Band 6: Alterungsprozesse und das Alter verstehen

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physiofachbuch
Band 6: Alterungsprozesse und das Alter verstehen
Band 6: Alterungsprozesse und das Alter verstehen
Bearbeitet von
Dorothe Wulf, Angelika Abt-Zegelin, Andreas M. Bertram, Harald Dauck, Frans van den Berg
1. Auflage 2007. Buch. 528 S. Hardcover
ISBN 978 3 13 140901 0
Format (B x L): 17 x 24 cm
Weitere Fachgebiete > Medizin > Klinische und Innere Medizin > Geriatrie,
Gerontologie
Zu Inhaltsverzeichnis
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11 Sport im Alter – Leistungsphysiologie
Hans-Josef Haas
11.1
Einleitung
Bereits mit der Geburt beginnt der Alterungsprozess. Wachstum und Reifung führen jedoch bis zum
30. Lebensjahr zu einer Steigerung der emotionalen, kognitiven und motorischen Leistungsfähigkeit. Erst jenseits dieses Alters lassen einzelne
Merkmale mehr oder weniger stark nach, als Ausdruck der Alterung. Die Geschwindigkeit des Verlustes ist dabei je nach Fähigkeit und Fertigkeit unterschiedlich. Für Kraft und Ausdauer wird ein jährlicher Verlust von 1 bis 2% nach dem 30. Lebensjahr
angenommen, koordinative Aufgaben können auf
höchstem Niveau bis zum 50. oder 60. Lebensjahr
vollzogen werden.
Einige Funktionsverluste können mit biologischen Alterungsprozessen erklärt werden. In den
vergangenen Jahren ist jedoch die Frage in den Vordergrund getreten, welche Rolle die körperliche Inaktivität in diesem Zusammenhang spielt. Die im
Vergleich zu inaktiven Alten hohe geistige und körperliche Leistungsfähigkeit sporttreibender oder
körperlich aktiver alter Menschen weisen auf die
wichtige Rolle der Aktivität für den Erhalt der Leistungsfähigkeit im Alter hin. In der Regel sind die
Personen geistig reger und körperlich mobiler, die
auf ein aktives Leben zurückblicken können.
Belegt wurde diese Beobachtung durch Studien,
die in den letzten Jahrzehnten die präventive Wirkung von Ausdauertraining auf die Entstehung von
Herz-Kreislauf- und Stoffwechselkrankheiten untersucht haben. Erst in jüngerer Zeit ist auch die Bedeutung von Kraft- und Koordinationstraining für
einen gesunden Alterungsprozess und die Verhinderung von Unfällen in das Interesse der Untersuchungen gerückt. Altern lässt sich durch zwei Merkmale beschreiben:
– Die Leistungsfähigkeit nimmt ab und die Adaptationsmöglichkeiten werden schlechter. Hollmann (2006) sieht Altern auch als zeitbedingte
Modifikation von Struktur und Funktion.
– Körperliche Aktivitäten werden geringer. Die abnehmende Aktivität im Alter steht in unmittelbarem Zusammenhang mit degenerativen Erkrankungen, die oft schon in jungen Jahren beginnen.
11.2
Bewegungsmangel und Altern
Eine nachlassende körperliche Aktivität führt zu
Bewegungsmangel. Bewegungsmangel liegt dann
vor, wenn die muskulären Beanspruchungen chronisch unter einer gewissen Reizschwelle liegen. Das
Überschreiten dieser Reizschwelle ist jedoch notwendig zum Erhalt von Struktur und Funktion.
Bei einer gesunden Person durchschnittlicher Leistungsfähigkeit spricht man von Bewegungsmangel, wenn eine körperliche Beanspruchung von
mehr als etwa 30% der maximalen statischen
Kraft bzw. etwa 50% der maximalen Kreislaufbelastbarkeit dauerhaft nicht erbracht wird.
Wodurch unterscheiden sich Alterungsprozesse
von den Symptomen eines Bewegungsmangels? Ein
altersbedingter Abbau der Leistungsfähigkeit geht
zulasten der Adaptationsreserve. Das heißt, die Anpassungsreserven, die jedem Menschen zur Verfügung stehen, gehen im Alter zurück. Dies betrifft sowohl die Aktivitäten des täglichen Lebens wie auch
die motorischen Grundeigenschaften. Reversibel ist
der erfolgte Leistungsabbau aber nur noch, wenn
eine Adaptationsreserve mobilisiert werden kann
(Hollmann und Hettinger 2000, Hollmann 2006).
Eine durch Bewegungsmangel hervorgerufene
reduzierte Leistungsfähigkeit lässt die Anpassungsreserve unberührt und ist beim jungen wie beim alten Menschen reversibel. Zahlreiche Untersuchungen konnten zeigen, dass ein im hohen Alter begonnenes, dem Alter angepasstes Training zu ähnlichen
Anpassungsraten führt wie beim jungen Menschen.
aus: van den Berg u. a., Angewandte Physiologie (ISBN 9783131409010), 䊚 2008 Georg Thieme Verlag KG
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11 Sport im Alter – Leistungsphysiologie
11.2.1 Folgen des Alterns für den Alltag
Grundsätzlich weisen Alterungsprozesse und die
Folgen chronischen Bewegungsmangels Gemeinsamkeiten auf (Hollmann und Hettinger 2000, Hollmann 2006, Sommer und Klotz 2005):
– Die Leistungsfähigkeit des Herz-Kreislauf- und
Atmungssystems reduziert sich.
– Knochen- und Muskelmasse gehen zurück.
– Zahlreiche Hormone im Blut werden weniger.
– Die Mitochondrien reduzieren ihr Volumen.
– Die Kapillarisierung im Skelettmuskel und im
Gehirn geht zurück.
– Die Fließeigenschaften des Blutes verschlechtern
sich.
– Im Knochen gehen Mineralien verloren.
– Die Rezeptorensensitivität, z. B. für Insulin, ist
vermindert, was im Blut einen höheren Blutzuckerwert bedingt (Risikofaktor für Arteriosklerose).
– Im zentralen und peripheren Nervensystem nehmen Nervenzellen, Dendriten und Synapsen an
Größe und Anzahl ab.
– Die Sterblichkeitsrate ist erhöht.
Als Folge der genannten Veränderungen lassen
Kraft, Ausdauer, Schnelligkeit, Koordination, Beweglichkeit und Geschicklichkeit nach. Dadurch
sind auch Alltagssituationen nicht mehr oder nur
noch mit Schwierigkeiten zu bewältigen. Im
schlimmsten Fall begünstigt die verminderte körperliche Leistungsfähigkeit die Progression degenerativer Erkrankungen (Herz, Kreislauf und Stoffwechsel) und erhöht die Gefahr von Unfällen (Stürze).
