3* Berliner Zeitung · Nummer 295 · Freitag, 17. Dezember 2010 ·· · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · ·· Seite 3 M ODENA. Der Traum, den Anthony Boahen für Silvio Berlusconi träumt, ist der Traum eines großen Staatsmannes. Der entscheidet, wo es lang geht, der beliebt ist, der teure blonde Frauen besitzt und schnelle Autos. Der den Respekt hat. Aber Silvio Berlusconi ist für all das noch zu klein. Er trägt ein weißes Kleidchen und nuckelt am Daumen. Aus schwarzen Augen schaut er in die Lagerhalle irgendwo im Gewerbegebiet von Modena. Sonntags wird sie zur Kirche umgebaut. „You are not a chicken“, schreit der Priester und reißt die Augen auf, als sähe er Jesus durchs Gewerbegebiet fliegen, „you are an eagle, you want to fly.“ Ihr seid keine Hühnchen, sondern Adler. Ihr seid zum Fliegen geboren. „Amen“ sagt Anthony, erst leise, seine weißen Turnschuhe suchen noch den Takt. Dann setzt das Schlagzeug ein, der Bass dringt tief ein in den Waschbeton, die Musik nimmt Anthony mit auf eine Reise. Er fängt die Stöcke auf und geht zum Schlagzeug nach vorn. Für wenige Minuten ist er kein Hilfsarbeiter mehr, keine Vorgangsnummer bei der Einwanderungsbehörde, kein Integrationsproblem. Anthony Boahen ist jetzt wieder Musiker, ein Trommler vom Stamm der Ashanti aus Ghana, der stolze Vater Silvio Berlusconis. Hier holt er sich die Kraft, die ein schwarzer Mann für eine Woche Überleben in Italien braucht. Der Traum, den Anthony Boahen für seinen kleinen Sohn Silvio Berlusconi träumt, ist nicht nur sein Traum. 4,3 Millionen Ausländer leben in Italien, rund 600 000 heimlich. Sie haben ihr Zuhause zurückgelassen und sich auf den Weg nach Italien gemacht. Sie dachten, sie könnten hier ihr Leben verbessern. Sie wollten ein Stück abhaben von diesem europäischen Glanz. Wenn nicht für sich, dann doch für die Kinder. In Italien angekommen, werden sie gedemütigt, verprügelt, zu modernen Leibeigenen gemacht. Sie lieben dieses Europa trotzdem. Liebe im Viervierteltakt Ein Musiker aus Ghana nennt seinen Sohn Silvio Berlusconi, weil ihm der Klang des Namens so gut gefällt – und er dem Premierminister seine Papiere verdankt. Das Einwandererkind hat es in Italien trotzdem schwer VON CHRISTOPH GRABITZ Goldgerahmt im Wohnzimmer Der Ort, an dem Silvio Berlusconi mit seinem Vater und seinen zwei Schwestern wohnt, liegt an einem stinkenden Abwasserkanal. Auf der Wiese zwischen den Pfützen steht eine mit Cord bezogene Couch, ein weißer Lieferwagen hat in einem kleinen Brennnesselfeld seine letzte Ruhe gefunden. Hier, im Schatten einer Chemiefabrik für Klebstoffe, steht ein Haus mit schadhafter Fassade und vergitterten Fenstern. Im Obergeschoss wohnt eine Alkoholkranke mit strähnigem Haar, die nachts schreit. Im Keller hat Anthony Boahen, der Tellerwäscher, der Metallarbeiter, der Trommler, der Vater, für seine Familie eine kleine Wohnung gekauft. Küche und Wohnzimmer sind ein Raum. An den Wänden hängen acht goldgerahmte Bilder. Eines zeigt Anthony, er trägt eine weite Jogginghose, Hip-Hop-Style, er zeigt der Kamera die Faust, als wollte er sagen: Krasse Scheiße, Alter. Die verbleibenden sieben Fotos zeigen