ANTONIO SANT'ELIA / FILLPO TOMASO MARINETTI - FUTURISTISCHE ARCHITEKTUR 1914 In Mailand stellen 1914 zwei junge Architekten, Antonio Sant'Elia und Mario Chiattone, Zeichnungen und Pläne zu einer »Neuen Stadt« aus. Die radikalen Gedanken, die Antonio Sant'Elia (* 1888 in Como, gefallen 1916 bei Monfalcone) im Vorwort des Katalogs äußert, deutet Marinetti, der Wortführer der italienischen Futuristen, sofort in ein »Manifest der futuristischen Architektur« um, das im Juli des gleichen Jahres erscheint, vier Monate nach Marinettis Manifest »Die Herrlichkeit von Geometrie und Mechanik und die Sensibilität der Zahlen«, und die großen futuristischen Proklamationen abschließt. Seit dem 18. Jahrhundert gibt es keine Architektur mehr. Was als moderne Architektur bezeichnet wird, ist ein Gemisch aus den verschiedensten Stilelementen, mit dem das Skelett der modernen Bauten maskiert uird. Die Schönheit von Zement und Stahl wird entweiht durch karnevalistische Dekorationen, die weder durch konstruktive Notwendigkeiten noch durch den Geschmack zu rechtfertigen sind und die entweder aus dem alten Ägypten, aus Indien und Byzanz oder aber aus der erstaunlichen Blüte des Schwachsinns und der Unfähigkeit stammen, die als Neoklassizismus bezeichnet wird. In Italien heißt man diese Erzeugnisse architektonischer Kuppelei willkommen, und eiferndes Nichtskönnen aus dem Ausland gilt als geniale Erfindung und als das Neueste auf dem Gebiet der Architektur. Die jungen italienischen Architekten (jene, die unter dem geheimen Zwang von Kunstschriften zur Selbständigkeit gelangen) stellen ihre Talente in den neuen Vierteln unserer Städte zur Schau, wo ein heiterer Mischmasch aus Spitzbogensäulchen, schwülstigem Blattwerk, gotischen Bogen, ägyptischen Pfeilern, Rokokoschnörkeln, Quatttrocento-Putten, aufgeblasenen Karyatiden ernsthaft als Stil zu gelten versucht und anmaßend nach Größe strebt. Das Auftauchen und Verschwinden von Formen, die ständig wachsende Zahl der Maschinen, die auf Grund der raschen Verkehrsmittel täglich zunehmenden Bedürfnisse, die Anhäufung von Menschen, hygienische und hundert andere Probleme des modernen Lebens bringen diese angeblichen Erneuerer der Architektur keineswegs in Verwirrung. Ungehindert fahren sie - unter Anwendung der Regeln des Vitruvius, des Vignola, des Sansovino und unterstützt von Schriftchen über deutsche Architektur - fort, unseren Städten, die das unmittelbare und getreue Abbild unserer selbst sein sollten, den Stempel von Jahrhunderten der Dummheit aufzudrücken. So ist diese Kunst des Ausdrucks und der Synthese in ihren Händen zu einer leeren stilistischen Übung geworden, zu einer schlechten Mischung von Rezepten, mit deren Hilfe moderne Gebäude in die steinerne Routinetorheiten der guten alten Zeit vermummt werden. Als ob wir, Akkumulatoren und Generatoren der Bewegung, mit unseren mechanischen Hilfsmitteln und mit dem Lärm und der Schnelligkeit unseres Lebens in Straßen wohnen könnten, wie sie die Menschen vor vier, fünf oder sechs Jahrhunderten für ihre damaligen Bedürfnisse gebaut haben! Dies ist die größte Torheit der modernen Architektur, an deren Wiederholung sich die Akademien, in denen sich die Intelligenz unter Hausarrest befindet, mitschuldig machen, indem sie die Studenten zwingen, selbstschänderische klassische Modelle zu kopieren, anstatt ihren Geist für die Suche nach den letzten Grenzen und für die Lösung des neuen und dringenden Problems des futuristische Hauses und der futuristischen Stadt zu ertüchtigen - des Hauses und der Stadt, die uns materiell und geistig ganz gehören, in denen unser drängendes Leben sich entwickeln kann, ohne als grotesker Anachronismus gelten zu müssen. Bei dem Problem der futuristischen Architektur handelt es sich nicht um lineare Umgestaltung. Es handelt sich nicht darum, neue Formen, neue Formate für Fenster und Türen zu bestimmen oder einen Ersatz für Säulen. Pfeiler, Konsolen, Karyatiden und Fassadengetier zu finden. Es handelt sich nicht darum, ob eine