Typische Familiendynamik bei essgestörten

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die dort zitierte Literatur). Bei diesen Patientinnen der „Mischgruppe“ sind weitere Studien
zur Familieninteraktion erforderlich, welche die jeweilige Ausprägung und ­Schwere der
bulimischen und anorektischen Symptomatik sowie die Ko-Morbidität mitberücksichtigen
(Reich 2005).
Fälle von männlicher Anorexie und Bulimie sind nach wie vor selten. In Familien anorektischer Patienten wurden Häufungen von Essstörungen, insbesondere anorektischer Art,
und anderer psychiatrischer Erkrankungen festgestellt. Die oberflächlich betrachtet normal funktionierenden Familien entmutigen Autonomieschritte. Die späteren Patienten
erscheinen als eng an ihre Mütter gebunden und von diesen kontrolliert. Vonseiten der
Väter besteht eine ablehnende oder abwertende Beziehung, sodass sie sich nicht von der
Mutter lösen und mit dem Vater identifizieren können, zumal die Mütter die Väter oft offen
oder verdeckt ablehnen. Mehrgenerational wurde beobachtet, dass die Mütter die späteren
­Patienten mit einem Geschwisterkind gleichsetzten, mit dem sie rivalisierten. Von daher
ist deren Beziehung zum späteren Patienten ebenfalls ambivalent. Auch bei Bulimikern
werden eine enge, ambivalente Mutterbindung und eine ablehnende oder distanzierte Beziehung des Vaters zu den späteren Patienten beschrieben. Bei beiden Krankheitsbildern
soll dementsprechend die sexuelle Kernidentität gestört sein. Die Patienten haben Schwierigkeiten, sich als ein sexuell begehrendes Wesen zu erleben (vgl. Reich 2003a und die hier
enthaltene Falldarstellung).
Typische Familiendynamik bei essgestörten Patientinnen
Spezifität versus typische Muster
Klinische Systematisierungen von familiendynamischen Merkmalen sind für die diagnostische Orientierung und das behandlungstechnische Vorgehen relevant. In der Diagnostik
von Familien mit essgestörten Patientinnen geht es darum, ob das dysfunktionale Essverhalten innerhalb des familiären Systems eine bestimmte Funktion hat. Im Gegensatz zu
den individuumzentrierten psychotherapeutischen Ansätzen betont das systemische Modell die Interdependenz und die zirkuläre Interaktion der beteiligten Personen.
In der Familientheorie und -therapie spielen Annahmen über einen Zusammenhang
zwischen einer spezifischen Familieninteraktion und einem definierten Krankheitsbild des
Patienten eine große Rolle. Man geht dann von mehr oder weniger starken kausal-linearen
Verknüpfungen zwischen Familienpathologie und individueller Erkrankung aus. Bei solchen Spezifitätsannahmen wird jedoch meistens der unterschiedliche Beitrag von individuellen, familiären und Umweltkomponenten bei der Entstehung einer seelischen Krankheit nicht genügend berücksichtigt. Auch wenn eine Systematisierung der beobachteten
Beziehungsstörungen für die klinische Arbeit wertvoll ist, gibt es doch keine Spezifität der
Interaktionsstörungen, z. B. für die Magersucht. Die Magersuchtsfamilie gibt es nicht. Deshalb spricht man von typischen und nicht von spezifischen Merkmalen.
Klinische Typen sind Zusammenfassungen von Merkmalen prägnanter Einzelfälle. Klinische Typologien stellen oft Extremgruppen gegenüber, wobei häufig unklar ist, ob sie
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Familiendynamik bei männlichen Patienten mit Anorexie oder Bulimie
M. Cierpka, G. Reich
der Mehrheit der Fälle entsprechen. Auch die in den oben genannten kontrollierten Studien festgestellten Unterschiede in bestimmten Merkmalen der Familieninteraktion, z. B.
zwischen den Familien bulimischer und anorektischer Patientinnen, treffen nicht auf alle
untersuchten Fälle zu, sondern lediglich jeweils auf die Mehrzahl der gerade untersuchten
Gruppe. Hieraus gebildete Muster sind nur für Teilgruppen typisch.
Ziel weiterer Forschung sind deshalb Beschreibungen der Familiendynamik, die von einem Spektrum unterschiedlicher Familien für bestimmte Krankheitsbilder ausgehen (Cierp­
ka 1989). Wenn die Gesamtgruppe charakterisiert werden soll, sind auch die heterogenen
Subtypen hervorzuheben. Wenn im Folgenden die Familien von Magersüchtigen und Bulimikerinnen typologisiert sind, wird außerdem von homogenen Krankheitsentitäten ausgegangen, die es häufig so nicht gibt. Die Mischgruppen bilden sich aus Mustern beider Familientypen. Weiterhin ist noch nicht ausreichend klar, zu welchem Grad die beobachtbaren
Interaktionen in den Familien das Ergebnis des belastenden Krankheitserlebens sind und
welchen Anteil sie als prädisponierender Faktor an der Entwicklung der Erkrankung haben.
