Wir, die Bürger(lichen)

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Christoph Möllers
Wir, die Bürger(lichen)
Bei Anbruch der Dämmerung
Ob liberale Demokratien überleben, erscheint heute überraschend ungewiss.
Vielleicht hat eine Ordnung, an der Mehrheiten kein Interesse haben, weil
sie bloß versorgt und unterhalten werden wollen, keine Zukunft – schon
gar nicht, wenn sich die Ordnung selbst als Mehrheitsherrschaft versteht.
Doch ist offen, ob die, die sich heute auf eine Mehrheit berufen, um deren Herrschaft aus den Angeln zu heben, tatsächlich in der Mehrheit sind.
Denn Präsident Trump, der Brexit oder die knapp gescheiterte Wahl von
Norbert Hofer in Österreich, der einen höheren Stimmenanteil erhielt als
Trump, sind nur unter zwei Bedingungen möglich: Sie bedürfen einer nicht
mehrheitsfähigen Linken, die Kandidaten wie Corbyn oder Mélenchon unterstützt und so rechtsautoritäre Siege wahrscheinlicher macht. Vor allem
gäbe es den Vormarsch des Rechtsautoritarismus nicht ohne eine politisch
schwach mobilisierte bürgerliche Mitte, die erschrocken zusieht, wie die
Welt zerfällt, an der sie hängen sollte, weil sie in ihr ordentlich bis sehr gut,
jedenfalls überdurchschnittlich, lebt.
Das Weltbild dieses potentiell einflussreichen Teils jeder Bevölkerung
scheint auf politische Auseinandersetzung nicht recht eingestellt zu sein.
Man mag sagen: So war es immer schon. Aber das wäre zu pauschal und mit
Blick auf viele historische Momente geradezu falsch. Warum aber stimmt
es heute? Vielleicht, weil die bürgerliche Mitte es sich angewöhnt hat, an
eine Welt ohne Politik zu glauben, oder zumindest an eine, in der Politik ihr
weder etwas nehmen noch geben kann.
Politikfreies Institutionenvertrauen
Dieser Glaube findet seinen Ausdruck im Vertrauen in politikferne Institu­
tio­nen: in eine qualifizierte und neutrale Bürokratie, eine unabhängige Justiz, in ein moderates politisches und ökonomisches Establishment und in
manchen Ländern auch in das Militär. Dieses Vertrauen wird in vielen Staaten der Welt in der Tat nicht oder nur selten enttäuscht. Die Frage ist nur, wo
es enden sollte; konkreter, ob politikferne Institutionen Politik moderieren
und stabilisieren oder ob sie selbst von der Stabilität des politischen Prozesses abhängen. Unter Bedingungen eines sich selbst einhegenden politischen
Prozesses ziehen Gerichte und Zentralbanken der Politik Grenzen. Beginnt
das politische System zu schlingern, schlingern alle Institutionen mit. Wie
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wenig dieser simple Zusammenhang theoretisch verstanden wird, zeigt sich
daran, dass die politische Theorie ihren Lesern fast nur die Wahl zwischen
liberalen Normalisten und apokalyptischen Ausnahmetheoretikern, sozusagen zwischen Rawls und Agamben, lässt, die zu der jeweils anderen Seite
des Problems nichts zu sagen haben.
So erweisen sich heute vermeintlich politikimmune Institutionen als vom
allgemeinen politischen Klima höchst abhängig. Wenn mobilisierte politische Gruppen den Kampf gegen sie aufnehmen, sind sie verwundbar, wie
sich nicht nur in Polen, Ungarn, Indien und der Türkei besichtigen lässt.
Auch die alltägliche Wahrnehmung von Freiheitsrechten hängt von politischen Stimmungen ab. Minderheiten haben wenig von ihren Grundrechten,
wenn Mitbürger, Nachbarn, Grenzbeamte, Polizisten und Lehrer ihre Spielräume nutzen, um ihnen das Leben zur Hölle zu machen. Diese Spielräume sind durch formalisierte Institutionen wie Recht nicht aus der Welt zu
schaffen.1
Die Idee, öffentliche Institutionen könnten ohne Politik funktionieren,
unterstellt, dass ihre wesentliche Funktion darin besteht, vor Mehrheiten
zu schützen. Auf dieser Grundlage wird es folgerichtig, wenn die aktuelle
politische Entwicklung in der bürgerlichen Mitte den Zweifel an demokratischen Verfahren und die Überzeugung von ihren freiheitsfeindlichen Effekten forciert – Zweifel, die in der allgegenwärtigen Klage über den grassierenden »Populismus« zum Ausdruck kommen. Denn die Kategorie des
»Populismus« kennt keine Unterscheidung zwischen rechts und links, sie
passt in ein politikaverses Schema von Politik.
