Die Zeit in Karten

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1. Gedruckte Zeit
wenn technologische Fragen in unseren Ausführungen immer
chen ihre Olympischen Spiele, die Römer ihre Konsuln usw.
wieder auftauchen, so spielen sie doch nie die entscheidende
Die älteste erhaltene griechische Zeittafel ist eine Liste von
Rolle. Die grundsätzlichen Probleme hier sind vielmehr kon-
Herrschern, Ereignissen und Erfindungen, die 264/3 v. Chr. in
zeptioneller Natur. Ende des 18. Jahrhunderts, als die Zeitleiste
Marmor gehauen wurde [Abb. 4]; die aufwendigste römische
in Europa in Mode kam, verwendeten Drucker und Graveure
Zeittafel wurde zur Zeit von Augustus angefertigt und bestand
längst äußerst fortschrittliche Technologien; insbesondere die
aus Listen der Konsuln und Triumphe, zu bewundern auf dem
Methoden der geometrischen Darstellung und Projektion wa-
Forum Romanum. Lakoff und Johnson haben darauf hinge-
ren viel weiter entwickelt, als es für ein so simples Diagramm
wiesen, dass auch dort wieder überall die Linie auftaucht – als
notwendig gewesen wäre. Außerdem hatte man die visuelle
Gestaltungselement, aber auch als verbale Metapher. Und doch
Darstellung chronologischer Informationen im 18. Jahrhundert
hat die einfache Zeitleiste, die uns heute so selbstverständlich
längst als Problem identifiziert.
erscheint, in keiner dieser Kulturen mit all ihren verschiede-
Von der Antike bis zur Moderne hat jede Kultur ihre eige-
nen Darstellungsformen eine Rolle gespielt. Als Norm, als eine
nen Praktiken dafür entwickelt, die Ereignisse, die ihr beson-
Art idealer Standard dessen, wie wir uns vorstellen, dass Ge-
ders wichtig erschienen, herauszupicken und in Listen zu fas-
schichte aussieht, taucht die Zeitleiste tatsächlich erst in der Mo-
sen. Die Juden und Perser listeten ihre Könige auf, die Grie-
derne auf.
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Die Zeit in Karten
[5 – 6] Diese Kopie der von Hieronymus adaptierten und ins Lateinische über-
bius die darin enthaltenen Chronologien in parallelen Spalten;
setzten Chronik des Eusebius gehört dem Merton College der University of
den Ausgangspunkt bildeten dabei der Patriarch Abraham und
Oxford; sie wurde Mitte des 5. Jahrhunderts in Italien in roter, grüner und
die Gründung von Assyrien. Eusebius’ Leser wurden so Seite
schwarzer Tinte transkribiert und umfasst 156 Blätter. Sie teilt sich einen Einband mit der Chronik des Marcellinus Comes.
um Seite Zeugen des Aufstiegs und Niedergangs von Imperien
und Königreichen, bis sie alle – selbst das Königreich der Juden – unter die Herrschaft Roms gerieten, gerade rechtzeitig,
dass die frohe Botschaft des Erlösers die gesamte Menschheit
Die Historiker des Altertums und des Mittelalters verwen-
erreichen konnte. Beim Vergleich der einzelnen Geschichten
deten ihre ganz eigenen Techniken, chronologische Informati-
und ihrer immer wiederkehrenden Muster konnte der Leser
onen festzuhalten [Abb. 5 – 6]. Ab dem 4. Jahrhundert war dies
erkennen, dass hier die Vorsehung am Werk war.
in Europa in den meisten Fällen die Tabelle. Auch wenn man
Als Eusebius seine übersichtlich gestaltete Chronik entwi-
in alten Chronologien viele verschiedene Darstellungsformen
ckelte, kam unter den Christen gerade der Kodex auf, das ge-
findet, so besaß die Tabelle unter den Gelehrten der damaligen
bundene Buch, und ersetzte die althergebrachte Schriftrolle.
Zeit in etwa die gleiche normative Kraft wie heute die Zeitleis-
Wie andere christliche Innovationen im Buchwesen spiegelten
te. Zum Teil geht die große Bedeutung, die der Tabelle ab dem
auch die parallelen Tabellen und die übersichtliche Ordnung
4. Jahrhundert zukam, auf den christlichen Gelehrten Eusebius
der in Jahre und Jahrzehnte eingeteilten Chronik den Wunsch
aus Rom zurück. Eusebius hatte bereits im 4. Jahrhundert eine
der frühen christlichen Gelehrten wider, die Bibel und ihre
recht fortschrittliche Tabellenstruktur entwickelt, die es ihm
wichtigsten Quellen zugänglicher zu machen; man brauchte
erlaubte, verschiedene Chronologien aus historischen Quellen
vor allem Referenzwerke, die sich zum schnellen Nachschlagen
aus allen Teilen der bekannten Welt zu organisieren und mit-
eigneten. Die Chronik wurde im Mittelalter oft gelesen, kopiert
einander in Einklang zu bringen. Um die Beziehungen zwi-
und vielfach nachgeahmt. Sie erfüllte ein Bedürfnis nach Präzi-
schen der jüdischen, heidnischen und christlichen Geschichts-
sion, das andere beliebte Darstellungsformen (wie der Stamm-
schreibung klar und deutlich darzustellen, verzeichnete Euse-
baum) einfach nicht befriedigen konnten.