jenen Mann, den sich Italien in den letzten 16 Jahren vier Mal zum Ministerpräsidenten gewählt hat und den das Land so bald auch nicht loswerden wird, wie der gerade überstandene Misstrauensantrag vermuten lässt. Sie zeigen den anderen Silvio Berlusconi, den Cavaliere, den Mann, der mit der ausländerfeindlichen Lega Nord ein Regierungsbündnis eingegangen ist und Barack Obama als „jung, hübsch und gebräunt“ bezeichnet hat. Die Liebe für Silvio Berlusconi kündigte sich Anthony Boahen nicht an, er hat sich nicht für sie entschieden, er muss ihr ganz einfach verfallen sein. Plötzlich schlug sie mit voller Wucht zu, wie manch große Liebe es tut, und seither, auch das typisch, lässt sie ihn nicht mehr los. Vielleicht hat sie ihn sogar blind gemacht. Es ist im Sommer 2002, als der Trommler Anthony Boahen die bis dahin größte Entscheidung seines Lebens trifft: In einem unbeobachteten Moment setzt er sich von einer Gruppe afrikanischer Künstler ab, mit der er sich auf Völkerverständigungs-Tour durch Skandinavien befindet. Er bleibt im reichen Europa. Ohne Papiere, ohne Freunde und mit wenig Geld schlägt er sich von Finnland bis nach Sizilien durch, in Palermo hat er einen Bruder. Es ist heiß und die Stimmung ist gereizt, es gibt Razzien. Es ist nicht genug Arbeit für die vielen Flüchtlinge da. Von wütenden Sizilianern werden sie mit Gemüse und faulen Eiern beworfen. Und beinahe täglich spült das Mittelmeer neue Boat People an den Strand. Anthony Boahen verdingt sich als Spülmann in mehreren Restaurants, ein guter Job, weil immer Reste anfallen. In den Restaurants und Kneipen läuft stets irgendein Radio oder ein Fernseher, es gibt auch mehrere Tageszeitungen, fast alles gehört zum Privatimperium Mediaset. Die Medien in Italien sind nahezu gleichgeschaltet. Nur, dass Anthony Boahen keine Ahnung hat, bei wem die Fäden zusammen laufen, was weiß er schon von Europa? An das musikalisch geschulte Gehör von Anthony Boahen dringt immer wieder diese eine Formel, mal empört geäußert, mal bewundernd, mal belustigt, aber immer präsent: BÉR-LUS-CÓ-NI, einViervierteltakt, die Betonung auf der Eins und auf der Drei, genau wie im Hip-Life, seiner Musik aus Ghana. Das muss, denkt sich Anthony, ein wichtiges, ein gutes Wort sein. Er summt es manchmal vor sich hin, wenn er nach Hause geht. So prägt sich Berlusconi bei ihm ein. Dann wird es Winter, und die Touristen bleiben weg, Anthony hat bald kein Geld mehr. Er fragt sich, ob es wirklich eine gute 8. September, kommt sein Sohn in einem Krankenhaus in Accra zur Welt. „Ich habe ihn Silvio Berlusconi genannt, weil ich ihm meine Papiere verdanke“, sagt Anthony. Silvio Berlusconi Boahen sitzt am Frühstückstisch, es ist 7.10 Uhr, er versenkt einen Zwieback in Milch und schiebt einen silberfarbenen Porsche Cayenne über den Tisch, der kleine Junge hat schlechte Laune. Vor ihm, an der Stirnseite des Raumes, steht ein Flachbild-Fernseher, 42 Zoll, Neupreis 850 Euro, das war Anthonys erster großer Kauf, die Raten stottert er heute noch ab. Der Fernseher läuft den ganzen Tag. Er sendet Supermodels mit gigantischen Brüsten in diesen Keller, echte Cowboys, Sportwagen, Krawall