Funktionelle Beeinträchtigungen beginnen aber
bereits viel früher. Eine der wichtigsten epidemiologischen Studien dazu wird seit 1948 in der amerikanischen Kleinstadt Framingham durchgeführt.
Durch die systematische Untersuchung der Bevölkerung seit nunmehr fast 60 Jahren soll Aufschluss
über Ursachen und Risiken der koronaren Herzkrankheit und der Arteriosklerose gewonnen werden. Unter vielen anderen Ergebnissen ist aus der
Framingham-Studie bekannt, dass Kraft- und Koordinationsverlust, Gehgeschwindigkeit, Aufstehen,
Treppensteigen, Straßeüberqueren und Einkäufeerledigen schon in einem relativ frühen Lebensalter
beeinträchtigt sind. 40% der Frauen im Alter von 55
bis 64 Jahre sind nicht mehr in der Lage eine Last,
von 4,5 kg (z. B. eine Einkaufstasche) zu heben. Im
Alter von 65 bis 74 Jahren sind es bereits 45% und im
Alter von 75 bis 84 Jahren 65%. Bei den über 75-jährigen Männern schaffen 28% diese Anforderung
nicht mehr (Jette und Branch 1981). Muskuläre
Schwäche kann im Verbund mit degenerativen Veränderungen eine Dimension erreichen, die zum
Verlust einer unabhängigen Lebensweise führt und
die Lebensqualität nachhaltig beeinträchtigt (Dirks
und Leeuwenburgh 2005).
Männer, die im Alter von 45 bis 68 Jahren die geringste Muskelkraft aufweisen, hatten das höchste
Risiko, 25 Jahre später an muskulär bedingten Einschränkungen (z. B. Verlust an Muskelmasse und
der damit verbundenen Muskelkraft, Koordination)
zu leiden (Rantanen et al. 1999). In den USA wurden
im Jahr 2000 etwa 1,5% (18,5 Mrd. US-Dollar) der
gesamten Gesundheitsausgaben aufgewendet, um
Erkrankungen zu behandeln, die auf den Verlust
von Muskelmasse zurückzuführen waren (Janssen
et al. 2004).
Die Sterblichkeitsrate inaktiver Menschen liegt
um ein Drittel höher als bei aktiven Personen. Inaktive Menschen haben ein um 90% höheres Risiko, an
einer koronaren Herzkrankheit zu erkranken. Männer (n = 2678, 71 – 93 Jahre alt) mit weniger als
400 m Bewegung pro Tag erkranken doppelt so häufig an einer koronaren Herzkrankheit wie Männer,
die täglich mehr als 2500 m zu Fuß zurücklegen
(Hakim et al. 1999).
11.3
Veränderungen der motorischen
Grundeigenschaften im Alter
Fünf motorische Grundeigenschaften bilden die
Eckpunkte der körperlichen Leistungsfähigkeit und
Fitness:
–
–
–
–
–
Kraft
Ausdauer
Schnelligkeit
Koordination
Beweglichkeit.
Sie liegen in der Praxis selten in Reinform vor und
weisen häufig Überschneidungen auf, die sich in
den Unterformen Kraftausdauer, Schnelligkeitsausdauer, Schnellkraft etc. wiederfinden. Beeinflusst
werden sie durch die Ernährung, Stressmanagement, Entspannung und Schlaf, Motivation und
Konzentration (Sommer und Klotz 2005).
11.3.1 Kraft
Bewegung und Körperhaltung sind von der Kraft
abhängig, die von unserer Skelettmuskulatur erzeugt wird. Die Skelettmuskulatur erlaubt es uns,
Aufgaben zu erfüllen, die für unseren Alltag und im
Sport notwendig sind. Die Muskelkraft richtet sich
aus: van den Berg u. a., Angewandte Physiologie (ISBN 9783131409010), 䊚 2008 Georg Thieme Verlag KG
Veränderungen der motorischen Grundeigenschaften im Alter
nach der Muskelmasse, der Muskelfaserverteilung
und der Faserqualität. Daneben wird die Kraft durch
neuronale Einflussgrößen wie Rekrutierung, Frequenzierung und Synchronisation sowie eine Reflexförderung durch die Muskelspindel und einen
Hemmungsabbau im Golgi-Sehnenorgan modifiziert. Unterschieden wird Kraft in Maximalkraft,
Schnellkraft und Kraftausdauer (Güllich und
Schmidtbleicher 1999).
Muskelkraft
100
Männer
Frauen
80
60
40
20
10
0
Maximalkraft im Alter
20
30
40 50 60
Alter (Jahre)
70
80
Abb. 11.1 Die Veränderung der Maximalkraft bei
Handgriffbelastungen (Männer = blaue Linie, Frauen =
rote Linie) (nach Hettinger 1988).
100
Trainierbarkeit (%)
Allgemein kann man davon ausgehen, dass Männer
und Frauen ihr Kraftmaximum zwischen dem 25.
und 35. Lebensjahr erreichen. Jenseits dieses Lebensalters nimmt die Kraft bis etwa zum 50. Lebensjahr mit 4 – 5% pro Dekade relativ wenig ab, danach bis zum 70. Lebensjahr mit etwa 15% pro Dekade bereits deutlich schneller. Zwischen dem 65.
und 84. Lebensjahr sind es um 1,5 – 2,0% pro Jahr
(Schmidtbleicher 1994, Hollmann und Hettinger
2000, Dirks und Leeuwenburgh 2005, Frank und
Patla 2003, Skelton und Beyer 2003). Dies zeigen
auch Untersuchungen von Frontera et al. (2000). Bei
Männern nahm, ausgehend vom 65. Lebensjahr, die
Kraft innerhalb von 12 Jahren zwischen 20 und 30%
ab. Bedeutsam wird der Kraftverlust somit etwa ab
dem 50. bis 60. Lebensjahr. Dabei gibt es aber auch
große interindividuelle Unterschiede. So ist es
durchaus möglich, im Alter von 60 Jahren bei entsprechendem Training ein höheres Kraftmaximum
aufzuweisen als ein untrainierter 30-Jähriger (Wilmore und Costill 2004).
Beschleunigt wird der Verlust von Kraft und
Muskelmasse im Alter durch Erkrankungen und Immobilität, z. B. Bettlägerigkeit. Eine Gipsimmobilisation von acht Tagen reduziert die statische Kraft
der betroffenen Muskulatur um 20%, nach 14 Tagen
ist die Kraft um 28% reduziert (Hollmann und Hettinger 2000).