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1. Gedruckte Zeit
[7] Der Fall Trojas, Chronik des
Eusebius, 15. Jahrhundert.
Eusebius’ chronografische Tabellen erwiesen sich als er-
In der Renaissance entwickelten Gelehrte neue Methoden
staunlich langlebig, und als sich die Humanisten des 15. und
der visuellen Organisation und passten althergebrachte For-
16. Jahrhunderts wieder dafür zu interessieren begannen,
men, die mitunter beinahe in Vergessenheit geraten waren, an
chronologische Intervalle festzulegen, gerieten diese Tabellen
das Format des gedruckten Buches an. Dennoch blieb Eusebi-
erneut ins Zentrum des allgemeinen Interesses [Abb. 7]. Moder-
us’ Chronik bis Mitte des 18. Jahrhunderts das maßgebliche Vor-
ne Eusebius-Ausgaben gehörten zu den ersten gedruckten Bü-
bild: eine ganz einfache Matrix mit den Namen der Königrei-
chern überhaupt, und man fand die Chronik damals im Bücher-
che am oberen Rand und Spalten mit Jahreszahlen links oder
regal aller ernstzunehmenden humanistischen
Gelehrten.15
Ves-
rechts. Diese visuelle Struktur eignete sich besonders gut für
pasiano da Bisticci, ein Buchhändler im Florenz des 15. Jahrhun-
die Belange der Renaissance-Gelehrten. Sie erleichterte das Or-
derts und zugleich ein brillanter Impresario der Buchprodukti-
ganisieren und Koordinieren chronologischer Daten aus ver-
on, brachte eine überarbeitete Fassung von Eusebius’ Werk auf
schiedenen Quellen. Man konnte nahezu jede Art von Daten in
den Markt, das unter Wissenschaftlern und auch ganz norma-
ihr unterbringen und sich dabei zugleich mit den Schwierigkei-
len Lesern zum Bestseller wurde. Humanisten wie Petrarca fas-
ten auseinandersetzen, die unvermeidlich auftraten, wenn man
zinierte die historische und kulturelle Distanz zu den von ihnen
die Historien verschiedener Kulturen, die ganz unterschiedli-
bewunderten antiken Autoren – und zu ihrer eigenen Nachwelt.
che Konzepte von Zeit besaßen, miteinander vereinigen wollte.
Petrarca verfasste Briefe an Cicero und Vergil, aber auch an sei-
Eine solche Struktur ließ sich leicht herstellen und korrigieren,
ne zukünftigen Leser. Dabei gab er stets das genaue Datum an
und sie erlaubte einen schnellen Zugriff auf ihre unterschied-
und wies darauf hin, wie viel Zeit ihn von seinen Adressaten
lichen Daten – ein Aspekt, den vor allem die Drucker noch er-
trennte: „Verfasst im Land der Lebenden; am rechten Ufer der
weiterten, indem sie Hilfsmittel wie alphabetische Indizes hin-
Etsch, in Verona, einer Stadt im transpadanischen Italien; am 16.
zufügten. Darüber hinaus diente sie weiterhin als detailliertes
Juni im Jahr jenes Gottes, den du nie kanntest, 1345.“ Bei der
Diagramm der „Zeit der Vorsehung“. Aus grafischer Sicht glich
Darstellung dieser chronologischen Distanzen orientierte er sich
sie einer chronologischen Wunderkammer, die die christliche
am antiken Vorbild Eusebius.16
Weltgeschichte in vielen kleinen Schubladen präsentierte.
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Die Zeit in Karten
Abgesehen davon gab es auch zahlreiche Experimente. Ei-
nischen Fortschritte in der Erstellung von Karten hatten auch
nige waren grafischer Natur, so etwa der Versuch, alle wich-
große Auswirkungen auf Wissenschaft und Politik: Spätestens
tigen historischen Ereignisse nicht mehr in einer chronologi-
im 17. Jahrhundert wurde die Landkarte zum Schlüsselsym-
schen Liste zu verzeichnen, die von der Schöpfung oder von
bol nicht nur für die Macht der Monarchen, sondern für die
Abraham bis in die Gegenwart verlief, sondern in einem Kalen-
Macht des Wissens überhaupt. Die Kartografie war ein Sinn-
der, der vom 1. Januar bis zum 31. Dezember reichte und dabei
bild für die neuen angewandten Wissenschaften – komplex und
jeweils auflistete, was an einem bestimmten Tag früher einmal
präzise zugleich, vermittelte sie zudem einen ganz unmittelba-
geschehen war. Daneben gab es auch technische Experimente.
ren Realismus.