und Machismo. Ein Baumarkt warb kürzlich mit einem TV-Spot, in dem ein Mann seine Frau zerstückelt und zersägt. Rund siebzig Prozent aller Italiener informieren sich ausschließlich über die Berlusconi-Kanäle. Auf diese Art erschafft er sich die ihm allein hörigen Wähler. Auf dem Fernseher der Boahens steht in fetten, goldenen Lettern: GOD. Anthony Boahen hat seine Kinder am 20. Februar dieses Jahres nach Italien geholt, diesmal flog er mit Afriqiyah, der Fluggesellschaft mit der vierfachen Neun im Logo, sie steht für den 9.9.99, den Gründungstag der Afrikanischen Union, an dem Afrika sich ein wichtiges Versprechen gab: Lebenswerte Verhältnisse zu schaffen. Anthony hat der afrikanischen Neun den Rücken zugewandt. Jetzt fehlt zu ihrem Glück noch Doe. Bis sie den Friseursalon abgewickelt hat, sorgt Anthony für die drei Kinder. Über seine Bank schickt er Geld nach Ghana. Oft arbeitet er sechzig Stunden oder mehr in der Woche. Anthonys Familienglück hängt an einer kleinen grünen Werkbank, in die er Metallteile einführt, um sie für die anschließende Legierung aufzurauen.Verliert er diesen Job in der Metallindustrie, bleibt Doe für immer in Ghana. So will es das neue Einwanderungsrecht Berlusconis. Je tiefer Italien in die Krise rutscht, desto mehr müssen die Ausländer erdulden. Der nationalen Antidiskriminierungsstelle UNAR zufolge haben sich die rassistischen Vorfälle im öffentlichen Raum in Italien zwischen 2005 und 2009 verdreifacht, zu fast fünfzig Prozent richten sie sich gegen Afrikaner. Sie werden als Haushaltshilfen ohne Rechte ausgebeutet, sie bekommen Eimer mit Wasser über den Kopf gegossen in den noblen Altstädten aus Marmor, sie werden beschimpft, im Bus müssen sie aufstehen. In Modena ging die Bestürzung über den neuen italienischen Rassismus so weit, dass die Kommune einmal ein Drahtseil mit einem Mond zwischen die Türme ihres Domes spannte. Schaut, sollte die Botschaft sein, unsere Herkunft ist unterschiedlich. Trotzdem schauen wir am Ende alle auf denselben Mond. „Silvio Berlusconi und die Lega Nord“, sagt der Menschenrechtsanwalt Fausto Gianelli, „nutzen fremdenfeindliche Impulse geschickt aus, um von der Krise abzulenken.“ Unverhohlen spricht Umberto Bossi, der Vorsitzende der Lega Nord von Afrikanern als„bingo-bongos“, man solle„endlich pim-pim-pim machen mit den Gewehren“. Was zum Teufel findet ein Mann wie Anthony an einem Mann wie Silvio Berlusconi so gut, dass er seinen einzigen Sohn nach ihm benennt? „Ich mag die Art, wie er geht, er lächelt viel, ihm gelingt alles“, sagt Anthony Boahen. Vielleicht liegt das Geheimnis in der Vereinfachung. Berlusconi behandelt Politik wie einen Familienbetrieb, ein heiteres Possenspiel, hier gut, da böse, hier schwarz, dort weiß. Wer nicht für Berlusconi ist, der ist gegen ihn. „Ich bin ein Arbeiter unter Arbeitern“, hat Berlusconi gesagt, noch dazu ein Freund der Frauen, ein Katholik. Einmal hat Berlusconi es selber auf den Punkt gebracht: „Alle wollen so sein wie ich“. Hühnchen oder Adler C H RIS T O PH G RABIT Z Silvio Berlusconi, fünf Jahre alt, mit einem Porträt jenes Mannes, dem er seinen Namen verdankt. Idee gewesen