Fortschritt am Menschen ausrichten

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Fortschritt am Menschen ausrichten
von Daniela Kolbeam 13. Oktober 2011
Wirtschaftswachstum, argumentiert Daniela Kolbe, ist niemals Selbstzweck. Unter welchen Bedingungen
ist welches Wachstum gut für die Gesellschaft? Ein kluger Indikator löst zwar noch keine politischen
Konflikte, versachlicht aber die Diskussion.
Meine Heimatstadt Leipzig ist die schönste Stadt der Welt. Viel Grün, eine lebendige, vielfältige Kulturszene, niedrige
Mieten und die Allgegenwart der neueren Geschichte machen die Stadt außerordentlich lebenswert. Allerdings macht mir
die zwar sinkende, aber immer noch zu hohe Arbeitslosigkeit Sorgen. Wir brauchen mehr sozialversicherungspflichtige
Arbeitsplätze in Leipzig. Dazu können Dienstleistungsbranchen wie die boomende Logistik einen großen Beitrag leisten.
Neben dem Leipziger Hauptbahnhof und der zentralen Autobahnanbindungen ist der Flughafen Leipzig-Halle das
Logistikdrehkreuz der Region. Der Flughafen mit Nachtflugerlaubnis und die ansässigen Logistikunternehmen bieten vielen
Menschen Arbeit und somit Einkommen, soziale Sicherheit und sinnstiftende Tätigkeit.
Allerdings sind einige der Arbeitsplätze auch prekär und schlecht bezahlt. Außerdem stellt der Flughafen für die
Anwohnerinnen und Anwohner der Start- und Landerouten ein Problem dar. Sie mussten nicht nur die Entwertung ihrer
Grundstücke verkraften, sondern leiden gesundheitlich unter der akustischen Dauerbelastung; der nächtliche Fluglärm führt
zu Schlafstörungen. Ist der Flughafen nun ein fortschrittliches Projekt oder wäre es fortschrittlich, ihn zu schließen?
Auf diese Frage gibt es keine einfache Antwort. Fortschritt ist immer ein mehrdeutiges Konzept. Er beschreibt nicht nur den
Wunsch nach mehr materiellem und immateriellem Wohlstand des Einzelnen. Er beschreibt auch die generelle
Vermehrungs- und Steigerungsorientierung einer Gesellschaft. Das Beispiel des Flughafens zeigt, dass die Zeiten eines
eindimensionalen und nicht-reflexiven Fortschrittsbegriffs vorbei sind. Ein zeitgemäßer Fortschritt ist ein am Menschen
orientierter Fortschritt. Er tritt dem oder der Einzelnen nicht als abstrakter Imperativ gegenüber („Du musst Opfer für den
Fortschritt bringen!“), sondern als konkrete Verbesserung der eigenen Lebenssituation durch und im Einklang mit einem
besseren Leben Aller. Neuer Fortschritt ist nur dann ein erfolgversprechendes Konzept, wenn diese Dialektik aufgenommen
und produktiv umgesetzt wird.
Die Rolle der Enquete-Kommission
Die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ des Deutschen Bundestags soll die gesellschaftlichen
Debatten über Bedingungen und Formen eines neuen gesellschaftlichen Fortschritts in den parlamentarischen Raum
übersetzen. Dabei spielen ökonomische, soziale und ökologische Fragen eine gleichermaßen wichtige Rolle. In den
bisherigen Diskussionen wurde deutlich, dass ein traditioneller Wachstumspfad, der auf die besinnungslose Anhäufung von
Geld und Gütern unbesehen der sozialen und ökologischen Konsequenzen abzielt, schlicht gescheitert und gesellschaftlich
nicht mehr mehrheitsfähig ist. Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise, die derzeit in Gestalt einer Währungskrise wieder
aufflammt, hat diesen Erkenntnisprozess ohne Zweifel beschleunigt. Aber auch die immer knapper werdenden Ressourcen,
der irreversible Klimawandel und das durch die Fukushima-Katastrophe so dramatisch dokumentierte Ende des
Atomzeitalters bezeugen die ökologischen Grenzen unserer gegenwärtigen Wirtschaftsweise und prägen die Debatten der
Kommission. Ferner geht die demografische Entwicklung in Deutschland und Europa in unsere Erörterungen der
Rahmenbedingungen zukünftigen Wohlstands ein. Die Diskussion um das Wachstums- und Wohlstandsverhältnis ist also
Atomzeitalters bezeugen die ökologischen Grenzen unserer gegenwärtigen Wirtschaftsweise und prägen die Debatten der
Kommission. Ferner geht die demografische Entwicklung in Deutschland und Europa in unsere Erörterungen der
Rahmenbedingungen zukünftigen Wohlstands ein. Die Diskussion um das Wachstums- und Wohlstandsverhältnis ist also
keineswegs eine rein akademische Debatte, sondern geprägt von den Krisen unserer Zeit, die nach Antworten verlangen.