Die folgenden Beschreibungen sind als dynamische Muster zu verstehen, die Therapeuten bei der Orientierung helfen sollen und können. Sie können in die Irre führen, wenn man
ihnen zu sehr vertraut und die eigenen Beobachtungen in vorgegebene Schemata zwängt.
Familiäre Muster bei Anorexie
Bereits frühe Beschreibungen der Erkrankung weisen auf die Bedeutung der Familien­
pathologie hin. Charcot (1889) empfahl die Trennung der Patientin von der Familie als Teil
der Behandlung. Gull (1874) sah in den Verwandten die am wenigsten geeigneten Betreuer
der Erkrankten. Lasegue (1873) beschrieb die auffallenden gegenseitigen Einmischungen
der Familienmitglieder und wies Kliniker mit Nachdruck darauf hin, die Familienpathologie nicht zu übersehen. In den vergangenen 40 Jahren haben verschiedene Autoren typische
­pathologische Familieninteraktionen von Familien mit anorektischen Mitgliedern beschrieben (Minuchin et al. 1978; Selvini Palazzoli 1978; Selvini Palazzoli et al. 1999; Sperling
1965; Sperling u. Massing 1970, 1972). Unter Zugrundelegung dieser Literatur, unserer
eigenen klinischen Erfahrungen und der oben genannten empirischen Untersuchungen zu
diesem Krankheitsbild kommen wir zu den im Folgenden genannten Merkmalen für die
Familien von Anorexiepatientinnen.
Norm- und Leistungsorientierung. Familien anorektischer Patientinnen fallen häufig
durch eine ausgeprägte Norm- und Leistungsorientierung auf. Manche erscheinen zunächst
sogar als regelrechte Bilderbuchfamilien: höflich, rechtschaffen und anständig, fleißig, immer um den anderen bemüht, die Kinder brav und fleißig, niemals laut und übermütig.
Die Harmonie des Paares scheint durch kein böses Wort getrübt. Man fällt nicht auf, protzt
nicht. Von Bruch (1973, 1978) wurde die Fassade von Stabilität und Glück betont, hinter der
sich in den Familien Anorexiekranker Desillusion und Konkurrenz der Eltern verstecken.
Die Orientiertheit am äußeren Eindruck sowie der Druck, es richtig und gut zu machen,
können zu einer oft nur unterschwellig spürbaren Angst führen, außerdem dazu, dass die
Beziehungen, auch die zwischen Eltern und Kindern, insbesondere zwischen Mutter und
Kind, kühl bleiben. Schon das Füttern des Babys ist kein lustvoller Akt, sondern Zufuhr von
Nährstoffen. Die Kinder werden oft schnell vernünftig, da schon frühzeitig an Einsicht und
an den Verstand appelliert wird (Selvini Palazzoli 1978).
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Überbehütung. Die Überbehütung findet in diesen Familien in dem unangemessenen
Grad gegenseitiger Fürsorge Ausdruck, die sich nicht auf die Patientin oder die Krankheit
beschränkt. Ernährende und beschützende Funktionen werden ständig geweckt und bereitgestellt. Die Überbehütung führt zu einer Retardierung von Autonomiebestrebungen
sowie der Kompetenz und der Entdeckung von Interessen außerhalb der Sicherheit der
Familie. Für die Kinder, besonders für die am meisten betroffene Patientin, ist es schwierig, gegen diesen Familienstil aufzubegehren. Wünsche werden indirekt und vorgeblich
uneigennützig geäußert. Handlungen werden nicht den eigenen persönlichen Präferenzen
zugeschrieben, sondern immer den Bedürfnissen eines anderen Familienmitglieds. Entscheidungen werden nur zugunsten eines anderen getroffen.
Einschränkungen der Autonomie können auch daraus resultieren, dass früh Anpassungsleistungen an elterliche Bedürfnisse oder äußere Notwendigkeiten erwartet werden. Die
späteren Patientinnen funktionieren dann in Kindergarten, Schule oder Haushalt selbstständig und vernünftig. Spontaneität und eigene Interessen bleiben allerdings auch hier
auf der Strecke.
Harmoniegebot und Konfliktvermeidung. Die Familien stehen oft unter einem starken
Harmoniegebot. Gefühle wie Wut, Ärger, Neid, Eifersucht und Rivalität darf es nicht geben. Treten Spannungen auf, werden sie mit höheren Werten begründet, nicht mit eigenen
Interessen. Oft wird ein strikter moralischer oder sogar religiöser Kodex bemüht, um die
zum Teil eigentümlich anmutenden Interaktionen und Muster in diesen Familien vor Anzweiflungen zu schützen. Durch die Kombination von Rigidität, Überfürsorglichkeit und
fusionierter Interessennahme ist die Konfliktschwelle sehr niedrig. Da Konflikte nicht offen
ausgetragen werden, werden sie auch nicht gelöst. Es kommt über Jahre immer wieder zu
untergründigen Spannungen wegen derselben Themen, in manchen Familien auch immer
wieder zu denselben starren Auseinandersetzungen, oft um Prinzipien um „richtig“ oder
„falsch“. Bemühungen, die Konflikte zu umgehen, gelingen zeitweilig, bis sie irgendwann
erneut ausbrechen, um wieder im Patt zu enden.