Dass Skepsis gegenüber Mehrheitsherrschaft wenig demokratisch ist,
versteht sich von selbst. Es ist nicht möglich, Demokratie so zu bestimmen,
dass die praktische politische Relevanz von Mehrheiten verschwindet.2 Interessanter als das fehlende demokratische Bekenntnis ist aber die irrige
politische Diagnose, die der Kritik an Mehrheitsherrschaft zugrunde liegt.
Sie ignoriert, dass es Minderheitenschutz nur dort gibt, wo Mehrheiten
gezählt werden. Mehrheitsherrschaft ist vielleicht keine hinreichende, aber
doch eine notwendige Bedingung für funktionierende unpolitische Institutionen. Eine unabhängige Gerichtsbarkeit und eine zuverlässige Bürokratie
gibt es empirisch jedenfalls nur in Demokratien, also dort, wo das politische
1
Vgl. George Orwell, Freedom of the Park. In: The Collected Essays, Journalism
and Letters of George Orwell. New York: Harcourt Brace Jovanovich 1968.
2 Zu diesem erstaunlich selten ausgesprochenen Zusammenhang vgl. Liav Orgad,
The Cultural Defense of Nations. A Liberal Theory of Majority Rights. Oxford
University Press 2016.
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System so viel Sinn für ergebnisoffene Verfahren hat, dass es diese vervielfachen und aus einer direkten politischen Anbindung entlassen kann. Solche
Freiheitsgrade manifestieren sich in föderaler Vielfalt, in unabhängigen Gerichten und eben auch in freien Wahlen. Nur wo jede Stimme zählt, liegen
die Voraussetzungen für Minderheitenschutz bereit. Wo sie fehlen, wird es
Institutionen, die dem Minderheitenschutz dienen und politisch unabhängig sind, nicht geben. Das Deutschland des späten 19. Jahrhunderts mag ein
Rechtsstaat ohne Demokratie gewesen sein. Heute findet sich ein solches
Gebilde nicht mehr auf der Landkarte.
In unpolitische Institutionen zu vertrauen, ohne sich um politische zu
kümmern, ist politisch naiv. Es ist aber auch nützlich. Dort, wo sich Beamte,
Richterinnen und Forscher um die Offenheit ihrer Verfahren kümmern, ist
der Rest der Bürgerschaft von dieser Pflicht ebenso befreit wie von der Verantwortung für den Fall ihres Scheiterns.
Ohne Parteien
Niemand mag politische Parteien, und das ist nichts Neues. Ihr Aufkommen
war ein theoretisch nicht vorgedachter Betriebsunfall praktizierter Demokratie. Bis heute findet die politische Philosophie keinen rechten Ort für sie.3
Ihre Funktion, zwischen einem eingesessenen gesellschaftlichen Establish­
ment und dem demokratischen Wahlvolk zu vermitteln, bestätigt den Verdacht, dass Parteien demokratische Herrschaft weniger ermöglichen als
verhindern, indem sie eine weitere Ebene korporatistischer Oligarchie in
die Politik einbauen.
Der Widerspruch zwischen allgemeiner Abneigung und der schwer zu
bestreitenden praktischen Notwendigkeit von Parteien für Demokratien
ließ sich solange überdecken, wie Parteien zumindest Teilhabe an Macht
versprachen. Heute haben sie in westlichen Demokratien auch deswegen
einen so schlechten Ruf, weil niemand mehr an dieses Versprechen glaubt.
Im Verfall politischer Parteien verbindet sich die politische Selbstentmächtigung derjenigen, die von ihrer Herrschaft profitieren könnten, mit einer
Radikalisierung moralischer Anforderungen an Politik.
Da Parteiarbeit als kleinkariert und unglamourös gilt – und zwar absolut
zu Recht –, bleibt damit unklar, wer sich mit ihr abgeben will. In Deutschland sind dies jedenfalls nicht nur Leute mit anderweitigen Karriereaussichten. Auch in anderen Ländern gibt es einen spürbaren Niveau- und
3
Vgl. zuletzt Jonathan White / Lea Ypi, The Meaning of Partisanship. Oxford
University Press 2016.