Abbildung 11.1 zeigt exemplarisch die altersbedingte Abnahme der Maximalkraft bei Handgriffbelastungen für Männer und Frauen. Abbildung 11.2
zeigt die Verminderung der Trainierbarkeit der
Kraft in Abhängigkeit von Lebensalter und Geschlecht. Auch wenn die Trainierbarkeit während
des Älterwerdens nachlässt, so zeigt die Graphik
doch eindeutig, dass selbst 60- bis 70-jährige Männer und Frauen noch von Krafttraining profitieren.
Andere Untersuchungen (z. B. von Fiatarone et al.
1990) lassen sogar auf eine unveränderte Trainierbarkeit schließen.
10
80
60
40
20
10
0
10
20
30 40 50 60
Alter (Jahre)
70
80
Abb. 11.2 Die Trainierbarkeit der Kraft in Abhängigkeit
von Lebensalter und Geschlecht, angegeben als Prozentsatz der maximalen Trainierbarkeit bei Männern
(nach Hettinger 1968).
Schnelle Kraftentwicklung im Alter
Lange Zeit beobachtete die Forschung die Veränderungen der Kraft eher allgemein oder das Verhalten
der Maximalkraft. Weniger beachtet wurde der
Aspekt der schnellen Kraftentwicklung (Explosivkraft und Schnellkraft). Diese scheint nach Untersuchungen von Skelton et al. (1994) ab dem 65. Lebensjahr um 3 – 4% pro Jahr abzunehmen, während
die Maximalkraft nur um 1 – 2% abnimmt
(Abb. 11.3).
Die schnelle Kraftentwicklung hängt u. a. von der
Nervenleitgeschwindigkeit ab. Eine im Alter um
20% reduzierte Nervenleitgeschwindigkeit beeinträchtigt das Reflexverhalten. Dies führt zu einer
Verlängerung der Latenzzeit (Zeit zwischen Reizeintritt und der ersten physiologischen Reaktion)
aus: van den Berg u. a., Angewandte Physiologie (ISBN 9783131409010), 䊚 2008 Georg Thieme Verlag KG
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390
11 Sport im Alter – Leistungsphysiologie
Kraft (N)
Maximalkraft: jährliche Reduktion 1 – 2 %
Explosivkraft: jährliche Reduktion 3 – 4 %
~ 100
~ 1000
Zeit [ms]
Abb. 11.3 Schnelle Kraftentwicklung: schematische
Darstellung des Kraft-Zeit-Verlaufs. Dargestellt ist die
mit dem 65. Lebensjahr einsetzende jährliche Reduktion von Maximalkraft und Explosivkraft (nach Skelton et
al. 1994).
und damit zu einer Verzögerung posturaler Reaktionen auf unvorhergesehene Störreize (Straucheln,
Stolpern).
Es ist besonders die Fähigkeit der schnellen Kraftentwicklung in Verbindung mit posturalen Reflexen, welche die Stand- und Gangsicherheit gewährleistet und eine schnelle Reaktion bei einem
drohenden Sturz oder einem Straucheln ermöglicht.
Stürze erfolgen in sehr kurzen Zeitspannen von einigen 100 Millisekunden. In dieser kurzen Zeit kann in
der Regel keine maximale Kraft entwickelt werden
(Abb. 11.3). Davies et al. (1986) fanden bei älteren
Personen ein signifikantes Anwachsen der Latenzzeit bis zum Erreichen des Kraftmaximums und der
folgenden muskulären Entspannung. Damit verbunden ist ein Rückgang des Schnellkraft- bzw. Explosivkraftniveaus, wie in Abbildung 11.3 zu sehen.
Kraftverlust in unterschiedlichen
Muskelfasern und Muskelgruppen
Die Abnahme der Muskelkraft verläuft nicht in allen
Muskelgruppen gleich. Es scheint, dass die Differenzen im Kraftverlust stark von der Beanspruchung in Alltag, Beruf und Sport abhängen (Meusel
1996). Nach Israel ist die Armmuskulatur stärker
betroffen als Bein- und Rumpfmuskulatur. Er begründet dies damit, dass die Beine und der Rumpf
bei der Verrichtung von Alltagsbewegungen und
beim Gehen regelmäßiger und stärker beansprucht
werden als die Arme (Israel 1994). In anderen Untersuchungen (Pollock et al. 1998) wird allerdings
auf ein schnelleres Nachlassen der Kraft in der unteren Extremität hingewiesen. Auch in den Studien
von Frontera et al. (2000) nahm die Kraft der unteren Extremität gegenüber der oberen Extremität
stärker ab.
Unabhängig davon, ob die Kraft von Arm-, Beinoder Rumpfmuskulatur mehr abnimmt, besonders
betroffen vom Muskelfaserabbau sind die schnell
zuckenden Fasern (FT, fast twitching) vom Typ II. Sie
reduzieren sich von 60% aller Muskelfasern bei jungen Männern auf 30% bei 80-jährigen Männern
(Larsson 1983). Lexell et al. (1988) gehen von etwa
6% Verlust an FT-Fasern pro Lebensdekade ab dem
30. Lebensjahr aus. Nicht nur die Faserzahl nimmt
ab, sondern auch der Querschnitt der bleibenden
Fasern wird geringer. Typ-II-Fasern werden von
Motoneuronen versorgt, die eine höhere Reizschwelle aufweisen und daher nur bei intensiven
und/oder schnellen motorischen Aktionen aktiviert
werden. Dies sind Situationen, denen sich der älter
werdende Mensch zunehmend weniger aussetzt.
Damit bleibt der Reiz für den Erhalt von Typ-II-Fasern aus.
Training kann die Abnahme an schnellen Typ-II-Fasern verhindern (Wilmore und Costill 2004).
Unterschiede zwischen Frauen und
Männern
Zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr weisen Frauen ein deutlich geringeres Kraftmaximum auf als
Männer (Abb. 11.1). Dafür fällt bei ihnen im Alterungsprozess die Kraft weniger steil ab. Nach der
Menopause steht die Krafttrainierbarkeit bei Frauen der Trainierbarkeit der Männer in nichts nach.
Für Männer und Frauen ist ein Mindestmaß an Muskelkraft für die Gesundheit und die Bewältigung der
Alltagsaufgaben in jedem Lebensalter zwingend erforderlich.
Ursachen für den Kraftverlust
Siehe hierzu auch Kapitel 4 Sensorik, sensomotorisches System und Alterungsprozesse von Wolfgang
Laube.