Verstrickung und Grenzstörung. Minuchin, Rosman und Baker (1978) beschreiben eine
extrem enge und intensive Form der Interaktion, die als verstrickt oder verschmolzen („enmeshed“) bezeichnet wird. Daneben scheint oft eine sehr durchlässige Grenze zwischen
dem Familiensystem und den Ursprungsfamilien der Eltern zu bestehen. Die Familienmitglieder, auch die der Ursprungsfamilien, versuchen, sich in die Denkweisen und Gefühle
der anderen einzumischen. Dies bedeutet, dass die Familie sehr „offen“ miteinander ist. Die
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Zusammenhalt. Die Familien legen oft großen Wert auf Zusammenhalt. Der Entwicklung
und dem Lebenszyklus angemessene Trennungsschritte werden vermieden. Die Beziehung
zu den Ursprungsfamilien bleibt in der Regel ebenfalls eng. Nicht selten leben Großeltern
mit im Haus oder in der Nähe. Findet eine räumliche Trennung statt, bleibt der telefonische,
E-mail-, briefliche oder Besuchskontakt eng. Untergründig sind die Familien oft von Trennungsangst beherrscht. Trennung kann in ihrem Mythos mit Unglück verbunden sein. Versuche in der Vorgeschichte, sich selbstständig zu machen, scheiterten nicht selten. Weggehen heißt auch, sich von den moralischen Geboten der Familie zu entfernen, es heißt,
der Welt und ihren Verlockungen ausgesetzt zu sein. So scheint das Weggehen häufig mit
schlechtem Gewissen, der Trennungsschuld, verbunden (Massing et al. 2006; Reich 2003b;
Reich et al. 2007).
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M. Cierpka, G. Reich
Aufopferung und Schuldproblem. Da jeder immer nur in gut gemeinter Absicht und in
Wahrnehmung der Interessen anderer oder höherer Werte handelt, darf er nicht kritisiert
werden. Wenn diese Regel als gefährdet erscheint, lässt sich der Wille zur Selbstaufopferung als Mittel zur verschleierten moralischen Erpressung der anderen nutzen. So kann ein
Elternteil beispielsweise ankündigen, das Haus verlassen zu wollen, wenn dies der Tochter
hilft. Man opfert sich für andere und definiert sich zugleich als Opfer von anderen. Dies
kann so weit gehen, dass es scheint, als müssten sich die Familienmitglieder bei Konflikten gleichsam gegenseitig im Leid übertreffen, um den eigenen Standpunkt behaupten zu
können. Selvini Palazzoli (1978) nennt dieses Muster Symmetrie durch Opfereskalation. Hier
übernehmen die Familienmitglieder nur ungern die Verantwortung für sich und andere,
damit sie nicht angeklagt werden können, wenn etwas schiefgeht. Das offene Vertreten
eigener Interessen ist bedrohlich und ängstigend, denn im Familienmythos ist die Vertretung eigener Interessen, die Selbstbehauptung, immer mit der Schädigung der anderen
verbunden.
In einer von uns behandelten Familie erbte die Großmutter mütterlicherseits das Fami­
liengeschäft, nachdem ihr jüngerer Bruder an einer Darmerkrankung verstorben war. Vor
seiner Geburt – er war ein Nachkömmling – war sie als Erbin ausersehen worden, musste
aber nach seiner Geburt zurücktreten. In der nächsten Generation ereignete sich etwas
Ähnliches: Die Tante der Patientin führte das Geschäft weiter, während ihr Bruder im
Krieg war. Er wurde als vermisst gemeldet und nach 30 Jahren für tot erklärt. Selbstverständlich wurde erwartet, dass sie im Fall seiner Rückkehr das Geschäft wieder abgeben
würde. Die Patientin selbst kam zur Welt, als die Großmutter mit einer Krebserkrankung
in eine Klinik eingewiesen wurde. Sie wurde zum Trost und zur Lebensspenderin der
Großmutter. Sie begann zu hungern, als sich für sie die schuldbelastete Frage stellte, ob
sie wegen einer eigenen Berufsausbildung in eine andere Stadt ziehen sollte oder nicht.
Bündnisprobleme. Häufig ergeben sich Loyalitätsprobleme, insbesondere wenn das Elternpaar unterschwellig oder offen gespalten ist. Man kann nicht offen zu einer Person
halten, weil dies Verrat an der anderen wäre. Es gibt dann nur verdeckte, also heimliche
­Koalitionen. Verschiedenartige Zweierbeziehungen zu den einzelnen Familienmitgliedern
zu haben, ist mit einem Gefühl der Unrechtmäßigkeit verbunden, da es immer den Anschein hat, als sei dies gegen den dritten bzw. die anderen gerichtet.