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Einflussverlust des politischen Establishments. Zudem werden politische
Parteien durch basisdemokratische Willensbildung radikalisiert und bieten
damit immer weniger allgemein wählbare Alternativen. Die Einsicht, dass
politische Prozesse organisiert und vermittelt werden müssen und nicht auf
allen Ebenen egalitär und öffentlich ausgestaltet sein können, gilt mehr und
mehr als undemokratisch.4 Mit dem Sieg von Transparenz- und basisdemokratischen Idealen schlägt jede parteiinterne politische Bewegung schnell
ungefiltert auf das allgemeine politische System durch – und dieses Durchschlagen bestätigt dann noch einmal den Zweifel an demokratischer Politik,
der doch Ursache des Problems ist. Wer die Mühen und die Undurchsichtigkeit repräsentativer Prozesse nicht mag, bekommt das Präsidialplebiszit
mit allen Folgen. So kann das Publikum der Parteiendemokratie vorwerfen,
sie sei zu wenig demokratisch, der direkten Demokratie aber, sie sei es zu
viel. Weil die Klage über zu viel Demokratie bis auf Weiteres nicht gut klingt,
klagt es nun über Populismus.
Die Wahl autoritärer Figuren ist nicht per se undemokratisch. Doch folgt
aus dieser Einsicht allein kein Argument gegen demokratische Herrschaft.
Dieser Schluss erschiene so, als würde man nach einem Asthma-Anfall das
Atmen einstellen, um den nächsten Anfall zu verhindern. Wer die Ordnung
der Gleichen aufgibt, wenn sie falsche Entscheidungen trifft, hat sich von
vornherein nicht auf sie eingelassen und sollte besser nach Autokratien suchen, die dem eigenen Lebenskreis nutzen. Dies ist freilich ein riskantes
Geschäft. So wenig die Berufung auf das »Volk« per se demokratisch ist, so
wenig sind autoritäre Bewegungen per se undemokratisch – und vielleicht
sind sie nicht zuletzt durch eine bürgerliche Verachtung gegenüber demokratischen Prozessen mitmotiviert. Eben diese Verachtung dürfte es liberalen Mittelschichten wiederum schwer machen, das Problem zu erkennen
und sich selbst zu mobilisieren. Sie bleiben in einer sich selbst verstärkenden
Skepsis befangen.
Aussageloses Eigeninteresse
Geht nicht alles gut, solange jeder an sich denkt? Auch diese liberale In­
tui­tion funktioniert nicht. Der Brexit ist dafür nur das sichtbarste Beispiel.
Mit erstauntem Unbehagen beobachtet das Publikum, wie schwer sich das
wirtschaftliche Establishment selbst in angelsächsischen Ländern damit tut,
eine Freihandelsagenda am Leben zu erhalten. In Britannien, dem Mutter4
Vgl. Nadia Urbinati, Democracy Disfigured. Opinion, Truth, and the People.
Cambridge / Mass.: Harvard University Press 2014.
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land liberaler Mäßigung, regiert von einer zutiefst wirtschaftsfreundlichen
Partei, ist diese Bremse des Volkswillens außer Kraft gesetzt. Und wenn sie
dort nicht funktioniert, kann sie überall kaputtgehen.
Seit längerem fragen sich Beobachter, warum politische Parteien auch von
denen gewählt werden, die als Erste an ihrer Wirtschaftspolitik leiden.5 Die
Befürworter des Brexit seien, so erklären uns etwas mitleidige Kommentare,
die ersten Opfer ihrer eigenen Entscheidung. Das ist zu kurz gedacht. Ohnehin wählt niemand allein nach seinen wirtschaftlichen Interessen. Vor allem
ist es anmaßend, Wähler auf wirtschaftliche Präferenzen zu reduzieren, weil
sie sich keine anderen leisten können. Dann müsste genug verdienen, wer
eine Partei wählen will, die gegen Abtreibung eintritt. Einerseits wird die
besitzbürgerliche Vereinzelung der Bürger gerade von Linken immer neu
beklagt,6 auf der anderen Seite werden Wähler als irrational bezeichnet,
wenn sie sich über andere als ihre höchstpersönlichen Probleme politisieren.
Kaum jemand kann seine eigenen wirtschaftlichen Interessen hinreichend
genau definieren. Wir haben keine Ahnung, welche politischen Entscheidungen welche konkreten Folgen für den eigenen wirtschaftlichen Status haben.