Als Ursachen des Kraftverlustes kommen mehrere Möglichkeiten in Betracht. Strukturelle, neuronale und hormonelle Veränderungen im Alter stehen
hier an erster Stelle:
aus: van den Berg u. a., Angewandte Physiologie (ISBN 9783131409010), 䊚 2008 Georg Thieme Verlag KG
Veränderungen der motorischen Grundeigenschaften im Alter
– Strukturelle Veränderungen
– Verlust an Muskelquerschnitt
– Verlust an Muskelfasern
– veränderte Verteilung von FT- zu ST-(slow
twitching, langsam zuckende) Fasern
– Neuronale Veränderungen
– Modifikationen der intramuskulären Koordination
– beeinträchtigte Rekrutierung, Frequenzierung
und Synchronisation motorischer Einheiten
– verändertes Reflexverhalten im DehnungsVerkürzungs-Zyklus
– Veränderungen des hormonellen Gleichgewichts.
Strukturelle Veränderungen
Sarkopenie. Der Verlust an Muskelmasse, auch Sarkopenie genannt, wird durch zwei Komponenten
hervorgerufen: Verlust von Muskelfasern (Hypoplasie) und Abnahme des Querschnitts der verbleibenden Fasern (Atrophie). Beides scheint im Alter
eine Rolle zu spielen. Fasst man unterschiedliche
Studien zusammen, so beträgt der Verlust von Muskelmasse zwischen dem 20. und 70. Lebensjahr
20 – 40%, bis zum 90. Lebensjahr sind es etwa 50%.
Hollmann (2006) gibt den Verlust an Muskelfasern
jenseits des 30. Lebensjahres mit etwa 6% pro Dekade an. Besonders betroffen sind dabei die FT-Fasern.
Dirks und Leeuwenburgh (2005) geben ab dem 50.
Lebensjahr eine Abnahme der Muskelmasse von
1 – 2% jährlich an. Sarkopenie findet man bei mehr
als 40% der über 80-Jährigen und immerhin bereits
bei 10 – 25% der unter 70-Jährigen. Computertomographisch lassen sich ein reduzierter Muskelquerschnitt, eine veränderte Muskeldichte und eine Zunahme der intramuskulären Fettanteile feststellen.
Bei Frauen sind diese Veränderungen besonders
stark ausgeprägt (Mazzeo et al. 1998).
Die der Sarkopenie zugrunde liegenden Mechanismen sind bis heute nicht vollständig geklärt. Eine Ursache des Absterbens von Muskelfasern könnte im ZNS liegen. So weisen Hollmann und Hettinger (2000) auf einen Verlust großer α-Motoneuronen hin, der von einer Degeneration der Axone begleitet wird. Jenseits des 60. Lebensjahres reduziert
sich im lumbosakralen Rückenmark die Anzahl motorischer Neurone um über 50% im Vergleich zu
jungen Menschen (Tomlinson und Irving 1977, Kawamura et al. 1977).
Diese physiologische Degeneration innerhalb
des ZNS hat über die motorischen Einheiten unmittelbaren Einfluss auf die Muskelfasern. Die verbleibenden motorischen Einheiten bilden Kollateralen
aus, um Verbindungen zu nicht mehr versorgten
Muskelfasern herzustellen (Reinnervation) (Stalberg und Fawcett 1982, Stalberg et al. 1989, De Coning et al. 1988, Roos et al. 1997). Diese Reparationsversuche sind jedoch ungenügend, um den Muskelabbau zu verhindern.
Dirks und Leeuwenburgh (2005) weisen auf die
Bedeutung der Aktivierung von proteolytischen
Signalwegen im Muskel für die Pathogenese der
Sarkopenie hin. Proteolytische Signale entstehen
bei oxidativem Stress, Entzündungen, hormonellen
Anpassungsreaktionen und dem Verlust von Innervationen. Relativ neu untersucht sind die Mechanismen, welche die Initiierung proteolytischer Signalwege als Ursache der Sarkopenie erklären. Hier
werden rezeptorvermittelte Mechanismen ebenso
diskutiert wie eine Fehlfunktion der Mitochondrien
und/oder Einschränkungen der Proteinbiosynthese
an den Ribosomen des sarkoplasmatischen Retikulums. Unterstützung finden die Hinweise für die Bedeutung einer mitochondrialen Dysfunktion durch
die Untersuchungen von Drew et al. (2003) und
Conley et al. (2000). Sie konnten nachweisen, dass
im älteren Muskel eine um 50% verminderte ATPProduktionsrate und ein verminderter ATP-Gehalt
zu finden sind. Die damit verbundene reduzierte
Energiebereitstellung wird mit einer verminderten
Lebensfähigkeit der Zellen und einer erhöhten
Apoptose in Verbindung gebracht (Dirks und Leeuwenburgh 2005).
Apoptose. Der „programmierte Zelltod“ ist ein zellulärer Prozess, der unseren Organismus vor einer
altersbedingten Tumorgenese bzw. Autoimmunerkrankungen schützen soll. Durch Apoptose werden
degenerierte bzw. entartete Zellen aussortiert. Im
natürlichen Alterungsprozess ist die Apoptoserate
im postmitotischem Gewebe nachweislich erhöht.
Es wird angenommen, dass der Zellverlust mit dem
altersbedingten Funktionsverlust einhergeht (Dirks
und Leeuwenburgh 2005). Wirklich geklärt sind die
Mechanismen der Sarkopenie und die Rolle der
Apoptose in diesem Prozess noch nicht. Es steht jedoch fest, dass Krafttraining den Verlust von Muskelmasse verlangsamt und den Aufbau von Muskelkraft bei älteren und hochbetagten Personen ermöglicht und so dem Funktionsverlust entgegenwirkt.
Reduktion von Muskelfasern. Die im Alter von der
Abnahme der Muskelmasse vor allem betroffenen
Typ-II-Fasern (s. o.) sind auch diejenigen Fasern, die
für eine schnelle und explosive Kraftentwicklung
ausgelegt sind. So beträgt der Anteil Typ-II-Fasern
bei 80-jährigen Männern nur noch etwa 30%, wäh-
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391
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11 Sport im Alter – Leistungsphysiologie
rend Männer in jungen Jahren im Durchschnitt zu
60% Typ-II-Fasern aufweisen (Larsson 1983). Ihr
Verlust und der parallel dazu stattfindende relative
Anstieg der Typ-I-Fasern ist u. a. eine Ursache für
die reduzierte Geschwindigkeit in der Kraftentwicklung.
Neuronale Veränderungen
Schnelle Kraftentwicklung und Reflexaktivität sind
Leistungen, die von einem funktionierenden neuronalen System abhängen. Hier findet sich eine Reihe
Gehirn
altersbedingter Veränderungen und Degenerationen, die in ihrem Zusammenwirken in Abbildung
11.4 dargestellt sind.