Ehe der Eltern. Die Eltern gehen oft in der Arbeit und der Häuslichkeit auf. Sie achten
die konventionellen gesellschaftlichen Normen und sind sehr um den äußeren Eindruck
besorgt. Sie erscheinen nicht selten als puritanisch. Die Eltern, insbesondere die Mütter,
sind vor allem an einem interessiert: es richtig zu machen, und zwar richtig im Sinne der
sozialen Umgebung und im Sinne ihrer Herkunftsfamilien, auch ihrer Mütter, die eventuell in das Familienleben hineinregieren (Sperling 1965; Massing et al. 2006). Nach außen
hin erscheint die Ehe intakt. Konflikte, Enttäuschungen und Desillusion in der ehelichen
Beziehung werden oft hinter einer Fassade der Eintracht verborgen. Dabei kann es zu un-
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Mitglieder haben „keine Geheimnisse“ voreinander. Das Essen wird ebenso beobachtet wie
alles andere. Mütter und Väter wissen nicht selten auch über die körperliche Entwicklung
der späteren Patientin gut Bescheid. Diese fühlt sich – oft zu Recht – einer ständigen Kontrolle ausgesetzt.
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terschwelligen subtilen oder offenen Entwertungen kommen. Wenn offene Auseinandersetzungen auftreten, führen diese zu keiner Lösung. In manchen Familien haben sich beide
Eltern schon frühzeitig darauf geeinigt, dass Erotik oder Sexualität für sie keine Rolle mehr
spielt. Zugleich kann aber Wert darauf gelegt werden, im Sinne der Konvention und der
Normalität als äußerlich attraktiv zu erscheinen.
In sehr stagnierenden Familiensystemen führen die Eltern mit der magersüchtigen Tochter eine Ehe zu dritt. Versucht die Tochter, sich auf eigene Füße zu stellen, treten die Eltern
vereint gegen sie auf, als könnten sie ihrer Tochter nicht erlauben, die für das eheliche
Gleichgewicht wichtige Position aufzugeben. Jedes Familienmitglied ist dann sozusagen
mit 2 Personen verheiratet, die Mutter mit dem Vater, der Vater mit der Tochter und diese
wiederum mit der Mutter (Selvini Palazzoli 1978). Die spätere Patientin ist von Anfang an
in einen potenziellen Elternkonflikt einbezogen und stabilisiert diesen. In dieser Triangulierung ist sie Trösterin und Stütze für beide oder Richterin im elterlichen Konflikt. Diese
Konstellation ist häufig mit schweren oder chronischen Magersuchtsentwicklungen verbunden, wobei die Anorexie das festgefügte System weiter verstärkt.
Besondere Rolle des Essens. In den Familien magersüchtiger Patientinnen herrscht oft der
Kontrollaspekt des Essens vor. Die Mahlzeiten selbst können sehr stark kontrolliert werden
und über das Essen wiederum die Beziehungen. In einigen der von uns untersuchten Familien wurde z. B. das Essen genau zugeteilt: ein Brötchen zum Frühstück, 2 Scheiben Brot
zum Abendessen; wer mehr möchte, muss fragen. Das Mittagessen gibt es portioniert auf
dem Teller, damit sich nicht jeder nimmt, was er will. Oft ist das Essen auch intensiv mit
der Mutter- bzw. Elternliebe verbunden. Eine Zurückweisung des Essens ist eine Zurückweisung der Beziehung.
Konfliktsituation anorektischer Patientinnen und deren Lösungsversuch. Die familiären
Regeln verbieten der Jugendlichen, eigene Interessen zu artikulieren und durchzusetzen,
zumal auf spontane oder gar aggressive Weise. Sie darf die Eltern und auch die Großeltern,
deren Stütze sie ist, nicht verlassen. Sie darf keine Lust erleben, nicht begehren. Auslösende
Situationen sind in aller Regel erste Trennungen vom Elternhaus, in denen gleichzeitig die
Versuchung besteht, etwas zu genießen, sei es die neu gewonnene äußere Freiheit überhaupt oder auch erste sexuelle Beziehungen.
Die Magersucht ist aus dieser Perspektive ein Versuch, mit den unlösbar erscheinenden
familiären Konflikten umzugehen:
➤➤Die Patientin begehrt gegen die Eltern auf, ohne rebellisch zu wirken, sie ist ja krank.
➤➤Sie rächt sich an der Familie, ohne rachsüchtig zu wirken – sie ist ja nicht offen aggressiv
gegenüber den Familienmitgliedern, außer wenn es ums Essen geht.
➤➤Sie erklärt in der Regel ausdrücklich, dass ihre Eltern nicht an ihrem Zustand schuld sind,
lässt dies aber vage vermuten, das heißt sie klagt an, ohne anzuklagen.
➤➤Sie stürzt die Familie in eine Krise, in der eigentlich Veränderung gefordert ist. Gleichzeitig bleibt die alte Balance gewahrt, es darf sich nichts verändern.
➤➤Sie verkleistert die Risse in der Beziehung ihrer Eltern, indem sich diese in Sorge um sie
vereinigen.
➤➤Mit dem Hinweis, Opfer einer geheimnisvollen Krankheit zu sein, kann sie nun auch
­Opfer von den anderen verlangen, ohne dass sie Schuldgefühle haben muss, denn sie
leidet ja.
➤➤Sie grenzt sich von der Familie ab, ohne sich trennen zu müssen.