Für mich ist die wirklich zentrale Frage nicht „Wachstum – Ja oder Nein?“, sondern: „Unter welchen Umständen führt
welches Wachstum zu mehr Wohlstand, Lebensqualität und gesellschaftlichem Fortschritt? Was genau soll also wachsen?“
Die Debatte um einen neuen Fortschritt muss also die Bedingungen ins Auge fassen, durch welche diese politischen Ziele
erreicht werden können. Wirtschaftswachstum ist hierbei das Mittel, niemals Selbstzweck. Ein Beispiel ist die Höhe und
Verteilung von Einkommen. Viele Ergebnisse der Zufriedenheitsforschung weisen darauf hin, dass die materiellen,
objektiven Grundlagen subjektiver Zufriedenheit keineswegs ausschließlich in der Höhe von Einkommen liegen. Einen
stärkeren Einfluss darauf, wie zufrieden Menschen mit ihrem Leben sind, hat die Verteilung von Einkommen und Vermögen
in einer Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund erscheint es sehr fragwürdig, ob mehr Ungleichheit im Tausch für mehr
Wachstum akzeptiert werden kann. Die Zeiten, in denen „gerechte Ungleichheiten“ – auch von sozialdemokratischen
Akteuren – programmatisch formuliert und teilweise auch politisch-praktisch befördert wurden, müssen der Vergangenheit
angehören. Eine gleichere Einkommens- und Vermögensverteilung muss als politisches Ziel wieder aktiv verfolgt werden.
Kluge Messinstrumente
Natürlich gibt es neben einer gerechten Einkommensverteilung weitere Wohlstandsdimensionen wie Arbeit, Bildung,
Gesundheit oder Partizipation. Eben weil Wachstum für viele dieser Wohlstandsaspekte weder automatisch positiv noch
negativ ist, haben wir dringenden Bedarf an intelligenten und transparenten Messinstrumenten. Die verschiedenen
Dimensionen gesellschaftlichen Wohlstands müssen in einem ganzheitlichen Wohlstandsindikator dargestellt werden.
Mit der Arbeit an einer solche Maßzahl nimmt die Enquete-Kommission die internationale Debatte zur Reform des
Wirtschaftsberichtswesens produktiv auf und versteht sich als ein Beitrag Deutschlands zur „Beyond GDP“-Diskussion, die
mittlerweile auch internationale Institutionen wie die EU oder die OECD sowie diverse Foren der Zivilgesellschaft erfasst
hat. Tatsächlich ist die Kritik an den Schwachstellen der Bruttoinlandsprodukts (BIP) und insbesondere an dessen
missbräuchlicher Verwendung als allgemeiner Maßstab für das Wohlergehen einer Gesellschaft in der Kommission
weitgehend Konsens. Das Vorhaben, dem BIP einen oder mehrere Wohlstandsindikatoren zur Seite zu stellen, teilen alle
Mitglieder der Enquete grundsätzlich. Momentan befinden sich die zuständigen Sachverständigen und Abgeordneten in der
Phase einer konstruktiven Auseinandersetzung um das „Wie“.
Klar ist: Auch ein noch so differenzierter Indikator löst von sich aus noch keine politischen Zielkonflikte auf. Die
Entscheidungen müssen immer noch demokratisch legitimierte Volksvertreterinnen und Volksvertreter treffen. Aber ein
ganzheitlicher Fortschrittsindikator erlaubt uns, die verschiedenen Dimensionen von Wohlstand und Lebensqualität klar zu
beschreiben und zueinander in Beziehung zu setzen. "What we measure affects what we do", schreibt die von der
französischen Regierung eingesetzte Stiglitz-Kommission zutreffend. Für einen humanen Fortschritt müssen wir die
Indikatoren, mit denen wir ihn messen, am Menschen ausrichten.
www.fortschrittsforum.de
PDF erstellt am 18.08.2017 um 21:23 Uhr
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