Desensibilisierung von Muskelspindeln. Die Bindegewebekapsel, welche die Muskelspindel umhüllt, verdickt sich durch zusätzliche kollagene Fasern. Auch Schwellungen der Axone der γ-Motoneuronen tragen zur altersbedingten Desensibilisierung der Muskelspindel bei. In der Folge kommt
es zu Innervationsstörungen der Muskelspindel
und zum Untergang von Neuronen mit begleitendem Verlust von intrafusalen Fasern. Damit sind die
erregende Synapse
hemmende Synapse
Abb. 11.4 Mit dem Alter bedingte
Veränderungen im sensomotorischen System. Es sind sowohl afferent-sensorische als auch efferentmotorische Funktionsabläufe beeinträchtigt. Dargestellt sind degenerative Prozesse im sensomotorischen
System (Granacher und Gollhofer
2005).
supraspinale
Kontrolle
4. Verlust von
Interneuronen
3. Veränderungen in der
präsynaptischen Hemmung
2. Demyelinisation
und Verlust
sensorischer
Neurone
5. Verlust großer
Alpha-Motoneurone
1. Desensibilisierung
von Muskelspindeln
6. Vergrößertes
Innervationsverhältnis
tonischer Einheiten
Muskelspindel
8. Verstärkte Ko-Aktivierung
agonistischer und
antagonistischer Muskeln
7. Verlangsamung der Kinetik
einzelner Muskelfasern
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Veränderungen der motorischen Grundeigenschaften im Alter
Geschwindigkeit und die Genauigkeit der Muskelspindelantworten herabgesetzt. Besonders betroffen scheint die dynamische (Ia-Afferenzen), weniger die statische (Gruppe-II-Afferenzen) Dehnungsempfindlichkeit der Spindel. Dadurch verändert
sich der Muskeldehnungsreflex.
Das ZNS älterer Personen wird mit weniger sensorischen Informationen aus der Peripherie versorgt. Dieses so entstandene afferente sensorische
Informationsdefizit äußert sich auf dem efferenten
Schenkel des Reflexbogens in einer reduzierten Reflexaktivität. Der reduzierte Input bedingt somit einen reduzierten Output (Granacher und Gollhofer
2005). Die Folge ist, dass posturale Unsicherheiten
nicht mehr adäquat über den Muskeldehnungsreflex kompensiert werden können.
Klinik: Stürze im Alter
Ältere Menschen, die gestürzt sind, berichten häufig, dass sie sich nicht erinnern können, wie es zu
dem Unfall kam. Auch in der Anamnese lassen sich
keine eindeutigen Faktoren erkennen. Es ist wahrscheinlich, dass das schlechtere Reaktionsvermögen alter Menschen dafür verantwortlich ist und
schon geringfügige Störungen, die jüngere Menschen kaum wahrnehmen oder ohne Probleme
kompensieren, einen Sturz auslösen können.
Veränderung und Reduktion sensorischer Neurone. Als Ursache der altersbedingten Zunahme der
Latenzzeit wird angesehen, dass sich die Zahl der
peripheren myelinisierten und damit schnell leitenden sensorischen Axone bis zum 90. Lebensjahr
um 50 % reduziert. Diese Reduktion der sensorischen Neurone nimmt mit zunehmendem Alter erheblich zu. Bei den verbleibenden Axonen, und hier
insbesondere bei denen sensorischer Nervenzellen,
beobachtet man außerdem eine altersbedingte Degeneration der Myelinscheiden, was eine verminderte Nervenleitgeschwindigkeit zur Folge hat
(Granacher und Gollhofer 2005). Grund für die Demyelinisierung könnten degenerative Vorgänge in
den Spinalganglien der Hinterwurzeln sein. Diese
sind nicht mehr in der Lage, die Axone entsprechend ihrem Bedarf mit Nährstoffen zu versorgen.
Axone atrophieren.
Veränderungen der präsynaptischen Hemmung.
Die Funktion von Synapsen kann durch eine präsynaptische Hemmung bzw. Bahnung moduliert werden. Verantwortlich hierfür sind Interneurone auf
spinaler Ebene und absteigende Bahnen aus höheren Zentren des zentralen Nervensystems (ZNS,
Abb. 11.4). Im Alter wird eine verstärkte präsynaptische Hemmung für die reduzierte Reflexaktivität
mit verantwortlich gemacht. Eine verstärkte präsynaptische Hemmung reduziert die Ia-Afferenzen,
noch bevor diese auf das Motoneuron übertragen
werden können. Ungeklärt ist zurzeit noch die Frage, ob die präsynaptische Hemmung im Alter eher
verstärkt wird oder eher nachlässt (Granacher und
Gollhofer 2005).
Verlust von Interneuronen. Interneurone im Rückenmark stellen die Verbindung zwischen afferenter sensorischer Reizaufnahme und efferenten neuromuskulären Antworten dar. Ihre Zahl verringert
sich im Alter um etwa 28% (Terao et al. 1996). Der
Verlust von Interneuronen beeinträchtigt sowohl
Kraft als auch Reflexverhalten. Granacher und Gollhofer (2005) vermuten, dass sich der entstandene
Informationsverlust im zentralen Nervensystem
auf die reflektorische Antwort bei unvorhergesehenen Ereignissen (Stolpern, Straucheln, Stürzen) auswirkt.
Verlust von α-Motoneuronen. Der Verlust der αMotoneuronen führt vor allem zu einer Denervation von Typ-II-Muskelfasern. Die denervierten Fasern degenerieren, sterben ab oder können auch
von aussprossenden Kollateralen anderer α-Motoneuronen reinnerviert werden. Als Folge erfährt die
Muskelfaser eine kinetische Verlangsamung mit einem verschlechterten Rekrutierungs- und Frequenzierungsverhalten. Kamen et al. (1995) fanden bei
älteren Probanden im Vergleich zu jungen Probanden eine um 64% reduzierte Entladungsrate (Frequenzierung).
Kokontraktion antagonistischer Muskulatur. Eine Beeinträchtigung im supraspinalen Zentrum älterer Menschen führt zur Dysfunktion der hemmenden Ia-Interneurone, die bei normaler Funktion die Muskelaktivität der jeweiligen Antagonisten
am Gelenk unterdrücken. Die resultierende Kokontraktion wirkt sich negativ auf das Schnellkraftverhalten aus (Granacher und Gollhofer 2005). Bei einer kompensatorischen Gelenkstabilisierung aufgrund unvorhersagbarer Störungen der Gelenkstabilität (z. B. Stolpern, Rempler) ist sie jedoch als
Schutzmechanismus erwünscht.
