1 WOHNEN ALS GRUNDHALTUNG Wohnen heisst an einem Ort zusammen-, und an einem anderen alleine sein, für sich und mit den anderen eine Tätigkeit ausüben. Das gilt für den Einzelnen wie für die Gruppe. Wohnen ist eine existentielle Gegebenheit, welcher der Raum, in dem man sich befindet, Rechnung tragen muss. Das „Für sich sein“ und das „Mit den anderen sein“ fordert somit unterschiedliche Räume. Es besteht das Bedürfnis nach: Ruhe, genauer: in Ruhe gelassen zu werden. Dafür braucht es eine visuell und akustisch private Sphäre. Daneben besteht das Bedürfnis nach dem Zusammensein, dies verlangt die Bühne und den Auftritt. So ist für den überwiegenden Teil der Menschen das Wohnen ein Ausdruck der Befriedigung grundsätzlicher Bedürfnisse. Die Qualität der Architektur und der Gebrauch der Gebäude, was immer sie seien, stehen somit in einem engen Verhältnis zueinander stehen. Unter der Prämisse des Gebrauchswerts lassen sich für die Wohnung wie den Aussenraum, Schlüsselstellen bestimmen und Regeln ableiten. Gefragt ist eine unterschiedliche Ausbildung von Territorien auf verschiedenen Ebenen – von der Ebene des Stadtganzen, bis zur Ebene der Wohnung, und gefragt ist ein Nachdenken über die entsprechenden Grenzen und Übergänge. Das Haus und die Stadt Häuser sind immer Teil eines über sie hinausreichenden städtebaulichen Kontexts. Das heisst, dass kein Wohngebäude für sich alleine dasteht. Es gibt immer ein Gegenüber, das liegt mehr oder weniger nah, und es gibt den Raum dazwischen, den Aussenraum. Gebäude und Aussenraum bilden eine Einheit und sind oszillierend im Sinn von Figur und Grund, nicht voneinander zu trennen Voraussetzung der Erlebbarkeit 2 des Aussenraumes ist, dass er als Figur erfahren wird. Löst er sich im Falle der Stadt auf, das heisst treten die Häuser als einzelne Objekte weit auseinander, geht der Stadtraum, der öffentliche Aussenraum, als Figur verloren und damit seine Möglichkeit als wahrnehmbare soziale Bühne zu dienen. Die Wohnumgebung verliert eine wichtige Qualität. Die Stadt erleben heisst also sie als öffentlichen Raum, als Sequenz von Strassen, Gassen und Plätzen zu erleben. So gedacht ist der städtische Aussenraum die Grundlage für das Entstehen sozialen Handelns. Er ist ein Mittel der gesellschaftlichen 3 Segregation entgegenzuwirken und eine Bühne zu schaffen, die von den Bewohnern als Erweiterung und Ergänzung des eigenen Hauses gesehen wird. Voraussetzung für das Gefühl „Stadt“ ist im Weiteren die Dichte. Gemeint ist dabei nicht so sehr die Einwohnerdichte, als vielmehr die bauliche Dichte, das heisst, die Besetzung des Bodens und die Nähe der Bauten zueinander. Die bebaute Fläche und der dazugehörige, abgegrenzte private Aussenraum sollten bei einer Bebauung so gross sein, dass die verbleibenden Fläche, vollumfänglich als öffentlicher Aussenraum genutzt wird und nicht lediglich als Abstandsfläche dient. Die Übergänge zwischen Haus und Aussenraum Ein Haus erleben, heisst es als Rahmen einer soziale Organisation und deren Bedürfnisse zu sehen, mag das ein Einzelner sein, ein Paar, eine Familie oder eine Gruppe. Eine Schlüsselstellung 4 nehmen die Übergänge zwischen Haus und öffentlichem Aussenraum ein, die Bereiche, wo Haus und dieser Raum aufeinander treffen. Diese Übergänge sind deshalb von besonderer Bedeutung, weil das Territorium Haus, als privater Bereich ebenso Schutz verlangt wie der öffentliche Raum eine Form. Wird der Schutz des Hauses weggelassen, entsteht zwischen Haus und Aussenraum ein Zusammentreffen zweier letztlich feindlicher Elemente, dem Haus