ist, seine Frau Doe, die Kinder und den Friseursalon in Ghanas Hauptstadt Accra zurückzulassen. Sie waren keine reichen Leute, aber sie hatten ihr Auskommen. Er hatte seine Familie, seine Freunde. Und er hatte seine Musik. Wirtschaftlich geht es in Ghana seit Jahren bergauf, das Land hat eine der besten Wachstumsprognosen in Westafrika. Diesen Aufbruch hat er eingetauscht gegen ein Land ohne Kinder, ein Land mit 1 800 Milliarden Euro Schulden, rund 360-mal so viel wie Ghana, vielleicht war Anthony bei seiner Völkerverständigungs-Tour am Weltgeist vorbeigereist. Vielleicht hatte der sich gerade auf den Weg nach Afrika gemacht. Anthony besitzt keinen Pass, er kann nicht hinterherfliegen. Ob er Doe und die Kinder jemals wieder sehen wird? „Ich mag die Art, wie er geht, er lächelt viel, ihm gelingt alles.“ Anthony Boahen über den italienischen Regierungschef Silvio Berlusconi Dann geschieht das Wunder: Eine Massenlegalisierung, Italien braucht frische Arbeitskräfte. Jeder, so spricht es sich unter den Illegalen herum, der sich bei einer öffentlichen Stelle meldet, könne Papiere erhalten. Anthony Boahen kann sein Glück nicht fassen. „Ich habe dann natürlich sofort gefragt, wem ich das zu verdanken habe“, sagt er. „Und auf meine Nachfrage wurde mir immer nur ein Name genannt: Silvio Berlusconi.“ Anthony leiht sich Geld, er glaubt, er hat es geschafft, er bucht einen Flug zurück nach Ghana, Lufthansa, über Frankfurt am Main, was für ein Flug, er ist wieder ein Mann mit Papieren. Am 5. Januar 2005 schließt Doe ihren Anthony nach drei langen Jahren der Trennung am Flughafen von Accra in ihre Arme. Neun Monate später, am 16.30 Uhr, eineVilla aus Sandstein in Modenas Vorort Albareto. Tschaikowskys Schwanensee klingt durch weit geöffnete Fenster, der Kindergarten schließt gleich, Silvio Berlusconi ist das einzige schwarze Kind, er steht winkend am Fenster. „Ciao, Silvio Berlusconi“, ruft ein kleines Mädchen, „ciao-ciao.“ Sie wird von einem mürrischen Alten mit weißen Kniestrümpfen in ein Familienauto gezerrt, im Vorbeigehen gibt er Silvio Berlusconi einen kleinen Klaps, den schwarzen Mann, der ihn abholt, schaut er nicht an. Offenbar ist es leichter, einen Erwachsenen zu hassen. Was die Zukunft für Silvio Berlusconi bringen wird, ist ungewiss. Fast die Hälfte aller jungen Italiener hat Vorurteile gegenüber Fremden. Die Weltwirtschaftskrise hat Italien geschwächt, nach einer Erhebung des Hilfswerkes Caritas kommen 19 Prozent der Italiener nicht mit ihrem Einkommen aus, in vielen Schulen bröckelt der Putz von den Wänden, gleichzeitig steigt die Quote der Analphabeten stetig. Silvio Berlusconis Aussicht auf eine gute Bildung schrumpft, weil Silvio Berlusconi 130 000 Stellen an den Unis streichen will, zwischen 2009 und 2013 sollen neun Milliarden Euro in der Bildung gespart werden, öffentliche Gelder fließen zunehmend in Privatschulen, im Golf von Neapel türmen sich 3 000 Tonnen Müll. Vielleicht sollte Anthony seiner kleinen Familie noch einen letzten Flug kaufen, zurück nach Ghana, nach Hause. Vielleicht kann das Hühnchen doch noch erreichen, worum es bei allem eigentlich immer ging: ein Adler zu sein.