In der Summe führen diese strukturellen und
neuronalen Veränderungen zu einer Störung motorischer Regelkreise im Alter (Granacher und Gollhofer 2005).
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11 Sport im Alter – Leistungsphysiologie
Hormonelle Veränderungen
30
Unterschiede zwischen Trainierten und
Untrainierten
Der Kraftverlust im Alter kann durch Training aufgehalten werden. Dies geschieht nicht vollständig,
aber der Rückgang erfolgt zumindest so verzögert,
dass mancher 50- bis 60-Jährige das Kraftniveau
von untrainierten 30- bis 35-Jährigen halten kann
(Abb. 11.5) Nach Israel (1994) sind bereits zwei
Stunden sportliche Aktivität pro Woche ausreichend, um die Kraft deutlich zu steigern. Mit zunehmendem Lebensalter laufen die Kurven in beiden
Graphiken immer weiter auseinander.
Der schnellere Kraftabfall der Untrainierten gibt
einen Hinweis darauf, wie gering die muskelstimulierenden Reize im höheren Lebensalter sind. Alltagsbelastungen ohne zusätzliches Training sind so
klein, dass die Muskelkraft durch Reizmangel (Bewegungsmangel) zusätzlich zum altersbedingten
Kraftverlust abnimmt.
Der Kraftverlust untrainierter älterer Menschen
kann also nicht allein durch physiologische Alte-
25
Zahl der Liegestütze
Im Alter verändert sich bei Frauen und Männern die
Hormonproduktion. Ein sinkender Testosteronspiegel, der zwischen dem 40. und 70. Lebensjahr jährlich etwa um 1% abnimmt, ist mitverantwortlich für
ein sinkendes Kraftniveau beim Mann. Die körpereigene Produktion von Östrogen erfährt mit dem
Einsetzen der Menopause bei der Frau ebenfalls eine starke Abnahme. Wird der Östrogenspiegel medikamentös aufrechterhalten, lässt sich der Rückgang von Muskelmasse und Kraft verhindern bzw.
in seiner Geschwindigkeit verlangsamen (Hollmann 2006). Im Zusammenhang mit Alterungsvorgängen hat das Vorläuferhormon Dihydroepiandrosteron (DHEA) besondere Beachtung gefunden.
Es nimmt im Alter bei beiden Geschlechtern deutlich ab. Ob eine exogene Zufuhr Alterungsvorgänge
verlangsamen kann, ist im Augenblick noch strittig.
Langzeitstudien liegen derzeit nicht vor (Heufelder
2005).
Ebenfalls von einer altersbedingten Abnahme
betroffen sind das Wachstumshormon und der Insulin-ähnliche Wachstumsfaktor (IGF-1). Wachstumshormon und IGF-1 sind als anabole Hormone
maßgeblich an Aufbau und Erhalt der Muskulatur
beteiligt. Eine Abnahme beider Hormone kann den
mit dem Alter einsetzenden Verlust der Muskelmasse mit erklären. Werden Wachstumshormon
und IGF-1 dem Organismus exogen zugeführt, stimulieren sie den Muskelaufbau (Hollmann 2006).
20
1
15
10
1
2
5
b
2
33 – 34
40 – 44
50 – 54
35 – 39
45 – 49
55 – 59
Alter (Jahre)
a
Zahl der Beinanhebungen
394
25
1
20
15
1
2
2
33 – 34
40 – 44
50 – 54
35 – 39
45 – 49
55 – 59
Alter (Jahre)
Abb. 11.5 a und b a Zahl der Liegestütze, die sportliche aktive (1) bzw. inaktive (2) Probanden durchführen
können, in Abhängigkeit vom Lebensalter und Geschlecht (n = 864) (Männer = blaue Linie, Frauen = rote
Linie). b Wiederholungszahl, mit der sportliche aktive
(1) bzw. inaktive (2) Probanden innerhalb von 30 Sekunden die Beine anheben können, in Abhängigkeit von Lebensalter und Geschlecht (n = 864) (Männer = blaue Linie, Frauen = rote Linie) (nach Israel 1994).
rungsvorgänge erklärt werden. Er wird durch den
heute weitverbreiteten Bewegungsmangel noch
verstärkt.
Auch die neuronalen Kraftqualitäten sind bei
trainierten älteren Menschen besser. Leong et al.
(1999) konnten nachweisen, dass die Entladungsrate der motorischen Einheiten bei Gewichthebern
(Alter 67 – 79 Jahre) signifikant über der Entladungsrate von untrainierten Probanden liegt.
aus: van den Berg u. a., Angewandte Physiologie (ISBN 9783131409010), 䊚 2008 Georg Thieme Verlag KG
Veränderungen der motorischen Grundeigenschaften im Alter
Krafttraining im höheren Lebensalter
Trainierbarkeit
Auch wenn die Trainierbarkeit mit zunehmendem
Lebensalter nachlässt, gilt es heute als gesichert,
dass selbst hochbetagte Männer und Frauen durch
Krafttraining einen Kraftgewinn und einen Muskelzuwachs erfahren können. Vierzehn männliche
Probanden im Alter zwischen 60 und 70 Jahren
führten dreimal wöchentlich ein Krafttraining über
einen Gesamtzeitraum von zwölf Wochen durch.
Die Kraft nahm bei konzentrischer Arbeit um 48%
und bei isokinetischer Arbeit um 9% zu (Brown et al.
1990). Ähnliche Ergebnisse liefern Charette et al.
(1991) für eine aus 27 Frauen im Alter von 64 bis 86
Jahren bestehende Probandengruppe. Die Kraft der
trainierten Muskulatur nahm zwischen 28 und
115% zu. Fiatarone et al. (1990) trainierten eine
Gruppe von 9 sehr schwachen Männern und Frauen
im Alter zwischen 87 und 96 Jahren über einen Zeitraum von 8 Wochen dreimal wöchentlich. Die Intensität wurde von anfänglich 50% der Maximalkraft (50% des 1er-Wiederholungsmaximums) bis
zum Ende hin auf 80% der Maximalkraft gesteigert.
Mit dem Wiederholungsmaximum (WM) wird das
maximale Gewicht festgelegt, das für eine gegebene Anzahl an Wiederholungen (x-WM) bewegt
werden kann. Das 1er Wiederholungsmaximum
(1-WM) beschreibt demnach das Gewicht, das nur
einmal bewegt werden kann. Dieses Gewicht ist
mit der konzentrischen Maximalkraft identisch.
Das 10er-Wiederholungsmaximum (10-WM) beschreibt das Gewicht, das höchstens zehnmal mit
einer sauberen Bewegungsausführung bewegt
werden kann. Das 10-WM entspricht in etwa 80%
der maximalen konzentrischen Kraft (Haas 2001),
unterliegt aber in Abhängigkeit von der jeweiligen
Muskulatur Schwankungen (Radlinger et al. 1998).