als Objekt und dem Aussenraum als amorphem Bereich. Die Form der Übergänge kann dabei sehr unterschiedlich sein. Ausschlaggebend ist die Ausbildung einer deutlichen Abgrenzung des privaten Territoriums gegenüber dem besonderen Charakter des anstossenden Aussenraums. Die Wohnung Der Aufbau der Wohnung folgt ähnlichen Grundsätzen wie das Zusammenspiel von Gebäude und öffentlichem Aussenraum. Auch in der Wohnung können wir von privaten und öffentlichen Zonen und deren Verhältnis zu einander sprechen. Sie reflektieren die Rücksichtsnahme auf die Ansprüche des sich Zurückziehens und der 5 Kommunikation. Hierbei sind die Generationenansprüche, aber auch solche des Arbeitens und der Repräsentation, offensichtlich. soll die Wohnung mehr als bloss dem gesellschaftlichen Repräsentieren, dem Medienkonsum, und dem Zelebrieren von „convenient food“ dienen, muss sie auch sich stossende Tätigkeiten erlauben. Eine Wohnung, und damit das Wohnhaus, sind deshalb weder ein Designobjekt noch eine abstrakte räumliche Komposition; sie sind ein zweifellos ästhetischer, den Regeln der Architektur folgender Gegenstand, in erster Linie aber ein Gebrauchsartikel. Der Dekalog Für den Wohnungsbau, den wir im Atelier 5 nun schon seit 50 Jahren betreiben haben sich mit der Zeit eine Reihe von Regeln ergeben, die trotz laufend ändernden Ansprüchen an die Wohnung selbst, für die Qualität des Entwurfs bis heute – jedenfalls für uns - ihre Berechtigung behalten haben, und auf die wir nicht verzichten wollen: 1. Baue nicht einzelne Häuser sondern Gesamtanlagen: 6 Das heisst, man soll ein Gebäude immer im Kontext mit dem Nachbargebäude sehen. Häuser können zufällig zueinander gestellt werden, was heute fast der Normalfall ist, oder sie können zusammen ein neue Qualität entstehen lassen, den öffentlichen Aussenraum. 2. Schaffe klare begrenzte Aussenräume und vermeide unbestimmte Aussenräume: . Öffentliche Aussenräume machen das Wesen einer Anlage aus. Sie sind Treffpunkte und Kommunikationsbereiche und brauchen dafür eine klare und bestimmte Form 3. Sorge dafür, dass öffentliche Aussenräume durch alle genutzt werden können: 7 Das bedeutet dass der öffentliche Aussenraum nicht vom Auto monopolisiert werden darf. Es muss verkehrsfreie Plätze und Gassen geben. 4. Sorge dafür dass jede Wohnung einen geschützten, brauchbaren Aussenraum erhält:. Erst wenn die Wohnung oder das Haus als private Einheit empfunden wird, kann auch Gemeinschaft entstehen 5. Achte darauf, dass möglichst viele Hauseingänge auf den gemeinsamen öffentlichen Raum gerichtet sind : Hauseingänge bringen das Leben in den öffentlichen Raum. Es entstehen Begegnungsmöglichkeiten und es entsteht Sicherheit durch eine natürliche soziale Kontrolle. 8 6. Baue in der Regel so, dass man die Wohnung auch ohne mechanische Hilfe erreichen kann: Eine Wohnung muss für alle, auch für Kinder und ältere Leute einfach zu Fuss erreichbar sein. Man sollte Kindern und Freunden aus dem Fenster zurufen können. Nach vier Stockwerken wird das schwierig. 7. Entwirf Wohnungen und nicht Designobjekte Häuser und Wohnungen sind Gebrauchsgegenstände die unterschiedlichsten Anforderungen entsprechen müssen. Dazu benötigen sie eine differenzierte und robuste Organisationsstruktur. Dies ist die Hausaufgabe des Architekten. 8. Baue mit den Mitteln deiner Zeit. Baue sparsam, baue nachhaltig und ökologisch: Das ist die Herausforderung an unsere Zukunft. 9 9. Baue auf billigem billigem Boden: so du ihn findest 10. Baue mit billigem Geld: so du es kriegst Bern, 26.Nov.2008 Prof. J.Blumer Atelier 5