Soweit wir wissen, hat die Liberalisierung des Welthandels bürgerliche Mittelschichten in Asien aufgebaut, aber in Europa und den Vereinigten Staaten
leiden lassen.7 Dies mag für manche europäischen Staaten ein größeres Problem sein als für andere, so wie sich die Ursachen sozialer Ungleichheit in
verschiedenen Staaten unterschiedlich darstellen. Wenn die Welt so schwer
zu überschauen ist, verliert das Kriterium des liberalen Eigennutzes seinen
politischen Sinn. Das bedeutet nicht, dass es in der Wirtschaftspolitik nicht
bessere und schlechtere Entscheidungen gäbe. Es ist gut möglich, dass unter
dem Brexit Briten und Europäer, Arme und Reiche leiden werden. Aber
trotzdem lassen sich solche individuellen ökonomischen Nutzenkalküle nur
mit politischer Vermittlung denken, also nicht nur über das Versprechen
von konkretem Nutzen, sondern auch über die Verpflichtung der Wählenden auf bestimmte normative Kriterien ihrer Politik. Das Vertrauen darauf,
dass sich niemand selbst schaden werde, leidet an zu vielen Ungewissheiten
sowohl hinsichtlich ökonomischer Kausalitäten als auch hinsichtlich der
5
Für die amerikanischen Republikaner vgl. Thomas Frank, What’s the Matter with
Kansas? How Conservatives Won the Heart of America. New York: Metropolitan
Books 2004.
6 Nicht zuletzt mit Neulektüren der Marx’schen Judenfrage vgl. Christoph Menke,
Kritik der Rechte. Berlin: Suhrkamp 2015.
7 Vgl. Branko Milanovič, Global Inequality. A New Approach for the Age of
Globalization. Cambridge / Mass.: Harvard University Press 2016.
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Härte normativer Maßstäbe, die es gebieten, eigene Nachteile im Namen
eines Prinzips in Kauf zu nehmen.
Emanzipatorischer Fortschritt als Politik
Lange Zeit schienen amerikanische Linksliberale davon auszugehen, dass
sich die politische Auseinandersetzung mit den Republikanern irgendwann
durch den demografischen Fortschritt erledigen werde. Es müssten nur genug Hispanics und Asian Americans nachwachsen, um das reaktio­näre weiße Amerika zu majorisieren. In Deutschland wird ein vergleichbares libe­
rales Fortschrittsnarrativ mithilfe von Grundrechten formuliert, Gerichten
überlassen und dann als Verfassungskonsens festgeschrieben. Zuletzt geschah dies bei der allerdings immer noch nicht vollendeten Gleichstellung
homosexueller Lebensgemeinschaften. Beide Narrative versöhnten – mit
manchen systematischen Brüchen – ein bürgerliches Fortschrittsbewusstsein mit demokratischer Politik. Mit beiden ist man nicht schlecht gefahren.
Beide stoßen heute an ihre Grenzen.
Das Problem emanzipatorischer Politik liegt nicht in ihrer fragmentierenden Fixierung auf die Identitätspolitik von Minderheiten, wie seit Trumps
Wahl für die USA vermutet wird.8 Hier unterscheiden sich amerikanische
und deutsche Politik. Politisch klug ist es, die Diskriminierungserfahrungen, die emanzipatorische Politik in Bewegung halten, nicht sozial selektiv
auszuwählen. Oft steckt in der Diskriminierung von Gruppen auch eine
Diskriminierung von Schichten. Damit lässt sich das Emanzipationsprojekt
nicht mehr an die Demografie oder die Gerichte delegieren – aber das spricht
nicht gegen das Projekt selbst.
Emanzipatorische Politik glaubt freilich an einen Fortschritt, der sich in
der Durchsetzung des moralisch Richtigen manifestiert. Das Problem emanzipatorischer Politik liegt daher in der Frage, wann ein politisches Anliegen
auch als moralisches ausgewiesen werden sollte. Natürlich gelten für die
Behandlung von Flüchtlingen oder die Gleichstellung Homosexueller moralische Argumente. Nur sind die politischen Nebenwirkungen zu beachten,
wenn man sie verwendet. Eine besteht im Ausschluss der politischen Gegner.