Weitere Trainingseffekte
Funktionelle Verbesserungen
In der Studie von Fiatarone et al. (1990) wurden bei
den hochbetagten Probanden für den M. quadriceps
femoris und die ischiokrurale Muskulatur Steigerungen von 61 bis 374% gemessen. Interessanter als
der reine Kraftzuwachs sind jedoch die funktionellen Gewinne dieser Probanden. Waren die Teilnehmer der Studie vor dem Krafttraining gerade in der
Lage, drei Treppenstufen zu bewältigen, so erhöhte
sich diese Zahl nach 8 Wochen auf 23 Stufen, die oh-
ne Unterstützung bewältigt werden konnten. Die
mittlere Gehgeschwindigkeit verbesserte sich im
Untersuchungszeitraum um 48%.
Vincent et al. (2002) kommen zu ähnlichen Ergebnissen. 62 Frauen und Männer absolvierten über
einen Zeitraum von 24 Wochen ein Ganzkörperkrafttraining, bestehend aus insgesamt 12 verschiedenen Übungen. Pro Übung wurden in Gruppe 1 bei
50% des 1-WM 13 Wiederholungen und in Gruppe 2
bei 80% des 1-WM 8 Wiederholungen durchgeführt. In beiden Gruppen konnte im Mittel aus allen
Übungen ein Kraftzuwachs von 17 bis 18% erreicht
werden. Die Kraftausdauer verbesserte sich je nach
Gruppe und getesteter Muskulatur um 68 bis 105%.
Im Hinblick auf ältere Personen ist interessant, dass
auch die weniger intensiven Kraftbelastungen (50%
von 1-WM) zu einem vergleichbaren Kraftzuwachs
führten wie die intensiven (80% von 1-WM).
Neben den Veränderungen im Muskel ergeben sich
eine Reihe funktioneller Verbesserungen mit der
Kraftzunahme: Aufstehen, Hinsetzen und Treppensteigen fallen leichter, die Ganggeschwindigkeit
nimmt zu, Einkäufe können wieder eigenständig
erledigt und transportiert werden. Eine verbesserte
Gleichgewichtsfähigkeit senkt das Sturzrisiko und
die verbesserte Mobilität erhöht die Selbsteinschätzung und das Selbstwertgefühl.
Erhalt von Muskelmasse
Klitgaard et al. (1990) konnten nachweisen, dass
Kraftsportler (68 ⫾ 0,8 Jahre) im Gegensatz zu
Schwimmern (69 ⫾ 1,9 Jahre) und Läufern (70 ⫾ 0,7
Jahre) ein maximales isometrisches Drehmoment
und eine Bewegungsgeschwindigkeit erzeugen sowie einen Faserquerschnitt und einen Gehalt der
Myosin- und Tropomyosinisoformen aufweisen, die
identisch mit einer nichttrainierenden jüngeren
Kontrollgruppe (28,0 ⫾ 0,1 Jahre) sind. Brown et al.
(1990) zeigten für den Querschnitt am M. biceps
brachii und M. brachialis eine Zunahme von 17,4%,
die durchschnittliche Faseroberfläche der Typ-IIFasern vergrößerte sich um 30%. Charette et al.
(1991) konnten für ältere Frauen eine Zunahme im
Muskelquerschnitt der Typ-II-Fasern von 20% feststellen.
Krafttraining im Alter erhält und vergrößert die
Muskelmasse.
aus: van den Berg u. a., Angewandte Physiologie (ISBN 9783131409010), 䊚 2008 Georg Thieme Verlag KG
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396
11 Sport im Alter – Leistungsphysiologie
Einfluss auf den Stoffwechsel
Mit dem Verlust der Muskelmasse geht auch ein
Verlust von stoffwechselaktivem Gewebe einher.
Dies führt zu einem ungünstigen Last-Kraft-Verhältnis und erniedrigt den Energieumsatz. Dies erklärt die Zunahme des Körpergewichtes und den
höheren Körperfettanteil im Alter – bei unverändertem Essverhalten. Eine krafttrainingsbedingte
Zunahme der Muskelmasse führt parallel zu einem
Rückgang des Körperfettanteils. Dies ist nicht nur
ein Gewinn für die Gesundheit (ein hoher Körperfettanteil gilt als Risikofaktor für die Entstehung
von Herz-Kreislauf- und Stoffwechselkrankheiten),
sondern unterstützt auch den Wunsch vieler älterer
Menschen nach einem attraktiven Äußeren.
Die Untersuchungen zeigen, dass Krafttraining
eine der effektivsten Maßnahmen zur Verhinderung einer Sarkopenie ist. Neben Muskelmasse
nehmen auch Kraft und Gleichgewichtsfähigkeit zu.
Die motorischen Einheiten zeigen eine erhöhte Aktivität, die elektromechanische Kopplung und der
Kalziumhaushalt sind verbessert und die Syntheserate für die kontraktilen Proteine Aktin und Myosin
ist gesteigert. Auch konnte gezeigt werden, dass
Tab. 11.1 Durch Krafttraining mögliche Veränderungen bei untrainierten Frauen und Männern im Alter
(nach Holloway 1998, Rogers und Evans 1993).
Adaptation
Ausmaß
Maximalkraft
⫹⫹⫹
gesamte Muskelmasse
⫹⫹⫹
Körperfett
– – bis – – –
Grundumsatz
⫹⫹
Muskelfasergröße
Typ-I-Faser (ST-Faser)
Typ-II-Faser (FT-Faser)
⫹⫹ bis ⫹⫹⫹
⫹⫹⫹
Muskelfaserveränderung:
Typ II b zu II a
⫹⫹⫹?
Anzahl der Muskelfasern
?
Muskelkapillarisierung
⫹⫹
metabolische Muskelkapazität:
glykolytisch
oxidativ
⫹⫹⫹
⫹
Anzahl motorischer Einheiten
?
Muskeldenervation
–––
oxidativer Stress durch Krafttraining reduziert werden kann. Dem oxidativen Stress kommt eine wichtige Rolle im zellulären Alterungsprozess, bei der
Sarkopenie und der Apoptose zu (Dirks und Leeuwenburgh 2005). Tabelle 11.1 stellt die Adaptationen im Muskel zusammenfassend dar.
Wirkung von Krafttraining auf andere
Strukturen
– Sehnen und Bänder erfahren eine Verstärkung
und Dickenzunahme (Hollmann 2006).