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9 Familien- und paartherapeutische Behandlung von Anorexie und Bulimie
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M. Cierpka, G. Reich
Die häufig normal- oder leicht untergewichtige Bulimikerin fällt weniger auf als die sichtlich abgemagerte Anorektikerin. Die familiären Bezüge der Bulimie sind ebenso zunächst
weniger augenfällig als die der Anorexie. Bulimikerinnen schämen sich ihrer Erkrankung,
und Scham sowie deren Abwehr scheinen für die Entstehung der Bulimie eine stärkere
­Rolle zu spielen als für die Magersucht. Die zur Bulimie gehörenden Handlungen sind nicht
so offensichtlich wie die Abmagerung bei der Anorexie, der eine dialogische Funktion (Richter 1965) zukommt. Die Essanfälle sollen vielfach – ebenso wie das Erbrechen – unbemerkt
von Eltern, Freunden und Partnern bleiben. Manchmal ist dies tatsächlich der Fall. Häufig aber ahnen oder wissen es alle seit Langem, nur sagt niemand etwas. Darüber hinaus
verführen die äußere Trennung von der Familie und die Pseudo-Autonomie bulimischer
Patientinnen dazu, den Einfluss ungelöster familiärer Bindungen und Konflikte auf die Entstehung und Aufrechterhaltung der Erkrankung zu übersehen. Bulimikerinnen sind häufig
älter als Anorektikerinnen. Die bulimischen Symptome treten oft in der Verselbststän­
digungsphase auf, in der die Patientinnen ihre Elternhäuser bereits verlassen haben oder
unmittelbar vor diesem Schritt stehen.
In den Familien bulimischer Patientinnen finden sich die im Folgenden dargestellten
Charakteristika, die sich zum Teil erheblich von denen der Familien anorektischer Patientinnen unterscheiden (vgl. Reich 2003a, b, 2005 und die dort zitierte Literatur).
Heftige, offene Familienkonflikte. In den Familien gibt es – im Gegensatz zur Pseudoharmonie der Familien vieler Magersüchtiger – oft offen ausgetragene, heftige Konflikte innerhalb der gesamten Familie: zwischen Eltern und Kindern, zwischen Eltern und Großeltern
sowie zwischen den Ehepartnern. Der Ausdruck von aggressiven Affekten ist häufig heftiger. Es kommt zu lauten Streitigkeiten, Zerwürfnissen, Kontaktabbrüchen, Trennungen und
Scheidungen. Das Bedürfnis nach Zusammenhalt und die Kohäsion sind in der Regel nicht
so stark ausgeprägt wie in Familien Magersüchtiger.
In den selteneren Fällen, in denen der Familienstil eher konfliktvermeidend ist, dient oft
die bulimische Symptomatik zum indirekten Ausagieren abgewehrter aggressiver Impulse.
Störungen der affektiven Resonanz. In den Familien fehlen häufig die Wärme und das
gegenseitige freudige Widerspiegeln in den Interaktionen zwischen Eltern und Kind sowie
zwischen den Geschwistern. Für ihre Bedürfnisse nach liebevoller Zuwendung, Vertrauen
und Anerkennung finden die späteren Patientinnen oft keine Resonanz. Statt der formalen
Überbehütung in den Familien Magersüchtiger findet man hier oft eine Vernachlässigung
dieser Wünsche. Manchmal werden die Patientinnen auch ironisch oder sarkastisch behandelt. Emotionale Intimität wird zudem oft durch Handeln ersetzt, wie im weiter unten
dargestellten Fallbeispiel beschrieben. Das Handeln als Mittel der Affektabwehr setzt sich
dann im Symptom fort.
Neigung zu impulsiven Handlungen. Familien bulimischer Patientinnen zeichnen sich
häufig durch einen impulsiven Stil aus. Die bulimische Symptomatik sowie das anfallsweise Essen und Erbrechen können als Impulshandlung verstanden werden (s. Kap. 4). Dies ist
mit anderen Impulshandlungen vergleichbar, etwa anfallsweisem Trinken, Spielen, Durchbrüchen von Gewalt oder perversen Handlungen, die alle zwanghaft durchgeführt werden
müssen, oft selbstschädigenden Charakter haben und im Nachhinein als schuldhaft und
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Familiäre Muster bei Bulimie
9 Familien- und paartherapeutische Behandlung von Anorexie und Bulimie
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Triangulierung. Die Vater-Tochter-Beziehung ist bei bulimischen Patientinnen oft sehr bedeutsam. Die Töchter bemühen sich sehr um die Zuneigung und Aufmerksamkeit ihrer Väter
und geraten dabei zunehmend in eine rivalisierende Position zu ihren Müttern. Gleichzeitig
fürchten sie die erotische Färbung, die diese Nähe zum Vater annehmen kann. Sie fühlen
sich aber auch ihren Müttern verbunden und meinen vielfach, diese gegen deren Ehemänner, die ihre Frauen in den Augen ihrer Töchter entwerten, unterstützen zu müssen. Dieses
Hin und Her der eigenen Gefühle und Positionen innerhalb der Familie spiegelt sich in den
oft beschriebenen Näheängsten und affektiven Schwankungen der Bulimikerinnen wider.