Fassade kahl belassen, ob sie übertüncht oder mit Steinen verkleidet wird, oder darum, formale Unterschiede zwischen dem neuen und dem alten Gebäude festzustellen. Es handelt sich darum, das futuristische Haus nach einem gesunden Plan zu errichten und dabei alle Quellen der Wissenschaft und der Technik zu nutzen und alle Forderungen unserer Sitte und unseres Geistes genauestens zu erfüllen, alles Groteske, Plumpe und und Fremde abzulehnen (Tradition, Stil, Ästhetik, Proportion), neue Formen, neue Linien, eine neue Harmonie der Profile und des Volumens, kurz, eine Architektur zu bestimmen mit einem neuen, ganz und gar auf den besonderen Bedingungen des modernen Lebens beruhenden Verhältnis für die Existenz und den ästhetischen Wert, der von uns empfunden wird. Eine solche Architektur kann keinem Gesetz historischer Kontinuität unterworfen sein. Sie muß so neu sein wie unsere Geisteshaltung. Die Baukunst konnte sich im Lauf der Zeit entwickeln und von einem Stil zum andern übergehen - und doch dabei den allgemeinen Charakter der Architektur unverändert bewahren, da es in der Geschichte wohl häufig einen durch Mode, religiöse Überzeugungen und Aufeinanderfolge politischer Regime hervorgerufenen Wechsel gegeben hat, während Veränderungen infolge grundlegender Wandlung der Lebensbedingungen, durch die die alten entweder aufgehoben oder überholt wurden - wie dies zum Beispiel durch die Entdeckung der Naturgesetze, die Vervollkommnung der mechanischen Methoden, die rationale und ökonomische Verwendung des Materials geschah -, äußerst selten waren. Im modernen Leben kommt der Prozeß der konsequenten stilistischen Entwicklung zum Stillstand. Die Architektur löst sich von der Tradition und beginnt notgedrungen von vorn. Die Berechnung der Materialfestigkeit, die Verwendung von Eisenbeton und Eisen machen eine »Architektur« im klassischen und herkömmlichen Sinn unmöglich. Die neuen Baumaterialien und unsere wissenschaftlichen Begriffe sind mit der Disziplin der historischen Stile nicht in Einklang zu bringen; dies ist der Hauptgrund für den grotesken Anblick »modischer« Gebäude, bei denen leichte, schlanke Träger und spröder Eisenbeton die schwere Wölbung des Bogens und die Wucht des Marmors nachbilden sollen. Der schroffe Gegensatz zwischen der modernen und der antiken Welt rührt daher, daß es heute Dinge gibt, die es damals nicht gab. In unserem Leben sind Elemente aufgetaucht, von denen sich die Alten nichts träumen ließen; es gibt materielle Möglichkeiten und Geistesrichtungen mit tausendfachen Auswirkungen: an erster Stelle ein neues Schönheitsideal, dunkel noch und erst im Keimen, das aber schon anfängt, selbst die Massen zu faszinieren. Wir haben in der Tat den Sinn für das Monumentale, das Wuchtige und Statische verloren und unser Empfinden durch den Geschmack am Leichten und Praktischen, am Vergänglichen und Raschen bereichert. Wir fühlen, das wir nicht länger die Menschen der Kathedralen, der Paläste und der Gerichtshallen sind, sondern die Menschen der großen Hotels, der Bahnhöfe, der ungeheuren Straßen, der riesigen Häfen, der Markthallen, der erleuchteten Bogengänge, des Wiederaufbaus und der Sanierung. Wir müssen die futuristische Stadt erfinden und erbauen - sie muß einer großen, lärmenden Werft gleichen und in allen ihren Teilen flink, beweglich, dynamisch sein; das futuristische Haus muß wie eine riesigeMaschine sein. Der Aufzug soll sich nicht mehr wie ein Bandwurm im Schacht des Treppenhauses verbergen; die überflüssig gewordenen Treppen müssen verschwinden, und die Aufzüge sollen sich wie Schlangen aus Eisen und Glas emporwinden. Das Haus aus Beton, aus Glas und Eisen, ohne Malerei und ohne Verzierung, reich allein durch die Schönheit seiner Linien und Formen, außerordentlich »häßlich« durch seine mechanische Einfachheit, in seiner Höhe und Breite nach den Vorschriften des städtischen Gesetzes bemessen, soll sich über dem Geheul eines lärmenden Abgrundes erheben: über der Straße, die sich nicht mehr wie