In der Antike und im Mittelalter akzeptierten die Chronologen
Mit der Chronologie verhielt es sich, was die Detailtreue
die alten Listen mit ihren Herrschern und Ereignissen so, wie
angeht, ganz ähnlich. Zu jener Zeit begannen Astronomen und
sie waren, und sie taten ihr Bestes, sie in ein großes Ganzes zu
Historiker wie Gerhard Mercator (den man heute wiederum
integrieren. In der Renaissance hingegen wurden die Histori-
vor allem als Kartografen kennt), datierte Aufzeichnungen an-
ker ehrgeiziger und auch kritischer. Lehrer und Theoretiker
tiker und mittelalterlicher Historiker über Himmelsereignisse
behaupteten immer wieder, dass Chronologie und Geografie
zu sammeln. Man verzeichnete Ereignisse fortan nicht mehr
die zwei „Augen der Geschichte“ seien: Quellen präziser, un-
nur danach, in welchem Jahr sie stattgefunden hatten, sondern
bestreitbarer Informationen, die Ordnung in das offensichtli-
orientierte sich nun auch an Mond- und Sonnenfinsternissen,
che Chaos der historischen Ereignisse zu bringen vermochten.
die man auf den Tag und die Stunde genau datieren konnte.
Gerade in der Geografie passte die visuelle Metapher ganz
So wurden die Chronologien zunehmend exakt und in einem
wunderbar. Mithilfe neuer Erkenntnisse über das Aussehen
neuen Sinne überprüfbar. Die neue Leidenschaft für Präzisi-
der Erdoberfläche brachten die Kartografen der Renaissance
on kam dabei auch in den Bemühungen zum Ausdruck, die
die antiken Karten des Ptolemaios aus dem 2. Jahrhundert auf
Zeit auf neue Art und Weise darzustellen. So erlebte die frühe
den neuesten Stand – vollständig mit Nord- und Südamerika,
Neuzeit ein paar bemerkenswerte, wenngleich oft nur kurzle-
dem Indischen Ozean und vielen anderen Details. Die tech-
bige Versuche, eine „grafische Geschichte“ zu entwerfen – von
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1. Gedruckte Zeit
den lebhaften Darstellungen von Kriegen, Massakern und Auf-
mit diversen neuen Formen sahen Darstellungen der Zeit ir-
ständen, die Unternehmer und Künstler in Genf 1569/70 als
gendwie immer noch so aus wie die chronografischen Tabellen
eine zusammenhängende Reihe schufen, bis hin zu ausführ-
des vergangenen Jahrtausends.
lich illustrierten Geschichtsbänden und Reiseberichten, wie sie
das Verlagshaus Theodor de Bry in Frankfurt
produzierte.17
Erst Mitte des 18. Jahrhunderts entstand eine neue ge-
Für
meinsame Bildsprache für chronografische Diagramme, und
viele Autoren jener Zeit, wie Walter Raleigh, war die zeitliche
dieses neue lineare Format war so schnell überall akzeptiert,
Dimension der Geschichte von großer Bedeutung. Alexander
dass man sich binnen Jahrzehnten kaum noch daran erin-
Ross formulierte dies 1652 in seiner Fortsetzung von Raleighs
nern konnte, dass man jemals etwas anderes verwendet hatte.
History of the World folgendermaßen: „Zwar ist die Geschichte
Wie sich herausstellte, bestand die große Herausforderung der
der Körper, doch die Chronologie ist die Seele des historischen
Chronografie nämlich gerade nicht darin, immer komplexere
Wissens; denn Geschichte ohne Chronologie, also ohne Bezie-
visuelle Schemata zu entwickeln – das hatten die zahlreichen
hung zur Vergangenheit, ohne Erwähnung der Zeit, in der sie
Möchtegern-Innovatoren des 17. Jahrhunderts zu Genüge aus-
sich ereignet hat, ist wie eine unförmige Masse oder ein Em-
probiert. Vielmehr ging es darum, die Dinge zu vereinfachen
bryo ohne Ausdruck, wie ein Kadaver ohne
Leben.“18
Gegen Ende des 17. Jahrhunderts brachten technologische
Fortschritte im Druckwesen weitere Innovationen auf den
und ein simples visuelles Schema zu schaffen, das dennoch die
Gleichförmigkeit und Unumkehrbarkeit der historischen Zeit
unmissverständlich und klar zu kommunizieren vermochte.
Weg, und neue Techniken in der Gravur ermöglichten noch
Zu den wichtigsten Ereignissen jener Zeit gehörte die Veröf-
größere und detailliertere Buchillustrationen. Manche Chro-
fentlichung des Chart of Biography von dem englischen Wissen-
nologen bedienten sich in einzelnen Details bei den Kartogra-
schaftler und Theologen Joseph Priestley im Jahr 1765 [Abb. 8].
fen, was zu schönen Ergebnissen führte. Letztendlich blieb die
Was die grundlegende Technik betrifft, bot Priestleys Diagramm
direkte Anwendung der geografischen Metapher auf das Ge-
wenig Neues. Es handelte sich um ein einfaches Feld mit Jah-
biet der Chronologie aber unbefriedigend. Trotz enormer Fort-
reszahlen am oberen und unteren Rand. Die einzelnen Jahr-
schritte bei den Forschungsmethoden und vieler Experimente
zehnte waren mit Punkten markiert, ein wenig wie auf einem
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