Der kann richtig sein. Nicht alle Fragen sind moralisch verhandelbar – und
die Unsicherheit bei der Formulierung einer solchen Grenze ist ein großes
Problem. Aber diese Schwierigkeit hängt auch damit zusammen, dass mehr
Fragen moralisch verhandelbar sind, als uns lieb sein kann. Das Anzünden
8
Vgl. Mark Lilla, The End of Identity Liberalism. In: New York Times vom
18. November 2016.
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von Flüchtlingsheimen ist nicht moralisch verhandelbar, aber die Grenzöffnung schon. Wer Letztere moralisch festzurrt, vertreibt die Gegenseite aus
dem etablierten politischen Diskurs. In der deutschen Diskussion zeigt sich
das an dem geradezu lachhaften Ärger großer Teile des liberalen Milieus
verschiedener politischer Affiliationen – von Rot-Grün bis zur CDU – über
die CSU. Die CSU war gegen die Grenzöffnung und ist für eine quantitative
Begrenzung der Zuwanderung. Vieles spricht dagegen, aber es ist eine Posi­
tion, die innerhalb des etablierten politischen Diskurses möglich bleiben
muss. Wer sie für moralisch unzulässig erklärt, verengt den Raum legitimer Politik, so dass bestimmte Positionen sich einen Ort außerhalb dieses
Raums suchen. Das »bürgerliche Lager« wird dann so bestimmt, dass viele
Bürger aus ihm herausfallen.
Nicht wirklich hilfreich ist dabei die verbreitete Begeisterung für die
Position der Kirchen in der Flüchtlingspolitik.9 Für Christen gibt es gute
theologische Gründe, gegenüber Flüchtlingen barmherzig zu sein. Was aber
bedeuten gute theologische Gründe in einer Demokratie? Wer sich an der
Rolle der Kirchen erwärmt, ohne an ihren theologischen Grundlagen teilzuhaben, sollte sich bei anderer Gelegenheit nicht über Einmischung beklagen.
Der Kampf gegen die politische Bevormundung durch die Kirchen stand am
Anfang der liberalen Bundesrepublik. Um seinetwillen trat Ernst-Wolfgang
Böckenförde in die SPD ein. Heute wird das Problem politisch überdeterminierter Religion nur noch gesehen, wenn das Ergebnis nicht stimmt.
Durch starke moralische Unterfütterung politischer Positionen werden
nicht nur extreme Gegenpositionen ermächtigt, sondern letztlich auch die
eigenen Positionen politisch geschwächt. Moralische Positionen erschweren Kompromisse und Koalitionen. Sie verhindern sie nicht, führen aber oft
dazu, dass sie nicht mehr als solche bezeichnet werden können – was das
Publikum bemerkt, als Heuchelei deutet und zum Anlass nimmt, das politische System umso mehr zu verachten. Exakt so geschah es in der Flüchtlingspolitik. Nachdem die Bundesrepublik jahrelang die Verlagerung des
Problems an die europäischen Außengrenzen betrieben hatte, rechtfertigte
sie mit einem Mal mit einer moralisch hochgezonten Begründung die Grenzöffnung, um sich dann wieder von ihr abzuwenden, ohne diesen letzten
Schritt jemals öffentlich gerechtfertigt zu haben.
9
Einsame kritische Verwunderung bei Hans Joas, Kirche als Moralagentur?
München: Kösel 2016.
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Rationalnationalismus der Mitte
Wenn Politik sich in eine Gemengelage von Rechten, Moral und Fortschrittsglaube auflösen ließe, könnte sie auf nationale Identitäten verzichten. Für
einen solchen Verzicht war die alte Bundesrepublik berühmt – bei manchen berüchtigt.10 Freilich ist nicht ganz klar, wie relevant dieser Verzicht
war, weil Nationalismen in der Ära des Kalten Kriegs kaum eine politische Funktion erfüllten. Heute ist dies anders. In der Europapolitik ist die
Überzeugung, dass Deutsche die besseren Europäer seien, in Deutschland
so verbreitet, dass schon der Bundesaußenminister sein eigenes Volk vor ihr
warnt.11 In vielen Mitgliedstaaten der Europäischen Union gilt die Verbindung von Sparsamkeit gegenüber Griechenland, einem Mitglied der EU, und
Offenheit gegenüber außereuropäischen Flüchtlingen als recht erratisch, jedenfalls sicher nicht als europafreundlich. Beide Entscheidungen galten in
Deutschland verbreitet als so offensichtlich korrekt, dass über Vermittlung
in der EU und ihre Folgen für das deutsche Bild wenig gesprochen wurde. In
beiden Fällen schienen mit diesen Entscheidungen Tugenden verwirklicht zu
werden, einmal Eigenverantwortung und Sparsamkeit, einmal Hilfsbereitschaft, und diese Tugenden gelten als nationale Tugenden.