– Knochen, insbesondere Röhrenknochen profitieren von Krafttraining mit einer Querschnittsvergrößerung. Die Knochendichte nimmt zu (Osteoporoseprophylaxe) und die Insertionsstellen der
Sehnen in den Knochen werden verstärkt. Allerdings benötigen diese Anpassungen ein systematisches Krafttraining über mehrere Jahre (Hollmann 2006). Dann bleiben die entstandenen
Veränderungen selbst nach längerer Trainingsunterbrechung in einem gewissen Maße erhalten (Hollmann 2006).
– Im Knorpel bewirkt Krafttraining eine Dickenzunahme (Hollmann 2006).
Zusammenfassung:
Kraft und Kraftverlust im Alter
– Die Maximalkraft und die Fähigkeit zur schnellen Kraftentwicklung (Explosivkraft/Schnellkraft) nehmen im Alter ab.
– Der altersbedingte Kraftverlust geht auf einen
Verlust von Muskelmasse (Sarkopenie und Hypoplasie) und auf degenerative neuronale Veränderungen zurück.
– Tendenziell sind vom Faserabbau eher die
schnellen Typ-II-Fasern betroffen.
– Trainierte Personen weisen einen deutlich geringeren Kraftverlust auf. Muskelquerschnitt, Faserzahl und neuronale Einflussgrößen sind bei
trainierten Personen im hohen Alter auf dem Niveau von untrainierten jungen Menschen.
– Personen, die erst im hohen Alter mit dem
Krafttraining beginnen, zeigen eine ähnliche gute Trainierbarkeit wie junge Menschen und verbessern Maximalkraft, Muskelmasse und neuronale Kraftqualitäten.
– Funktionell fördert ein höheres Kraftniveau die
Bewältigung von Alltagsaufgaben, hebt die Lebensqualität und beugt im Verbund mit einer
verbesserten Koordination Stürzen vor. In vielen
Fällen kann ein Funktions- oder Ausdauertraining erst dann aufgenommen werden, wenn ein
ausreichendes Kraftniveau vorhanden ist.
aus: van den Berg u. a., Angewandte Physiologie (ISBN 9783131409010), 䊚 2008 Georg Thieme Verlag KG
Veränderungen der motorischen Grundeigenschaften im Alter
– Training kann den biologischen Alterungsprozess nicht aufhalten, aber der Einfluss des Alterns auf Leistungsfähigkeit und Alltag kann
deutlich gemindert werden.
Empfehlungen für das Krafttraining
älterer Menschen
Mayer et al. (2003) differenzieren im Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Sportmedizin und
Prävention die Ziele eines Krafttrainings mit älteren
Personen in übergeordnete und spezielle Aufgaben
(Tab. 11.2).
Ältere Menschen, die mit einem Krafttraining beginnen, erwarten klare Anweisungen:
– Wie hoch darf bzw. muss die Belastungsintensität sein?
– Wie lange darf bzw. muss eine Trainingsbelastung dauern?
– Wie oft muss die Belastung pro Woche durchgeführt werden?
Intensität
In Bezug auf die Intensität sind 20 – 30% der maximalen statischen Kraft erforderlich, um den Status
quo zu erhalten. Oberhalb von 30% der maximalen
statischen Kraft kommt es zu einer Kraftzunahme
(Hollmann und Hettinger 2000). Intensitätsbereiche zwischen 60 und 85% des 1-WM bewirken bei
entsprechender Ausbelastung (etwa 20 Wiederholungen bei 60% und 5 – 8 Wiederholungen bei 85%)
eine Massenzunahme im Sinne einer Hypertrophie.
Intensitäten von 90 bis 100% des 1-WM dienen, bei
explosiv schneller Ausführung, der Entwicklung des
Kraftanstieges und damit der Schnell- und Explosivkraft (Güllich und Schmidtbleicher 1999).
Aufgrund der Verletzungsgefahr für untrainierte
und nicht vorbereitete Menschen kommt ein Training der Schnell- und Explosivkraft zu Beginn eines
Krafttrainings für Ältere nicht infrage. Ein Training
mit hohen und höchsten Widerständen ist erst nach
längerer Vorbereitungszeit möglich, da die Anpassungsvorgänge eine lange Zeit in Anspruch nehmen.
Optimal hingegen ist ein Training mit geringen
Widerständen und hoher Wiederholungszahl (ca.
30 – 50% des 1-WM, 10 – 15 Wiederholungen), damit die betroffenen Gewebe an den ungewohnten
Trainingsreiz adaptieren können. Auch können zu
Beginn eines Trainings isometrische Muskelspan-
Tab. 11.2 Ziele und Aufgaben eines Krafttrainings bei
älteren Personen (nach Mayer et al. 2003).
übergeordnete
Aufgaben
spezielle Aufgaben
Stabilisation des Körpergewichtes während
des Gewichtstransfers
und der Fortbewegung.
Erwerb bzw. Mobilisation
einer Kraftleistungsfähigkeit zur Überwindung des
Körpergewichtes
Erhalt der Muskelmasse Stabilisation des Rumpfes
unter standardisierten
und situativen Bedingungen
Verbesserung/Optimierung der Aktivitäten
des täglichen Lebens
(ADL)
Optimierung neuromuskulärer Steuerungs- und
Regelungsmechanismen
zur koordinativ optimierten Stabilisierung peripherer Gelenke
Vermeidung von
Stürzen
zeitlich optimierter Krafteinsatz im Ablauf der kinematischen Kette der
Extremitäten
nungen eher geeignet sein, vor allem wenn der koordinative Anspruch dynamischer Übungen hoch
ist (mit dem eigenen Körpergewicht, mit Geräten
oder freien Gewichten) und für Untrainierte eine
Überforderung darstellt.
Isometrisches Krafttraining
Hollmann (2006) gibt für ältere Menschen die Empfehlung, mit möglichst großen Muskelgruppen ein
tägliches statisches (isometrisches) Krafttraining
durchzuführen. Die entwickelte Muskelspannung
soll dann 70 – 80% der statischen Maximalkraft erreichen. Die Anspannungsdauer soll bei etwa
20 – 30% der maximal möglichen Anspannungszeit
liegen.
Klinik: Isometrisches Krafttraining
Beträgt die maximal mögliche Anspannungszeit
bis zur Erschöpfung bei einer statischen Muskelspannung 30 Sekunden, so soll die Anspannungszeit in der Übungsserie 6 – 10 Sekunden dauern.
Das Minimum an Trainingsreizen gibt Hollmann
(2006) mit 5 – 10 Wiederholungen pro Tag und
Muskelgruppe an.
aus: van den Berg u. a., Angewandte Physiologie (ISBN 9783131409010), 䊚 2008 Georg Thieme Verlag KG
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