Grenzstörung und Missachtung der Intimschranken. Wie auch in den Familien Magersüchtiger beobachtet man häufig eine Grenzstörung (Cierpka 1986). Diese ist allerdings in
der Regel nicht autonomieeinengend und bindend wie dort, sondern zeigt sich in ­einem
taktlosen oder herabsetzenden Eindringen in die Privatsphäre und die Gefühlswelt des
Kindes; diese wird nicht wahrgenommen, sondern übergangen. Die Grenzstörung kann
mit rigider Grenzziehung und Abweisung bzw. emotionaler Vernachlässigung abwechseln.
Manchmal werden vertrauensvolle Beziehungen in der Familie durch offen inzestuöses
Handeln ersetzt (vgl. Kap. 4).
Als zentrale Angst erleben die Patientinnen, dass Intimität in Bloßstellung endet. Das
wirklich Intime – die Anlehnungs- und Hingabewünsche, das unkontrollierte Erleben von
Freude, Begeisterung, Angst oder Traurigkeit – wird dementsprechend verborgen.
Eine Patientin beklagte sich in einem Familiengespräch unter bitteren Tränen darüber,
dass der Vater vor einigen Jahren ihrer Schwester verbot, ihr ein sehnlich erwünschtes
Buch zu schenken, weil ihm dies nicht gefiel. Der erwiderte Vater daraufhin: „Das bringe
ich sofort in Ordnung. Was hat das Buch gekostet? Ich gebe dir das Geld. Oder soll ich es dir
kaufen und vorbeibringen? Nützt das was in Bezug auf deine Krankheit?“ An die Therapeuten gewendet: „Vielleicht können Sie uns noch etwas raten?“ Das Problem sollte schnell
beseitigt werden, ohne das Eingreifen in einen für die Patientin wichtigen Erlebensbereich
und deren Übergehen zu thematisieren. Dies hätte eine Wiederholung der ursprünglichen
Grenzüberschreitung und Missachtung in der therapeutischen Situation bedeutet.
Beide Eltern waren angesehene, von früh bis spät aktive Geschäftsleute, die großen Wert
darauf legten, sich nach außen gut zu repräsentieren. In der Familie neigte der Vater zu
Wutausbrüchen und schlug die Patientin häufig. Beide Eltern tranken. Sie wussten zudem über das Gewicht der Patientin und ihrer Schwestern bestens Bescheid und teilten
dies auch bei Feiern mit.
Widersprüchliche Normenorientierung und Ideal der Stärke. In den Familien bulimischer
Patientinnen scheinen oft widersprüchliche Normen, Werte und Ideale zu herrschen. Auf
der einen Seite sind Über-Ich und Ich-Ideal streng; es wird großer Wert auf Selbstkontrolle,
ein gutes äußeres Erscheinungsbild, Leistung und sogar Perfektion gelegt. Auf der anderen
Seite kommt es immer wieder zu den oben beschriebenen Impulshandlungen und offenen
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zutiefst beschämend erlebt werden. Tatsächlich findet man in Familien von Bulimikerinnen häufig eine starke Neigung zu heftigem Affektausdruck, insbesondere von aggressiven
Affekten, und zu impulsiven Handlungen sowie zu Durchbrüchen von Jähzorn bis zur körperlichen Gewalt und zu Substanzmissbrauch. Diese impulsiven Handlungen sind in der
Regel innerhalb der Familie bekannt, sollen aber oft vor der Außenwelt verborgen werden.
M. Cierpka, G. Reich
Konflikten. Diese werden aufgrund der genannten Über-Ich-Forderungen einerseits abgewehrt, aber die Abwehr gelingt nicht in dem Maße wie in vielen Familien magersüchtiger Patientinnen, in denen die Selbstkontrolle in der Regel durchgängiger ist. Andererseits
werden die Impulshandlungen sowie Wut, Zorn, Jähzorn, Arroganz und abweisendes Verhalten oft, zum Teil oder sogar vollständig, mehr oder weniger unbewusst gebilligt oder
gar bewundert, weil sie als Zeichen von Stärke und als Zeichen dessen angesehen werden,
dass man sich nicht durch Normen eingrenzen lässt. Dies kann man als die verborgene Seite
eines Ideals der Stärke in diesen Familien bezeichnen. Das Ideal der Stärke hat zudem eine
offene Seite. Hier wird von den Patientinnen oft vorzeitig Autonomie verlangt. Ihre Bedürfnisse nach Anlehnung, Versorgung und Unterstützung müssen sie – ebenso wie die anderen Familienmitglieder – abwehren, weil diese als Zeichen von Schwäche angesehen und
als beschämend erlebt werden (Reich 1992, 2003a, b). Dieser Umgang mit Schwäche und
die Scham stellen eine Brücke von der familiendynamischen Störung hin zur individuellen
Pathologie dar. Für die Patientin wird der unterlegene Körper zum Repräsentanten der eigenen Bedürftigkeit, Machtlosigkeit und Schwäche, was mit Selbstverachtung verbunden ist.