Es geht nicht darum, Nationalstolz zu kritisieren. Diese unergiebige Debatte hat die alte Bundesrepublik lange genug begleitet. Eigentümlich ist
dieser Stolz aber als Element eines Weltbilds, das auf Politik verzichten will.
Es ist ein Stolz, der seine eigene Existenz leugnet. Unvergessen die Szene, als
die Bundeskanzlerin nach gewonnener Bundestagswahl Hermann Gröhe
die Bundesfahne entwand. Man ist vielmehr stolz darauf, der beste Universalist zu sein, also partikular stolz im Namen von Universalien wie dem
Respekt vor der Menschenwürde oder der richtigen Form der Europapolitik.
Ein solcher Stolz sieht sich als Konsequenz der Fähigkeit, das Richtige tun
zu können. Er kommt nicht aus Liebe zum eigenen Land, gegen die nichts
zu sagen wäre, sondern daraus, dass das eigene Land gegenüber anderen
Ländern Recht behält. Damit dient auch diese Art von Stolz dazu, sich über
andere Länder, bemerkenswert häufig über andere europäische Länder, zu
erheben. Am deutlichsten wird dies an der Gewissheit, fundamental besser
zu funktionieren als Frankreich – ein Land, dessen wirtschaftliche und intellektuelle Kraft hierzulande vielfach unterschätzt wird. Hier tritt eine Art
irregeleiteter Kantianismus auf den Plan, der Politik durch gute Gründe zu
ersetzen sucht, ohne sich in die Position der anderen versetzen zu wollen.
10 Vgl. Karl Heinz Bohrer, Die Ästhetik des Staates. In: Merkur, Nr. 423, Januar 1984.
11 Sigmar Gabriel an der Hertie School of
Governance Berlin am 16. März 2017.
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Politisch ist eine solche Rationalisierung des eigenen Überlegenheitsgefühls
gefährlicher als ein Nationalstolz aus Heimatliebe, der sich auch darauf
einlassen kann, was im eigenen Land alles schief läuft.
Der Untergang der Fakten – und der politischen List
Das postfaktische Zeitalter nimmt der bürgerlichen Mitte eine weitere Stütze, um damit noch eine Bestätigung für deren Skepsis gegenüber der Politik
zu liefern. Natürlich können wir uns wieder und wieder über politisch kultivierte Wissensignoranz aufregen. Seltener wird die wissenssoziologische
Binsenweisheit ausgesprochen, dass zwischen dem Anspruch auf faktische
Richtigkeit, der Ausdifferenzierung von Expertise und der Etablierung eines
bürgerlichen Stands ein Zusammenhang besteht. Modernisierung verlangt
nach ausdifferenziertem Wissen und damit nach Expertentum, aber Expertentum ist kein gesellschaftlich neutrales Phänomen. Umgekehrt muss jeder demokratische Prozess eine bei allen Bürgern gleichverteilte politische
Urteilskraft unterstellen. Der Widerspruch lässt sich kleinarbeiten, etwa
mithilfe der Unterscheidung zwischen politischen und technischen Fragen,
verschwinden wird er nicht. Bürgerliche Mittelschichten haben sowohl ein
ökonomisches Interesse an Expertise, weil sie oft von ihrer eigenen leben,
als auch ein politisches, weil sie Ungleichheit zu ihren eigenen Gunsten legitimiert. Dazu gehört auch die Abschließung sozialer Sphären von »Akademikern« und »Nichtakademikern«, die seit kurzem auch in den Vereinigten
Staaten als Haben oder Fehlen eines College-Degrees zu einer politisch relevanten Unterscheidung wurde. Im Ergebnis hat die Kritik am Expertenwesen auch dann einen demokratischen Punkt, wenn sie nicht so gemeint ist.
»Science-Märsche« fallen vor diesem Hintergrund unter die Rubrik LobbyAktionen mit erfreulichen Anliegen – das politische Problem verfehlen sie.
Dass die demonstrierenden Wissenschaftler unter einem Slogan des politischen Sachzwangs marschierten (»Zu Fakten gibt es keine Alternative«)
dokumentiert diese Blauäugigkeit aufs Drastischste.