eine Fußmatte vor der Portierloge ausbreitet, sondern sich um einige Stockwerke unter die Erdoberfläche senkt; diese Stockwerke nehmen den städtisdeen Verkehr auf und sind miteinander durch Metallstege und durch Rolltreppen mit hoher Geschwindigkeit verbunden. Das Dekorative muß verschwinden. Das Problem der futuristischen Architektur wird nicht an Hand von Photos aus China, Persien und Japan gelöst oder indem wir uns an die Regeln des Vitruvius halten und uns damit lächerlich machen - es wird gelöst durch geniale Einfälle und mit Hilfe wissenschaftlicher und technischer Erfahrung. Überall muß eine Revolution stattfinden. Man muß die Dach- und Kellergeschosse ausnutzen und die Bedeutung der Fassade verringern, man muß die Fragen des guten Geschmacks aus der Ebene des Förmchens, des Kapitellchens, des Säulengängchens auf die breitere der Massengruppierung, des großzügigen Grundrisses bringen. Es ist die Zeit, die traurige »Gedächtnisarchitektur« abzuschaffen. Wir wollen Monumente, Bürgersteige, Säulengänge, breite Treppen entfernen, Straßen und Plätze in die Tiefe verlegen, das Niveau der Stadt erhöhen. Ich bekämpfe und verabscheue 1. die gesamte moderne österreichische, ungarische, deutsche und amerikanische Architektur; 2. die gesamte klassisch feierliche, hieratische, theatralische, dekorative, monumentale, anmutige, gefällige Architektur; 3. die Einbalsamierung, Rekonstruktion und Reproduktion von Monumenten und alten Palästen; 4. senkrechte und waagrechte Linien, kubische und Pyramiden-Formen, die statisch, schwer, bedrückend und unserem modernen Empfinden absolut fremd sind. Und ich erkläre, 1. daß die futuristische Architektur die Architektur der Berechnung, der verwegenen Kühnheit und der Einfachheit ist, daß sie die Architektur des Eisenbetons, des Eisens, des Glases, des Kartons, der Textilfaser ist - kurz, aller jener Ersatzstoffe für Holz, Stein und Ziegel, die höchste Elastizität und Leichtigkeit ermöglichen; 2. daß die Architektur somit keine schale Kombination von Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit ist, sondern daß sie eine Kunst - das heißt Synthese und Ausdruck - bieibt; 3. daß schräge und elliptische Linien naturgemäß dynamisch sind, daß ihre emotionale Wirkung tausendmal größer ist als die vertikaler und horizontaler Linien und daß keine dynamische Architektur ohne sie existieren kann; 4. daß die Dekoration - als etwas, was zusätzlich an der Architektur angebracht oder darübergelegt wird etwas Absurdes ist und daß allein von der ursprünglichen Anordnung des Rohmaterials, unverfälscht oder lebhaft gefärbt, der dekorative Wert der futuristischen Architektur abhängt; 5. daß - so wie die Alten die Inspiration für ihre Kunst aus den Elementen der Natur nahmen - wir, die wir materiell und geistig »künstlich« sind, die unsere aus den Elementen der modernen mechanischen Welt nehmen müssen, die wir geschaffen haben und deren schönster Ausdruck, deren vollkommenste Synthese, deren wirkungsvollste Vereinheitlichung die Architektur sein muß; 6. daß die Architektur aufgehört hat, eine Kunst der Formenbestimmung eines Gebäudes nach festgelegten Gesetzen zu sein; 7 - daß unter Architektur die Fähigkeit zu verstehen ist, Umwelt und Menschen frei und kühn in Übereinstimmung zu bringen - das heißt, die Welt der Dinge zu einem genauen Abbild der geistigen Welt zu machen; 8. daß aus einer solchen Architektur weder plastische noch lineare Gewohnheiten entstehen können, da es zu den fundamentalen Merkmalen der futuristischen Architektur gehört, daß sie »verbraucht« wird und vergänglich ist. Das Leben des Hauses wird nicht so lange währen wie das unsere, jede Generation wird sich ihre Stadt bauen müssen. Diese ständige Erneuerung der baulichen Umwelt wird zum Sieg des Futurismus beitragen, der sich schon in der »freien Rede«, dem »plastischen Dynamismus«, der »Musik ohne Taktstriche«, der »Kunst der Geräusche« anzeigt und der uns hilft, ohne Pause die feigen Lobredner der guten alten Zeit zu bekämpfen.