Zwei Realitäten: Scham und Geheimnisse. Die skizzierten widersprüchlichen Über-Ichund Ich-Ideal-Anforderungen sowie die Konflikte und Impulshandlungen führen zu 2 nebeneinander stehenden Realitäten in der Familie, die nicht selten völlig voneinander isoliert sind und scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Durchbrüche von impulsiven
Handlungen und Konflikten werden aus Schuldgefühlen, insbesondere aber aus Schamgefühlen innerhalb der Familie und vor der Außenwelt verleugnet; es wird so getan, als
gäbe es sie nicht. Es ist dann, als hätte man es mit 2 Familien zu tun: einer von außen
sichtbaren, scheinbar heilen und ungestört funktionierenden sowie einer von heftigen Au­
seinandersetzungen, Krankheiten, Misserfolgen, Alkohol- oder Tablettenabusus geprägten.
Wegen ihrer starken Orientierung an den Umgebungsnormen erleben sich die Familien
als mit einem Makel behaftet, den sie verbergen wollen. Die Atmosphäre und die Interaktionen sind oft durch Familiengeheimnisse geprägt (Reich 1992, 2008a; Reich et al. 2007).
Der Vater einer Patientin trank von Zeit zu Zeit große Mengen Alkohol. Deswegen verlor
er 2-mal seinen Führerschein und damit seinen Arbeitsplatz. Die Mutter nahm regelmäßig Tranquilizer. Es gab heftige Konflikte zwischen dem Ehepaar, die sich vor allem in
lauten nächtlichen Streitereien der Eltern entluden, bei denen der Vater auch gewalttätig
wurde. Die Patientin und ihr Bruder wurden hier unfreiwillige Zeugen, empfanden nachts
häufig Angst und klammerten sich in ihren Betten aneinander. Am nächsten Morgen sei
alles „normal“ gewesen, „wie ein böser Traum, der sich mit der Dämmerung verflüchtigt“.
Der Vater entstammte einer am Heimatort der Patientin sehr angesehenen Familie, die
exponiert und rege am gesellschaftlichen Leben teilnahm. Der Großvater väterlicherseits
starb an den Folgen seines exzessiven Alkohol- und Tabakkonsums. Dies hielt die Großmutter väterlicherseits nicht davon ab, auf andere herabzusehen und die eigene Familie
für etwas Besonderes zu halten.
In der mütterlichen Ursprungsfamilie war das emotionale Klima stark von dem Verlust
der Heimat am Ende des Krieges und den Wirren der Flucht bestimmt. Die Großmutter
mütterlicherseits litt unter Depressionen als Ausdruck der unverarbeiteten Traumata.
Sie wurde medikamentös behandelt. „Nicht an diesen Dingen rühren“, hieß die Devise,
die vor allem in der Generation der Kinder ein Gefühl von Unheimlichkeit hinterließ.
Auch über die Depressionen selbst sollte nichts nach außen dringen.
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Diese Ausblendung eines ganzen Bereiches des familiären Lebens und die Abwehr der dazugehörenden heftigen Gefühle sind Ursachen der späteren Identitätskonflikte der Patientin­
nen (Reich 1992, 2007). Die Patientinnen internalisieren das familiäre Muster des Makels
und dessen Verbergen sowie die anderen Formen der familiären Abwehr. Dieses Muster
zeigt sich auch in der Heimlichkeit bzw. der angestrebten Heimlichkeit des Symptoms.
Rolle des Essens in der Familie. Essen ist in den Familien bulimischer Patientinnen oft eine
wesentliche Form der Regression und der Herstellung von Intimität, ebenso wie andere Formen oraler Regression, z. B. Trinken, Alkohol- oder Medikamentenabusus. Andere, insbesondere nicht leistungsbezogene Formen der Regression scheinen in den Familien weniger
kultiviert zu werden. Gleichzeitig und gegenläufig hierzu scheinen sich die Familien häufig
um ein gezügeltes Essverhalten zu bemühen. Essen als Regression ist im Erleben zugleich
eine Form der Schwäche und des Nachgebens, während Schlankheit entsprechend den gängigen sozialen Mustern Stärke und Selbstkontrolle bedeuten, das heißt dass man sich sehen
lassen kann. Häufig findet man im Vorfeld bulimischer Entwicklungen Diätversuche bei den
Müttern und den Patientinnen. Im Gegensatz zu vielen Familien anorektischer Patientinnen,
in denen der Kontrollaspekt des Essens vorherrscht, ist bei Familien bulimischer Patientinnen häufig ein Wechsel zwischen Regression und Selbstkontrolle zu beobachten.
Konfliktsituation bulimischer Patientinnen und deren Lösungsversuch. Mit der bulimischen Symptomatik versuchen die Patientinnen, mit den unlösbar erscheinenden familiären und inneren Konflikten umzugehen:
➤➤Sie befriedigen ihre Intimitäts- und Versorgungswünsche, ohne dass sie Gefahr laufen,
zurückgewiesen zu werden. Damit stellen sie die familiäre Abwehr dieser Bedürfnisse
nicht infrage und folgen zugleich dem Muster der Impulsivität.