Dass rechtsautoritäre Bewegungen die Erinnerung an Genozide in Zweifel ziehen, erfüllt vor diesem Hintergrund einen doppelten Zweck. Zum
einen identifizieren sie sich dadurch mit ihren totalitären Vorbildern. Zum
anderen suchen sie eine ihrem eigenen politischen Projekt im Wege stehende
Funktion der Erinnerungskultur zu stören, nämlich die Verbindung eines
historischen Faktums mit dessen moralisch eindeutiger Bewertung. Diese
Verbindung hilft liberalen Systemen über ihre eigene moralische Ambiguität
hinwegzukommen. In einer komplexen Welt, in der jeder Konsument und
jede Touristin schnell zum Komplizen moralisch anfechtbarer Praktiken
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wird, suchen alle umso mehr nach einem Stück moralischer Eindeutigkeit
in Form historischer Wahrheit. Die ihrerseits nicht ohne historische Expertise funktionierende Erinnerungskultur liefert hier einen archimedischen
Punkt.
Solche Punkte sind kostbar, weil sie selten sind. Aus Fakten allein folgen
keine politischen Handlungsanweisungen. Die meisten Fakten sehen aus
wie die in der Debatte um den Klimawandel, in der das Phänomen nicht zu
bestreiten ist, aber unklar bleibt, was aus ihm folgen sollte. Sich über »Klimaleugner« aufzuregen greift zu kurz, denn es geht darum, dass die Einsicht
in den Klimawandel nicht davor bewahrt, mit ihm politisch umzugehen.
Aus Fakten folgt keine Politik, ja es gehört umgekehrt sogar zu jedem
politischen Prozess, mit Fakten frei umzugehen. Dieser freie Umgang ist in
liberalen Ordnungen das zentrale Gut der Meinungsfreiheit. Gerichte unterstellen, dass sich im Normalfall Fakten und Meinungen in einer Äußerung
vermischen – und dass diese Mischung im Ganzen von der Meinungsfreiheit
zu schützen ist. Nicht geschützt sind nachweisbare und intendierte Unwahrheiten. Die Grenze zu ziehen zwischen einer vertretbaren politischen Halbwahrheit und einer glatten Lüge ist schwierig, aber juristisch und politisch
notwendig – jedenfalls soweit wir im Ergebnis Wert darauf legen, zwischen
Adenauer und Trump unterscheiden zu können. Diese Unterscheidung verlangt, den politischen Prozess nicht als eine Kombination aus faktischem
Sachzwang und moralischer Vorgabe zu verstehen. Wo der Raum für poli­
tische Halbwahrheiten nicht geöffnet bleibt, bricht sich die postfaktische
Lügenwelt Bahn.
Die ungeliebten Praktiken des Politischen
Sollten Parteien, die die Meinungsfreiheit bekämpfen und Minderheiten
bedrohen, »fair« behandelt werden? Das ist keine einfach zu beantwortende
Frage. Jedenfalls kann eine politische Auseinandersetzung, in der Umgangsregeln nur von einer Seite beachtet werden, nicht gelingen. Auch hier wäre
besser zwischen rechtlichen, moralischen und politischen Normen unterschieden. Listen und Halbwahrheiten gehören wie Kompromisse zu den
ungeliebten Praktiken des Politischen, dieser eigenartigen Kulturtechnik,
die darauf angewiesen zu sein scheint, Überzeugungen zugleich zu besitzen,
zu bewahren und zu verraten. Was dem Publikum wie Heuchelei erscheint,
könnte praktizierte Demut sein, die weiß, dass sie mit endlichen Gegenständen handelt, die den Wert des Zweifels an den eigenen Überzeugungen nicht
für eine Schwäche hält und die damit leben kann, sich nicht durchzusetzen.
Wirklich moralisch attraktiv ist das nicht. Wenn es in der Politik darum geht,
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Mehrheiten zu beschaffen, dann erscheint das zugleich zu wenig erbaulich
und zu wenig profitabel.
