berechnungen von Axel Börsch-Supan, Direktor des Forschungsinstituts Ökonomie und demographischer Wandel an der Universität Mannheim, allerdings die Erwerbstätigenzahlen entwickeln. Während heute auf 100 Erwerbstätige etwa 56 Rentner kommen, wird sich dieses Verhältnis dramatisch verändern: Auf 100 Erwerbstätige kommen 2035 voraussichtlich zwischen 80 und 95 Rentner. „Senioren gesucht" Deutschland hat zwei Möglichkeiten, darauf zu reagieren. Der bisherige Exportweltmeister wird in Zukunft mehr Güter aus dem Ausland importieren müssen. Zudem kann eine steigende Arbeitsproduktivität den drohenden Produktionsausfall zumindest teilweise ausgleichen: Zum einen werden Maschinen die schrumpfende Zahl an Beschäftigten ersetzen. Zum anderen werden die Arbeitnehmer länger arbeiten und sich ständig fortbilden müssen, um mit der technologischen Entwicklung Schritt halten zu können. Die Realität in Deutschland ist bislang jedoch anders. Frühverrentung stellte ein beliebtes Mittel dar, um Beschäftigte aufs Altenteil zu schieben. Dies ist jedoch zu einer wachsenden Belastung für die Sozialsysteme geworden. Weil weniger Junge nachkommen, werden die Unternehmen außerdem verstärkt auf ältere Arbeitnehmer angewiesen sein. Aufsehen erregte im März 2003 eine Annonce des Automobilzulieferers Brose unter dem Motto „Senioren gesucht". Das im oberfränkischen Coburg ansässige Unternehmen suchte acht Arbeitnehmer, die nicht nur ausreichend Berufserfahrung mitbringen, sondern auch mindestens 45 Jahre alt sein sollten. Fast jeder Standort hat ein Fitnessstudio Diese Aktion ist sowohl für das Unternehmen als auch für die älteren Arbeitnehmer zum Erfolg geworden. Nach Informationen von Brose-Pressesprecher Detlef Pohl sind nicht nur acht Stellen mit "Senioren" besetzt worden, sondern es gab sogar 42 Einstellungen mit Personen dieser Altersgruppe. Einen ähnlichen Weg geht inzwischen der Automobilhersteller BMW. Das bayerische Unternehmen sucht für das neue Werk in Leipzig ausdrücklich Beschäftigte, die zwischen 50 und 60 Jahre alt sind. Wie BMW-Sprecher Linus Schmeckel sagt, sollen diese Einstellungen eine gesunde Altersstruktur im Leipziger Werk schaffen. Während die jüngeren Arbeitnehmer Stärken im Umgang mit neuer Technik hätten, brächten die Älteren ihre langjährigen Erfahrungen ein. Doch mit zunehmendem Alter werden die Beschäftigten auch anfälliger für Krankheiten, und sie können mit der technologischen Entwicklung vielleicht nicht mehr Schritt halten. Dies hat auch Daimler-Chrysler erkannt und bildet seit dem Jahr 2000 unter dem Stichwort „Aging Workforce" seine Mitarbeiter nicht nur laufend weiter, sondern kümmert sich auch mehr um deren Gesundheit. Pressesprecherin Verena Müller betont, dass der Konzern die Beschäftigten heute schon auf eine längere Lebensarbeitszeit vorbereitet. In jährlichen Gesprächen zwischen Führungspersonal und Mitarbeitern würden neue Lernfelder für die Angestellten identifiziert. Diese Gespräche bildeten die Grundlage für die individuellen Weiterbildungsmaßnahmen. Zudem fördert der Konzern die präventive Gesundheitsförderung. Fast jeder Standort hat laut Müller inzwischen ein Fitnessstudio, und die Arbeitnehmer könnten sich bei Ärzten vorbeugend untersuchen lassen. Entspannungsübungen in der Mittagspause Das Schwaben nicht nur pfiffige Bastler sind, zeigt auch das Familienunternehmen Festo aus Esslingen. Dies ist ein international führendes Unternehmen im Bereich der Automatisierungstechnik, das rund 10 500 Personen beschäftigt. 2003 schlossen Geschäftsführung und Betriebsrat die Betriebsvereinbarung „Betriebliche Gesundheitsförderung", um Prävention, Aufklärung und Gesundheitsvorsorge zu erhöhen. So werden die Arbeitsplätze in der Produktion videogestützt analysiert, und es werden darauf abgestimmte Rückenschulungen angeboten. In der Mittagspause können die Mitarbeiter an Entspannungsübungen teilnehmen. „Nordic Walking" können Angestellte unter professioneller Leitung betreiben. Zusätzlich bietet der schwäbische Mittelständler einen Gesundheitstag im Jahr an, an dem die Beschäftigten Blutwerte, Sehstärke oder Fußstellungen überprüfen lassen können. „Älter werden wir später” Das Institut für Weiterbildung an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik hat sich seit Jahren auf berufsbegleitende Weiterbildung spezialisiert. Die Studienangebote des Instituts bieten Berufstätigen die Möglichkeit, Arbeit und Studium miteinander zu verbinden - in Abendkursen, Wochenendveranstaltungen oder im Bildungsurlaub. In Zukunft will das Institut neben der Psyche auch die Physis der Beschäftigten stärken. In Zusammenarbeit mit der DAK Hamburg sollen in Hamburg zunächst fünf Seminare angeboten werden, die neben der Weiterbildung auch gesundheitliche Themen zum Inhalt haben. Laut Heike Klopsch, Referentin für Öffentlichkeitsarbeit am Institut, richten sich diese an Personen von 40 Jahren an, die noch etwas lernen und gesund bleiben wollen. Unternehmen stünden spätestens vom Jahr 2010 an vor dem Problem, dass ihre Arbeitnehmer älter würden, weil immer weniger qualifizierte Kräfte nachkämen. Sie würden zwangsläufig auf die Bedürfnisse ihrer älter werdenden Angestellten eingehen müssen. Die Seminarreihe heißt denn auch: „Älter werden wir später. Gesund und aktiv im Job." Text: mmue., Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.12.2004, Nr. 300 / Seite 14 Bildmaterial: F.A.Z.-Kai, F.A.Z.