➤➤In der angestrebten Heimlichkeit der Symptomatik sowie im Verschweigen ihrer Lebensschwierigkeiten und Probleme folgen sie dem familiären Muster des Verbergens von
­Makelhaftem. Damit folgen sie dem Ideal der Stärke. Die bulimische Symptomatik insgesamt korrespondiert mit den widersprüchlichen Über-Ich-Anforderungen der Familie.
➤➤Aggressive Impulse, Verachtung und Entwertung werden durch die Essanfälle indirekt
geäußert. Leergegessene Kühlschränke, mit Erbrochenem bespritzte Wände und Möbel
sowie verstopfte Toiletten führen bei den Angehörigen regelmäßig zu Wut- und gleichzeitigen Ohnmachtsgefühlen. Sie sind sich oft unsicher, ob sie etwas sagen dürfen, da
die Patientin ja krank ist, und machen ihrem Zorn dann in eruptiven Ausbrüchen Luft.
Einerseits drehen die Patientinnen den Spieß um: Sie rächen sich für die vergangenen
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Für die Ursprungsfamilie des Vaters, insbesondere für seine Mutter, war die Verbindung
der Eltern der Patientin eine Mesalliance. Die Heirat fand wegen einer Schwangerschaft
statt. Mit dieser Frau könne er sich eigentlich nicht sehen lassen, äußerten sich seine
­Eltern, und so empfand vielleicht auch er. Die Mutter der Patientin versuchte, diese
Demütigung durch starke Orientierung an Normen, die unter anderem auf das Äußere
gerichtet waren, wettzumachen. Streng auf Ordnung, Aussehen und Kleidung bedacht,
führte sie immer wieder Diäten durch. Nur wenn sie selbst betrunken war, wurde sie
weich und für die Patientin unangenehm rührselig. Am nächsten Morgen war sie allerdings wieder zu ihrer Starre zurückgekehrt. Nichts von den familiären Problemen und
keine Bewegtheiten sollten nach außen dringen und das Bild einer glatten Fassade der
Familie in der Kleinstadt stören.
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M. Cierpka, G. Reich
Der Lösungsversuch der Patientin besteht auf allen Stufen der bulimischen Entwicklung
meistens in der unmittelbaren Tendenz zur Distanzierung oder Ablösung von der Familie
und damit in einer verstärkten, übertriebenen Autonomie. Dies zieht eine erhöhte Sehnsucht nach Geborgenheit und Intimität nach sich, was wiederum den Kreislauf der bulimischen Symptomatik anstößt oder verstärkt. Die gesteigerte Sehnsucht nach Geborgenheit
und Intimität kann auch zu einem Versuch der Wiederannäherung an die Familie führen,
der aber nicht adäquat geäußert und von den Angehörigen nicht beantwortet wird, sodass
die Patientinnen zwischen Autonomie und Annäherung hin- und herpendeln, wodurch
der bulimische Kreislauf ebenfalls verstärkt wird. Konflikthafte Unabhängigkeit hat einen
starken Vorhersagewert für bulimisches Verhalten (Friedlander u. Siegel 1990). Tabelle 9.1
fasst die familiendynamischen Merkmale der Familien von Anorexie- und Bulimiepatientinnen zusammen.
Tabelle 9.1 Beziehungsdynamik und familiäre Muster bei Anorexie und Bulimie.
Anorexie
Beziehungsverhalten der Patientin
zentrale Dynamik:
befürchtetes einmischendes
Interaktionsverhalten der
relevanten Beziehungspartner wird mit restriktivem
Beziehungsverhalten der
Patientin beantwortet, um
die symbiotischen Abhängigkeitsängste zu kontrollieren
Betonte Autonomie und restriktive Abgrenzung,
unsicher-vermeidendes Bindungsverhalten
Bulimie
Beziehungsverhalten der Patientin
zentrale Dynamik:
befürchtetes vernachlässigendes Interaktionsverhalten der relevanten
Beziehungspartner wird
mit pseudoautonomem
Beziehungsverhalten der
Patientin beantwortet,
um die Abhängigkeits­
wünsche zu kontrollieren
Pseudo-Autonomie: (feindselige) Distanzierung und/oder
anklammernde emotionale Abhängigkeit, unsicher-ambivalentes Bindungsverhalten
Familiendynamik:
• Norm- und Leistungsorientierung
• Zusammenhalt
• Überbehütung
• Konfliktvermeidung
• Verstrickung/Grenzstörung
• Aufopferung
• Bündnisprobleme und Triangulierung
Familiendynamik:
• offene Konflikte in der Familie
• Impulsivität
• geringe affektive Resonanz
• Triangulierung
• Grenzstörung
• Scham/Geheimnisse
• Ideal der Stärke, Leistungs- und Außenorientierung
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Abweisungen und Verletzungen durch die Eltern und schädigen diese. Die Eltern spüren
nun die demütigende Ohnmacht, die die Patientin spürte. Andererseits wird diese meistens beschämt und zum Sündenbock gestempelt. Sie kann sich dann mit der Bloßstellung
der Schwächen der Familie rächen, an der nun kein gutes Haar mehr gelassen wird. Der
skizzierte Kampf findet bei äußerlich von der Familie abgelösten Patientinnen oft mit
den inneren elterlichen Objekten statt.
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