Die Abneigung gegenüber der Praxis der Politik im Inneren hat ihr Pendant in der auswärtigen Politik. Nach 1989 erschien die Möglichkeit greifbar,
Außenpolitik im Aufbau internationaler Institutionen aufgehen zu lassen,
die moralische und technische Anliegen miteinander verbinden. Der Traum
währte bekanntlich nur ein gutes Jahrzehnt und ging mit dem 11. September
2001 zu Ende. Heute wirken die außenpolitischen Auseinandersetzungen
der letzten Jahre wie ein Spiegelbild der innenpolitischen Szene. Irritierte formsichere Bürger stoßen auf politische Rabauken. Doch beherrschen
diese Rabauken im Äußeren, namentlich die Russen, die alteuropäischen
Künste der diplomatischen Finten und Intrigen, die dem an Institutionen
und Regeln hängenden alten Westen abhanden gekommen zu sein scheinen.
Irgendeine Nostalgie für die alte Politik sollten wir uns sparen. Jeder kann
wissen, dass sie schlimmstenfalls viele Opfer hatte, bestenfalls ein Instrument faute de mieux ist, eine Kunst des Möglichen unter Bedingungen, in
denen weniger möglich ist, als zu wünschen wäre. Auch der Wunsch nach
mehr »Politisierung« klingt nur solange schön, wie er nicht in Erfüllung
geht. Sich an der Repolitisierung der Politik nicht ergötzen zu sollen, heißt
aber nicht, die Techniken des Politischen ignorieren zu dürfen. Sie gehören
zu der Art grauer Praktiken, mit denen man sich für den Fall der Fälle besser
vertraut machen sollte.12
Mobilisierung und Privatheit
Linksliberalen wie konservativen bürgerlichen Mittelschichten fällt es
schwer, sich politisch zu mobilisieren. Sie definieren sich über ihre Indivi­
dua­li­tät. Sie sind notorisch überbeschäftigt. Die Anforderungen des individuellen Erfolgs, der Selbstvervollkommnung und der Familiengründung
kosten Zeit und stehen politischem Engagement entgegen. Außerdem verstehen sich viele Bürger gar nicht als unpolitisch – und es ist nur zu verständlich, warum. Sie informieren sich und diskutieren, gehen zur Wahl, sie
erziehen ihre Kinder, sie engagieren sich in Vereinen, und sie gehen für die
Europäische Union oder die Fakten auf die Straße.
12 Vor diesem Hintergrund ist das Aufkommen von Ratgeberliteratur durchaus
willkommen. Vgl. Masha Gessen, Autocracy: Rules for Survival. In: NYRB vom
10. November 2016; Timothy Snyder, On Tyranny. Twenty Lessons from the
Twentieth Century. New York: Tim Duggan Books 2017.
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Aber so wichtig all dies sein mag, so ist doch immer weniger klar, ob
es genügt. Solche Formen des Engagements konnten früher auf eine Arbeitsteilung mit dem funktionierenden politischen System vertrauen, das
vielleicht die eine oder andere unliebsame Regierung, aber doch nicht das
Ende der Ordnung bringen würde. Zugleich besteht gerade bei engagierten
Mittelschichten, die über besondere Ausdrucksmöglichkeiten verfügen, die
Tendenz, mit politischen Motiven noch einmal zu tun, was ohnehin getan
wird: Geld für ein Projekt organisieren, Webseiten designen, Aufsätze im
Merkur schreiben, Projekte planen oder Unterschriften sammeln. Dagegen
ist nichts zu sagen, nur dürfte es sich als Selbsttäuschung erweisen, dies als
genuin politisches Engagement zu verstehen. Wer die Ordnung so, wie sie
ist, für schützenswert hält, wird sich ihren politischen Formen anvertrauen
müssen – und das bedeutet vor allem anderen, in politische Parteien einzutreten und einen relevanten Teil seiner Zeit in diesen zu verbringen. Wer Demokratie und Freiheit für Lebensformen hält, wird sie nicht an das System
delegieren und sich über dieses beklagen dürfen.
Die Bevölkerung in Deutschland hat in den letzten Jahren an vielen Fronten eine erstaunliche Gelassenheit gezeigt: bei terroristischen Anschlägen,
die ohne Hysterie zur Kenntnis genommen wurden, oder bei der Konfrontation damit, dass die ökonomischen Erfolgschancen der nach 1960 Geborenen deutlich unter denen ihrer Eltern liegen dürften. Weiterhin liegt über
den meisten Teilen des Landes wenig Angst und Verbitterung in der Luft.
Vielleicht wird es einfach so bleiben. Vielleicht wäre es auch besser, sich
ernsthaft darauf einzurichten, dass dies eine unwahrscheinliche Variante ist.
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